20 Jahre Lyrik-Feinkost in Basel

Das Internationale Lyrikfestival Basel feierte die 20. Jubiläumsausgabe nicht mit Pauken und Trompeten, dafür mit sprachlichen Leckerbissen, die beweisen, das sich Lyrik längst nicht mehr in die Ecke der schöngeistigen Verzückung drängen lässt.

Schonungslos ehrlich und politisch, experimentierfreudig, direkt und eigensinnig, wild musikalisch, analytisch und leidenschaftlich – wie vielfältig, kräftig und authentisch Lyrik sein kann, das bewies das diesjährige Lyrikfestival Basel eindrücklich und äusserst professionell. Sich für eine Kunstform derart ins Zeug zu legen, vor der sich andere VeranstalterInnen aus Angst vor möglichem Desinteresse mit Bedauern aus der Affäre ziehen, gebührt Hochachtung und inniger Dank. Aber weil das Organisationskomitee aus der „Basler Lyrikgruppe“ besteht, einem lebendigen Haufen Dichterinnen und Dichtern, wird das jährlich stattfindende Festival nicht einfach eine Bühne, sondern lebendige Auseinandersetzung mit den verschiedensten Ausdrucksformen von Lyrik. Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried, Simone Lappert, Claudia Gabler, Wolfram Malte Fues und Rudolf Bussmann zusammen mit all jenen, die sich in der Vergangenheit um das Festival bemühten, feierten mit den Stimmen aller PreisträgerInnen des Basler Lyrikpreises die Sprache und zwei Jahrzehnte Abenteuer.

Rike Scheffler arbeitet transdisziplinär in Gebieten der Lyrik, Performance, Installation und Musik. Ihr neuer Gedichtband «Lava. Rituale» (2023) erkundet zärtliche, spekulative Seinsweisen artenübergreifender Allianz und Kollaboration mit mehr-als-menschlichen Agent*innen und KI.

Aus dem diesjährig Dargebotenen Höhepunkte herauszuheben ist schwierig und in meinem Fall höchst subjektiv. Da waren die leidenschaftlichen, zuweilen heiteren Texte von Dinçer Güçyeter, die eindringliche Performance von Rike Scheffler, der Tripp ins Dunkle mit Martin Piekar, die Entdeckung einer neuen Stimme, jener der diesjährigen Preisträgerin Carla Creda, das musikalische Aufstöbern von Störefrieden mit Airane von Graffenried und Robert Aeberhard, die tiefsinnige Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe von Steinunn Sigurðardóttir, Marion Poschmann und Daniel Falb und die witzige Begegnung der Performerinnen Nora Gommringer und Augusta Laar.

Dinçer Güçyeter ist ein deutscher Theatermacher, Lyriker, Herausgeber und Verleger. Güçyeter wuchs als Sohn eines Kneipiers und einer Angestellten auf. Er machte einen Realschulabschluss an einer Abendschule. Von 1996 bis 2000 absolvierte er eine Ausbildung als Werkzeugmechaniker. Zwischenzeitlich war er als Gastronom tätig. Im Jahr 2012 gründete Güçyeter den ELIF Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik. Seinen Verlag finanziert Güçyeter bis heute als Gabelstaplerfahrer in Teilzeit. 2017 erschien «Aus Glut geschnitzt» und 2021 «Mein Prinz, ich bin das Ghetto». 2022 erhielt Güçyeter den Peter-Huchel-Preis. Sein Roman «Unser Deutschlandmärchen» wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Dinçer Güçyeter im Gespräch Henri-Michel Yéré

Verändert sich auch das Klima in den Künsten, in der Literatur, in den Gedichten? Wie anders, ist doch die Dichtung immer mehr der Seismograph dessen, was Menschen umtreibt. Für die isländische Dichterin und Schriftstellerin Steinunn Sigurðardóttir sind die klimatischen Veränderungen nicht bloss sichtbar, sie werden zur ganz direkten Bedrohung.

 

Geröllberg

Der gletscher, ewig
aber doch aus vergänglichem stoff, kam ans licht.
Aus wasser und lebenden farben.

                      ***

Der Zerbrechliche zerspringt 
in tausend teile

wird zu dem wasser aus dem er gekommen.

Das war nicht unumgänglich. Doch wir
gleichgültigen ehrlosen heizten an,
liessen taten … auf taten folgen …

                      ***

Vatnajökull vom wasser genommen.

(aus «Nachtdämmern» von Steinunn Sigurdardóttir, Dörlemann, 2022, aus dem Isländischen von Kristof Magnusson)

Daniel Falb ist Dichter und Theoretiker. Er lebt und arbeitet in Berlin, wo er Philosophie studierte und mit einer Arbeit zum Begriff der Kollektivität promovierte. Er veröffentlichte fünf Gedichtbände, zuletzt «Deutschland. Ein Weltmärchen (in leichter Sprache)» (2023). Marion Poschmann (live zugeschaltet, weil die DB Reispläne verunmöglichte), lebt als freie Schriftstellerin in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, darunter den Peter-Huchel-Preis 2011, den ersten Deutschen Preis für Nature Writing 2017 sowie den Joseph-Breitbach-Preis 2023. Steinunn Sigurðardóttir, geboren in Reykjavik, studierte Psychologie und Philosophie am University College Dublin. Sie arbeitete als Radio- und Fernsehjournalistin und veröffentlichte mehrere Gedichtbände und Romane. «Der Zeitdieb» wurde in Frankreich mit Emmanuelle Béart und Sandrine Bonnaire verfilmt. Auf Deutsch erschien zuletzt «Nachtdämmern», eine Elegie über den sterbenden Grossgletscher Vatnajökull in Südostisland. Im Gespräch mit Alisha Stöcklin

Der Vatnajökull, der grösste Gletscher Islands und ausserhalb des Polargebiets der grösste Gletscher Europas, schmilzt. Damit wandelt sich Island, das zu 10 % von Gletschern bedeckt ist, nicht bloss zu einer Geröllinsel. Die riesigen Gletscher Islands besänftigen noch die «bösen» Vulkane, die unter der malerischen Oberfläche schlummern. Steinunn Sigurðardóttirs Dichtung im Band «Nachtdämmern» richtet sich ganz direkt gegen Ignoranz und Verdrängung. Dichtung reagiert, ganz im Gegenteil zu einem Grossteil der Gesellschaft, die munter weiteragiert, als wäre die Zukunft so einfach die Fortsetzung der Vergangenheit. Wissenschaft und Kultur sind sich in einem breiten Spektrum aktiv und sehr intensiv dessen bewusst, was die menschlichen Eingriffe an globalen Veränderungen mit sich bringen. Kein Wunder, dass jene Kunst, die um Worte, Sätze, Formulierungen ringt, nach Klärung und vielleicht sogar Erklärung Niederschlag findet, was an Ängsten und Befürchtungen aus der Suppe unleugbarer Fakten steigt.

Ariane von Graffenried ist Schriftstellerin und promovierte Theaterwissenschaftlerin. Sie ist Mitglied der Autor*innengruppe Bern ist überall und tritt als Spoken-Word-Performerin im Duo Fitzgerald & Rimini auf. 2017 erschien ihr Buch «Babylon Park», 2019 folgte «50 Hertz», eine CD mit Gedichtband. Für ihre Texte wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Warum fällt es uns so schwer, in grossen Zusammenhängen und Räumen zu denken, geschweige denn zu leben? Horizonte gehen auf, das Raumschiff Erde ist ein in sich geschlossenes Ökosystem. In der Literatur, in der wie in keiner anderen Kunstform das eigene Ich verlassen werden kann, verschieben sich Perspektiven. Das zeigt auch Marion Poschmann in ihrer Dichtung. Sie fordert eine «Romantisierung». Keine Verklärung, Beschönigung oder Idylle, sondern eine revolutionäre Bewegung als Gegenkraft zur rationalen Vernunft, eine Besinnung auf das «Einzigartige», als letzter Akt gegen all das Zerstörerische.

Schon der Begriff «Klimawandel» beschönigt die rollende Katastrophe. So wie unsere Gesellschaft noch immer nach Worten ringt, um den Dingen Kontur zu geben, tut es die Kunst. Dichtung ist gefundene Sprache.

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Fotos © Samuel Bramley

27. Internationales Literaturfestival Leukerbad – Literatur macht sich auf!

Es gibt Schönwetterwanderer, zu denen ich mich zähle, die sich von wenig verheissungsvollen Wetterprognosen abschrecken lassen. Aber wenn eine grosse Gruppe Angemeldeter am Bahnhof steht, mit Rucksack und Erwartungen, dann ist ein Zurück letzte Option und die Stimmung aufgekratzt, weil der Tag kalkuliertes Abenteuer verspricht. Was dann auch geschah!

Die „Literarische Wanderung“, mit der das Internationale Literaturfestival jedes Jahr beginnt, ist für einen Grossteil der Teilnehmenden zu einem fixen Bestandteil ihres Besuchs in den Walliser Bergen geworden. Heuer begleitet von Ariane von Graffenried, Dichterin und Performerin und Karl Rühmann, Schriftsteller und Übersetzer.

Von Graffenrieds Texte kippen vom Konkreten ins Poetische und zurück, mal Deutsch, mal English, mal Dialekt, sie ist eine Geschichtenerzählerin des Geheimen und Verborgenen, eine ebenso raue wie galante Berichterstatterin aus den Halbwelten des Mondänen, eine literarische Umgarnerin der provinziellen Unterwelt.

Karl Rühmann las aus seinem Debütroman „Glasmurmeln, ziegelrot“, einem Roman schillernd wie durch eine Glasmurmel betrachtet, ein eigentliches Geschichtenbuch, poetisch, mosaikartig erzählt, aus schimmernden Miniaturen, die sich zu einem wunderbaren Ganzen fügen. Von einem Kind, manchmal in der ersten, manchmal in der dritten Person, oft im gleichen Abschnitt wechselnd, was dem Text etwas Flimmerndes gibt und ihn weit wegträgt von Selbstreflexion. 

Die Wanderung über Alpwiesen, deren Blumenpracht mich manchmal stolpern liess, über das ehemalige Waldbrandgebiet, jene 300 Hektaren Wald, die vor 20 Jahren den Schutzwald über dem Städtchen Leuk vernichteten, den man erst aufforsten wollte, sich dann aber entschloss, Gefahrenstellen zu sichern und die Brandfläche mehr oder weniger sich selbst zu überlassen. Was damals eine Katastrophe war, erwies sich für die Natur als Glücksfall. Pfanzen und Tiere eroberten sich die Brandfläche zurück, neben den verkohlten Relikten eines Infernos gedeihte bald Neues, Unverhofftes, wächst 20 Jahre danach ein Stück Natur, das in seiner Vielfalt und Eigenheit überrascht.

So wie die Literatur in Leukerbad überrascht! Kunst, die sich permanent erneuert, die sich den Fragen der Gegenwart stellt und in der bröckelden Kulisse menschlicher Sehnsucht nach Erholung und Zerstreuung einen manchmal surrealen Kontrapunkt setzt, wenn es um die (Neu-)Ausrichtungen menschlichen Zusammenlebens geht, um Perspektiven und spachgewordene Utopie.

© Liteaturfestival Leukerbad

Joachim Sartorius, Lyriker, Übersetzer, Herausgeber und Erzähler, schildert in seinem Buch „Die Versuchung von Syrakus“ seine ganz eigene Auseindersetzung mit einer Stadt, die im Wandel der Jahrhunderte von einer griechischen Siedlung mitten im Sumpfgebiet zur bedeutendsten Metropole am Mittelmeer wurde, zu einem Nabel der Welt, einer Stadt, in der sich wie selten die Kulturen in Stadt und Umgebung ablesen lassen, einer Stadt, in der sich der Dichter nicht eigentlich zurückzieht, sondern abtaucht in die Sedimente der Zeit, in die Stein und Papier gewordene Historie, in ein Erbe, das der Schönheit huldigt, ob in Architektur, Musik, Literatur oder des Zusammenschmelzens verschienster Kulturen bis in den Friseurladen in der Via Roma oder in den Palast von Baron Lucio Tasca di Lignari, vorbei am Dom von Syrakus ins „Trümmerfeld einer einstigen Megastadt“. Joachim Sartorius’ Buch ist das Gegenteil eines Städtereiseführers. Sartorius zeigt, was geschieht, wenn man sich tatsächlich auf einen Ort einlässt, wenn man abtaucht und die Stadt zu einer Vertrauten macht. Er macht seinen Sehnsuchtsort zu einem der meinigen!

Sprecherin Michael Wendt, Pascale Kramer und Moderator Thorsten Dönges (© Liteaturfestival Leukerbad)

So wie Joachim Sartorius eine Stadt zum Tor einer Jahrhunderte langer Menschheitsgeschichte macht, so tief brennt die in Genf geborene und in Paris lebende Schriftstellerin Pascale Kramer in die Abgründe menschlichen Lebens. Ihr neustes Meisterstück «Eine Familie» nimmt sich nicht zum ersten Mal der Keimzelle allen Glücks und aller Katastrophen an. Es ist das eigentliche Thema der grossen Autorin, der im deutschen Sprachraum nicht jene Bedeutung zugesprochen wird, die sie verdienen würde. Aber wer einmal an den Kramer’schen Kosmos angedockt hat, der weiss, wie feinsinnig, treffend und sprachlich gekonnt die Schriftstellerin zeigt, was in den unendlich vielen Verschiebungen im Biotop Familie angerichtet werden kann. Pascale Kramer leuchtet in die Schatten einer Familie. Sie tut das mit derart viel Sympathie für ihre eigenen Figuren, dass man sich wünscht, ihr Verständnis wäre das eigene. Pascale Kramer zieht mich in einen literarischen Strudel, dessen Zug sowohl sprachlich wie von innenfamiliärer Dramatik beschleunigt wird. Wer den Kosmos Kramer noch nicht betreten hat, wer die grosse Schriftstellerin noch nicht entdeckt hat – «Eine Familie» ist alle Familien!

Ariane von Graffenried «es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», Laudatio für Nadja Küchenmeister zum Basler Lyrikpreis 2022

Sieben Raben hausen im Glasberg am Ende der Welt. Einst waren die Raben Knaben, doch ein Fluch verwandelte sie in Vögel. Ihre Schwester macht sich auf den Weg, sie zu erlösen. So beginnt das Märchen Die sieben Raben der Brüder Grimm. Die Erlösung hat einen Preis: Das Mädchen muss sich am Eingang des Glasbergs einen Finger abschneiden, denn nur mit einem «Beinchen» lässt er sich öffnen. Erst der Verlust macht die Rückkehr möglich. 

«ohne furcht» macht sich ein Ich in Nadja Küchenmeisters jüngstem Band zum titelgebenden Glasberg auf, «raukt» sich alsbald an den Ort der Herkunft heran, den nordöstlichen Stadtrand Berlins:

ich rauke durch die stadt, entlang des strangs, die bahn
bleibt in der bahn, ich rauke mich heran, ans wuhletal
zwanzig winter weit verdammt, und ich bin wieder da.

Das Gedicht endet mit den verheißungsvollen Worten: «fangen wir an».

Fangen wir an: Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute über die Dichtung von Nadja Küchenmeister zu sprechen. 1981 in Berlin geboren, wächst sie in der damals neu entstandenen Großsiedlung Hellersdorf im Wuhletal auf. Während sich in den 1990er-Jahren in der Innenstadt die Kulturen mischen, bleibt Hellersdorf ein vorwiegend ostdeutscher Bezirk, der zum Inbegriff Berliner Plattenbauarmut wird. «Aus dem einstmals angesehenen Wohngebiet war ein Problembezirk geworden. Wer es sich leisten konnte, zog weg», schreibt Nadja Küchenmeister 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Ort ihres Aufwachsens. Der soziale Abstieg des Bezirks geht mit Brüchen in ihrer Biografie einher, die für ihr Schreiben prägend werden. Aus den Schichten ihrer Vergangenheit holt sie Bild- und Tonmaterial in die Gegenwart und verwebt dieses zu Gedichten. Lyrisches Erzählen wird zu ihrem poetologischen Verfahren.

Nach dem Gymnasium in Hellersdorf studiert Nadja Küchenmeister Germanistik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Heute lebt sie in einem anderen Stadtteil Berlins, schreibt Hörspiele für den Rundfunk und lehrt an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Drei Lyrikbände sind von ihr erschienen, Alle Lichter (2010), Unter dem Wacholder (2014) und Im Glasberg (2020). In allen drei vergewissert sich ein Ich seines Daseins, indem es sich erinnert: an die Kindheit, an vertraute Orte oder an eine Liebe. Nadja Küchenmeister entwickelt einen einzigartig narrativen Sog. Wir folgen ihren detailgetreuen, luziden Zeilen, und diese Verfolgung fällt leicht, weil die Gedichte, ähnlich dem Märchen, das Geheimnis evozieren, ohne es unnötig zu verrätseln. Und so begleiten wir das Ich auf seinen Gängen durchs Wuhletal oder nach Zinnowitz, den kleinen Ort an der Ostsee, wo die Dichterin als Kind die Sommer verbrachte. Wir kehren mit ihr zurück im Wissen um die Unausweichlichkeit eines Verlustes in Gestalt eines «Beinchens», «rauken» uns heran ans Viertel oder an «das haus im ortsausgang», gehen durch den Hof, vorbei an der Laterne, der Tischtennisplatte oder Hollywoodschaukel.

Nadja Küchenmeister «Im Glasberg», Schönling, 2020

«es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», lautet ein Vers aus dem Gedicht es beginnt, wo es endet. Wir drehen den Schlüssel zu Nadja Küchenmeisters lyrischem Schaffen und betreten ihre Gedichte wie die Räume eines verwunschenen Sprachhauses. In ihnen stoßen wir auf Landschaften, Gehörtes und Gesprochenes, auf Geschichte, Ahnen und Gesang, auf W.G. Sebald, die Bright Eyes oder Jürgen Becker, auf ein Nebeneinander aus Erinnertem und Sichtbarem. Wir gehen in diese Gedichte hinein, gehen einen dunklen «flur entlang» und fragen uns: «was kommt dann?» Wir glauben dem «flur sein flursein nicht ganz», lassen uns von «halbschuhen beruhigen, höflich / in reihe, abgetragen» und ahnen schon, dass in der klangvollen Abzweigung, die der Vers gleich nehmen wird, eine streng komponierte Idylle ins Gegenteil kippen kann. Wir schreiten durch einen gegenwärtig-vergangenen Echoraum, tasten uns entlang Terzetten, denen die Dichterin vertraut, und hören Schritte, die zu unseren werden. Wir gehen in ihren Stillleben aus Drehsätzen, Klang- und Sprachspielen eigene Wege, treffen auf Assonanzen, stolpern über verstreute Reime, folgen Enjambements oder einem traditionellen Versmaß, das in einen freien Rhythmus übergeht, um uns in einem weiteren Zimmer wiederzufinden, das in weitere historische, philosophische und poetische Hall- und Denkräume führt.

Es ist Nadja Küchenmeisters Methode, in diesen Räumen von ganz konkreten und alltäglichen Dingen zu erzählen: von Wäscheständern und Kommoden, von überbackenen Nudeln, Resopal und Unterhosen, von Fliesen, Herztabletten, Eduscho Kaffee und Blockschokolade. Von der Zuverlässigkeit der Dinge ist in der abendländischen Tradition des Denkens immer wieder die Rede. Denn in den Dingen lässt sich die Geschichte sehen. Im Gedicht rauperich heißt es: «wer aufräumt, der begegnet sich, wie ungünstig». Das Ich und das Du spiegeln sich in vielen von Nadja Küchenmeisters Gedichten nur noch in den Dingen. Oder, wie die Dichterin selbst es einmal beschrieb: «Ich bin in allem, was mich umgibt, enthalten, sofern ich es in mich aufgenommen habe, und manchmal will es mir sogar scheinen, als erinnerten sich die Dinge auch an mich, als bedeuteten sie mir in ihrer unverrückbaren Existenz, dass sie bleiben, wie sie waren, damit auch ich ein wenig so bleiben darf, wie ich war.»

Doch nicht nur das Ich konstituiert sich in den Dingen. Sie erzählen auch von einem fehlenden Du, von der Anwesenheit in Abwesenheit, etwa beim Betreten eines plötzlich verlassenen Elternhauses:

[…] an der garderobe
hängt dein schwacher abdruck, mantel, ärmel
ohne muskeln, ohne geschichte kann ich nicht

nach hause gehen: ich zähle deine hemden, socken
unterhosen, entwirre die kabel unter dem tisch, schwarze
wurzeln, die keinen anfang und kein ende haben.

Der Versuch, die Herkunft zu ergründen, führt ins Uferlose. Oder in die Dunkelheit der Geschichte. Die Dichterin weiß, dass man dem Erinnern nicht immer trauen kann. «ich erinnere mich ans erinnern, noch mehr erinnere ich mich an nichts», heißt es unsentimental in einem ihrer Liebesgedichte. Nadja Küchenmeisters Poesie des Erinnerns ist gleichzeitig immer eine Reflexion darüber. Sie macht deutlich, dass die Frage, was war, und die, wie es war, keine rein persönliche ist. In einem Gedicht des Zyklus der tod im traum liegt das Ich im Gras, es ist ein Du geworden. Die Hunde jaulen wie Wölfe, und die längst vergessene Schlagerzeile «heißer sand und ein verlorenes land» klingt zaghaft aus dem Radio:

dann trittst du noch einmal über die schwelle … und deine ahnen
heckenschützen unterm lampenbogen, reichen schüsseln und servietten.
ein hauch von lippenstift am glas. sie sprechen heiser, sprechen durchs
papier: verschweigen manches und erinnern nichts, das war ja klar.

Die Bruchlinien, auf die wir in diesen Chroniken des gewöhnlichen Augenblicks stoßen, zeigen, wie sich ein Ich in der Wirklichkeit, in einer historischen Begebenheit, einer sozialen Lage oder einem Schmerz verliert. Das macht diese Lyrik so eindringlich, zeitlos und gegenwärtig.


Wir übergeben diesen Preis an Nadja Küchenmeister für ihre virtuose sprachliche Beobachtungsgabe, für ihr großes und ebenso kritisches Vertrauen in literarische Traditionen, für ihr Gespür für Musikalität, mit dem sie die vertraute Welt der Dinge in den Vordergrund rückt. Im scheinbar Nebensächlichen und Bekannten lauert immer auch das Fremde und Abgründige, dem die Dichterin durch meisterhafte Konkretion begegnet. Wir fühlen den Schlüssel zu ihrem Sprachhaus in unseren Taschen und danken ihr dafür.

Herzliche Gratulation, liebe Nadja Küchenmeister!

Ariane von Graffenried

Beitragsbild © Dirk Skiba

Internationale Tage für improvisierte Musik und Poesie in St. Gallen? Ein neues Lyrikfestival?

Noch sind die ersten Internationalen Tage für improvisierte Musik und Poesie ein Experiment. Ein Experiment in vielerlei Hinsicht. Nach ersten Erfahrungen mit junger Schweizer Literatur, den Text mit Musik zu vermischen und zu verweben, sowohl dem Text wie der Musik aus dem Moment einen neuen Raum zu erschaffen, wagen wir uns tapfer in eine nächste Runde. Überzeugt davon, dass den klassischen „Wasserglaslesungen“ daraus etwas entgegenzustellen ist, erst recht im Zusammenspiel von Lyrik und Musik, die sich beide ihrer ganz eigenen Instrumente bedienen.

Wer erträgt schon verdichtete Sprache über eine Stunde lang, ein Gedicht nach dem anderen, ein Bombardement von Sinnesspiegelungen, die sich sehr oft einer klaren, ganz einfachen Interpretation entziehen? Aber da es ja sehr oft genau die Art des Schreibens ist, die sich explizit um Klang, Rhythmus, Farbe und Resonanz bemüht, ist es naheliegend, diese zwei Sparten miteinander zu verbinden.

Die Bühne, die wir Lyrik und Musik bieten, ist wenig bespielt. Selbst an grossen Festivals wie den Solothurn Literaturtagen oder dem Lyrikfestival Basel sind Veranstaltungen, die über die klassische Rezitation hinausgehen, selten. Und da erste Erfahrungen, beispielsweise mit der österreichischen Dichterin Margret Kreidl mehr als positiv ausfielen, wagen wir uns in dieses Abenteuer, zumal die im kommenden November eingeladenen KünsterInnen klingende Namen haben: Wolfgang Hermann aus Wien, Michelle Steinbeck aus Hamburg (Basel), Ariane von Graffenried aus Bern und Thilo Krause aus Zürich.

Ob daraus ein Lyrikfestival in eigenem Format mit Tradition wird, entscheiden nicht zuletzt die Kulturinteressierten aus der Ostschweiz, ob sie sich verführen, zu akustischen Abenteuern locken lassen. In einer Zeit, in der man sich um echte Emotionen so sehr bemüht, ist eine Veranstaltung mit Lyrik und improvisierte Musik genau das Richtige. Im Theater 111 in St. Gallen wachsen Welten zusammen!

L111 sind Christian Berger (Sound), Dominic Doppler (Takt), Gallus Frei-Tomic (Konzept) und Flavia Steinlin (Marketing & Kommunikation). Mehr Informationen unter l111.ch oder christianberger.ch.

Ariane von Graffenried CH, Wolfgang Hermann A, Thilo Krause CH, Joseph Zoderer I

Nachdem die Reihe mit «junger CH-Literatur» im Januar nach wunderbaren Abenden mit Yaël Inokai, Arja Lobsiger, Dana Grigorcea, Julia Weber und Noëmi Lerch zu einem guten Ende kam, wird im kommenden Herbst eine neue Reihe im Theater 111 in St. Gallen über die Bühne gehen. Vier ganz unterschiedliche Dichterinnen und Sicher haben ihre Teilnahme zugesichert.

Ariane von Graffenried (1978) ist Autorin und  promovierte Theaterwissenschaftlerin, schreibt für die Bühne, fürs Radio, Zeitungen und die Wissenschaft. Sie ist Mitglied der preisgekrönten Autor*innengruppe «Bern ist überall». Seit 2005 tritt sie als Spoken-Word-Performerin mit dem Musiker und Klangkünstler Robert Aeberhard im Duo «Fitzgerald & Rimini» auf. Zuletzt erschien das Buch «Babylon Park» (2017), für das sie den Literaturpreis des Kantons Bern erhielt.
Von Graffenrieds Texte kippen vom Konkreten ins Poetische und zurück, mal Deutsch, mal English, mal Dialekt, sie ist eine Geschichtenerzählerin des Geheimen und Verborgenen, eine ebenso raue wie galante Berichterstatterin aus den Halbwelten des Mondänen, eine literarische Umgarnerin der provinziellen Unterwelt.

Thilo Krause geboren 1977 in Dresden, lebt in Zürich.  Abitur, Zivildienst als Pfleger, Studium des Wirtschaftsingenieurwesens in Dresden und London, Promotion an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, danach Forschungsbereichsleiter am Schweizerischen Bundesamt für Energie, bis 2015 Forscher an der ETH Zürich, aktuell beim Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (ewz).
Seit 2005 literarische Veröffentlichungen in namhaften Zeitschriften (u.a. Akzente, Sinn und Form), Zeitungen (die ZEIT, Zürcher Tagesanzeiger, u.a.) und Anthologien. 2012 Schweizer Literaturpreis für den Debütband «Und das ist alles genug«, der 2015 in der französischen Übersetzung von Eva Antonnikov («Et c’est tout ce qu’il faut«) erschien. 2016 Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg und ZKB Schillerpreis für das zweite Buch: «Um die Dinge ganz zu lassen«. 2019 Peter-Huchel-Preis für den Band «Was wir reden, wenn es gewittert» (Edition Lyrik Kabinett im Carl Hanser Verlag).
Thilo Krause ist Mitglied im Verband Autorinnen und Autoren der Schweiz sowie im Literaturforum Dresden. Im Winter unterrichtet er Skilanglauf beim Firmensport Regionalverband Zürich (Bereich Nordisch).

Wolfgang Hermann wuchs in Dornbirn in Vorarlberg auf und studierte ab 1981 Philosophie und Germanistik an der Universität Wien. 1986 promovierte er mit einer Arbeit über Friedrich Hölderlin zum Doktor der Philosophie. Anschliessend war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Wien. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller. 1992 nahm er am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Von 1996 bis 1998 arbeitete er als Lektor an der Sophia-Universität in Tokio.
Wolfgang Hermann schreibt Prosa, Lyrik, Theaterstücke und Hörspiele. Einige seiner Publikationen wurden in Englisch, Französisch, Spanisch, Schwedisch, Arabisch, Lettisch, Slowenisch, Japanisch, Koreanisch, Polnisch, Hindi übersetzt. Er ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland.
Er verfügte über wechselnde Wohnsitze, wie in Nordafrika und auf Sizilien. Von 1987 bis 1990 lebte er in Berlin, danach in Paris und in Aix-en-Provence. Von 1996 bis 1998 hatte er ein Lektorat an der Sophia-Universität Tokio inne.
Heute lebt Wolfgang Hermann in Wien.

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als  freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2004). Joseph Zoderer, einem der führenden Erzähler der Gegenwartsliteratur, in Einzelbänden neu aufgelegt. In Zusammenarbeit mit Johann Holzner und dem Brenner-Archiv Innsbruck wird jeder Band durch ein Nachwort sowie interessante Materialien aus dem Vorlass des Autors ergänzt. Davon bisher erschienen: „Das Schildkrötenfest“. Roman (2015), „Dauerhaftes Morgenrot“. Roman (2015) und „Die Walsche“. Roman (20016), 2017 folgt „Lontano“. Roman.