44. Solothurner Literaturtage: Ein überzeugendes Comeback!

Nach pandemiebedingtem Unterbruch strahlen die 44. Solothurner Literaturtage über alle Erwartungen hinaus. Ein dreitägiges Fest der Literatur, der kulturellen Vielfalt und der Freundschaften. Und fast 20000 BesucherInnen!

Mag sein, es hatten alle Hunger und Durst. Es war, als würde über allem das Wort „Endlich“ stehen. Durchaus im doppelten Sinn. Zum einen war da die Freude, dass es dieses Festival in der einem so lieb gewordenen Form überhaupt wieder gegeben hat. Zum andern war man sich bewusst, dass es der äusseren Einflüsse genug gäbe, die einem solchen Festival an die Gurgel springen können.
Es war ein Fest – ein Fest des Wiedersehens, ein Fest der Begegnungen, ein Fest der Freude, ein Fest der Hoffnung, ein Fest des Buches, ein Fest der Kunst – ein Fest der Freundschaft. Und niemand hatte Lust, sich dieses Fest verderben zu lassen, schon gar nicht, wenn das Wetter zum verlässlichen Freund wird. Ich erinnere mich an Austragungen der Solothurner Literaturtage, an denen heftigst darüber diskutiert wurde, wen man versäumt habe, einzuladen, wer vergessen ging, wie gross der angerichtete Schaden sei. Diese Diskussionen fanden kaum statt, auch wenn man hätte diskutieren können.

«Ein eindrücklicher Beweis, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!» Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir»

Es gab wie immer von allem einiges, von Spoken Word, zum Beispiel die junge Sarah Elena Müller, der das Publikum artig applaudierte, obwohl sie all den Gutbetuchten einen grellen Spiegel vorhielt, Lyrik wie der von Simone Lappert, die bewies, das Dichtung einen Körper zum Instrument werden lassen kann und dieses Instrument ein Stadttheater zum Wabern bringt, grosse Namen der Belletristik wie jener von Nino Haratischwili, die mit ihrer Art des Erzählens nicht nur in ihren Büchern bannt, bis hin zu Kinder- und Jugendbuchliteratur, die es meisterhaft versteht, Geschichten sinnlich werden zu lassen. Kleine Verlage und grosse, grosse Namen und unbekannte. Als Ganzes war das Programm durchaus gelungen, auch wenn der ganz grosse Gast aus Übersee, Joshua Cohen, eben preisgekrönt durch den Pulitzer-Preis, seine Teilnahme absagen musste.

«Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.» Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht»

Auffällig war, wie sichtbar das Aufbrechen von Grenzen war. Musik beispielsweise wird immer offensichtlicher nicht einfach zu einer Begleitung, einer Auflockerung. Vielen AutorInnen gelingt es eindrücklich, mit Musik Sinne zu öffnen, Bilder und Eindrücke zu verstärken, manchmal alleine durch die eigene Stimme, die Rhythmus und Tonalität in ganz andere Sphären hieven kann. So sah man Michael Fehr auf der Bühne des Stadttheaters sitzen und singen, ohne Begleitung, nur mit sich und seiner Stimme! Da wird jemand zu Musik! Oder in Formation, unterlegt durch einen eigentlichen Soundtrack.

Lange forderte man das Ende der klassischen „Wasserglaslesung“, schien es nicht mehr zu genügen, dass Schreibende aus ihren Werken lesen und Fragen dazu beantworten. Glücklicherweise gibt es diese noch immer, auch jene kauzigen Urgesteine der Literatur, bei denen man nie so richtig weiss, ob sie Zuhörende an der Nase herumführen oder die Performance der einzige Weg durch das Buch ist.

«Frank Heer vermischt Genre ebenso lustvoll wie Handlungsstränge. Und alles ist unterlegt vom satten Sound einer Generation, die noch glaubt, dass mit der Kraft der Musik etwas zu erreichen ist.» Frank Heer «Alice»


Auch bei den Formaten ist man selbst nach der 44. Austragungen noch immer auf der Suche nach Verbesserungen. So platzierte man die „Gratislesungen“ auf der Aussenbühne vor die breite Treppe der St. Ursenkathedrale. Was für ein Anblick, wenn bei der Lesung von Julia Weber aus ihrem Roman «Die Vermengung» auf der Treppe vor der beeindruckenden weissen Kalksteinfassade regelrechte Arenastimmung aufkommt und der Eindruck, Literatur breite sich über eine ganze Stadt aus!

«Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!» Rebecca Gisler «Vom Onkel»


So viele Menschen wie schon lange nicht mehr besuchten dieses Festival der geschriebenen Bilder. Der Organisation der Solothurner Literaturtage gelang das, was eigentlich nur schwer zu schaffen ist; eine repräsentative Nabelschau der CH-Literatur, angereichert mit grossen Namen aus dem Ausland. Aber es waren nicht Landesgrenzen, die man demonstrativ überschritt, sondern jene der Künste. Etwas, was angesichts der Grenzenlosigkeit in der aktuellen Geschichte Signal sein könnte.

«Ein Roman, der mir das Blut in den Kopf treibt, der mich schwindlig macht, der mich hin- und herschlägt zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, in der Gegenwart der Hölle ein schönes Stück näher gekommen zu sein.» Julia von Lucadou «Tick Tack»

Wer nicht an den Solothurner Literaturtagen war – lesen Sie! Kaufen Sie Bücher! Lesen ist vielfach sinnlich. Und wenn auch kein Buch die Welt zu retten vermag; Literatur schenkt unendliche Weiten! Besuchen Sie die vielen Festivals, die übers Jahr stattfinden. An solchen Festivals, an Lesungen und Darbietungen rund um die Literatur entsteigt den Büchern der Dschinn, der fast jeden Wunsch in Erfüllung bringen kann.

«Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.» Yael Inokai «Ein simpler Eingriff»


An einer Lesung von Urs Mannhart aus seinem hellsichtigen Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, sass eine Frau neben mir, die während der Lesung zeichnete. Die hier wiedergegebenen Zeichnungen sind ein Geschenk der Zeichnerin Charlotte Walder, entspringen einer spontanen Begegnung und symbolisieren wunderbar, was ein solches Festival leisten kann: Viel mehr als Berührungen!

«Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.» Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“

Reservieren Sie sich den 19. bis 21. Mai 2023!

(Eingefügt in den Text sind all jene Rezensionen auf literaturblatt.ch, die mit den AutorInnen an den 44. Literaturtagen in Solothurn korrespondieren.)

Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht», FVA

Nino Haratischwili ist eine grosse Erzählerin. Sie zeichnet mit satten Farben, komponiert mit ebenso sattem Sound. Und doch ist nichts dick aufgetragen. In Zeiten wie diesen, in denen sich die Gewalt wie ein Schwarm Heuschrecken über ein ganzes Land legt und alles Leben frisst, ist ein Roman wie „Das mangelnde Licht“ die einzig wahre Medizin, die Hoffnung nicht zu verlieren!

Als meine Frau und mich 2014 Nino Haratischwilis 1300 Seiten dicker Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ in die Ferien auf eine Insel in der Nordsee begleitete, rissen wir uns den Schmöker zur Lektüre beinahe aus der Hand. Immer wenn meine Frau eine Lesepause einlegte, schnappte ich mir das Buch – und umgekehrt. Wir waren zwar auf dieser Insel, aber auch auf einer georgischen Reise durch das 20. Jahrhundert, fasziniert, bezaubert, in Leben eingetaucht.
Nach „Die Katze und der General“ erschien nun Nino Haratischwilis dritter monumentaler Roman „Das mangelnde Licht“. Nino Haratischwilis Werk darf aber bei weitem nicht nur an diesen drei dicken Büchern gemessen werden, erschienen doch zuvor schon preisgekrönte Romane und Theaterstücke. Aber so wie die drei dicken Bücher im Regal den Blick auf sich ziehen, so bündeln sie auch die Aufmerksamkeit auf eine Autorin, die zwar in den drei Romanen immer wieder von Georgien erzählt, aber immer wieder aus anderer Perspektive. Georgien und seine Geschichte ist viel mehr als Horizont und Geschichte in allen drei Romanen, die keine Fortsetzungsromane sind und ganz eigene Geschichten erzählen. Georgien ist einer der Protagonisten. Ein Land, das immer wieder von der Geschichte zerrieben wurde. 

Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 832 Seiten, CHF 45.00, ISBN 978-3-627-00293-0

„Das mangelnde Licht“ erzählt die Geschichte von vier Freundinnen, die jung und voller Pläne waren, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Georgien in einem Vakuum zu versinken drohte, Unabhängigkeitsbestrebungen, kriegerische Auseinandersetzungen, grassierende Korruption das Land in ein Trümmerfeld verwandelten, das zur Spielwiese von Clans mit mafiösen Strukturen wurde. Dina, Nene, Ira – und Keto, die die eigentliche Erzählerin der Geschichte ist, eine Geschichte, die ganz langsam aufbricht, denn Nene, Ira und Keto sind zwei Jahrzehnte nach den Geschehnissen in Tbilissi (Tiflis) nach Brüssel an eine pompöse Ausstellung mit den Fotografien von Dina eingeladen. Schwarzweissfotografien, die das Leben jener Tage abbilden, ihre Freundschaft, ihre Familien, die Gewalt in den Strassen, den Krieg an den Grenzen, ihre Heimat, eine Zeit, die nicht mehr ist und die Frauen an der Eröffnung dieser grossen Ausstellungen zu Objekten macht, denn Dina ist nicht mehr. Dina, die zu einer Ikone der Geschichte wurde, als Fotografin ebenso wie als Kämpferin, überlebte ihren Schmerz nicht. Ihr Tod war damals ein Grund, der die drei anderen Frauen auseinandertrieb und erst an dieser Ausstellung wieder zusammenführt. Eine Ausstellung mit Fotos für die Gäste, Fenster in Abgründe für die drei Frauen, vor allem für Keto, die mich als Leser mit ihren Rückblenden immer tiefer in Geschehnisse mitnimmt, die mir die Geschichten hinter den Hochglanzfotografien erzählen.

So wie der Film „Once Upon a Time in Amerika“ in Hollywoodmanier ein „männliches“ Gangsterepos erzählt, ist „Das mangelnde Licht“ die Geschichte einer Frauenfreundschaft, die an eben solchen Gangsterstrukturen zerbricht. „Once Upon a Time in Georgia“ erzählt aus weiblicher Perspektive die Geschichte von vier Frauen, denen die Freiheit von allen Seiten permanent genommen wird. Sei es vom Staat, von familiären Strukturen und Traditionen, sei es von der Geschichte und unabwendbaren Umständen und Zwängen. Dina, die Fotografin, ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, eine Frau, die letztlich an mangelndem Licht zugrunde geht.

Klar fasziniert die Geschichte, die Dichte all der Binnengeschichten, die Konstruktion des Romans, die Rahmenhandlung ebenso wie all die weitschweifenden Geschichten hinter den Fotografien. Nino Haratischwili schafft es aber auch, dass Georgien, das Land und seine Geschichte, nicht einfach Kulisse ist, Staffage für ein Melodrama à la Hollywood. „Das mangelnde Licht“ bringt Licht in eine Zeit, in Zeiten wie diese, wo durch brutale Angriffskriege Staaten in Schutt und Asche gelegt werden, nicht nur Häuser und Strassen, sondern Strukturen, Kultur, Ordnung und letztlich auch Gesetz. Wo Kriege Leben unwillkürlich auslöschen, Familien auseinandergerissen werden und brutale Gewalt Menschen in ein Leben zwingt, das sie eigentlich verabscheuen.

Nino Haritischwilis literarischer Epos ist ein monumentales Sittengemälde. Ihr Roman wie „Bilder einer Ausstellung“ ein literarischer Gang durch eine Fotoausstellung der besonderen Art. Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.
Ich freue mich auf den Besuch der Autorin an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen!

Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi/Georgien, ist preisgekrönte Theaterautorin, –regisseurin und Romanautorin. Ihr grosses Familienepos «Das achte Leben (Für Brilka)», in 25 Sprachen übersetzt, avancierte zum weltweiten Bestseller, eine grosse internationale Verfilmung ist in Vorbereitung. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedächtnispreis, ihr Roman «Die Katze und der General» stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Heute lebt die Autorin in Berlin.

Beitragsbilder © Dina Oganova