Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Man muss sich warm anziehen am 26. Literaturfestival in Leukerbad. Nicht nur wegen der zum Teil garstigen Temperaturen und des Wetters, das sich effektvoll über dem Tal inszeniert, sondern wegen der Themen, die sich unüberhörbar einmischen!

Nichts, aber auch gar nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass sich auch das Literaturfestival in schwierigen Zeiten befindet. Da kann der Himmel noch so blau sein, die Kulisse noch so imposant, die Namen im Festivalprogramm noch so prominent und das Programm selbst den Zeiten angepasst.
 Sinnbildlich dafür war ein Gespräch im grossen Festivalzelt zwischen der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk («Blauwal der Erinnerung», Kiepenheuer & Witsch 2019) und dem deutschen Historiker und Russlandkenner Karl Schlögel («Der Duft der Imperien», Hanser 2020). Während sich die beiden in einem Gespräch versuchten, das immer mehr zu einem verzweifelten Aufruf gegen das Vergessen und die gegenwärtige Gewöhnung eines nicht fassbaren Ausnahmezustands wurde, braute sich über dem Zelt ein infernalisches Gewitter zusammen. Während Tanja Maljartschuk von ihrer kollektiven und ganz persönlichen Verzweiflung berichtete und Karl Schlögel klarzumachen versuchte, dass die Katastrophe nicht erst am 24. Februar dieses Jahres begonnen hatte und das Land, dass im Bombenhagel eines Diktators und Geschichtsverdrehers in eine Trümmerwüste mit Millionen Vertriebener verwandelt wird, seit bald einem Jahrhundert zwischen den Fronten zerrieben wird, entlud sich das Gewitter, prasselte der Regen auf das Stoffdach, krachte der Donner. Man musste sich im Zelt warm anziehen, so wie sich ein ganzer Kontinent in den kommenden Monaten und Jahren warm anziehen muss, weil nichts mehr so sein wird, wie es einmal war – auch weit weg vom Krieg in der Ukraine.

Marie NDiaye

Schwierige Zeiten für die Literatur und ein Literaturfestival, wenn man sich nur noch mit Vorbehalt, einer gewissen Hemmung und latent ungutem Gewissen dem reinen Sprachgenuss hingeben kann. Taugt Literatur noch zum ungehemmten Genuss? Vielleicht ist deshalb Leukerbad genau der richtige Ort für ein solches Festival, denn der Ort Leukerbad selbst kann nicht leugnen, dass wir uns auf einem „absteigenden Ast“ befinden, dass punktuelle Korrekturen nicht mehr reichen, um das in Schieflage geratene Schiff auf Kurs zu halten. Schriftstellerinnen wie Hiromi Ito („Dornauszieher“, Matthes & Seitz 2021), die in Japan zu den wichtigsten literarischen Stimmen gehört oder die aus Frankreich angereiste Emmanuelle Bayamack-Tam („Sommerjungs“, Secession 2022) oder Marie NDiaye („Die Rache ist mein“, Suhrkamp 2021), eine Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur erzählen vom Schlachtfeld Familie, von den grossen und kleinen Katastrophen, die sich unter den Oberflächen abspielen und hervorbrechen. Schwierige Zeiten, weil neben dem Selbstverständnis Familie auch das Selbstverständnis Geschlecht zu wanken beginnt, weil Ordnungen permanent in Frage gestellt werden, Krusten durchbrochen, Ketten gesprengt und gewissen Fragen endlich zugelassen werden.

Alois Hotschnig

Vieles am diesjährigen Literaturfestival in Leukerbad setzte sich mit scheinbaren Wahrheiten, scheinbaren Ordnungen auseinander. Während man sich beim Bachmannwettlesen in Klagenfurt wundert, dass das blosse Erzählen nicht mehr reichen will, wird klar, dass die Literatur wie keine Kunstrichtung sonst in die Pflicht genommen wird, sich mit den aktuellen Fragestellungen der Gegenwart zu stellen. Kein Wunder, dass es die leiseren Stimmen sowohl am Festival wie auch auf den medialen Bühnen der Literatur überall schwerer haben, sich an ihrem Platz zu behaupten. So waren die Lesungen des Österreichers Alois Hotschnig („Der Silberfuchs meiner Mutter“, Kiepenheuer & Witsch 2021) oder des in Rom lebenden Schweizers Pascal Janovjak („Der Zoo in Rom“, Lenos 2021) Stimmen, die sich mit der Vergangenheit und Innenwelten beschäftigen. Sie beschäftigen sich mit den Spuren eines Lebens, mit Geschichten in der Geschichte, mit filigranen Erzählstrukturen, Fragestellungen, die mir als Leser aber gleichwohl gestellt werden, existenziellen Auseinandersetzungen, die mich mitnehmen, wenn ich bereit bin, mich ihnen zu stellen. Erzählt in einer Sprache, sie sich nicht am Effekt orientiert.

Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Beitragsbilder © Internationales Literaturfestival Leukerbad

44. Solothurner Literaturtage: Ein überzeugendes Comeback!

Nach pandemiebedingtem Unterbruch strahlen die 44. Solothurner Literaturtage über alle Erwartungen hinaus. Ein dreitägiges Fest der Literatur, der kulturellen Vielfalt und der Freundschaften. Und fast 20000 BesucherInnen!

Mag sein, es hatten alle Hunger und Durst. Es war, als würde über allem das Wort „Endlich“ stehen. Durchaus im doppelten Sinn. Zum einen war da die Freude, dass es dieses Festival in der einem so lieb gewordenen Form überhaupt wieder gegeben hat. Zum andern war man sich bewusst, dass es der äusseren Einflüsse genug gäbe, die einem solchen Festival an die Gurgel springen können.
Es war ein Fest – ein Fest des Wiedersehens, ein Fest der Begegnungen, ein Fest der Freude, ein Fest der Hoffnung, ein Fest des Buches, ein Fest der Kunst – ein Fest der Freundschaft. Und niemand hatte Lust, sich dieses Fest verderben zu lassen, schon gar nicht, wenn das Wetter zum verlässlichen Freund wird. Ich erinnere mich an Austragungen der Solothurner Literaturtage, an denen heftigst darüber diskutiert wurde, wen man versäumt habe, einzuladen, wer vergessen ging, wie gross der angerichtete Schaden sei. Diese Diskussionen fanden kaum statt, auch wenn man hätte diskutieren können.

«Ein eindrücklicher Beweis, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!» Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir»

Es gab wie immer von allem einiges, von Spoken Word, zum Beispiel die junge Sarah Elena Müller, der das Publikum artig applaudierte, obwohl sie all den Gutbetuchten einen grellen Spiegel vorhielt, Lyrik wie der von Simone Lappert, die bewies, das Dichtung einen Körper zum Instrument werden lassen kann und dieses Instrument ein Stadttheater zum Wabern bringt, grosse Namen der Belletristik wie jener von Nino Haratischwili, die mit ihrer Art des Erzählens nicht nur in ihren Büchern bannt, bis hin zu Kinder- und Jugendbuchliteratur, die es meisterhaft versteht, Geschichten sinnlich werden zu lassen. Kleine Verlage und grosse, grosse Namen und unbekannte. Als Ganzes war das Programm durchaus gelungen, auch wenn der ganz grosse Gast aus Übersee, Joshua Cohen, eben preisgekrönt durch den Pulitzer-Preis, seine Teilnahme absagen musste.

«Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.» Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht»

Auffällig war, wie sichtbar das Aufbrechen von Grenzen war. Musik beispielsweise wird immer offensichtlicher nicht einfach zu einer Begleitung, einer Auflockerung. Vielen AutorInnen gelingt es eindrücklich, mit Musik Sinne zu öffnen, Bilder und Eindrücke zu verstärken, manchmal alleine durch die eigene Stimme, die Rhythmus und Tonalität in ganz andere Sphären hieven kann. So sah man Michael Fehr auf der Bühne des Stadttheaters sitzen und singen, ohne Begleitung, nur mit sich und seiner Stimme! Da wird jemand zu Musik! Oder in Formation, unterlegt durch einen eigentlichen Soundtrack.

Lange forderte man das Ende der klassischen „Wasserglaslesung“, schien es nicht mehr zu genügen, dass Schreibende aus ihren Werken lesen und Fragen dazu beantworten. Glücklicherweise gibt es diese noch immer, auch jene kauzigen Urgesteine der Literatur, bei denen man nie so richtig weiss, ob sie Zuhörende an der Nase herumführen oder die Performance der einzige Weg durch das Buch ist.

«Frank Heer vermischt Genre ebenso lustvoll wie Handlungsstränge. Und alles ist unterlegt vom satten Sound einer Generation, die noch glaubt, dass mit der Kraft der Musik etwas zu erreichen ist.» Frank Heer «Alice»


Auch bei den Formaten ist man selbst nach der 44. Austragungen noch immer auf der Suche nach Verbesserungen. So platzierte man die „Gratislesungen“ auf der Aussenbühne vor die breite Treppe der St. Ursenkathedrale. Was für ein Anblick, wenn bei der Lesung von Julia Weber aus ihrem Roman «Die Vermengung» auf der Treppe vor der beeindruckenden weissen Kalksteinfassade regelrechte Arenastimmung aufkommt und der Eindruck, Literatur breite sich über eine ganze Stadt aus!

«Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!» Rebecca Gisler «Vom Onkel»


So viele Menschen wie schon lange nicht mehr besuchten dieses Festival der geschriebenen Bilder. Der Organisation der Solothurner Literaturtage gelang das, was eigentlich nur schwer zu schaffen ist; eine repräsentative Nabelschau der CH-Literatur, angereichert mit grossen Namen aus dem Ausland. Aber es waren nicht Landesgrenzen, die man demonstrativ überschritt, sondern jene der Künste. Etwas, was angesichts der Grenzenlosigkeit in der aktuellen Geschichte Signal sein könnte.

«Ein Roman, der mir das Blut in den Kopf treibt, der mich schwindlig macht, der mich hin- und herschlägt zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, in der Gegenwart der Hölle ein schönes Stück näher gekommen zu sein.» Julia von Lucadou «Tick Tack»

Wer nicht an den Solothurner Literaturtagen war – lesen Sie! Kaufen Sie Bücher! Lesen ist vielfach sinnlich. Und wenn auch kein Buch die Welt zu retten vermag; Literatur schenkt unendliche Weiten! Besuchen Sie die vielen Festivals, die übers Jahr stattfinden. An solchen Festivals, an Lesungen und Darbietungen rund um die Literatur entsteigt den Büchern der Dschinn, der fast jeden Wunsch in Erfüllung bringen kann.

«Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.» Yael Inokai «Ein simpler Eingriff»


An einer Lesung von Urs Mannhart aus seinem hellsichtigen Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, sass eine Frau neben mir, die während der Lesung zeichnete. Die hier wiedergegebenen Zeichnungen sind ein Geschenk der Zeichnerin Charlotte Walder, entspringen einer spontanen Begegnung und symbolisieren wunderbar, was ein solches Festival leisten kann: Viel mehr als Berührungen!

«Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.» Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“

Reservieren Sie sich den 19. bis 21. Mai 2023!

(Eingefügt in den Text sind all jene Rezensionen auf literaturblatt.ch, die mit den AutorInnen an den 44. Literaturtagen in Solothurn korrespondieren.)

Ronya Othmann «die verbrechen», Hanser

2019 holte sich Ronya Othmann mit ihrem Text am Bachmannpreislesen in Klagenfurt den Publikumspreis. 2020 doppelte sie in eindrücklicher Weise mit ihrem Roman „Die Sommer“ nach, einem Buch, dass von Leyla erzählt, der Tochter einer Deutschen und eines êzîdischen Kurden. Nun bringt sie mit ihrem ersten Gedichtband „die verbrechen“ eine Stimme auf die Bühne, der man mit einer eigenartigen Mischung aus Faszination und tiefer Betroffenheit lauschen wird.

Man kann Ronya Othmanns Gedichtband „die verbrechen“ auf ganz verschiedene Arten lesen. Ich gebe zu, dass mir der Einstieg in ihre Sprachwelt nicht ganz leicht fiel, was auch damit zusammenhängt, dass sich Ronya Othmann nicht vor langen Gedichten scheut, Texten, die sich wie breite Sprachkaskaden über mich als Leser ergiessen. Sie verlangen von mir als Leser alles ab, reissen mich in eine Welt, der ich mich nur ungern stelle, die mich aus meiner Komfortzone drängen, mir meine wohlgefällige Sattheit vor Augen führen.

„die verbrechen“ ist ein vielschichtiges Buch, das mich in sechs Ebenen in eine Welt mitnimmt, die mir sonst verborgen bliebe, eine Welt aus Schmerz, Sehnsucht, Trennung und Verdrängung. Ein Buch, das einem in die Träume begleitet, wenn man Ronya Othmanns Gedichte vor dem Einschlafen liest. Legt man ihr Buch offen mit den Seiten nach unten aufs Nachttischchen, leuchtet einem der orange-grüne Umschlag entgegen, ein Bild, dass an aufgeschlagene Melonen erinnert, aber im Zusammenhang mit dem Titel „die verbrechen“ ganz andere Assoziationen provoziert.

Eine weitere Ebene offenbart sich in den Überschriften zu den vier „Kapiteln“, in die das Buch unterteilt ist. Vier Titel, die untereinander wie ein Vierzeiler erscheinen:

abgesang
ich habe gesehen
was nicht in den akten steht
was dir bleibt, ist diese wunde

Ronya Othmann «die verbrechen», Gedichte Hanser, 2022, 112 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-446-27083-1

„die verbrechen“ sind die Gedichte einer Vertriebenen. Von jemandem geschrieben, dem man nicht nur die Heimat verwehrt. Man zerstörte sie. Man mordete und verwüstete. Man nahm Leben und Geschichte. Eine Perspektive, die bei der Lektüre angesichts dessen, was gerade eben in der Ukraine geschieht, wie Faustschläge auf die Seele trommelt. Es ist die Stimme einer tief Verwundeten, eine Stimme, der ich verwundert lausche, weil sie sich nicht der Wut, dem Zorn und Hass ergibt, sondern in die „Schönheit“ jener innigen Liebe zu einer Welt eintaucht, die verloren ist, die man ihr genommen hat.

Vielleicht sind die Überschriften zu den Kapiteln genauso zu lesen, wie die Überschriften zu den einzelnen Gedichten. Auch wenn ich sie untereinander zusammenfüge, werden sie zu einer langen Spur, die sich durch den ganzen Gedichtband zieht:


dann bist du in die hitze gekippt. unter dir war dunst und über
dir das dach deines hauses
das wagenrad, der wegesrand
öldistel, kurkuma, walnuss, indigo
die hunde erkennen dich an deinen schritten und bellen nicht
staatenlos bin ich gekommen, staatenlos bin ich gegangen

Es sind starke Bilder, Sinneseindrücke einer überaus Empfindsamen. Reflexionen in ein Sein, das sich nur mehr an Erinnerungen, Träume und Gedanken koppelt. Verbindungen mit einer Welt, die rohe Gewalt, Vertreibung, Krieg und Mord wegriss. Ein Bewusstsein einer durch Krieg und Zerstörung Vertriebenen. Damals und heute in Syrien. Gedichtüberschriften, die mehr sind als Titel. Sie bohren sich ein. Ich brauche als Leser den Raum dazwischen.

Die letzten beiden Ebenen sind die Gedichte selbst und die Bilder, die sie in mir zurücklassen. Bilder, die sich unweigerlich mit jenen aus den Medien vermischen, seien es solche aus dem Syrienkrieg, der nicht erst mit dem Krieg selbst zu einem Drama wurde. Oder mit dem Krieg in der Ukraine, der auch nicht erst Ende Februar 2022 begann. Aus den Gedichten spricht die Kraft einer Stimme, die nicht akzeptieren will und kann, dass eine Welt untergegangen ist, die sich nicht von den Bildern trennen kann, die sie wie Tagträume mit sich herumschleppt, Erinnerungen an ein Damals, das nicht mehr existieren darf. Bilder einer immerwährenden Trennung.

„die verbrechen“ ist mehr als Lyrik. Die Gedichte erinnern mich an Gesänge voller Leidenschaft und Kraft, voller Sehnsucht und Liebe!

Am Wortlaut Literaturfestival St. Gallen 2022 © Wortlaut

Ronya Othmann wurde 1993 in München geboren und lebt in Leipzig. Sie erhielt u.a. den MDR-Literaturpreis, den Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik, den Lyrik-Preis des Open Mike, den Gertrud-Kolmar-Förderpreis und den Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs. 2018 war sie in der Jury des Internationalen Filmfestivals in Duhok in der Autonomen Region Kurdistan, Irak, und schrieb bis August 2020 für die taz gemeinsam mit Cemile Sahin die Kolumne «OrientExpress» über Nahost-Politik. Seit 2021 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Kolumne «Import Export». Bei Hanser erschienen ihr Debütroman «Die Sommer» (2020), für den sie mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde.

Ihre journalistische Arbeit kann man sich auf Torial ansehen.

Beitragsbild © Cihan Cakmak

Herta Müller «Der Beamte sagte», Hanser

Romane erzählen Geschichten, manchmal auch mehr. Gedichte malen Bilder, manchmal mehr. Essays erklären, aber auch sie wollen manchmal mehr. Herta Müller will vielleicht gar nicht so viel, weder eine Geschichte erzählen noch die Welt erklären. Aber weil sie mit ihren Collagengedichten seit einem Jahrzehnt eine ganz eigene Ausdrucksart gefunden hat, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr durchaus ernst zu nehmendes Spiel bis in die Prosa wirkt.

Herta Müller schnipselt und klebt. Es gibt Fotos von ihr während ihrer Arbeit. Sie sitzt an einem Tisch, der übersät ist mit Wörtern und Wortfragmenten, kleinen farbigen Textbausteinen, mit denen sie bisher Lyrik und Kurzprosa zusammen mit kleinen Illustrationen zu eigentlichen Wortbildern zusammenfügte. Eine Technik, die ein wenig an Droh- und Erpresserbriefe erinnert, als sich Kriminelle noch die Zeit nahmen, aus Zeitungen Wörter zu schneiden und sie zu Texten zusammenzukleben. Was damals Angst und Schrecken auslöste, tut bei Herta Müller das genaue Gegenteil. Allein das Wissen, dass da jemand Text mit aller Akribie, Geduld und Muse so lange ordnet, arrangiert und platziert, macht das Lesen Herta Müllers Textseiten zu einer eigentlichen Meditation. Man wird ihnen nicht gerecht, wenn man einfach über sie hinwegliest, ihnen nicht jene Zuwendung schenkt, mit der die Autorin die Bilder erschuf.

Herta Müller «Das Beamte sagte», Hanser, 2021, 164 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27082-4

Herta Müller erzählt von jemandem, der vorgeladen wird. Zuerst beim Beamten A, dann beim Beamten B, einem Herrn Fröhlich und schlussendlich bei einem Beamten in den oberen Etagen. Man wirft ihr fehlendes Heimatgefühl vor, heisst sie eine Staatsfeindin. Die Beamten führen Gespräche, Gespräche, die aneinander vorbeiführen. Sie, die Angeklagte, hält sich auf in dem Gebäudekomplex, dem Lager mit Kantine, nicht eingesperrt, manchmal auch in einem Café in der Stadt, begegnet Menschen, einem leeren Vogelkäfig und immer wieder einem Vogel mit Silberkragen. Doch, Herta Müller erzählt eine Geschichte. Aber sie breitet die Geschichte nicht aus, will keine Klarheit schaffen, nicht einmal Ordnung, obwohl die Schnipsel selbst doch so einen ordentlichen Eindruck machen. Aber vielleicht ist das das HertaMüller’sche. Wenn Ordnung gemacht werden kann, dann höchstens in die Form, aber nicht im Inhalt, der einem stets die Erklärung schuldig bleibt.

Ich habe Herta Müllers Buch ganz langsam gelesen. Einzelne Seiten wie Gebetstafeln vor mir auf dem Schreibtisch liegen lassen. Manches scheint sich erst mit vielfachem Lesen zu erschliessen, vieles bleibt nur eine Ahnung. Das Skurrile, Absurde wendet sich. Manchmal weht es den lichten Vorhang vor dem Hintergrund für einen kleinen Moment. Und manchmal geben mir einzelne Seiten einen Stoss. Schon der erste Satz der Erzählung (keine Satzzeichen!) Ist Programm für das ganze Buch: „Manchmal hab ich mich vermisst.“ Ein Satz, der mich mitnimmt. Ein Satz, der mich für einen langen Moment tief in mich zurückwirft. Oder: „Gegen Abend schob sich eine schrecklich müde körperwarme Ferne über unser Haus. Dann kam ein Wind und zog das letzte Hemd aus.“ Oder noch viel mehr!

Ein rätselhaftes, geheimnisvolles, zauberhaftes, wunderschönes Buch! Ein bisschen grösser als „normale“ Bücher, dickes Papier und so geklebt, dass man es offen auf einem Tisch liegen lassen kann, was sein muss, um es wirken lassen zu können. Eine Kostbarkeit!


Herta Müller
, 1953 in Nitzkydorf/Rumänien geboren, lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin. Ihr Werk erscheint bei Hanser. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und ist die Literaturnobelpreisträgerin 2009.

Beitragsbilder © Laurence Chaperon

„Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn.“ Michael Köhlmeier an den 5. Weinfelder Buchtagen

Wer sich mit Literatur der Gegenwart beschäftigt, wird irgendwann am Namen Michael Köhlmeier hängen bleiben. Dass es für Katharina Alder, der Initiantin der Weinfelder Buchtage, ein Herzensding war, den grossen Österreicher einzuladen, war am ersten Abend dieser Buchtage greif- und spürbar!

Michael Köhlmeier lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Monika Helfer seit langer Zeit nicht weit von der schweizerisch-österreichischen Grenze, war lange Radiomann beim ORF und hat in den vergangenen 40 Jahren ein umfangreiches Werk an Romanen, Erzählungen, Essays herausgegeben, hat sich lange erfolgreich mit der griechischen Sagenwelt und Märchen auseinandergesetzt und scheut sich nicht, zu aktuellen Themen pointiert seine Meinung zu äussern, selbst dann, wenn bei grossen Veranstaltungen die Angesprochenen im Publikum sitzen. Eindrückliches Beispiel dazu ist sein Buch «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle. Rede gegen das Vergessen.» Heinz-Christian Strache, mittlerweile verurteilter rechtspopulistischer Politiker, sass mit anderen seiner «freiheitlichen» Partei im Publikum, als Michael Köhlmeier in sechs Minuten ruhig und gelassen «seiner» Regierung die Leviten las.

Mittlerweile ist der Menge an Veröffentlichungen höchst beeindruckend, ebenso wie die lange Liste all der Preise, auch Veröffentlichungen zusammen mit seiner Frau Monika Helfer, beispielsweise ihr gemeinsames Buch „Der Mensch ist verschieden“.

Michael Köhlmeier «Matou», Hanser, 2021, 960 Seiten, CHF 45.00, ISBN 978-3-446-27079-4

Obwohl das Schicksal von Menschen stets im Vordergrund des Schaffens von Michael Köhlmeier stand und steht, erschien diesen Sommer mit «Matou» ein fast 1000seitiger Roman, der scheinbar die sieben Leben einer Katze in den Vordergrund stellt. Die Geschichte von Matou, von den Wirren der französischen Revolution bis in die Gegenwart. Die sieben Leben einer Katze, zuerst an der Seite Camille Desmoulins, eines Mitstreiters von Danton während der französischen Revolution, der 1794 auf dem Schafott einen Kopf kürzer gemacht wurde. Im nächsten Leben als Begleiter von E.T.A Hoffmann, der Matou das Schreiben und Lesen beibrachte. Auf der griechischen Katzeninsel Hydra, auf der man allen Katzen den Garaus machen wollte und Matou sein Königreich, seine Diktatur errichtete. Als Grosskatze im Kongo, als Begleiter eines verkrüppelten Mädchens, auf einem grausigen Rachefeldzug gegen den Massenmörder König Leopold II. Während des ersten Weltkriegs in Prag, als Schosstier von Andy Warhol in New York und schlussendlich in seinem letzten Leben unglücklich verwickelt in das schwierige Liebesleben eines schwierigen Zeitgenossen.

Aber „Matou“ ist nicht einfach ein Katzenroman. Glauben sie mir, Katzenbücher mag ich nicht, lese ich nicht. «Matou» ist nur vordergründig die epische Geschichte einer Katze, eines Katers, der kein Mensch sein will, aber wie ein Mensch sein will. «Matou» ist ein Epos, das uns vom Menschsein erzählt, von den Schwächen jener, die die Geschicke dieses Planeten auszumachen scheinen und von Tieren, die wir allzu schnell nur als Nutz- und Kuscheltiere deklarieren. Ein mächtiges Buch, das mäandert, mit Sprache spielt, das fasziniert und mich, das gebe ich zu, während der Lektüre manchmal auch verunsicherte.

Im Gespräch mit Michael Köhlmeier verriet der Schriftsteller, dass er sich oft bei der Arbeit an seinem Tisch im Erdgeschoss seines Hauses mit der Katze hinter dem Laptop fragte, was im Kopf der Katze vor sich gehe. Katzen sind eigenwillig, egozentrisch und launisch, ihr Blick sehr oft misstrauisch und kritisch.
Die Geschichte von den sieben Leben des Katers ist der rote Faden dieser Geschichte. Die Geschichte vom Resümieren des sprechenden, denkenden, lesenden und schreibenden Katers in seinem letzen Leben zwischen Berlin und Wien die Rahmenhandlung. Darüber hinaus ist «Matou» ein Meer von Subgeschichten. So wie die eine von Adenauer und de Gaule, die sich nach dem Krieg immer wieder heimlich treffen und sogar gemeinsam kochen und dabei in Streit geraten.

«Matou» ist auch Ausdruck einer buchgewordenen Schreiblust, eines Autors, der mich als Leser ganz direkt anspricht, der mit Ausdrucksformen, machmal bis ins Typographische spielt, ein Sprachexperiment, wie das Menschsein aus einer Aussenperspektive wahrgenommen werden kann, philosophische Betrachtungen, beispielsweise die über den Irrsinn und den Wahnsinn, eine Betrachtung, die in der Gegenwart nicht wichtiger und dringender sein könnte. Über der Unterschied zwischen «Jemanden lieben» und «Jemanden brauchen». Oder darüber, was Charisma sein könnte oder müsste.

Besuchen Sie die 5. Weinfelder Buchtage!Und dann noch:

Meinen dreifach grossen Respekt zolle ich Katharina Adler:
1. Sie wurde mit ihrer Buchhandlung «Klappentext» in Weinfelden zu einem Epizentrum der Literatur. In einer Zeit, in der an anderenOrten Buchhandlungen schliessen.
2. Sie wagt zusammen mit ihrem Team zum 5. Mal die Durchführung der Weinfelder Buchtage, allen Widrigkeiten der Gegenwart zum Trotz. Und
3. Sie spendiert aus eigener Tasche zum ersten Mal den «Weinfelder Buchpreis», dotiert mit 4000 CHF.
Ich verneige mich!

Beitragsbild © Dominik Anliker

Eine klaffende Lücke des Verlusts – Rolf Lappert im Literaturhaus Thurgau

„Nach jedem gelesenen Buch spürte er neben Geborgenheit auch eine klaffende Lücke des Verlusts.“ Bei einem guten Buch geht das auch mir so, mit dem Roman «Leben ist ein unregelmässiges Verb» von Rolf Lappert sowieso. 

In der Abgeschiedenheit einer abgeschotteten Kommune sind die vier Kinder Leser, werden bezaubert von Geschichten aus Büchern, die nichts mit der Wirklichkeit zu tun zu haben scheinen. Sie wachsen in einer Kommune auf, werden von der Welt draussen, der schlechten, verkommenen Welt ferngehalten. Bis die Behörden eingreifen, den Erwachsenen den Prozess machen und die Kinder «platzieren».

«Leben ist ein unregelmässiges Verb» kreist um ein Paradox; Man befreit die vier Kinder aus scheinbarer Isolation und steckt sie amtlich besiegelt in Isolation. Rolf Lappert beschreibt die vier Leben, wie jene Künstler, die in grossen Hallen Ordnung in die Dinge zu bringen versuchen. Angesichts der immensen Fülle an Stoff, den Rolf Lappert zu einem grossen Panorama verwebt; eine Herkulesaufgabe. Für Leser:innen aber purer Genuss!

 


Zum Beispiel Leander. Er ist einer, den man heute mit dem „Asperger Syndrom“ stempeln würde. Kinder mit Asperger mögen keine Veränderungen, werden durch solche maximal verunsichert. In Winnipeg, im Kapstädter Bruch, in der Kommune hatte er seinen Platz, wie alles seinen Platz hatte. In der Welt draussen versucht ihn alles und jeder in eine Nische zu drängen. 

Manchmal bergen einzelne Kapitel derart viel Intensität, dass sie für sich allein schon Kulisse wären für einen Roman, so wie das Albrecht-von-Bumenthal-Internat, in das man Leander steckt. (Albrecht von Bumenthal, ein Philologen und Nazi, den es wirklich gegeben hat). Lapperts Roman ist ein Füllhorn, ein vielstimmiges Epos, das ebenso tief hineindringt, kolossal unterhält und überbordend sein kann, nicht zuletzt durch seinen Witz.


Eine andere Figur ist Ringo, dessen Nam wirklich etwas mit Ringo, dem Beatles zu tun hat. Er ist ein Held im Feuer, ein Versager im Wasser. Einer, der immer kippt, auf die eine oder andere Seite. Einer, der sich aus der Not unsichtbar machen will?
Die Vier sind dauernd auf der Suche, wenn nicht in Bewegung, dann auf einer Suche nach innen. 

Und nicht zuletzt teilt Lappert mit Ironie gegen sein eigenes Tun aus; dass die Literatur ein Hahn sei, ein aufgeplusterter Gockel, der auf dem Misthaufen der Welt sitze, wichtigtuerisch vor sich hin krähe und voller Selbstgefälligkeit und geheucheltem Mitgefühl auf den jämmerlichen Hühnerhaufen der Menschheit herabblicke, um seine Beobachtungen in bedeutungsschwere Worte zu fassen und zu Geld zu machen, unfähig, jemals ein Ei zu legen, aus dem Leben entstehe.
Oder am Schluss des Buches, wo ein Schriftsteller seinen Auftritt hat. Er sagt: «Romane, dieses Draufloserfinden. Dieser Einfallsreichtum und dessen Zurschaustellung. Dieser Fleiss beim Bündeln rotes Fäden. Die ganze elende Epik. All diese Familien und Krankheiten und nie angekommene Briefe. Es ödet mich an.“ 

vor dem neuen Bücherregal

«Gestern, am Donnerstagabend, hatte ich das Vergnügen, als Gast im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben aus meinem Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» zu lesen. Den Anlass moderiert hat der beneidenswert belesene, in Sachen Literatur wahnsinnig engagierte, in jeder Hinsicht professionell arbeitende und stets gut gelaunte Gallus Frei, meiner Ansicht nach einer der tollsten und nettesten Menschen, mit denen man als AutorIn in der Schweiz zu tun haben kann. Alleine seine Vorstellung und die – soweit das überhaupt möglich ist bei fast 1´000 Seiten – Zusammenfassung meines Romans waren eine große Freude! Ach, wenn doch alle ModeratorInnen so gut vorbereitet und mit dem Stoff vertraut wären wie Gallus … Gelacht haben wir auf der Bühne auch viel, und ich denke, das Publikum hatte ebenso viel Spaß an der Veranstaltung wie wir. An dieser Stelle danke ich allen, die diese Lesung ermöglicht haben, und auch allen, die als Gäste ins Bodmannhaus gekommen sind (darunter einige «StammkundInnen» aus dem nahen Deutschland), ganz herzlich! Ich beeile mich mit dem nächsten Roman, damit ich und meine Partnerin bald wieder an den Bodensee fahren und all die wunderbaren Menschen wieder sehen können!» Rolf Lappert, Schriftsteller, Zofingen, und Sonja Maria Schobinger, Künstlerin, Basel

Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Zwei Höhepunkte vom 16. Thuner Literaturfestival Literaare 2021

Hätte es einen spür-, sicht- und hörbaren roten Faden durch die meisten der Veranstaltungen des diesjährigen Thuner Literaturfestivals gegeben, dann wäre einer davon die Frage nach Herkunft und der eigenen Geschichte gewesen. Ob Monika Helfer mit „Vati“, Andrea Neeser mit „Alpefisch“, Zora del Buona mit „Die Marschallin“ oder selbst Levin Westermann mit seinem poetischen Essay «Ovibos moschatus“, aus allen sprach die Macht, Kraft und Last des Vergangenen.

Monika Helfer, die mit ihrem neusten Roman „Vati“ das 16. Literaare-Literaturfestival eröffnete, ist schon lange im Geschäft, schreibt seit Jahrzehnten, heimst Preise noch und noch ein und lebt zusammen mit ihrem ebenfalls schreibenden Mann Michael Köhlmeier Familie. Sie ist eigetaucht in Geschichte, Geschichten, ihre eigene Geschichte. Kein Wunder schreibt sie Familienfrau über das, was ihr am nächsten ist; über ihre Familie, über eine Monika Helfer, die aus einer Familie im Vorarlbergischen stammt. Im Roman „Die Bagage“ erzählt sie von ihrer Grossmutter und Mutter, in „Vati“, der dieses Jahr erschien, von ihrem Vater. Und im Herbst dieses Jahres soll es ihr Bruder Richard sein, der mit 30 den Freitod wählte. Ein Buch, das „Löwenherz“ heissen soll.

Monika Helfer «Die Bagage», Hanser, 2020, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-446-26562-2

In „Die Bagage“ ist es eine ganze Familie ohne den Schutz des Vaters, die, eh schon gebrandmarkt, durch die Geschichte und die Schönheit der Mutter an den Rand der Gesellschaft und darüber hinaus gedrängt wird. Der Mann einer jungen Frau, der Vater der Kinder wird in den ersten Weltkrieg eingezogen. Kaum aus dem Dorf wird der jungen, schönen Frau nachgestellt. Ausgerechnet der Bürgermeister des Ortes, jener Mann, den der Soldat um den Schutz seiner Familie bat, wird zum Aufdringlichsten und einer ganzen Reihe Ereignisse, die beinahe mit einem Schuss aus einem Gewehr enden. Von Maria, der Grossmutter jener Monika Helfer, die von männlicher Gier bedrängt wird, selbst in der Anwesenheit ihrer Kinder, mit unverhohlenen Drohungen, Avancen, die sich wie Schlingen um den Hals der jungen Frau ziehen und die Kinder in die Flucht schlagen. „Die Bagage“ wären Halbwilde, hätten nicht einmal elektrischen Strom. Denen sollte man die Kinder wegnehmen. Sätze, die auch heute noch über Menschen und Familien ausgesprochen werden, die aus reiner Not sind, was sie sind. Menschen, die man nicht mitnimmt, die man nicht haben will. Von Menschen ausgesprochen, die in der Überzeugung leben, ihre Privilegien seien verdient, gottgegeben, Teil einer grossen Ordnung. Von Menschen, die die scheinbare Schwäche anderer gnadenlos ausnützen und genau wissen, dass ihnen nichts entgegenzustellen ist, weil sie oben, weil sie vorne, weil sie darüber stehen.

Man müsse sich erinnern, sagt Monika Helfer. So wie sie sich erinnert, sollen sich Leser:innen erinnern, weil in allen Familien Geschichten vergraben und aktiv vergessen werden. Alles ist bloss Abbild von Wirklichkeit, verändert, verzerrt, verschoben und vernebelt. Dass das Erinnern Schärfe, Licht und Durchsicht schenkt, wenn sich die Gegenwart nicht mehr einmischt.

Monika Helfer «Vati», Hanser, 2021, 176 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-446-26917-0

Monika Helfers Romane sind Offenbarung, sprachlich wie inhaltlich. Weil sie nie mit grellem Licht ausleuchten, weil Monika Helfer erzählt wie eine Mutter, alles in Liebe taucht, selbst die gestrengen Worte, den Tadel hinein in das, was geschah. Nicht mit dem Verständnis für jene, die zu Täter:innen wurden, aber für all jene, denen man keine andere Chance liess, als jene, zu Opfern zu werden.

In „Vati“ kommt ein Versehrter zurück aus einem Krieg, ihr Vater zurück aus dem verlorenen 2. Weltkrieg, von einem Schlamassel in einen anderen Schlamassel, mit nur mehr einem Bein. Die Mutter hatte damals den Mann mit Prothese, den hageren Versehrten geheiratet, um dann ein Leben lang das Gefühl mit sich herumzutragen, nur gebraucht worden zu sein.

Kevin Westermann «bezüglich der Schatten», Matthes & Seitz, 2019, 158 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-95757-781-8

Ein Höhepunkt für mich am diesjährigen „literaare“ war der Auftritt von Levin Westermann. Levin Westermann erzählte, er habe ein „Erweckungserlebnis“ in seiner Vergangenheit gehabt. Danach wurde „Schreiben“ zum übermächtigen Drang seines Lebens. Aber Levin Westermann ist kein Vielschreiber, sondern ein Suchender. Ob als Leser und Schreiber sucht Westermann nach dem vollendeten Satz, jenem vielstimmigen Klang, der Ober- und Untertöne mitschwingen lässt. Und wenn Westermann schreibt, seien dies nun Gedichte oder Essays, dann spüre ich als Leser diesen Strom der Leidenschaft, der durch sein Tun wirkt.

 

Levin Westermann «Ovibos moschatus», Matthes & Seitz, 2020, 202 Seiten, CHF 26.90,
ISBN: 978-3-75180-002-0

Westermanns Lyrik ist alles andere als verkopft, ist erzählender Prosa viel näher als übersinnlich entrückter Lyrik. Westermann erzählt auch, wie sehr er um Sätze ringt, wie das Schreiben alles andere als ein Entleeren, ein Hinschreiben, ein Wurf sei, sondern harte Auseinandersetzung und das lange Suchen nach dem richtigen Sound. Davon erzählt auch das titelgebende Essay in seinem neuen Buch „Ovibos moschatus“, was übersetzt „Moschusochse“ heisst. Westermann verwebt die Geschichte dieses Tiers, das als einziges grosses Säugetier arktische Winter übersteht und von Menschen gnadenlos dezimiert wurde, mit dem Prozess des Schreibens. So wie das Schreiben ein feinsinniger, feinstofflicher Prozess ist, ist für ihn auch der Umgang mit Tieren zu einer Auseinandersetzung geworden, die das Tier weit wegträgt vom reinen Rohstofflieferanten. Schreiben ist Dichten, ein Schärfen des Bewusstseins. Levin Westermann, ein Beispiel dafür wie umfassend und tiefgreifend das eigene Tun werden kann, wenn sich sämtliche Sinne miteinander verbinden.

Der Zeichner Elias Nell hat Philosophie und Soziale Arbeit in Fribourg studiert sowie in Philosophie, Soziologie und Hermeneutik einen Master an der Universität Zürich abgelegt. Heute arbeitet er im Sphères in Zürich als Buchhändler und für die Veranstaltungen verantwortlich. In seiner freien Zeit ist Elias Nell immer mit Stift und Pinsel unterwegs, um alle Cafés, Restaurants und Take-outs von Zürich und der Welt zu zeichnen. Sein Instagram-Account: @sensatio_nell #zurichbysketch

Zeichnungen © Elias Nell / literaare

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser

Rolf Lapperts neuer Roman „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ kann einem erschlagen! Sein Roman ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies und den Lügen des Lebens. Erzählt mit weitem Horizont und der Magie eines Geschichtenzauberers!

Lesung mit Rolf Lappert am Donnerstag, den 3. Juni 2021, um 19:30 Uhr im Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 10 // CHF 8 Freunde des Bodmanhauses // CHF 5 ermässigt
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Rolf Lapperts Winnipeg liegt nicht in Kanada, sondern irgendwo in der BRD-Provinz, in Niedersachsen, weit weg von der nächsten Siedlung. Dort versucht sich eine Kommune, abgeschottet von der Aussenwelt, einen eigenen Weg durch das Leben zu bahnen. Bis Ämter und Behörden Wind davon bekommen, dass dort Kinder ohne Schule, ohne Kontakt zur Aussenwelt, fest eingebunden in den Tagesablauf der Selbstversorger zu „befreien“ sind. Die Erwachsenen werden festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt, die Kinder auseinandergerissen und in Pflegefamilien verteilt.

«Wir waren ein Wesen. Was einer dachte, wussten die anderen, was einer fühlte, empfanden wir alle.»

Rolf Lappert erzählt in „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ vier Leben; von Frida, Ringo, Leander und Linus, jenen vier Kindern, drei Jungs und einem Mädchen, die 1980 aus einer Landkommune behördlich befreit wurden. Damals vier Kinder, bis in die Gegenwart, in der sie sich längst verloren haben, nicht nur einander, sondern auch sich selbst. Was damals die Presse über die Kindheit der vier Kinder schrieb, scheint in keiner Weise mit dem in Verbindung zu stehen, was die vier Kinder in die andere, neue Welt mittrugen. Damals ein Fressen für die Presse. Dabei war es ein Übergriff in das Leben der vier Kinder. Vielleicht sogar die Vertreibung aus dem Paradies.

„Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.“

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

In epischer Länge über fast 1000 Seiten breitet Rolf Lappert vier Leben aus wie jene Künstler, die in riesigen Hallen auf dem Boden eine Ordnung in das zu bringen versuchen, was das Leben anschwemmt. Selbst die vier Protagonisten versuchen Ordnung in ihr Leben zu bekommen, sei es durch einen Neuanfang mit anderem Namen, einer anderen Identität, sei es durch eine lange Suche nach sich selbst, einer Aufgabe, einem Sinn oder dem Wunsch, sich möglichst unsichtbar zu machen, sich zurückzuversetzen an den Ort, an dem man nur sich selbst zu sein brauchte, kein Imago.
Ich als Leser taumle durch diesen Kosmos, berührt, verwundert, überrascht, verunsichert. Selbst ich als Leser versuche zu ordnen, während Rolf Lappert ausbreitet und auslegt, Perspektiven ändert, Textsorten collagiert, in Zustände abtaucht und in langen Sätzen genussvoll mäandert.

„Sie wäre jetzt glücklich, sagte sie sich, wenn nur ihre Welt unentdeckt geblieben wäre, wenn niemand sie weggebracht und ins Leere geworfen hätte wie einen Sack mit neugeborenen Katzen in den Fluss.“

Obwohl sich die vier nach ihrer Umplatzierung nie mehr treffen, bleiben sie einander verbunden, weil jene Jahre im Kampstedter Bruch, jenem Hof in Abgeschiedenheit, so etwas wie ein Nest war, Familie, auch wenn nicht nach amtlichem Muster. Sie taumeln durch eine Welt, die ihnen fremd bleibt, die nie das zu erzeugen schafft, was die vier gemeinsam in ihrer begrenzten Freiheit erlebten.

„Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind.“

„Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ ist ein grosses Vergnügen für all jene, die wie ich gerne in einem Stoff baden, denen ein Buch, das gefällt und zu einem innigen Begleiter wird, nach der Lektüre nicht einfach so weglegen, in ein Regal hineinschieben oder gleich dem Nachbarn ausleihen. Rolf Lappert gelingt es, ein Meer an Geschichten, Bildern, Dialogen, Ideen, Strängen und Personen auszubreiten. Er breitet eine Welt aus, stösst mich hinein. Zugegeben, die Wellen schwappen hoch, fast immer hoch, aber Literatur ist Konzentrat. 

„Die Welt ist schlecht, sagen sie, und wir haben keine andere Wahl, als ihnen zu glauben.“

In den Roman eingeflochten sind Erinnerungen, das „Winnipeg Logbuch“, Erinnerungen aus der Sicht der Kinder, als sie noch zusammen in der Kommune lebten: Manchmal haben wir ein leeres Marmeladeglas dabei, damit tragen wir Ameisen von einem Haufen zu einem anderen. Dann beobachten wir, wie die Eindringlinge getötet werden. Zum einen eine Erinnerung, zum anderen eine Metapher für all die Geschehnisse, die man ihnen als Kinder androht und die ihnen in gewisser Weise auch geschehen. Der Roman ist ein Roman über das Fremdsein, über die Einsamkeit, der Einsamkeit, in die man die vier Kinder verbannt, die Einsamkeit, mit der jeder in seinem Leben als Individuum zu kämpfen hat.

Ein grosser Genuss bei der Lektüre seines Romans ist die Genauigkeit seines Schreibens, seine Lust des Beschreibens. Als wäre er ein Maler, der mit Pedanterie jeden einzelnen Farbpunkt setzt, immer mit dem Blick auf das Grosse, Ganze. Und doch ist dieses Beschreiben nicht Mittel zum Zweck, nicht bloss Kulisse. Ich bade im Filigranen Lapperts Sprache, Lappert Farben, dem verspielten Mikrokosmos, der seinen Roman nicht einfach dick, sondern mächtig macht.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor (Mannezimmer). Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter».

Verlagsinformationen zum Buch

«Das Wunder von Kalifornien» von Rolf Lappert auf Gegenzauber

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

 

Rolf Lappert «Das Wunder von Kalifornien», Plattform Gegenzauber

Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.

Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.

Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.

Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.

Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.

Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.

Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.

Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.

aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors

Rolf Lappert liest am Donnerstag, den 14. Januar 2021 aus seinem Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» um 19.30 Uhr im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Moderation: Gallus Frei-Tomic

Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.

Interview mit Rolf Lappert, dem ersten Preisträger des Schweizer Buchpreises

Beitragsbild © Sonja Maria Schobinger 

Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser #SchweizerBuchpreis 20/6

Dorothee Elmiger erzählt ganz eigen, mit Sicherheit nicht von Anfang bis Ende. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine eigentliche Erzähllandschaft, das Experimentierfeld der Schriftstellerin, eine verschlungene Reise mit unbestimmtem Ziel. Wer sich mit der Autorin auf den Weg macht, muss aushalten können, dass nicht einmal sie selbst ihrer Sache sicher zu sein scheint.

Zugegeben, es war Auseinandersetzung! Auseinandersetzung mit dem Buch, den Stoffen, den Themen, der Erzählweise, den Zeitsprüngen. Als sässe man in einem überfüllten Zug, in dem in jedem Abteil eine Geschichte erzählt wird und man von Abteil zu Abteil huscht, nie sicher, ob man das Entscheidende versäumt hat, während draussen vor dem Fenster die Landschaft vorbeirast. Es passiert und die Gleichzeitigkeit der Dinge verwirrt in höchstem Masse. Nicht weil die Autorin der Ordnung wiedersagt, sondern weil „Aus der Zuckerfabrik“ ein Forschungsbericht ist, nicht das Resultat einer Forschung.

Sonst sind Romane Endprodukte, denen Recherche vorausging. „Aus der Zuckerfabrik“ ist eine Werkschau, ein Recherchebericht. Wer nur einfach eine Geschichte erzählt bekommen will, ist bei Dorothee Elmiger an die Falsche geraten. Auch wenn sich Dorothee Elmiger Geschichten annähert. So wie jener des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger und seiner Patientin Ellen West vor hundert Jahren, einer Frau, die „dauernd ans Essen dachte“ und jung durch Suizid starb. Oder jener des Lottomillionärs Werner Bruni, dessen Gewinn sich irgendwann verflüchtigte und man sein letztes Hab und Gut bei einer Versteigerung zur Schuldentilgung verhökerte. Eines Mannes, der zum Lottokönig wurde und dabei kein Glück fand. 

© Illustration: Lea Frei
Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik» Hanser, 2020, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-26750-3

Alles ist mit allem verbunden, über und durch die Zeiten. So wie Zucker den Hunger nie zu stillen vermag, höchstens kurzfristig. Sie alle haben Hunger. Hunger nach Liebe, nach Anerkennung, nach Erfüllung, nach dem Gefühl des satten Zufriedenseins. Dorothee Elmiger spürt dem nach, diesem Hunger. „Je mehr ich zu wissen meine über diese Geschichte, desto zahlreicher die Unstimmigkeiten, Abweichungen…“ Und weil dieses Nachspüren und Nachforschen nicht zwingend in der Klarheit enden muss, weil Dorothee Elmiger an keinem Resultat interessiert zu sein scheint, bleibt das Buch das Experiment selbst. Sprachlich glasklar, inhaltlich mit voller Absicht verunsichernd.

So wie die Geschichte des Zuckers eine Geschichte der Abhängigkeiten, der Sklaverei ist, so kostet und misst die Schriftstellerin den Zuckergehalt des Lebens, sei es im Leben einer jungen Haitianerin im Wunsch sich ganz und vollkommen hinzugeben oder im Leben eines Lottomillionärs, den die Boulevardpresse lüstern in seinem Untergang begleitet.

„Ob man mir bis hierher noch folgen oder dies alles als Protokoll eines Wahns, als Material für eine Fallstudie lesen wird…“ Dorothee Elmigers literarisches Experiment „Aus der Zuckerfabrik“ ist sprachlich bestechend, als Unterhaltung eine «Zumutung». Ich habe grosse Teile des Buches laut gelesen, las mich über lange Passagen in einen wahren Rausch, fasziniert von Sätzen, Bögen und Konstruktionen. Aber so sehr die Lektüre in der Kleinheit verzückt, lässt sie einem in ihrer Gänze allein.

Lauter Menschen, deren Hunger nicht zu stillen war. Mein Hunger ist geblieben. Literatur soll nicht stillen. „Aus der Zuckerfabrik“ tut es ganz und gar nicht.
Dorothee Elmiger schrieb ein Buch, das in keine Kategorie passt, sich nicht einordnen lässt. Sie entzieht und verweigert sich jeder Kategorisierung, schert sich einen Deut um Konventionen, darum, was Literatur soll und muss. Das ist mutig. Ihr Schreiben dreht sich in die Tiefe, nicht in die Breite. Ihr Schreiben ist kein Fluss, sondern ein Absinken, manchmal sogar ein Absacken in Tiefen, die mich verwirren. Und Dorothee Elmiger will schon gar nicht unterhalten. Der Genuss dieses Buches liegt in seiner Sperrigkeit ebenso wie in seiner Eleganz. Sperrig, weil es sich den gewohnten Leseerfahrungen entzieht. Elegant, weil die Sprache etwas Berauschendes hat. Sie macht mich trunken.

Bildende Kunst darf verunsichern. Man nimmt beim «Lesen» dieser Kunst Unklarheiten, Schatten, Provokation und ein gewisses Mass an Unverständnis in Kauf, will das gar so. Ebenso bei der Musik. Warum muss bei Literatur immer alles glasklar sein?

Als ich als Buchpreisbegleiter ganz zu Beginn gefragt wurde: «Was wünschst du dir für den Schweizer Buchpreis 2020?», antwortete ich: «Mut!» Verleiht die Jury den Buchpreis an Dorothee Elmiger für «Aus der Zuckerfabrik», dann ist das Mut.

Dorothee Elmiger, geboren 1985, lebt und arbeitet in Zürich. 2010 erschien ihr Debütroman «Einladung an die Waghalsigen», 2014 folgte der Roman «Schlafgänger» (beide DuMont Buchverlag). Ihre Texte wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und für die Bühne adaptiert. Dorothee Elmiger wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Aspekte-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Prosadebüt, dem Rauriser Literaturpreis, einem Werkjahr der Stadt Zürich, dem Erich Fried-Preis und einem Schweizer Literaturpreis.

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