Die Laudatio zum Basler Lyrikpreis 2024 an Carla Cerda – von Rudolf Bussmann

Auf dem Titelblatt von Carla Cerdas letztem Gedichtband Ausgleichsflächen stehen die Sätze: „Attention Readers! Dies ist ein Experiment der poetischen Kommunikation realer Ereignisse“. Der ironische Ruf nach Aufmerksamkeit kann auch als Warnung aufgefasst werden: Wer zu lesen beginnt, soll sich. vorsehen. Was hat es damit auf sich? Worauf muss, darf man gefasst sein, wenn man sich aufmacht, in Carla Cerdas Sprachwelt einzudringen? Allgemein gesprochen darauf, dass in den Gedichten das herkömmliche Verständnis von Realität und Fiktion erweitert und in kühner Weise neu bestimmt wird. Wenn wir im Folgenden nach einer etwas genaueren Antwort suchen, können uns zwei Textpassagen behilflich sein, die wir näher heranzoomen wollen.

Zwei Gedichtbände hat Carla Cerda bis jetzt veröffentlicht, Loops 2020 und Ausgleichsflächen 2023, beide sind in der Reihe roughbooks bei Urs Engeler erschienen. Die schmalen Büchlein enthalten je rund fünfzig Gedichte, gegliedert in fünf resp. sechs Gedichtzyklen, denen manchmal ein Intro vorangestellt ist. Eines davon haben wir gerade kennen gelernt.

Zoom eins

Es führt zum ersten Zyklus von Ausgleichsflächen, worin von einer Mutter und ihrem Kind die Rede ist. Die beiden sind mit einem Spiel beschäftig. Weiter anwesend sind ein Mann und eine Box mit einem Käfer drin. Wobei diese als anwesend zu bezeichnen ziemlich gewagt ist. Beim Mann handelt es sich – Attention readers! – um einen Chatbot, also um ein Computerprogramm, das menschliche Konversation simuliert. Der Kantbot, wie er im Gedicht genannt wird, schreibt gerade an einer wissenschaftlichen Abhandlung, einem Text, der vor über 200 Jahren verfasst wurde. Es ist ein posthum erschienenes Manuskript von Immanuel Kant. Den Philosophen beschäftigt darin unter anderem die Frage nach dem leeren Raum, in dem, obwohl er leer ist, dennoch physikalische Gesetze wirken, etwa das der Gravitation. Dass Carla Cerda gewisse von Kants Formulierungen in ihren Zusammenhang aufgenommen hat, ist kein Zufall. Sie holt Kant gleichsam als Vater an den Tisch zu Mutter und Kind, weil sie bei ihm vorgedacht findet, was sie heute beschäftigt.

und der Kantbot ist jetzt auf Seite 20, Convolut XI
angekommen, wo „die Gravitationsanziehung
dynamisch durch den leeren Raum –
obzwar kein solcher da ist“ 

Hinter Kants wunderbar lapidaren Feststellung von der Existenz des gedachten leeren Raums, der gar keiner ist, verbergen sich Grundfragen nicht nur der Physik, sondern auch der Literatur: In welchem Verhältnis steht, was ich lesend vor mir habe, zu meiner Erfahrungswelt? Wer bestimmt seinen Wirklichkeitsstatus? Welche Realität kommt einer Box mit einem Käfer zu, wenn sie in einem Gedicht auftaucht? Und: ist die Box weniger präsent, wenn das Gedicht sie mit den Worten einführt:

„ein Käfer in einer Box und die Box ist weg“ 

Die Dichterin weiss, dass mir die Box gegenwärtig bleibt, auch wenn sie diese im Gedicht zum Verschwinden bringt. Der Zyklus heisst „Bootstrap“. Bootstrapping benennt in der Computersprache einen Vorgang, der aus einem einfachen Programm ein komplexeres generiert. Ich habe aus dem Wort Box mittels der Formel „ist weg“ eine Vorstellung generiert, in der zwei Boxen£existieren, eine, die es gibt, und eine, die es nicht gibt, und beide meinen dieselbe.

Das erste Gedicht des Zyklus, aus dem die zitierte Zeile stammt, ist von denkbarer Schlichtheit. Dennoch fallen wir von einem Bootstrap in den anderen, von einer Falle – Trap – in die nächste. „spielen wir ein Spiel“, heisst der erste Satz. Wer spricht da zu wem? Die Mutter spricht zum Kind. Oder spricht die Ich-Erzählerin zu uns, den Lesenden? Es bleibt offen, der einfache Satz generiert zwei mögliche Bezugsfelder, die unaufgelöst nebeneinander stehen bleiben. Darauf folgt eine Aufzählung des Spielmaterials. Unter anderem wird auch das Kind vorgestellt, und zwar folgendermassen:

„das Kind, sowie es aufhört, nicht zu sprechen“

Das Kind scheint nur anwesend und für das Spiel brauchbar zu sein, wenn es sein Schweigen bricht und zu sprechen beginnt. Sein Reden macht es präsent, oder anders gesagt, seine Anwesenheit verdankt es dem Wort. Genau wie die Box, die da ist, weil sie genannt wurde.

Es gibt eine zweite bemerkenswerte Aussage über das Kind, sie ist in Klammern beigefügt:

„das Kind, sowie es aufhört, nicht zu sprechen (in etwa du)“

„in etwa du“ könnte zum Kind gesprochen sein, es würde dann bedeuten: Im Gedicht kommt ein Kind vor wie du eines bist, mein Schatz. Die Ich-Erzählerin spricht als Mutter zum Kind. Auch die Lesenden können sich mit dem Du gemeint fühlen. „in etwa du“ hiesse: so wie du, wenn du zum Kind wirst. Es sei denn, der Zusatz beziehe sich nicht auf eine Person, sondern auf die Sprache und meine ganz einfach nur das Personalpronomen selber, dem hier keine Person fest zugewiesen sei.
Ähnliches gilt für das Ich der Mutter. Wir, die Lesenden, tun gut daran, dieses Ich nicht ausschliesslich als Person, sondern ebenso als Pronomen anzusehen. Das mildert unseren Schreck, wenn das Ich auf einmal buchstäblich aus dem Text fällt:

„ich falle – ups – durch eine fiese Laufmasche im Satzgefüge.“

Verunglückt ist hier bloss das Pronomen, das drei Zeilen später munter wiederaufersteht und im Text weiterfährt.

Ein unspezifisches Sie, ein unspezifisches Du, eine Box, die nicht da ist, ein Philosoph als Chatbot – den erwähnten Textstellen ist gemeinsam, dass sie mehrere Bezugsebenen zur Verfügung halten, zwischen denen Lesende hin und her wechseln können und die untereinander agieren. Das gehört zum Spiel, zu dem uns die erste Zeile einlädt; zum Spiel, zu dem Carla Cerdas Bücher einladen. Die Autorin beherrscht es in all seinen Nuancen. Sie treibt es bis zum Irrwitz, bis zur Absurdität, behält die Spielfäden aber fest in der Hand.

Die 34-Jährige weiss mit Texten umzugehen, sie hat am Literaturinstitut Leipzig studiert. Sie hat ein Studium der Biologie und Ökologie hinter sich, kennt sich aus in der Welt der Wissenschaft. Und als Übersetzerin aus dem Spanischen und Englischen hat sie einen wunderbar leichten Umgang mit Sprachen. Ihre Spiellust kennt keine Grenzen. Das ist wörtlich gemeint. Sie geht über die Grenzen hinaus, die ein Gedicht in der Regel setzt, und bezieht nicht nur Wörter, Sätze, Zeilen mit ein, sondern auch die Druckseite selber.

Zoom zwei

Im Zyklus „Apophenia“ wird dem Lesepublikum ein mechanischer, durch Lochkarten gesteuerter Webstuhl vorgeführt. Die Gedichte sprechen diesmal ein Sie (in der Höflichkeitsform) an. Achtung, Personalpronomen! Wir Leser:innen werden uns hüten, uns vorschnell selber in das Sie hineinzudeuten. Wie recht wir mit unserer Vorsicht haben! Bringt der Text das „Sie“ doch in eine befremdliche Situation.

„fühlen Sie einmal hier unter der haut den stoff
die geschichte ihrer hm die geschichte des
programms das Sie hervorbrachte Ihre ganz
persönliche lochkarte sehen Sie? fühlen Sie?
merken Sie?“ 

Wir sind uns nicht sicher, was dem „Sie“ an dieser Stelle genau widerfährt. Aber wir haben verstanden, es geht um eine Lochkarte, „Ihre ganz / persönliche lochkarte sehen Sie? fühlen Sie? / merken Sie?“ Tatsächlich, wir fühlen die Lochkarte. Sie liegt in unserer Hand. Wir sehen, dass der Satzspiegel des aufgeschlagenen Gedichtbands eine Veränderung erfahren hat. Der Text ist vom Gedicht zur Lochkarte mutiert.
Gleichzeitig besteht er darauf, ein Gedicht zu sein. Die Lesenden haben die Wahl nicht nur zwischen verschiedenen Bedeutungen, sondern zwischen verschiedenen Erscheinungsweisen bedruckten Papiers. Wenn sie Lust haben, können sie die Lochkarte wahrnehmen und synchron dazu das Gedicht lesen. Das erhöht den Genuss, das hebt die Stimmung.

Vielleicht wäre für die Lektüre von Carla Cerdas Werk ein neuer Terminus einzuführen, das „synchrone Lesen“. Ihre Gedichte ermuntern dazu, verschiedene sich überlagernde Inhalte zusammenzudenken. Dies nicht im Sinne von Metaphern, die sich via Assoziation einstellen, sondern durch das Verflechten von Themen. So wechselt der Webrahmen-Zyklus von der Stoffproduktion zu anderen Kontexten, die mitgelesen werden können. Etwa zur literarischen Textproduktion. Und er führt, es liegt nahe, zur Bild- und Textproduktion des Internets. Es liegt nahe nicht nur deshalb, weil die Lochkarte der Vorgänger der Speichermedien Magnetband und Diskette ist. Sondern insbesondere deshalb, weil Carla Cerdas gesamtes lyrisches Schaffen mit dem Internet auf das engste verknüpft ist. Davon soll abschliessend die Rede sein.

Die Dichterin als DJ

Ein grosser Teil der in den Gedichten verarbeiteten Inhalte stammt aus der digitalen Welt. Sie sind raffiniert eingepasst und als solche nicht erkennbar, oder dann ganz offensichtlich im Copy/Paste-Verfahren übernommen. Sie gehören mit zu dem, was verhandelt wird, können es auch ergänzen, konterkarieren, ihm eine Alternative entgegenhalten.

Mitunter lässt sich ihr Weg von ihren Internetwurzeln bis in das Gedicht nachverfolgen. Etwa im Fall eines englischen Zitats aus der Finanzbranche, das ohne ersichtlichen Grund in den Webstuhl-Zyklus platzt. „trust me on this testimony everybody“, meldet sich mitten im zweiten Gedicht eine Stimme, um fortzufahren:

„I invested 900 and I withdrew 9000 it was like a dream come true” 

Vielleicht rühmt sich hier jemand, der gerade einen Deal mit Loom gemacht hat? Loom, das englische Wort für Webstuhl, bezeichnet auch eine Kryptowährung. Im Wort Loom bündeln sich zwei Welten, die des Webens und die des Spekulierens. Diese Nachbarschaft macht sich Carla Cerda zunutze. Sie wiederholt mehrfach die Beteuerung „trust me on this –“ und gibt diese Floskel aus der Werbesprache für Finanzprodukte der Lächerlichkeit preis.

Sie liebt es, en passant hier eine Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung anzubringen, dort Auswüchse unserer Zivilisation blosszustellen. Hellwach verfolgt sie das Weltgeschehen, setzt in ihre Lyrik Fetzen und Splitter davon ein, die im poetischen Umfeld nicht selten absonderlich und komisch wirken. Einmal lässt sie die Ich-Erzählerin sich damit brüsten, dass ihr Gedicht, das von einer Platane handle, die α Biodiversität erhöhen und ihre eigenen biodiversity credits wieder ins Gleichgewicht bringen werde. Das Gedicht löst sich hier aus seinem ästhetischen Kontext und gibt sich als Bon für Artenvielfalt aus, als Ausgleichsfläche für Umweltsünden – eine ironiegeladene Anspielung auf die verbalen Kraftakte in den Reden von Politikern und Industrievertretern.

Auch in diesem Beispiel manifestiert sich Carla Cerdas Lust, aus der Hermetik des Gedichts auszubrechen, diesem neue Funktionen zuzuweisen und die Grenzen der Lyrik zu transzendieren. Es interessieren sie neben der Welt der Märchen und Mythen, der Belletristik, der Kommunikation insbesondere die Bereiche, die als poesieresistent erscheinen. Der Einbezug von Textfragmenten aus der Meeresbiologie, dem Abbau von Bodenschätzen, der Karpfenzucht oder der Aktienbörse erschliesst dafür nahezu unerschöpfliche Quellen. Die Autorin wählt aus ihrem in umfangreichen Recherchen zusammengetragenen Material das Passende aus, wandelt um, passt ein, kombiniert, schneidet weg. Ihre Arbeit erinnert an die Tätigkeit einer DJ, die am Mischpult steht, sampelt, mixt und scratcht und die fortlaufend ihre Rhythmen komponiert. Ab und zu macht sie sich in Ausrufen Luft. Mit den eingestreuten hey, ups, äh, hm, oh, iiih, aha
scheint sie sich selber zu befeuern, vor allem aber steigert sie damit das Vergnügen der Lesenden. Sie macht Stimmung. Das ist vielleicht das Erstaunlichste an dieser Lyrik: wie heiter, wie munter sie daherkommt. Als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, als aus den gigantischen Materialbergen des Internets eine Folge von durchgestalteten Gedichten zu machen. Als wäre es die eigentliche Bestimmung des worldwide web, in Poesie verwandelt zu werden.

Dieser Dichterin ist – Attention! – viel zuzutrauen. Der Basler Lyrikpreis, den ihr die Jury, bestehend aus Wolfram Malte Fues, Claudia Gabler, Simone Lappert, Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried und Rudolf Bussmann heute überreicht, soll sie dazu ermutigen, ihren literarischen Weg so konsequent und originär fortzusetzen, wie sie ihn begonnen hat. Unsere guten Wünsche begleiten sie dabei.

von Rudolf Bussmann

© Samuel Bramley

Carla Cerda, geboren 1990, ist Biologin, Dichterin und Übersetzerin und lebt in Leipzig, wo sie als Teil der «anemonen» interdisziplinäre Lesungen und Workshops mitorganisiert. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht: «Loops» (2020) und «Ausgleichsflächen» (2023), beide bei roughbooks. Sie erhiel tauch den Hauptpreis beim open mike 2019 und den Heimrad-Bäcker-Förderpreis 2022.

Beitragsbild © privat

Martina Caluori «Ich weine am liebsten in Klos», lectorbooks

Heute dauert ein Song, ein Lied um die drei Minuten, selbst dann, wenn der Inhalt existenziell ist, wenn von den „grossen Dingen des Lebens“ ein Lied gesungen wird. Martina Caluori singt wohl nicht, aber sie setzt ihren lyrischen Text in einen Soundteppich, ganz im Puls der Zeit.

Ein Buch mit 120 Seiten. Auf der einen oder anderen Seite sind nicht mehr als zwei Zeilen abgedruckt. Das könnte leicht falsch verstanden werden, denn Martina Caluoris Text oder Texte wären in einem Booklette zur CD falsch gewichtet. Es braucht das Buch. Es braucht auch das viele Weiss auf den Seiten, nicht zuletzt dafür, den Gedanken, den inneren Bildern jenen Raum zu geben, den Text und Musik evozieren.

Vorne im Buch ist ein QR- Code abgedruckt (auf der Verlagswebseite eine Tondatei direkt). Ich legte mich in meiner Bibliothek auf mein Lesesofa, liess die Tonspur über meine Kopfhörer abspielen und las im Buch den Text mit, den Martina Caluori mit dem Soundkünstler Marcel Gschwend in Wort und Musik zu einer Bildlandschaft zusammenfügten. Nach jeder Textpassage schloss ich die Augen und öffnete sie erst wieder, wenn mich die Stimme der Autorin auf die nächste Seite trug.

Marina Caluori «Ich weine am liebsten in Klos», mit Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, lectorbooks, 2023, 120 Seiten, QR-Code mit Zugang zu SoundCHF ca. 26.90, ISBN

„Ich weine am liebsten in Klos“ ist eine lyrisch-musikalische Reise durch die Gefühlswelt einer jungen Frau. Auch wenn nur angetönt wird (hier durchaus wörtlich gemeint), dreht sich vieles um Verlust. Zum einen um den Tod Nahegestandener, zum anderen um den Verlust jenes Gefühls, irgendwo hinzuzugehören, Teil einer intakten Welt zu sein. Auch wenn der Titel „Ich weine am liebsten in Klos“ auf den ersten Blick in seiner Banalität provoziert, erschliesst sich nach der 35minütigen Reise ein beinah lebensfeindliches Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Einsamkeit und des Verlassenseins.

Marcel Gschwend vertieft diese Gefühlswelt mit einem langen Band aus Rhythmen und tiefen Beats, mit Sounds, die Türen öffnen und mich auf dem Sofa lesend in eine Welt «auf der anderen Seite» hineinstossen. Martina Caluoris Stimme ist unspektakulär, was mich immer wieder zum Text zurückholt. „Ich weine am liebsten in Klos“ ist ein erfrischendes Experiment mit Nachhall!

Interview

Du beschreibst ein Lebensgefühl. Das Nichtdazugehören, das Zurückgelassensein, die Einsamkeit, das Eingeschlossensein. Gefühle einer ganzen Generation. Jener Generation, die das Gefühl von „Alles ist möglich“ verloren hat. Die Gefühle einer Generation, der man den Boden unter den Füssen weggezogen hat. Ist das der Grund, warum Du nicht einfach Lyrik schreiben kannst? Ist dir traditionelle Lyrik schlicht zu leise?
Dieses Lebensgefühl, für mich der lange Abschied, dem gesellschaftlich nur wenig Raum zugestanden wird, benenne ich. Vielleicht ist das nicht leise. »Ich weine am liebsten in Klos« versteckt sich nicht hinter Kompliziertem, Konstruiertem; es sind prägnante Sprachbilder, die sich auf wenige Worte zurückziehen und so Raum öffnen. Für das Geschriebene, für die Lesenden und mit dem Audiowerk für eine weitere Form der Rezeption. Lyrik ist verdichtete Gegenwart; und diese verlangt immer wieder nach eigenen oder eben anderen Formen.

„Du bist tot“, kann sich auf vieles beziehen, nicht nur auf den Tod eines Menschen, eines Vertrauten. Die 35 Minuten mit Dir und Markus Gschwend haben durchaus etwas von einem psychodelischen Trip. Und vielleicht unterschätzt man die Nebenwirkungen. Oder ist genau das Deine Hoffnung?
Ich glaube, die gab es nicht, weil wir uns mit der Begegnung von Musik und gesprochenem Text auf etwas einliessen, dessen Wirkung wir nicht vorhersagen konnten. Im Schaffensprozess gab es einen Punkt, der uns trippen liess und ebendiesen neuen Raum eröffnete. Auch mit Nebenwirkungen, die für den Zugang zum Erlebnis des Werks wurden. 

Vernissage Kulturgarage OKRO

Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Markus Gschwend? Veränderte sich der Text mit der Zusammenarbeit?
Es ist die Thematik, schlussendlich wahrscheinlich die Dichte in ihrer Kürze der Fragmente und Gedichte, welche mich zur Rezeptionsform des Auditiven mit Marcel führte. Der Text stand bereits bei Beginn der künstlerischen Kollaboration mit Marcel und hat sich indes auf der textlichen Ebene nicht verändert. Für den Audiotrip in Albumlänge war der Text Ausgangspunkt. Marcel hat diesen musikalisch aufgenommen, interpretiert und eigens Sound dafür produziert. Text und Sound sind sich künstlerisch begegnet und haben so einen neuen Sprach- und Soundkosmos eröffnet. Die Rezeptionsform des Textes hat sich dadurch verändert und damit auch seine Bedeutung. Eine weiter schweifende, die von Marcels Sound wie der Symbiose von Sound und Text. Es entstand eine neue Form, das Buch zu erfahren – und diese verändert den Text natürlich als solchen auch.

Du bist eine junge Stimme, Dein „Ich weine am liebsten in Klos“ könnte auch in einem Veranstaltungsraum mit Lichteffekten abgespielt werden, wie ein lange dauerndes Musikstück, das zu Bewegungen einlädt. Die Musik ist sphärisch, weit, schiesst Deinen Text in einen offenen Raum. Ich erinnere mich an ein Virtual Reality Projekt mit Klaus Merz und dem Filmemacher Sandro Zollinger („Los“). Willst Du Grenzen sprengen?
Das war ihr Spalt in die Ewigkeit mit einer neuen literarischen Erfahrung. Ja, Literatur in neue Räume und Klangspektren zu führen, ist sicherlich Kernstück des Werks. Live-Performances und Installationen bieten sich dafür an. Ich möchte aber vielmehr dort öffnen und Raum geben, wo wir ihn zugemacht oder gar verloren haben – oder schlicht nicht öffnen wollen. Und da gehören Interdisziplinarität und Rezeptionsformen dazu. 

Ist Dein Buch auch der Versuch, Lyrik einem jungen Publikum zu öffnen?
Diese Frage habe ich mir so nicht gestellt. Die Integration vom Audiowerk ins Buch ermöglicht sicherlich einen weiteren Zugang und lässt eine andere Auseinandersetzung mit Lyrik zu, auch performativ. Ist das junge Publikum nicht bereits wieder näher an Lyrik? Wenn du von dieser sprichst, ist meine versuchte Öffnung wohl eine generationenübergreifende, eine gesellschaftliche. 

Martina Caluori ist 1985 geboren, studierte Publizistik und Filmwissenschaften und lebt als Autorin in Chur und Zürich. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt «Frag den Moment», 2021 in Co-Autorenschaft mit Lea Catrina, «Öpadia – A Novella us Graubünda» und 2022 ihr Kurzprosadebüt «Weisswein zum Frühstück» (lectorbooks). Daneben publiziert sie in Magazinen und Anthologien, kuratiert Literaturveranstaltungen und ist in Kunst- sowie Kulturprojekte involviert. 2022 wurde sie mit dem literarischen Werkbeitrag der Stadt Chur ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, 1978 in St. Gallen geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Der Autodidakt produziert seit 2001 elektronische Musik. Bit-Tuner hat mit verschiedenen Künstlern zusammengearbeitet, wie zum Beispiel Manuel Stahlberger, Dani Göldin, !Mediengruppe Bitnik, Anna Frey, IOKOI, Audio88 & Yassin und Johannes Dullin. 2015 war er für den Schweizer Musikpreis nominiert. Sein musikalisches Ausdrucksfeld reicht von Experimental Hip-Hop bis Electronica, von Bass Music bis Noise.

Beitragsbild © Michel Gilgen

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen

Buchtaufe im Literaturhaus Thurgau

Ich habe mir zuhause einen Vorrat an Zsuzsanna Gahse Büchern angelegt. Warum? Weil ich ihre Bücher, erschienen in der Edition Korrespondenzen, über alles liebe. Ihre Prosaminiaturen, die für mich reine Poesie sind, nennt sie Störe;„Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“.

Gastbeitrag von Thomas Kunst
Schriftsteller, Dichter, Kleist-Preiträger

„Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.

Das Bühnenwasser der Murg. Die Brücken und Stege von Frauenfeld. „Viele setzen sich bei der diesjährigen Trockenheit einfach ins Gras, aber wir haben uns vor Kurzem kleine, leichte Klappstühle besorgt, mit denen wir sogar durch die Stadt ziehen und beliebig Pausen einlegen, die zu unserer Langsamkeit passen.“ Die Chance, dass Texte zu großer Literatur werden, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit. Zsuzsanna Gahse schafft es, uns auf ihre Prosafelder zu entführen, ohne uns daran zu erinnern, dass das Denken auch eine konzentrierte Fortbewegungsart des Sehens sein kann.

Ich musste beim Lesen von Zsuzsannas Buch an ein Gedicht von einem meiner amerikanischen Lieblingsdichter denken, das ich Mitte der neunziger Jahre zufällig beim Durchblättern einiger Ausgaben der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“ gefunden hatte: „Kriminalroman“ von Robert Kelly, ein Titel, der in seiner deutlichen Bezeichnung hoffentlich nur liebevolle Genreirritationen ausgelöst hat. Dieses Gedicht hatte von Anfang an kein Entkommen für mich parat, zog mich, von seinem Tempo, von seiner Gelassenheit her, sofort in seinen ambivalenten Kreis, beeindruckte mich vor allem durch die verhaltene Ökonomie im Gebrauch seiner Mittel, ein Gedicht, das klar und stringent war, elliptisch und karg, fast nur aus Hauptwörtern bestehend, wie es vielleicht seinerzeit Gottfried Benn in seiner Rede „ Probleme der Lyrik“ vorgeschwebt sein mag, ein Gedicht, geräumig entschlackt von verbalem Geraune und adjektivistischer Ausgelassenheit, einer der unverbindlichen Arten überzeichneter Wahrnehmungsplusterung.

„…Bei der Klinke. In der Schublade.
Mit einem Taschentuch in der
Hand. In der Hand. Im Zimmer
die Hand. Im Zimmer. Auf dem Vorleger
neben dem Bett. Neben dem Bett. Im
Bett. Chenille. Auf dem Bett. Im Bett.
Im Zimmer im Bett. In dem Zimmer
In dem Bett…“

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-902951-78-6

Genauso fühle ich mich beim Lesen der grandiosen Bücher von Zsuzsanna Gahse, das Glücksgefühl der Anstrengung bei der Lektüre auf sich zu nehmen, nicht nachzulassen in einer Art von musikalischer Konzentriertheit, den Einzelsätzen zu vertrauen, den sprachlichen Herzstücken der Gedanken niemals die Kondition bei der Durchblutung der poetisch-intuitiven Verästelungen zu versagen, wie es der kubanische Dichter José Lezama Lima einmal formuliert hat. „Nur die Anstrengung kann uns anregen, nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten.“ 

Verzeih mir, liebe Zsuzsanna, dass ich versucht habe, mich mit fremden Federn deinem neuen Buch zu nähern. Es ist deine Freiheit. Es ist meine Demut und auch ein Scheitern in Liebe.

Die Chance von Texten, große Literatur zu sein, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit.

Es gibt Störe in der Murg. Wenn man sich Klappstühle ans Wasser stellt, kann man sie zählen, bestaunen und bei austauschbaren Temperaturen auswendig lernen, denn Die alten Jahreszeiten gehören zum Weltkulturerbe. Für diese Sätze liebe ich dich und deine Bücher. 

„Ein Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst.“ (Paul Valery, Faust III)

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Jochen Kelter mit «Verwehtes Jahrhundert» im Literaturhaus Thurgau

Jochen Kelters Dichtung, sein neustes Buch „Verwehtes Jahrhundert“, erschienen im Caracol Verlag, als Lyrik zu bezeichnen, wird dann seiner Dichtung nicht gerecht, wenn man unter Lyrik jenen weichgezeichneten, verklärten Blick eines Entrückten versteht.

Jochen Kelters Lyrik ist alles andere als verklärt und weltentrückt, sondern kämpferisch, manchmal scharf, sonnenklar und ganz und gar nicht altersmilde. Jochen Kelter ist kein Mann der leisen Töne, auch wenn in diesem Band Gedichte zu finden sind, die wie zarte Lieder einen liebenden Blick verraten. Gedichte, die man am liebsten mit Farben an die Wand schreiben würde, um sie beim Aufstehen in einen neuen Tag als erstes zu lesen. Gedichte, die mich beflügeln!

„Verwehtes Jahrhundert“ – einen stimmigeren Titel wird es für den neuen Gedichtband kaum geben können. In den bündig vorgetragenen Zeilen werden mindestens hundert Jahre sichtbar, und diese Zeiten wehen tatsächlich herbei. Manchmal blitzen sogar weit entfernte Vergangenheiten auf. Daneben zeigt sich überraschend die jüngste Gegenwart, zum Beispiel mit der Pandemie, die jedem noch in den Knochen sitzt, was derzeit mit einer erstaunlichen Emsigkeit gerne überspielt wird. Aber Kelter beleuchtet die irritierende Ruhe und Stille dieser Jahre. Er zeigt die beinahe stehengebliebene Zeit. Zsuzsanna Gahse

 

Wetterleuchten
Am schwarzen Nachthimmel
immer wieder das entfernte
Leuchten des zuckenden gelben
Lichts und dichte Vorhänge
schweren Regens undurchdringliche
Wände aus Wasser die strömen
und strömen unsichtbar rauschen
du bist noch immer nicht auf den
Grund deiner Seele gelangt
undurchschaubar fließendes
Selbst das dir zuraunt die Nacht
der Regen die Wasser sind nicht
von Dauer sie vergehen wir sind
noch lange nicht auf den Grund
unserer Geschichte gekommen

 

Jochen Kelter kann wie kaum ein anderer poltern, den Finger in die Wunde legen. Er zeigt sich kämpferisch und widerborstig, streitlustig und unversöhnlich. Er wühlt im brutalen Geschehen der Gegenwart, erinnert an Vergangenheiten, von denen andere nur vergessen wollen, rüttelt an unserer Bewegungslosigkeit. Das reisst mitunter an der Seele und zeigt, dass der Dichter sich mit Vielem sprachlich anzulegen weiss und nicht zurückhält, wo andere nur die Stirn in Falten legen.

Jochen Kelter sieht keinen Frieden, wo sich das Grauen offenbart, sei es im Klaren oder im Verborgenen, im Kleinen oder im Grossen. Und doch geht es dem Dichter nicht darum, seinen Weltschmerz auszubreiten. Jochen Kelter ist grosser Stilist, jung und spritzig geblieben in der Art wie er nach der Musik in seiner Sprache sucht. Da ist nichts antiquiert oder verstaubt.

Jochen Kelter „Verwehtes Jahrhundert“, Caracol, 2023, 136 Seiten, CHF ca. 20.90, ISBN 978-3-907296-27-1

Seine Gedichte sind Geschichten. Zsuzsanna Gahse, die den Abend freundschaftlich moderierte, bezeichnete viele seiner Gedichte als Romanminiaturen, Kurztexte, die ganze Geschichten erzählen, eingänglich, mit Schwung und dem untrüglichen Gefühl für die sprachliche Einheit.

 

Verwehter Traum
Wie schnell wir vom Tonband
auf CDs und USB-Sticks umgestiegen
sind wir haben es nicht einmal bemerkt
wie schnell die Menschheit von einem
Krieg in den nächsten gestiegen ist
wir haben es längst schon vergessen

In meinem Traum stehst du
auf einer hellen Wiese mit offenem Haar
weißhohem Blusenkragen die spitzen
Schuhe ineinander auseinander gekehrt
ich spüre du willst mir rückhaltlos gut
wir sind eins aus ganzer Seele

Wie schnell wir von der Jugend ins Alter
steigen du bleibst mir unendlich jung
wie wir von Menschen und Kriegen
überholt werden wie von einem
Weltsystem zum nächsten Leichtsinn
und Leid drehen sich ohne uns um

Und um wir aber bleiben jung
und also verschwinden wir nach
und nach vor uns selbst bleiben zurück
als Schemen derer die wir einmal
gewesen sind und also ratlos im Spiegel
vor unserem eigenen Angesicht

 

Dass sich mit Zsuzsanna Gahse und Jochen Kelter zwei Schwergewichte über Dichtung und Wahrheit unterhielten, zwei, die mit diesem Haus ganz tief verbunden sind, garantierte einen vielstimmigen, spannenden Abend.

 

Postboten
Lautlos rollen sie auf ihren Elektrorädern
heran vollgepackt vor dem Lenker
vollgepackt der Karren hinter ihnen
manchmal sehe ich ihre Ankunft durchs Fenster
Achmed stammt aus Bagdad am Tigris
Karim ist aus dem steinigen Kabul
Lejla kam aus dem bergigen Sarajevo
ich öffne das Fenster und rufe
was gibt’s Neues? Nichts Besonderes
was macht das Wetter?
Na ja so lala
und wie geht es daheim?
Ach wie immer – nichts Neues
so erleben wir die Fremden der Welt
und unsere Kriege vor der eigenen Türe

 

Jochen Kelter ist 1946 in Köln geboren. Studium der Romanistik und Germanistik in Köln, Aix-en-Provence und Konstanz. Lebt seit 50 Jahren auf der Schweizer Seite des Bodensees in Ermatingen (von 1993 bis 2014 zudem in Paris). Lyriker, Erzähler, Essayist.
1988 bis 2001 war er Präsident des European Writers’ Congress, der Föderation der europäischen Schriftstellerverbände, und von 2002 bis 2010 Präsident der Schweizer Urheberrechtsgesellschaft ProLitteris. Jochen Kelter hat Lyrik aus dem Italienischen, Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt.

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich

Manchmal begegnet einem in der Flut von Büchern und Neuerscheinungen solche, die sich gleich mehrfach aus der Masse erheben. Bücher, die man schon der Texte wegen liebt, die aber als Kunstwerke selbst lange aufgeschlagen liegen bleiben wollen und Raum fordern. Ein solcher Buchmonolith ist dem norwegischen Dichter Tarjei Vesaas gewidmet. Wundervoll!

Einer meiner Freunde, den ich ganz der Literatur verdanke, den ich nur selten sehe und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit Literatur, empfahl mir Tarjei Vesaas. Einen Autor, den ich bisher ganz und gar nicht kannte, nicht einmal seinen Namen. Tarjei Vesaas war Norweger und starb vor mehr als einem halben Jahrhundert. Kein Wunder also, dass jemand, der sich fast ausschliesslich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, dem Namen noch nie begegnete. Was für ein Versäumnis!

Und weil ich weiss, wie sorgfältig und ausgesucht dieser Freund liest, war seine Frage, ob ich den Namen Tarjei Vesaas kenne, mehr als eine Frage, sondern eine Aufforderung. Der im deutschen Sprachraum kaum bekannte Autor, dem sich der Guggolz Verlag verdienstvoll angenommen hat, kann in einer schmucken, dreibändigen Box, die im Verlag Kleinheinrich herausgekommen ist, entdeckt werden. Eine überaus schöne Ausgabe mit Schuber und kongenialen Illustrationen des Malers Olav Christopher Jenssen. Ein Band mit Gedichten und zwei Bände mit Erzählungen, durchsetzt mit den Bildern des Malers, eingefasst in gefaltete Umschläge, die für sich selbst schon Augenweide sind.

Was der Verleger und Kunstkenner Josef Kleinheinrich mit den Texten Tarjei Vesaas› und den Bildern Olav Christopher Jenssens gestaltete und herausgab, ist unvergleichbar, eine Buchperle der ganz besonderen Art!

Nimm meine Hand

Gedichte von 1949 bis zu seinem Tod 1970, ausgewählt von Jon Fosse, einem der Grossen in der norwegischen Gegenwartsliteratur, jeweils norwegisch und deutsch einander gegenübergestellt. Tarjei Vesaas geht es in seinen Naturgedichten nicht um den romantisch verklärenden Blick. Seine Lyrik ist glasklar und zeigt die tiefe Verbundenheit des Autors mit der Natur, seiner Herkunft und den Menschen, die darin leben. Die Liebe zu einem Leben, das sich der Hektik der Städte und Zentren entgegenstellt. Filigrane Beobachtungen, Selbstbefragungen, Bilder, die dunkle Tiefe ausstrahlen.

Boot am Abend

Erzählungen, Erinnerungen, Begegnungen, ob mit der Natur oder mit Menschen – stets stark reflektierend, zu lesen, als wären es Meditationen eines Mannes, der sich auf das Kleine, Feine, Fluide, Zarte zurückzieht, der allem entfliehen will, das ihn in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung ablenkt und stört. Die Texte lesen sich seltsam fremd und fast ein bisschen hölzern. Eine ganz eigene Sprache, archaisch mit starken Farben, kurzen Sätzen, als hätte der Autor seine Empfindung in Jetztzeit notiert – unmittelbar.

Der wilde Reiter

Erinnerungen an das bäuerliche Leben, kleine und grosse Dramen in Familie und Arbeit. Tarjei Vesaas erzählt mit viel Empathie ganz nah an seinen ProtagonistInnen und öffnet vor mir als Leser der Gegenwart ein Tor in eine Vergangenheit, die weit weg erscheint, das Leben unmittelbar war und nichts von den Wichtigkeiten eines wahrhaftigen Lebens ablenkte.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich, 2022, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, ausgewählt vom norwegischen Autor Jon Fosse, alle 3 Bände illustriert mit zahlreichen Bildern des norwegischen Künstlers Olav Christopher Jenssen, 3 Bände in einer Kassette, Format je Band 24 x 16 cm, 214 Seiten, 136 Seiten, 190 Seiten, CHF ca. 117.90, ISBN 978-3-945237-59-5

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete.

Tarjei Vesaas im Guggolz Verlag

Hinrich Schmidt-Henkel (1959) übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.

Olav Christopher Jenssen (1954) ist ein norwegischer bildender Künstler und Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jenssen und zählt zu den renommiertesten Künstlern skandinavischer Herkunft. Seine Arbeiten werden seit den 1980er Jahren weltweit gezeigt.

Dr. Josef Kleinheinrich, geboren 1953 in Harsewinkel, studierte Skandinavistik, Germanistik und Philoso- phie. Seit der Verlagsgründung im Jahr 1986 hat er rund 130 Titel veröffentlicht. Seine Buchkunst zeigte Kleinheinrich in zahlreichen Ausstellungen ausserhalb des Oer’schen Hofs, darunter im Westfälischen Kunstverein in Münster und im Stedelijk Museum in Amsterdam. Mehrmals zeichnete ihn die Königlich Schwedische Akademie aus, 2019 erhielt er den Deutschen Verlagspreis.

Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat

Anna Ospelt ist eine Meisterin der Miniatur. Sie malt mit scheinbar schnellem Strich Bilder, die sich einbrennen und hängen bleiben, öffnet Türen und grosse Fenster, die Verborgenes, Vergessenes, Verlorenes zeigen. Sie schreibt Bilder, die die Kraft des ganz Grossen bergen.

Anna Ospelts zweites Buch nach „Wurzelstudien“, mit dem sie sich mit ihrer Herkunft beschäftigte, eine lyrische Selbstbetrachtung durch die Natur, das Sichtbare hindurch ins Unsichtbare, die Erinnerung, jenem Wurzelgefüge, das das Woher beschreibt, legt die Dichterin mit „Frühe Pflanzungen“ eine eigentliche Fortsetzung vor. Wieder spielt die Natur, spielen Pflanzen, das Leben um sie herum eine wichtige Rolle. Aber in ihrem neusten Buch richtet sich der Blick noch mehr gegen innen. Weil da ein neues Leben wächst, weil ein Leben zu pulsen beginnt, das eine Mutter in einen ganz neuen Zusammenhang verwebt. Weil die Mutter spürt, wie verletzlich diese Zweisamkeit ist.

Ich sticke auf dem Stoff meiner Grossmutter, mit dem Faden meiner Mutter.

Ich bin ein Mann. Und vielleicht trifft mich dieses Buch gerade deshalb auf eine eigenartig empfindliche Weise. Mutterschaft und Vaterschaft unterscheiden sich diametral. Ich kann als werdender Vater ein Dutzend Bücher über Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft lesen. Ich kann unsäglich viele Dokus schauen. Ich bleibe aussen vor. Diese Erfahrung der Weltverbundenheit streife ich bloss. Ich bin Begleiter, Mittragender, Verbündeter. Meine Rolle als Vater ist nicht jene des Werdenden. Ich muss meine Rolle erobern, mich darum bemühen. Vielleicht ist die Lektüre von Anna Ospelts Buch deshalb so bewegend, weil mir dieser literarische Zugang zum Mutterwerden und Muttersein einen Blick eröffnet, der mir als Begleiter, Mittragender, Verbündeter sonst in dieser Intensität verborgen bleibt.

Es fehlt mir an Selbstsicherheit. Diese Frau mit dem Kind muss ich erst kennenlernen. Sie wurde ja gerade erst Mutter.

Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat, 2023, 96 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-052-2

Anna Ospelts Miniaturen sind das Hineinhören selbst. Aber kein verklärtes, kein erklärendes oder wertendes und schon gar kein klagendes, auch wenn man sehr wohl spürt, wie viel Kraft und Zeit absorbiert wird, wie schwer es sein und werden kann, wenn frau sich im Alltag die Momente abstehlen muss, in denen sie sich Zeit gibt, das zu dokumentieren, festzuhalten, was als beschreibende, zeichnende, malende Stimme nach Form sucht.

Heuer ist kein Eicheljahr.
Und doch eines in Erzählkapseln.

In „Frühe Pflanzungen“ schreibt Anna Ospelt auch von „Wasserkindern“. Von Fehlgeburten, einem eigentlichen Unwort, denn nichts an solchen Kindern ist Fehler, gefehlt oder verfehlt. Der japanische Ausdruck für Fehlgeburten beschreibt „Kreaturen, die nie den ersten Ozean verlassen“. Anna Ospelt lauscht jenen Ungeborenen, „Nicht-werden-wollenden“, lauscht dem Schmerz der Machtlosen. Verknüpft mit Pflanzen- und Naturbetrachtungen schreibt Anna Ospelt in Bildern, die bei mir als Leser Verbindungen provozieren, die mich mit einer ganz eigenen Art des Sehens, Fühlens, Spürens konfrontieren.

Sehe wunden Wald.
In den Himmel gebäumtes Wurzelwerk.

Vielleicht müsste man sich jeweils zwei dieser Bücher kaufen. Eines, das ich lese und eines, das ich in Schnipsel zerreise, die ich überall dort hinterlasse, wo mich das Bleiben zum Denken zwingt. Anna Ospelts Notate verbergen hinter Banalem Hallräume. Viele dieser Miniaturen sind Auseinandersetzungen, solche mit dem Ich, mit einem wachsenden Du, mit der Zeit, mit Herangetragenem, Aufgeschnapptem, Mitgenommenen. 

Interview

Momentan liest man viel über Mutterschaft, Familie, das Nebeneinander von Elternschaft und künstlerischer Arbeit. Verweise über ihre Lektüre solcher Bücher in ihrem eigenen Buch gibt es manche. Und doch ist ihr Zugang zu diesem Thema ein geanz anderer. Sie fächern nicht auf, zerlegen nicht, breiten nicht aus. Sie konzentrieren, fokussieren. Vordergründig scheint ihre Art des Schreibens auch ein situationsbedingter Zwang zu sein. Gleichzeitig aber auch eine ganz eigene Art des Sehens, Spürens und Fühlens. Wie tauchen solche Miniaturen aus dem Einerlei des Alltags auf?

Sie tauchen leider nicht einfach so auf. Das weiss ich, da sie, die Miniaturen allzuoft untertauchen (und mit ihnen die Sprache). In den letzten rund vier Monaten habe ich zB. nicht geschrieben, mir haben der Schreibanlass, der Rahmen, der aufgeräumte Raum, die fokussierte Zeit gefehlt. Nun hab ich wieder eine Richtung eingeschlagen und versuche, täglich zu schreiben. Seit ein paar Tagen rollt es wieder, aber davor musste ich die Buchstaben regelrecht am Nacken packen und sie haben sich nur gesträubt, sodass ich sie erstmal sein liess. 

Aber zurück zur Frage: Damals, als ich den Stoff des Buchs schrieb, habe ich mehr oder weniger täglich geschrieben. In der Schwangerschaft versuchte ich, ein tägliches Haiku zu verfassen. Danach, im Wochenbett, habe ich schlicht notiert. Mal mehr, mal weniger, aber eigentlich täglich, bereits zwei Tage nach der Geburt. (ja, dort wahrscheinlich etwas zwanghaft, aber ein sehr wohltuender Zwang, es war mein Zugang zu der denkenden Anna, deren Körper im Moment hauptsächlich gefragt war.) 

Und nach dem Wochenbett schrieb ich wieder öfters Elfchen. Die Haiku haben da nicht mehr so gut gepasst, waren zu streng in ihrer Form. Da kleine Babys öfters am Tag ein kurzes Schläfchen machen, war das eigentlich der ideale Rahmen zum Schreiben. (nicht nur, natürlich, aber oft) Du spazierst, das Kind schläft ein, du zückst dein Lesebuch oder Notizbuch, wenn das Kind aufwacht, spazierst du wieder heim (es war in meinem Fall ein sehr milder Frühling, ein schöner Sommer).

Wir katologisieren und schubladisieren dauernd. Vielleicht rührt meine Betroffenheit bei der Lektüre Ihres Buches auch darin, dass ich mich als Mann mitgenommen und für einmal nicht getadelt fühle. Öffnen Sie bewusst? Wollen Sie es?

Spontan dachte ich: darüber habe ich mir nicht gross Gedanken gemacht.
Das stimmt allerdings nicht, im Nachhinein wirkt alles so leicht und man vergisst die Arbeit am Text, das Sitzleder, das er erfordert, eingefordert hat. 
Aber tatsächlich: über Männer habe ich gar nicht soooo viel nachgedacht. ☺ Es hätte den Rahmen des Buchs gesprengt, wäre wohl ein Thema für sich. 
Wo ich sehr vorsichtig war, war bei folgendem Thema: Es passiert oft, dass man andere, insbesondere Eltern von gleichaltrigen Kindern, «schubladisiert», sich automatisch mit ihnen vergleicht und vorschnell wertet. Das tue ich genauso wie jeder und jede andere, wenngleich ich versuche zu reflektieren. 
Im Text habe ich das besonders in Bezug auf Mütter versucht aktiv zu vermeiden. Im Text soll sich jede und jeder aufgehoben fühlen, egal, wie man seinen Alltag in Bezug auf Rollenbild, Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung etc gestaltet. In unserer Gesellschaft wird da oft zu eindimensional gedacht und man wird als junge Eltern sowieso andauernd in Frage gestellt (nicht zuletzt von sich selbst) – das wollte ich nicht auch noch tun. 

Ich beschäftige mich derzeit, beginnend erst, mit Fragen zum Thema Zeit. Zeit im Gegensatz zur Geschwindigkeit und finde diese Frage sehr politisch, auch im Zusammenhang mit Care-Arbeit, über die Elternschaft hinaus. (Care Arbeit für Mitmenschen, Care Arbeit für die Umwelt usw.)
Ich habe also nicht gegen Männer angeschrieben, sondern gegen das Idealbild der sich aufopfernden Mutter. Das in unserer Gesellschaft konstant reproduziert wird. Und gegen gesellschaftliche Strukturen, die uns alle, ob Eltern oder nicht, viel zu sehr stressen. Wie Zitronen auspressen. 

Ihre Miniaturen erinnern an Aphorismen, eine literarische Gattung, die kaum mehr eine Rolle spielt. Viele ihrer Notate würden selbst isoliert und aus dem Zusammenhang genommen Wirkung erzeugen. Überprüfen Sie die „Wirksamkeit»?

Da viele der Notate ursprünglich Haiku oder Elfchen waren, macht ihr Eindruck viel Sinn. Viele der Notate sind in die Länge gezogene Kürzestgedichte, zu Sätzen zurückgeformte Gedichte, die mal für sich standen und in einem zweiten Schritt erst Teil von etwas Grösserem wurden. 
(Ich hatte nie vor, ein Buch zu machen. Auch wenn es kokett klingt, habe ich erstmal einfach nur geschrieben, dem Schreiben zuliebe. Das Buch als Buch hat sich, als ich meine Notizbücher durchging, regelrecht aufgedrängt.) 

„Frühe Pflanzungen» ist eine sehr sinnliche Auseinandersetzung mit Mutterwerden und Muttersein, diesem langsamen Hineinwachsen in einen „anderen» Zustand. Ist Ihr Buch eine Art Selbstbefragung?

Ich finde es interessant, durch das Schreiben meine Welt für mich lesbar zu machen. Sie zu übersetzen, mich zu übersetzen. 

Muss ich mir Anna Ospelt mit einem Kinderwagen oder Tragetuch vorstellen, wie sie irgendo auf weitem Feld oder mitten im Wald stehenbleibt, ihr Notizheft zückt, eine Weile am Stift «kaut» und dann festhält, was ihr zufliegt?

Ja tatsächlich, allerdings habe ich nicht am Bleistift gekaut ☺ Ich hatte in diesem ersten Jahr mit Kind, in dem ich täglich stundenlang spaziert bin, immer die Schreibsachen dabei und habe Notizen gemacht, sobald die Kleine eingeschlafen ist. Ihre Schläfchen (im ersten Jahr gibt es ja viele davon, kurze) waren meine Schreib- und Lesezeit. 
Übrigens hat meine «Freundin aus Ankara» (die im Text auch vorkommt) beobachtet, als sie im Herbst bei uns war und meine Tochter ihre ersten Wörter sprach, dass sie bei jedem Buch, das sie sieht, «Mama» sagt. Sie ist wohl hunderte Mal aufgewacht und hat als erstes ihre Mutter mit Buch gesehen.
 

Anna Ospelt, geboren 1987 in Vaduz. Studium der Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel. Sie publiziert Lyrik und Kurzgeschichten in Literaturmagazinen und Anthologien. Für «Wurzelstudien» erhielt sie u. a. ein Stipendium der Stiftung Kunst + Kultur im Rahmen des Deutschen Preises für Nature Writing und war für den Clemens-Brentano-Preis nominiert. «Frühe Planzung» ist derzeit für den Europäischen Literaturpreis EUPL nominiert. Anna Ospelt lebt in Vaduz.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Raoul Schrott «Inventur des Sommers», Hanser

«das unüberbrückbare des Lebens in jedem moment in dem es sich vollzieht vervielfacht den sinn den man ihm geben kann» – Genau das kann Raoul Schrott mit seinem neusten Buch «Inventur des Sommers»; Er nimmt mich mit und setzt Spuren, die überraschen, faszinieren und Türen öffnen, die mir sonst verschlossen blieben.

Raoul Schrott ist ein literarischer Gigant. Kann sein, dass er diese Bezeichnung nicht mag und sie genau das suggeriert, was Raoul Schrott nicht will; Distanz. Ein Gigant nur schon deshalb, weil sich ein Regalbrett allein mit seinen Büchern durchbiegen würde. Ein Gigant deshalb, weil eine Verleihung des Georg-Büchner-Preises, der vielleicht grössten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, längst logische Konsequenz wäre und dem äussert breitgefächerten Werk des Dichters und Schriftstellers, Übersetzers und Essayisten gerecht werden würde.

Zudem hat Raoul Schrott etwas geschafft, was vielen oder den meisten Lyrikern vergönnt bleibt: Man kennt ihn. Man kennt ihn sogar vom Fernsehen, von Filmen und Sendungen wie dem SRF-Literaturclub. Man kennt seine Leidenschaft für das anspruchsvolle Buch, für das gute Gedicht. Und welcher Kritiker in dieser Runde hätte jemals derart euphorisch Lanzen für die Lyrik gebrochen, nie schulmeisterlich, obwohl er Lehrer und Dozent war und ist, nie elitär, obwohl durch sein Wissen eine ganze Enzyklopädie der Literatur mitzureden scheint, von den Griechen bis in die Neuzeit.

Ich lernte Raoul Schrott mit seinem ersten Roman kennen, mit dem er vor bald 30 Jahren das Bachmannpreislesen aufmischte, «Finis Terrae», eine phantastische Reise in eine erfundene Vergangenheit, die sich in der Wirklichkeit spiegelt. Ein Roman, der funkelt und von den Farben der Sprache lebt. Zweites Buch war «Hotels», tagebuchartige Aufzeichnungen in Gedichtform – zwei Bücher, die schon einmal zeigten, dass es für den Dichter und Schriftsteller weder in Themen, Form und Zugang Grenzen gibt.

TRAUREDE

der alte boden unter neuen schuhen verschwunden
wirst du dich aus der luft greifen
mit einem mal · unumwunden
eine zeitlang wirst du noch an den dingen streifen
doch vor lauter glück fühlt sich hernach alles anders an
der himmel breit · eine einzige stoffbahn
faltenlos und aus vogelseide
               dein hochzeitskleid das schneide
dir daraus zurecht · zeige- und mittelfinger als schere
für diese wunderbare drehung in der leere
rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum
               schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen
sie ist deine selbst wenn du sie nicht siehst
sie stellt dich in den raum
mit diesen deinen dunklen augen · unverdrossen
solange du weiterhin dem unerwarteten entgegen ziehst

oruro 19.11.17

 

platons sokrates erklärt, dass zwischen zwei formen des begehrens zu unterscheiden sei: ›himeros‹ als verlangen, das sich auf anwesendes richtet, und ›pothos‹ als jenes nach dem abwesenden – die leidenschaft für etwas, das gerade anderswo ist oder ganz fehlt. vorstellen lässt sich dieses abwesende als geisterhaftes ›phasma‹, ablesen an den von ihm hinterlassenen spuren und darstellen in form von ›kolossoi‹, unter denen man ursprünglich puppen verstand, wachs- oder tonfigürchen als lebensähnliche nachbildungen einer person.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben)


Raoul Schrott kommentiert, untermalt seine Gedichte mit Ergänzungen, Gedanken, Erklärungen, Reisenotaten, macht aus seinem Gedichtband eine Mischung zwischen Poesie und Essay. Wie immer lädt diese Form der Präsentation zum Verbleiben ein; Man möchte das Buch auf einem separaten Möbelstück offen liegen lassen, um immer wieder zu verweilen, um etwas in den Tag mitzunehmen.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers. Über das Abwesende», Hanser, 2023, 176 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27633-8

Raoul Schrott zeigt mit «Inventur des Sommers» seine grenzenlose Lust, sich mit Welt auseinanderzusetzen, auch wenn es die dunklen Seiten der Gegenwart sind. Wir wissen sehr wohl, dass da mehr ist, als was sichtbar ist. In der Literatur weiss man das schon lange, liest man doch auch zwischen den Zeilen. «Inventur des Sommers» ist eine Sprachreise ins Dazwischen. Im Intro zu seinem neusten Buch steht der Satz: „Denken braucht Distanz, um abstrahieren, sich von den Dingen, abziehen, entfernen und trennen zu können.“ Raoul Schrotts Distanz, aus der er schreibt, ist aber nie distanziert und unterkühlt. Raoul Schrott ist nicht nur ein Freund der Muse, wartet auch nicht, bis er gnädigst von ihr geküsst wird. Er reist ihr entgegen, reist ihr nach – mit Kopf, Herz und Hand. «Inventur des Sommers», ein Buch, das auch in den kommenden Sommer passen wird.

Raoul Schrott, geboren 1964, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel- und den Joseph-Breitbach-Preis. Raoul Schrott arbeitet zurzeit im Auftrag der Stiftung Kunst und Natur an einem umfangreichen Atlas der Sternenhimmel. 2023 wird er die Ernst-Jandl-Dozentur der Universität Wien innehaben.

Beitragsbild © Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen (Raoul Schrott bei seiner Lesung in der Kellerbühne)

Andreas Neeser «Nachts wird mir wetter», Haymon

„Was sind wir anderes als fortgesetztes Vermuten.“ Kurzprosa und Lyrik vom Feinsten 

Braucht es Mut, Lyrik zu veröffentlichen? Man könnte die Frage Andreas Neeser oder dem Verlag stellen. Andreas Neeser würde antworten, dass sich diese Frage gar nie stellt. Seine Lyrik ist Notwendigkeit! Jene der Welt etwas entgegenzusetzen, was in dem lauten Geschrei, Müll und all der verbalen Gewalt untergeht.

Nach bald einem Dutzend Veröffentlichungen mit Lyrik und Kurzprosa, ob in der Kunstsprache Deutsch oder Mundart, vereint sein neustes Werk alles, mit dem sich Andreas Neeser seit einem Vierteljahrhundert einen Namen macht. Schon im Titel seines neusten Buches „Nachts wird mir wetter“ demonstriert Andreas Neeser, was sein Schaffen ausmacht. Andreas Neeser kann Wörtern eine ganz überraschende Bedeutung geben, sie in ein anderes Licht setzen. „wetter“ ist klein geschrieben, wird zu einem emotionalen Zustand, einem Gefühl. Ein Wort, das sonst in seiner Bedeutung klar umrissen ist. Der Autor nimmt die Mundart ins Hochdeutsche hinein, gibt einzelnen Sätzen und Texten eine ganz eigene Färbung, einen Geschmack, der sich durchaus lokal verorten lässt, den Sätzen und Texten aber nichts von ihrer Gültigkeit, ihrem Verständnis nimmt. Ganz im Gegenteil; Andreas Neeser wird mit seiner Schreibkunst zu einem Unikat. Und Andreas Neeser experimentiert, scheut sich nicht, „Dinge“ in Verbindung zu bringen, die sich sonst nur gegenüberstehen, als würde er als Maler mit ganz verschiedenen Materialien und Ingredienzen ein Neues, Überraschendes kreieren.

Sein Band „Nachts wird mir wetter“ ist in vier Kapitel unterteilt. Im ersten Teil „Naturalia“ widmet sich Andreas Neeser in Kurzprosa Erinnerungen an seinen Grossvater, jener Gegend, dem Garten, den Spaziergängen mit einem Mann, der ihm als Junge gleichermassen Geheimnis und Heimat war.

 

So keime und sprieße ich|inwendig|bilde ich Zellen
mit holprigem Nichts. Ich glaube, ich werde – ein
wahreres Leben. Respekt und Vernunft. Akzeptieren
was ist, und dann loslassen, alles, was war. Wie das
klingt, Hokuspokus, Reiki – im Gegenteil: Dreimal am
Tag geh ich raus mit dem Hund. Überhaupt bin ich
Möglichst oft draußen, ich brauche das Licht. Und die
Luft. Meine Kreise sind enger geworden, Termine sind
Selten, Verholzen braucht Energie, meine ganzen
Reserven – und das ist ein Glück.

 

Andreas Neeser «Nachts wird mir wetter», Haymon, 2023, 80 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7099-8182-5

Feine Betrachtungen über das eigene Sein, ein Nachspüren der eigenen Verletzlichkeit, ohne die Spur von Weinerlichkeit. Da verrät ein Mann seine Schwachheit, seine Ängste über den Zustand der Welt und seiner selbst.

Im zweiten Teil unter dem Titel „Zungen“ sind es Gedichte über Biographisches, Erfahrungen des Werdens, Erkundungen ohne den Zwang, erkennen zu müssen. Da in jedem in Deutsch geschriebenen Gedicht auch einzelne Mundartwörter eingeflochten sind oder eine einzelne Zeile wie ein Einschluss in einem Stein erscheint, sind diese Gedichte Umkreisungen von Geschmäckern, Gerüchen und Konsistenzen des Lebens. Die Mundarteinschliessungen werfen dabei einen ganz speziellen Schatten, erzeugen schimmerndes Licht.

 

Erweckung

Manchaml noch seh ich dich
damals
am See unserer Kindheit
erwateten zwei sich die Freiheit
und trauten sich
bis zu den Kniekehlen, manchmal
noch seh ich dich
licht auf der Sandbank
so nackt wie noch nie
standest du füdleblutt da als
ein Vorspiel auf Mundart und
Später erfuhr ich
Bei aufkommender Brise
den körnigen Klang deiner Brüste
viel praller und näher am Herz
warst du Blütter als
nackt
bist du immer noch
Zustand von Haut.

 

Mit „Einsagen. Aus“ ist der dritte Teil betitelt. Gedankenfetzen, angehängt an ein Satzzeichen. Gedanken, die schmerzen, die der Dichter nicht ausbreiten will, denen er in der Kürze den Stich mitten hinein lässt:

 

I

: Die Namen der Dinge –
doch das wär zu einfach
für alles.

II

: Aus der Haut fahren
ohne zu wissen
wohin.

III

– wäre das Grauen
nicht so unsagbar
farblos.

 

Auch im letzten Teil „Wettermachen“ bringt Andreas Neeser Wörter in neue Kombinationen, auch wenn hier Mundartausdrücke keine Rolle spielen. Aber das, was der Dichter in Mundart zu schaffen vermag, das gelingt ihm auch in der Kunst- und „Hochsprache“. Er bringt Sprache und Ausdruck in ein anderes Licht, als ob er mit einer einfachen sprachlichen Bewegung, einem Verschieben, den natürlichen Fluss eines Gedankens in neue, andere Bahnen lenken würde.

 

D-Day

Wie Geschwader von Bäuchen
zuehen sie westwärts, gestaffelt
von unten
glänzen die Schuppen
gewittergrau, schieferschwarz
unzeitliches Licht.

Kein Zweifel, sie kriechen an Land
aber uns geht es gut.

 

Andreas Neeser ist mit seinem Lyrikband Gast an den 45. Solothurner Literaturtagen vom 19. – 21. Mai 2023

Andreas Neeser, geboren 1964, lebt in Suhr bei Aarau. Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 freier Schriftsteller. Zahlreiche Buchveröffentlichungen im Bereich Lyrik und Prosa. Für seine vielfältigen literarischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit Atelierstipendien im Künstlerhaus Edenkoben und im Schriftstellerhaus Stuttgart sowie 2014 mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia. Der Gedichtband «Nachts wird mir wetter» geht ausserdem als vertontes Text-Stück auf Lesereise – mit Andreas Neeser und der Jazz-Musikerin Sarah Chaksad.

Auf literaturblatt.ch besprochen: «Alpefisch» (2020) Mundartroman, «Wie wir gehen» (2020) Roman, «Nüüt und anders Züüg» (2017) Mundartprosa, «Wie halten Fische die Luft an» (2015) Lyrik

Webseite des Autors

Beitragsbild ©  Ayse Yavas 

Enzo Pelli «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa», Gedichte Italienisch und Deutsch, Limmat

Manchmal taucht ein Name unvermittelt und überraschend aus der Weite der Namenlosen auf. Man ist überrascht und reibt sich die Augen (und Ohren). Aber manchmal, wie bei Enzo Pelli, steckt grosse Genugtuung darin, wenn der Name endlich den Glanz bekommt, der ihm zusteht!

Ich traf Enzo Pelli und seine Frau diesen Sommer. Ich fasste Mut und fragte während eines Ferienaufenthalts im Tessin, ob er Zeit für ein Treffen habe, trafen wir uns doch zum bisher einzigen Mal vor etlichen Jahren in einer kleinen Buchhandlung in Hitzkirch anlässlich eines Literaturfestivals. Da damals noch keine seiner Gedichte in Deutsch erhältlich waren, freute ich mich umso mehr, als er mir vor ein paar Jahren eine kleine Auswahl seiner Gedichte in Italienisch und von Christoph Färber ins Deutsche übersetzt für die «Plattform Gegenzauber» zur Veröffentlichung freigab.

Enzo Pelli gehört in eine lange Reihe grosser Tessiner Dichter. Giovanni und Giorgio Orelli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla, Elena Spoerl-Vögtli oder Pietro De Marchi, um nur einige zu nennen. Ganz zu schweigen von all den grossen Namen, die im Tessin in den vergangenen hundert Jahren eine Oase für ihre Kunst fanden. Als ob das Tessin der Lyrik einen ganz besonderen Boden bieten würde!
Dass nun endlich unter dem Titel «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa» eine Auswahl Enzo Pellis Gedichte erscheint, ist höchst erfreulich und höchste Zeit:

Plötzlicher Schatten

Plötzlicher Schatten
über Fluss und Stein.
Ich zögere, bleibe
kurz stehen, erhebe
den Blick; nur
eine vorüberziehende Wolke.

So wie der plötzliche Schatten nur eine vorüberziehende Wolke ist, so sind die Momente, aus denen Enzo Pelli seine Gedichte schafft, jene Momente, die einem bewusst machen, dass mehr ist, als bloss das, was man dauernd erwartet. Enzo Pellis Schatten ist kein dunkler Schatten, sondern das Vorüberhaschen eines Moments, der eine Tür sein könnte. Enzo Pelli streift kurz und reisst mir die Augen auf. Genau das, was Lyrik wie keine andere Kunstform kann, wenn man sich auf sie einlässt.

Enzo Pelli «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa», Gedichte Italienisch und Deutsch, übersetzt von Christoph Ferber, Limmat, 2022, 180 Seiten, CHF 38.00, ISBN 978-3-03926-033-1

Enzo Pelli veröffentlichte erst spät erste Gedichtbände, lange nach seiner Pensionierung. Was nicht heisst, dass er mit Lyrik erst im „Ruhestand“ begonnen hätte. Umso erfreulicher, wenn es einmal mehr dem Limmat Verlag gelungen ist, eine Stimme einer anderen Landessprache ins Scheinwerferlicht zu bringen. (Unermesslich, was der Limmat Verlag in den vergangenen Jahrzehnten an literarischer Entwicklungsarbeit geleistet hat. Gäbe es einen Preis für die Lesbarkeit vielsprachiger Kostbarkeiten der Schweiz, dann müsste dieser Preis an den Limmat Verlag verliehen werden! Ich verneige mich.) 

Enzo Pellis Gedichte sind keine Kopfgeburten, auch wenn ich jede erdenkliche intellektuelle Sorgfalt spüre. Als ob Enzo Pelli durch sein kompositorisches Geschick Emotionen aus all seinen Sinnen durch den Bauch aufs Papier bringt. So wie der Dichter für das Signieren meines mitgebrachten Buches für kurze Zeit ins Nebenzimmer entschwindet, um mit ganzer Konzentration und Hingabe nicht nur die richtigen Wörter zu finden, sondern diesen auch noch die richtige Form, den ästhetischen Schwung gibt, so wird es mit seinem dichterischen Schaffen sein. Ich spüre grenzenlose Sorgfalt, liebenden Respekt, eine Stimme, die sehend macht.

Neben seiner Dichtkunst malt Enzo Pelli in seinem Atelier in Lugano. Kalligraphie, der gestalterischen Umsetzung von Schrift, Form und Farbe. Selbstverständlich ist auch diese Kunstform, die Enzo Pelli immer wieder in Ausstellungen präsentieren konnte, Auseinandersetzung mit Sprache, Rhythmen, Ausdrucksform. Nicht verwunderlich, dass es dann irgendwann die Sprache selbst war, das Gedicht.

Pfad, Fels

Pfad, Fels,
knirschender Schritt,
Wart, im Gestein:
Pfeift’s da nicht? Moos.
Atem, Wind
Zeit.

Man würde an den Momenten vorbeigehen. Aber ein Dichter wie Enzo Pelli ist sich der Einmaligkeit eines Moments bewusst, dem Fingerzeig, dem Hinweis, den man in der Eile übersehen würde. Er gibt mir den Moment zurück, eine zweite Chance. Pellis Gedichte sind Einladungen.

Für den Freund von damals

Im gossen Nichts
findest du die Fragmente,
die Worte, die Erinnerungen,
die du vorzeitig
verloren hast:
Endlich im Frieden,
zwischen Gestirnen,
wo alles schweigt.

Viele seiner Gedichte sind Erinnerungen an Menschen, Freundschaften, Begegnungen. Eindrücklich die Bilder, die Enzo Pelli von seiner Mutter in seine Gedichte einbringt, einer Frau, die in den 40er Jahren von Frankreich ins Tessin kam. Sie verbringt die Stunden, indem sie vor sich eindöst / und ferne Gedanken verfolgt. Bilder von unsäglicher Zartheit und Liebe. Die Mutter, alt, wartend auf die Leere, die sie erwartet.

Enzo Pelli wandelt das Banale in lichte Poesie. Nichts an seinen Gedichten ist Effekt, nichts übersteigert, alles durchdrungen von Ehrlichkeit, nicht nur den Menschen auch den Dingen gegenüber.
Seine Gedichte entziehen sich nicht durch Abstraktion, Umwege und Verschlüsselungen. Alles in seiner Lyrik orientiert sich am Bild. Enzo Pelli zeichnet klar, licht, auch dann, wenn seine Themen schwer sind, wenn man den Schmerz spürt.

Ich gönne Enzo Pelli, dass seine Gedichte, die er mit vollkommener Geste …. auf dieses dünne Blatt zeichnen kann, die LeserInnen findet, die der Dichter verdient!

Ombra improvvisa

Ombra improvvisa
sul fiume sui sassi.
Esito, sospendo il passo,
levo lo sguardo: solo
una nube che passa.

Enzo Pelli, 1948 in Lugano geboren, war lange Zeit Kulturredakteur beim Tessiner Fernsehen. 2014 veröffentlicht er seinen ersten Lyrikband, dem drei weitere folgen. Der letzte: «Il tempo breve» (2020). Er ist auch als Maler, Grafiker und Kalligraf tätig.

Webseite des Autors

Christoph Ferber, geboren 1954. Aufgewachsen in Sachseln, Obwalden. Studium der Slawistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Lausanne, Zürich und Venedig. Dort Promotion mit einer Arbeit zum russischen Symbolismus. Tätigkeit als freier Übersetzer. Wohnt auf Sizilien. 2014 Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur, 2016 dem Paul Scheerbart-Preis.

Enzo Pelli „Stalla in rovina“ auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Matteo Fieni

Gui Minhai «Ich zeichne mit dem Finger eine Tür auf die Wand», Leipziger Literaturverlag

Schreiben als Möglichkeit zu überleben. Zeichnet deshalb Gui Minhai mit dem Finger einen Fluchtweg?

Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerin

Einmal gefangen, helfen nur noch die Erinnerungen, um im Gefängnis nicht verrückt zu werden. Man mag sich dazu Kritzeleien vorstellen, die seit Jahrhunderten in Zellwände geritzt werden, Kassiber, auf geheimnisvollen Wegen hinausgeschmuggelt, oder Gedichte, wie sie der chinesische Buchhändler Gui Minhai zwischen Oktober 2015 und 2017 geschrieben und seiner Tochter übergeben hat. Nun sind sie unter dem Titel «Ich zeichne mit dem Finger eine Tür auf die Wand» erschienen. Gedichte, die zwischen der Sehnsucht nach einer Heimat, die Schweden für Gui Minhai einmal war, schwanken, aber auch nach einem sicheren Ort oder, wenn dies nicht möglich ist, bleibt nur die Flucht in das Schreiben. Das lyrische Ich in den Gedichten ist wohl deckungsgleich mit dem Autor, wenn es in «Erinnerung an Delsjös Sonne» heisst: «Wer sagt, dass auf die Wand gemaltes Brot nicht satt macht / Wer sagt, dass die Sonne der Erinnerung nicht wärmt.» Und später im selben Gedicht «Meine Erinnerungen lassen langsam meine Schwermut schmelzen.»

Auf dem Rückweg vom Einkaufen verhaftet

Gui Minhai ist einer der fünf Hongkonger Buchhändler, die 2015 fast zur selben Zeit, aber an unterschiedlichen Orten, vermutlich vom chinesischen Geheimdienst entführt wurden. Im Jahr 1989 ging er als Student nach Schweden, blieb nach dem Aufstand auf dem Platz des Himmlischen Friedens dort und wurde schwedischer Staatsbürger. Als er meinte, in der einstigen Kronkolonie Hongkong gebe es eine gewisse Rechtssicherheit, auf jeden Fall mehr Meinungsfreiheit, kaufte er die Buchhandlung von Lam Wing-kee in Hongkong und machte mit Klatsch-und-Tratschgeschichten über Mitglieder der chinesischen Führungselite Geld. Bisweilen zog er sich nach Thailand zurück, weil er dort das Meer «sehen und hören» konnte – so seine Tochter im Vorwort der Gedichtsammlung. Bis Gui Minhai kurz vor seinem Domizil abgepasst wurde, nur noch rasch die Einkaufstüten verstauen konnte – und nie mehr zurückkehrte. Denn, so schreibt er in einem Gedicht: «Auf dem Rückweg vom Einkaufen gerate ich in ein Feuergefecht / Ein Staat zieht ohne Kriegserklärung in die Schlacht gegen einen Menschen.» 

Unglaubliches Entführungsdrama 

Gui Minhai «Ich zeichne mit dem Finger eine Tür auf die Wand», Leipziger Literaturverlag, 2022, 100 Seiten, CHF 24.90, ISBN 978-3-86660-283-0

Was aber geschieht weiter? Kai Strittmatter beschreibt im Nachwort diese Räuberpistole, die so unglaubwürdig klingt, dass er sich selbst immer wieder darüber zu wundern scheint. Ein Schwede also, der aus Thailand in ein chinesisches Gefängnis verschleppt, später im Staatsfernsehen als reuiger Sünde vorgeführt wird. «Man hätte einen Aufschrei erwartet. Es gab keinen.» Gui Minhai «gestand» so einiges und dass er sich in Wahrheit als Chinese fühle. Und doch sind seine Gedichte voller Wehmut, die Erinnerungen an Schweden lassen seine «Schwermut schmelzen», schreibt er in einem Gedicht. Der Autor kam ins Gefängnis, wo er diese Gedichte schrieb, wurde nach zweijährigem Arrest entlassen, um im Januar 2018 nur erneut in einer wahrhaft filmreifen Szene verhaftet zu werden: Gui Minhai suchte im schwedischen Konsulat in Shanghai Zuflucht, dort beschloss man, ihn in Begleitung von zwei schwedischen Diplomaten nach Peking zu einer medizinischen Untersuchung zu schicken, unterwegs wurde der Waggon gestürmt und Gui abermals entführt. Ein weiteres Mal wurde er zur Gefängnishaft verurteilt, dieses Mal für zehn Jahre u.a. wegen der illegalen Weitergabe von Informationen an ausländische Mächte. „Welche Informationen denn“, fragt die Tochter, da er in den letzten Jahren doch im Gefängnis saß? Wieder gab es keinen Aufschrei, konstatiert Kai Strittmatter nüchtern.

Schriftzeichen vom Kerkerboden auflesen 

Peinlich ist das Verhalten der schwedischen Diplomatie, «peinlich» nennt Gui Minhai ein Verhalten, das sich einschüchtern lässt, weil der Weg der Freiheit zu steil ist, weil den Worten Handschellen angelegt werden. 

 

Es wäre peinlich 
Keine Gedichte mehr zu schreiben 
Weil man sie in einen Käfig gesperrt hat. 

Es wäre peinlich
Keine Anthologien mehr herauszugeben
weil die Skandalnachrichten wie Pilze aus dem Boden schießen. 

Es wäre peinlich
An einem Ort, an dem die Sprache zu Stein erstarrt ist
Nicht für seine Worte eingesperrt zu werden.


Gui Minhais Gedichte sind widerständig, aber auch voll der Klage und des Zorns wie im Gedicht «Krieg», das sich allerdings auch in einem anderen Kontext lesen lässt, wenn ein Krieg ohne Widerstand zur Jagd nach dem einzelnen Individuum wird.

Später heißt es, der Krieg sei ausgebrochen
Weil die Enthüllungen die Gewehre bedroht hätten.
Ein Maschinengewehr eröffnet das Feuer gegen einen Stift
Eine Handgranate reißt eine Erzählung in Stücke
Geschrotete Worte fliegen wie Schilf durch die Luft
Auf dem Fluss treiben blutgetränkte Sätze.

So abgeklärt manche Strophen auch klingen, wie z.B. über die Vielgestalt seiner Identität in «Davidshirsch», so sehnsuchtsvoll die Zeilen über seine Wahlheimat Schweden, so brutal und balladengleich dröhnt die Entführung in dem Gedicht «Nacht auf dem Mekong», das ebenso wie auch die anderen Poeme durchaus biografisch zu lesen. Das Ich versucht schreibend, sich gegen die Übermacht einer Diktatur zu wehren, ergibt sich nicht so einfach einer Ohnmacht, auch wenn es dazu die „Schriftzeichen vom Kerkerboden auflesen“ muss. 

 

In jener Nacht glich der Mekong einer schwarzen Giftschlange
Die sich in mich bohrte und bei lebendigem Leib zerriss
Seitdem der Mekong sich meiner bemächtigt hat
Werde ich die nächtlichen Albträume nicht mehr los

Nachts auf dem Mekong, in vollkommener Dunkelheit
Muss ich gebannt auf das Raunen des Flusses lauschen
Das von den Stromschnellen stammt und dem Klang von Schritten,
Gefolgt von Faustschlägen, dann Stricke und schwarze Masken

 

Klar ist Gui Minhais Sprache, von Karin Betz schnörkellos und doch empathisch ins Deutsche übersetzt. Seine Texte hat er bis zu seiner Verhaftung wieder und wieder verworfen. «Sie waren nicht gut genug, pflegte er zu sagen», schreibt seine Tochter und auch, dass es bemerkenswert war, wie er ausgerechnet im Gefängnis zu seiner Stimme fand, «dass eine Institution, die dafür gedacht ist, zu zerstören, stattdessen versehentlich läutert.»  

© LLV/Angela Gui

Gui Minhai, geb. 1964 in der ostchinesischen Stadt Ningbo (südlich von Shanghai), mit 17 Jahren Umzug nach Peking, Studium der Geschichte, erste Gedichte, 1988 Auslands­semester in Göteborg, 1989 nach dem Massaker auf dem Tiananmen unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Schweden, seit 1992 schwedischer Staatsbürger, 2004 Umzug nach Deutschland, 2006 Mitglied des Independent Chinese PEN Centre und Kampf für Meinungsfreiheit in der VR China, 2012 Gründung des Verlags Mighty Current Media in Hongkong, der sich auf die Politik der KPCh und auf das Privatleben führender Politiker spezialisierte, 2014 Kauf der Buchhandlung Mighty Current, wurde am 17. Oktober 2015 von seinem Feriendomizil in Thailand in die VR China verschleppt, 2017 aus dem Gefängnis entlassen, am 20. Januar 2018 gemeinsam mit zwei Mitarbeitern des schwedischen Konsulats im Zug auf dem Weg zur schwedischen Botschaft nach Peking von zehn Beamten in Zivil verhaftet, am 10. Februar eine erzwungene Pressekonferenz, in der er sagte, dass er die schwedische Staatsbürgerschaft ablegen wolle – das war das letzte Mal, dass Gui Minhai in der Öffentlichkeit gesehen wurde.

Karin Betz hat in Frankfurt am Main, Chengdu und Tokio Sinologie, Philosophie und Politik studiert, ist Übersetzerin chinesischer und englischer Literatur, daneben auch Rezensentin, Moderatorin und Dozentin. Im Wintersemester 2021/22 wurde ihr die August-Wilhelm-von-Schlegel Gastprofessur für Poetik der Übersetzung an der Freien Universität Berlin verliehen.

Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, hat Buchhändlerin gelernt, Sinologie und Germanistik studiert, als Lektorin und Übersetzerin gearbeitet und war mehrmals lange in Asien. Sie hat viele literarische und essayistische Kurztexte in verschiedenen Medien, unter anderem im Wespennest, veröffentlicht und Bücher über fernöstliche Länder herausgegeben. Zuletzt erschienen von ihr der Essay «Wird unser Mut langen?» (2019) und der Roman «Die Wüstengängerin» (2018). Neben anderen Auszeichnungen bekam sie 2019 das Werkjahr der Stadt Zürich zugesprochen.