Rolf Lappert «Das Wunder von Kalifornien», Plattform Gegenzauber

Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.

Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.

Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.

Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.

Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.

Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.

Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.

Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.

aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors

Rolf Lappert liest am Donnerstag, den 14. Januar 2021 aus seinem Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» um 19.30 Uhr im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Moderation: Gallus Frei-Tomic

Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.

Interview mit Rolf Lappert, dem ersten Preisträger des Schweizer Buchpreises

Beitragsbild © Sonja Maria Schobinger