Norbert Scheuer, einer der aktiven Vulkane in der Eifel – und Gast im Literaturhaus Thurgau

Dass Norbert Scheuer Gast im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben war, freute mich ganz besonders. Nicht nur weil ich ein grosser Bewunderer seines Schaffens bin, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass Norbert Scheuers Kunst mit dem physikalischen Begriff der Singularität perfekt beschrieben ist.

Norbert Scheuer, 1951 geboren, lernte zuerst Elektriker, dann Physiker, später Philosoph mit einer Magisterarbeit über Kant, um sich mit dem Wechsel ins neue Jahrtausend mehr und mehr als ernst zu nehmende literarische Stimme über die Landesgrenzen hinaus zu etablieren. Das zeigen nicht nur Preise und Nominierungen, sondern auch die Konsequenz, mit der Norbert Scheuer schreibt. Sei dies nun in seiner Themenwahl, der Verortung seiner Geschichten, der Einbettung in die Zeit und im Umstand, dass Norbert Scheuer bis zu seiner Pensionierung als Systemprogrammierer bei der Deutschen Telekom arbeitete.

Angekündigt im ursprünglich gedruckten Programm war Norbert Scheuer mit seinem 2019 erschienen Roman „Winterbienen“, der nicht nur hochdekoriert ist, sondern in meinem Freundes- und Bekanntenkreis ein Lektüremuss wurde. Umso überraschter war ich, dass „Winterbienen“ nun von „Mutabor“ überholt wurde und Norbert Scheuer neben Gedichten und Erzählungen bereits seinen neunten Roman präsentiert.

„Mutabor“ ist die Geschichte um Nina, eine junge Frau. Sie will weg, ist aber noch nicht volljährig. Weg, weil man sie alleine lässt, alleine mit dem Geheimnis um einen nicht bekannten Vater, allein mit dem Geheimnis einer verschwundenen Mutter, weg von einem Ort, an dem sie wie mit einem Bann belegt scheint, einem Makel, dem Mahl der Ewigversehrten.
Ich liebe Norbert Scheuers Personal, nicht erst in ihrem neusten Roman. Nina, eine junge Frau, der ich schon im Roman „Am Grund des Universums“ begegnete, Paul, der die Hauptfigur im Roman „Die Sprache der Vögel» war, Ninas Grossvater, der sie in seinem hellblauen Opel Kapitän herumchauffiert, Evros, der griechische Wirt, der in einer Schublade eine kleine Flöte aus Schilfrohr und Bierdeckel einschliesst, die er mit kryptischen Texten beschriftet oder die alte Dame, die Nina ihre Tante nennt, die Nina mit Büchern das Tor zur Welt aufmacht. Und alle haben sie ihre Geheimnisse.
Kall, das Dorf, ist Welttheater. Kall ist Epizentrum. Kall ist Ausgangslage und Brennpunkt.

Norbert Scheuer kam in der Westeifel zur Welt, lebt und schreibt in der Eifel, ausser er weilt für ein Stipendiat zum Beispiel am Bosporus. Norbert Scheuer lässt alle seine Bücher auf jener Bühne spielen, dem Landstrich zwischen Köln und der Grenze zu Belgien. Ich kenne kaum jemanden im Literaturbetrieb, der eine ganz bestimmte Gegend so sehr zu seiner Bühne macht. Norbert Scheuer erzählte, er wäre erst mit seinem neusten Roman zum ersten Mal an seinem Heimatort zu einer (Benefiz-)Lesung eingeladen worden und sei ganz glücklich darüber gewesen, dass ihn ein gewisser Respekt angesichts seines Erfolgs vor gereizten Reaktionen schützte, denn nichts an Scheuers Roman idealisiert.

«Mutabor» ist das Zauberwort aus Wilhelm Hauffs Märchen vom Kalif Storch. Mutabor ist lateinisch und heisst „Ich werde verwandelt werden“. Nina will in jene verwandelt werden, die sie eigentlich ist. Sie «sucht» das Zauberwort zu einer ihr verschlossenen Welt? Norbert Scheuer hat sein Zauberwort in seiner Sprache gefunden.
Seine Romane sind unglaublich facettenreich. Als ich ihn zum ersten Mal gelesen hatte, verstand ich vieles nicht, manches bleibt mir bis jetzt verborgen. Das mag Absicht sein, denn Scheuers Romane wollen nicht ausleuchten, nichts erklären, nichts offenbaren. Das Geheimnis ist Teil des Menschseins, sein Schreiben das Sichtbarmachen der Welt.

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Norbert Scheuer «Mutabor», C. H. Beck

Waren Sie schon einmal in der Eifel? Weil ich alle Bücher Norbert Scheuers gelesen habe und der Autor eine meiner Lieben ist, die mich niemals enttäuschte, war ich schon so oft in der Eifel, wenn auch noch nie physisch. Norbert Scheuer schafft etwas mit seinem Erzählen, was nur wenigen gelingt: Unmittelbarkeit.

„Mutabor“, heisst das Zauberwort, mit dem sich der Kalif Chasid und sein Grosswesir Mansor in Wilhelm Hauffs Märchen von Störchen zurück zu Menschen verwandeln können, wenn die beiden nicht lachen. Das lateinische „Mutabor“ heisst „Ich werde verwandelt werden“.

Norbert Scheuer «Mutabor», illustriert mit Zeichnungen von Erasmus Scheuer, C. H. Beck, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-406-78152-0

Nina lebt in Kall im Urftland, einem kleinen Ort in der Eifel. Nina möchte verwandelt werden, sucht nach dem Zauberwort Mutabor, das sie endlich dorthin bringt, wo sie sein möchte. Weg aus der Ungewissheit, woher sie kommt, wer ihr Vater ist, wo ihre Mutter geblieben ist, weg vom Geheimnis, das sie erahnt, über das sie aber niemand aufklärt. Weg vom Ausgesperrtsein, weg von Getuschel, weg vom Makel, weg von allem, was sie an Kall kettet. Weg nach Byzanz zum Palast der Störche, eine Reise, die sie mit ihrem Grossvater, als er noch lebte, unzählige Male mit seinem durchgerosteten hellblauen Opel Kapitän angetreten und nie über die Hügel des Urftlands gekommen war. Weg auf eine der vielen Inseln Griechenlands, von der Evros, der griechische Gastwirt im Ort, immer wieder erzählte, bei dem sie nach dem morgendlichen Zeitungsaustragen ihr Geld verdient.

Nina ist allein. Warum verlässt eine Mutter ihr Kind? Warum taucht eine Mutter plötzlich weg? Wie kann man ein Kind alleine zurücklassen? Als Ninas Mutter verschwand, war Nina noch nicht volljährig, wohnte zwar schon in einer winzigen Mansardenwohnung, stand aber stets unter der Kontrolle eines Vormunds. Ihr neuster, der „Krapfen“, eine Frau, die Nina zu viel mehr zwingt, als sie geben möchte und dabei ihren Hunger nach echter Liebe und Zuneigung nur noch potenziert, ist eine der vielen, die Nina mit jeder Geste zeigen, dass sie Aussenseiterin und Randständige ist und bleibt. Die einzige im Ort, bei der sie so etwas wie Geborgenheit, ein warmes Nest findet, ist die ehemalige Lehrerin Sophia Molitor, eine Frau, die als Witwe alleine in einem grossen Haus lebt und Nina jenes Tor zur Welt öffnet, weil sie das Mädchen das lehrt, was die Schule nicht vermochte. Aber auch bei „Tante“, wie Nina Sophia liebevoll nennt, sind Fragen nach der Mutter ungeliebt. Nina spürt, dass selbst Sophia nicht mit offenen Karten spielt, Geheimnisse unter Verschluss hält. So wie Tante Sophia von ihrem Mann Eugen heimgesucht wird, so ist es der Geist Ninas Mutter, der sie nie zur Ruhe kommen lässt.

«Jeden Moment verändert sich alles und alles verändert jeden Moment.»

Einzig Paul lässt Nina hoffen. Als Nina Mädchen war, hatte Paul kein Auge für sie. Aber nun, Paul kehrte als Versehrter aus einem Afghanistaneinsatz der Bundeswehr zurück, hofft Nina auf Paul. Sie spürt, dass sich da etwas öffnen kann, dass sie in und mit Paul etwas finden kann, was ihr bisher verwehrt blieb. Und tatsächlich kommt es zu einer zaghaften Annäherung und irgendwann zu jener einen Nacht, die die Tür aber auch gleich wieder verschliesst. Paul entzieht sich Nina. Und Nina weiss einmal mehr nicht, wie ihr geschieht, was die Gründe sind, warum sie wie eine Leprakranke gemieden wird.

Norbert Scheuer Roman ist ungemein facettenreich und von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Kann sein, dass man sich einschüchtern lässt von der Vielstimmigkeit des Personals, von der Veielstimmigkeit des Lesegefühls, einmal dunkel, einmal hell, von den mit kryptischen Texten beschriebenen Bierdeckeln in der Schublade des griechischen Wirts, die zusammen mit Ninas Traumzeichnungen den Roman illustrieren, von Traum- und Wahnbildern, die die Geschichte permanent kippen lassen. Aber wer sich gerne von wirklicher Schreib- und Erzählkunst, von Sprachmagie fesseln lassen will, ist mit dem neusten Roman aus der Feder Norbert Scheuer wunderbar bedient.

Norbert Scheuer erzählt zwar von der kleinen Welt in Kall im Urftland, aber eigentlich von den grossen Themen des Menschseins. Von Liebe und Tod, von der Sehnsucht nach Nähe und Ferne. Auf nicht einmal 200 Seiten macht Norbert Scheuer das Kleine zur grossen Bühne. Und wer in Norbert Scheuers Roman- und Erzählwelt zuhause ist, trifft sie alle wieder, die in seinen bisherigen Romanen grosse und kleine Auftritte hatten.

Nach der Lektüre schiebe ich „Mutabor“ zu all meinen Norbert-Scheuer-Schätzen in meinem Bücherregal, mit Wehmut darum, weil Norbert Scheuer so sehr mein Herz bewegte.

Norbert Scheuer liest am Dienstag, den 20. September 2022 im Literaturhaus Thurgau aus seinem neuen Roman «Mutabor», obwohl im gedruckten Programm der Roman «Winterbienen» angekündigt wird.

Illustration von Erasmus Scheuer aus dem Roman «Mutabor» von Norbert Scheuer – mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben

Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, «Am Grund des Universums» (2017) und «Winterbienen» (2019), das auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises stand, zum Bestseller sowie ausserdem in viele Sprachen übersetzt wurde. Er erhielt dafür den Wilhelm-Raabe-Preis 2019 und den Evangelischen Buchpreis 2020.

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Norbert Scheuer «Winterbienen», C. H. Beck

Nicht alle in Kall in der Eifel mögen Norbert Scheuer. Und nun hat er es endlich getan, endlich «etwas Gutes» über Kall, die Gemeinde in der Eifel, geschrieben. Dabei erzählt Norbert Scheuer, dessen Bücher sich tatsächlich stets um diese Gemeinde drehen, immer von der Welt, vom Hin- und Hergerissen-Sein. Dass er mit «Winterbienen», seinem neusten Roman, einmal mehr auf einer Long- oder Shortlist zu einem grossen Preis steht, verwundert mich nicht.

Egidius ist Bienenzüchter. Neben gelegentlichen Nachhilfestunden in der städtischen Leihbibliothek in Latein ist das seine einzige offizielle Einnahmequelle in einem kleinen Städtchen in der Eifel. Die Situation ist gespannt, der Krieg 1944 für die einen verloren und die andern kurz vor der letzten siegreichen grossen Gegenoffensive. Egidius ist Epileptiker, was für den parteistrammen örtlichen Apotheker Grund genug wäre, den Bienenzüchter zu verraten, denn seit die Nationalsozialisten an der Macht sind, gelten nicht nur Epileptiker als unwertes Leben. Euthanasie kostete Zehntausenden ihr Leben.

Während Bienenvölker nur als Kollektiv funktionieren und sich Egidius fast väterlich um seine Völker kümmert, zerfällt das Tausendjährige Reich zusehends. Man macht in der Umgebung des Städtchens Jagd auf desertierte Wehrmachtssoldaten und abgeschossene amerikanische Soldaten und brüstet sich in den Gasthäusern des Städtchens damit, ordentlich aufgeräumt zu haben. 

Egidius erwartet seinen nächsten Auftrag als Flüchtlingshelfer. Während der Krieg immer unkontrollierter tobt, gibt es noch immer Verzweifelte, die über die nahe Grenze nach Belgien fliehen wollen, weg vom Epizentrum faschistischer Gräuel. Das, was Egidius für seine Fluchthilfe bekommt, braucht er, um die Medikamente beim Apotheker zu bezahlen, die ihm ein einigermassen erträgliches Leben garantieren, die die Anfälle erträglich machen und seine Einschränkung verstecken lässt. Egidius packt Flüchtlinge auf die Ladefläche seiner Kutsche und tarnt diese als zu transportierende Bienenvölker. Ein gewagtes Unternehmen an all den Kontrollen vorbei. Zumal sich Egidius als Frauenversteher- und verführer im Städtchen wohl Freundinnen macht, aber auch Feinde.

„Das Volk schrumpft zwangsläufig, denn um die kalte Jahreszeit zu überleben, braucht es nicht so viele Bienen.“ Ein Bild, das auch für die letzten Monate des sterbenden Dritten Reiches passt. Während Heerscharen von jungen und alten Männern, den Landsern, in einen sinnlosen Endsturm geschickt wurden, Minderjährige zu Kindersoldaten wurden, in Radio und Zeitungen die unmittelbare Nähe des Endsieges prophezeit wurde, starben Deutsche in Städten, Kellern, Schützengräben, U-Booten und Schiffen wie die Fliegen. Eine kalte Jahreszeit!

Der Krieg wird immer unmittelbarer. Bombentreffer, Treffer von Tieffliegern. Egidius Fluchthilfe immer riskanter. Eine junge Frau verliert ihr Neugeborenes nach seiner Fluchthilfe, weil sie vergewaltigt wird und niemand merkt, dass im Rucksack auf ihrem Rüchen ein kleines Kind versteckt ist. Ein Professor stirbt in einem seiner zur Flucht präparierten Transportbienenstöcke. Es droht Verrat überall. Seine Medikamente werden immer knapper, seine Anfälle und Aussetzer immer häufiger. Das Grosse und Kleine kollabiert.

Norbert Scheuer interessiert sich im Kleinen für das Grosse. Sein Roman ist vielschichtig, feinfühlig und von grosser Intensität. Aufgebaut wie das Tagebuch eines Bienenzüchters und -forschers, auf den Spuren von Ambrosius Arimond, einem seiner Vorfahren aus dem 15. Jahrhundert, nimmt mich Egidius Arimond an der Hand und führt mich durch das Urftland, die Gegend um die Gemeinde Kall in der Eifel, zu einer Zeit, als Köln bereits in Schutt und Asche lag und das grosse Sterben apokalyptisch wurde.

Grosse Literatur mit tiefer Wirkung, geschrieben mit einem sensorischen Gefühl für ein Leben in einer Endzeit.

Norbert Scheuer, geboren 1951, lebt als freier Schriftsteller in der Eifel. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise und veröffentlichte zuletzt die Romane «Die Sprache der Vögel» (2015), der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, und «Am Grund des Universums» (2017). Sein Roman «Überm Rauschen» (2009) stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und war 2010 «Buch für die Stadt Köln».

Beitragsbild © Sandra Kottonau