Herta Müller «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», Hanser

Herta Müller wird wie eine Königin in den mit viel Marmor ausstaffierten Raum im ehrwürdigen Hauptgebäude der Uni Zürich geleitet. Ein krasser Gegensatz für eine Frau, die vor ihrer Vertreibung aus Rumänien ganz unten war, verraten und einsam, von einem kollektiven Verleumdungs- und Lügenapparat systematisch in die Enge getrieben.

Wird man verfolgt und mit dem Tod bedroht, wenn man «gestorben werden kann», wird man sich bewusst, dass das Leben ein Geschenk ist, sagte Herta Müller im Gespräch über ihr neustes Buch «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», organisiert durch das Zentrum für literarische Gegenwart Zürich. Leben wird subversiv, weil das Leben selbst in Frage gestellt wird. In einem totalitären Staat, in jedem totalitären Staat wird bewusstes Leben zu einem politischen Leben. Und so trägt jede Frage, die Herta Müller in ihren Büchern oder in Gesprächen zu beantworten versucht, eine starke politische Komponente. Leben wird automatisch zu einem politischen Leben, das sich permanent gegen den Wall an Verboten stemmen muss. Man kann verweigern und ausblenden, bis man dann doch irgendwann konfrontiert wird und sich für die eine oder andere Seite entscheiden muss. «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist eine Sammlung von Essays und Reden, die zusammen mit dem titelgebenden «Monolog» zur niedergeschriebenen Auseinandersetzung mit staatlich inszenierter Unterdrückung werden, dem immer wiederkehrenden Thema der Autorin.

Herta Müller «Eine Fliege kommt durch einen halben Wald», Hanser, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27848-6

Herta Müller, Verfolgte, Bestrafte und Drangsalierte wurde schon vor ihrer Flucht nach Deutschland eine Einsame, eine Ausgeschlossene, eine von Lügen und Neid Eingeschlossene. Unvorstellbar, dass die Frau, die auch über ein Jahrzehnt nach ihrem Nobelpreis Säle füllt, einst ihren Arbeitsplatz als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik wegen Verleumdung und strategischen Verdächtigungen räumen und diesen ins Treppenhaus der Firma verlegen musste, um ihre Arbeit nicht ganz zu verlieren. Totalitäre Systeme, ob Rumänien damals oder all die totalitären Staaten heute, bedienen sich stets der Lüge, der Fälschung, der Verdrehung. Man wird effizient zum Einzelnen gemacht, Lüge wird zum System. Die Behauptung, sie sei Staatsfeindin, Schwarzmarkthändlerin und prostituiere sich, wird Mittel zum Zweck. Gelogenes und Erfundenes wird Teil eines Unrechtssystems. Fatal ist, dass damit selbst die Wahrheit Schatten bekommt. Man ist sich nie sicher, ob man auf Wahrheit oder Lüge trifft. Und diese permanente Verunsicherung erzeugt Angst.

Verfolgung wurde in den Jahren in Rumänien zu einem dauernden Kampf, den die Autorin immer in Isolation und Angst abdrängte, umgeben von Opportunisten, besonders schmerzhaft dann, wenn selbst die Familie, die Eltern zum langen Arm des Staates wurden.

«Eine Fliege kommt durch einen halben Wald» ist ein Buch, das Beklommenheit auslöst, eine Beklommenheit, von der sich die Autorin nicht lösen will und kann, eine Beklommenheit, die angesichts der globalen Probleme noch vertieft. Verfolgung, grassierender Antisemitismus, offensichtlicher Opportunismus und Rassismus schlagen Wellen wie noch nie, erzeugen ein gefährliches, mehr und mehr explosives Gemisch mit unabsehbaren Folgen. Herta Müller macht Bilder von Unsäglichem, ohne Klischee, ohne Angegriffenheit. Seltsam genug, dass sich nicht nur die Literatur der Sprache bedient, auch die Politik, selbst die Diktatur. Darum ist Sprache stets Politik, Literatur Stellungnahme. Im Gespäch beschwört Herta Müller, dass gerade deshalb viel mehr über Literatur diskutiert werden müsste. Man ist verpflichtet, sich selbst zu erzählen, mündig zu werden. Ein Prozess, der nie zu Ende sein kann, für den die Nobelpreisträgerin noch immer schreibt und lebt.

Wenn ich schreibe, muss ich mich mit dem auseinandersetzen, was mich von innen bedrängt. Ein Zustand, der die Angst stets miteinschliesst. Schreiben ist der Drang, sich nicht verlieren zu wollen, ein Kampf gegen die Hässlichkeiten.

Herta Müller wurde 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf im Banat in Rumänien geboren. Sie studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Sie arbeitete nach dem Studium in einer Maschinenbaufabrik als Übersetzerin. Weil sie sich weigerte, ihre Kollegen für den rumänischen Geheimdienst Securitate zu bespitzeln, verlor sie ihre Stelle, fand danach nur noch Aushilfstätigkeiten und geriet selbst ins Visier der Securitate. Es folgten Verhöre und Hausdurchsuchungen und die Verleumdung. 1987 konnte sie nach Berlin ausreisen, wo sie heute noch lebt. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt wurden ihr der Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museum Berlin sowie der Internationale Brückepreis der Europastadt Görlitz/Zgorzelec verliehen und sie wurde in den Orden Pour le mérite aufgenommen. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis.

Rezension zu «Die Lüge ist ein Klettertier«
Rezension zu «Der Beamte sagte«

Beitragsbild © Gallus Frei (anlässlich einer Lesung der Autorin an der Uni Zürich, November 2023)

(Das war der 1498. Beitrag auf literaturblatt.ch.)

Herta Müller «Der Beamte sagte», Hanser

Romane erzählen Geschichten, manchmal auch mehr. Gedichte malen Bilder, manchmal mehr. Essays erklären, aber auch sie wollen manchmal mehr. Herta Müller will vielleicht gar nicht so viel, weder eine Geschichte erzählen noch die Welt erklären. Aber weil sie mit ihren Collagengedichten seit einem Jahrzehnt eine ganz eigene Ausdrucksart gefunden hat, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr durchaus ernst zu nehmendes Spiel bis in die Prosa wirkt.

Herta Müller schnipselt und klebt. Es gibt Fotos von ihr während ihrer Arbeit. Sie sitzt an einem Tisch, der übersät ist mit Wörtern und Wortfragmenten, kleinen farbigen Textbausteinen, mit denen sie bisher Lyrik und Kurzprosa zusammen mit kleinen Illustrationen zu eigentlichen Wortbildern zusammenfügte. Eine Technik, die ein wenig an Droh- und Erpresserbriefe erinnert, als sich Kriminelle noch die Zeit nahmen, aus Zeitungen Wörter zu schneiden und sie zu Texten zusammenzukleben. Was damals Angst und Schrecken auslöste, tut bei Herta Müller das genaue Gegenteil. Allein das Wissen, dass da jemand Text mit aller Akribie, Geduld und Muse so lange ordnet, arrangiert und platziert, macht das Lesen Herta Müllers Textseiten zu einer eigentlichen Meditation. Man wird ihnen nicht gerecht, wenn man einfach über sie hinwegliest, ihnen nicht jene Zuwendung schenkt, mit der die Autorin die Bilder erschuf.

Herta Müller «Das Beamte sagte», Hanser, 2021, 164 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27082-4

Herta Müller erzählt von jemandem, der vorgeladen wird. Zuerst beim Beamten A, dann beim Beamten B, einem Herrn Fröhlich und schlussendlich bei einem Beamten in den oberen Etagen. Man wirft ihr fehlendes Heimatgefühl vor, heisst sie eine Staatsfeindin. Die Beamten führen Gespräche, Gespräche, die aneinander vorbeiführen. Sie, die Angeklagte, hält sich auf in dem Gebäudekomplex, dem Lager mit Kantine, nicht eingesperrt, manchmal auch in einem Café in der Stadt, begegnet Menschen, einem leeren Vogelkäfig und immer wieder einem Vogel mit Silberkragen. Doch, Herta Müller erzählt eine Geschichte. Aber sie breitet die Geschichte nicht aus, will keine Klarheit schaffen, nicht einmal Ordnung, obwohl die Schnipsel selbst doch so einen ordentlichen Eindruck machen. Aber vielleicht ist das das HertaMüller’sche. Wenn Ordnung gemacht werden kann, dann höchstens in die Form, aber nicht im Inhalt, der einem stets die Erklärung schuldig bleibt.

Ich habe Herta Müllers Buch ganz langsam gelesen. Einzelne Seiten wie Gebetstafeln vor mir auf dem Schreibtisch liegen lassen. Manches scheint sich erst mit vielfachem Lesen zu erschliessen, vieles bleibt nur eine Ahnung. Das Skurrile, Absurde wendet sich. Manchmal weht es den lichten Vorhang vor dem Hintergrund für einen kleinen Moment. Und manchmal geben mir einzelne Seiten einen Stoss. Schon der erste Satz der Erzählung (keine Satzzeichen!) Ist Programm für das ganze Buch: „Manchmal hab ich mich vermisst.“ Ein Satz, der mich mitnimmt. Ein Satz, der mich für einen langen Moment tief in mich zurückwirft. Oder: „Gegen Abend schob sich eine schrecklich müde körperwarme Ferne über unser Haus. Dann kam ein Wind und zog das letzte Hemd aus.“ Oder noch viel mehr!

Ein rätselhaftes, geheimnisvolles, zauberhaftes, wunderschönes Buch! Ein bisschen grösser als „normale“ Bücher, dickes Papier und so geklebt, dass man es offen auf einem Tisch liegen lassen kann, was sein muss, um es wirken lassen zu können. Eine Kostbarkeit!


Herta Müller
, 1953 in Nitzkydorf/Rumänien geboren, lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin. Ihr Werk erscheint bei Hanser. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und ist die Literaturnobelpreisträgerin 2009.

Beitragsbilder © Laurence Chaperon

Herta Müller «Die Lüge ist ein Klettertier», Wortcollagen

Schon erstaunlich. Minuten bevor Herta Müller den Saal im Naturmuseum Basel betritt, murmeln die Wartenden nur noch. Die Leiterin des Literaturhauses Basel Katrin Eckert steht vor den Stuhlreihen und flüstert: «Alles bereit?» Weil da jemand kommt, der alleine duch seine Anwesenheit adelt. Bis auf den letzten Platz besetzt, ausverkauft, in den ersten Reihen ein grosser Teil der Basler Literaturprominenz: Verena Stössinger, Simone Lappert, Rudolf Bussmann, Martin R. Dean und viele mehr.

Zuerst las die Nobelpreisträgerin Herta Müller aus ihrem letzten bei Hanser erschienenen Prosawerk «Mein Vater war ein Apfelkern», las Erinnerungen zu ihrer Kindheit und Jugend in Rumänien, überzeugt davon, eine Autorin dann am besten zu verstehen, wenn man weiss, woher sie kommt. Herta Müller wuchs unter der Diktatur Nicolae Ceaușescu in Rumänien auf, auf dem Land, eng verbunden mit Einsamkeit und den Repressalien eines totalen Überwachungsstaats. Eine Kindheit, in der sie mit sich selbst das Beobachten lernte. Herta Müller las über das Fremdsein, selbst als Kind, von der Angst, «von der Welt gefressen zu werden». Und wenn die Autorin aus ihrer Kindheit liest und erzählt, hört und spürt man, dass die Bilder, aus denen die Autorin heute noch schöpft, damals schon glänzten, wohl noch nicht in abstrakten Worten, aber in konkreten Bildern, die zeugen, wie ein Mädchen mit Geschichten und Bildern im Innern die Welt zu erklären versucht. Selbst ihre Sicht auf die Natur, die Pflanzen, dem einzig wirklich Ästhetischen in einer pseudosozialistischen Umgebung, Pflanzen, die sich nicht um Gewalt und Grausamkeit zu kümmern hatten, sie in keiner Weise kommentierten, schienen sich gegen sie zu verbünden, mit dem Machthaber und seinem Apparat zu kollaborieren.

Herta Müller, eine witzige, sprudelnde, feine Dame in hochhackigen Schuhen, die sich selbst im freien Sprechen auf der Bühne von Pointe zu Pointe hangelt, die ihr entgegenzurollen scheinen, die Lacher und den Applaus geniesst, das Publikum fesselt. Erst recht, wenn sie aufsteht, rückwärts an den Bühnenrand steht und ihre Gedichtcollagen liest, die gross auf eine Leinwand projeziert sind.

Sie habe aus einer Not, zufälltig mit den Collagen begonnen. Viel unterwegs wollte sie Karten schreiben, ein paar Worte an Freunde verschicken. Aber die Ansichtskarten in Rumänien waren derart hässlich, dass sie aus Zeitschriften Wörter und Bilder schnitt, sie zu Collagen klebte und diese auf selber gekauften Karten zu verschicken begann. Buntes Papier aus der grau-in-grauen Welt Runmäniens. Sie begann zu sammeln, farbiges Papier, Bilder und Wörter, viele Wörter, tausende von Wörtern, richtete zuhause einen Wörtertisch ein, der schnell zu klein wurde, kaufte Schachteln und Schubladen, begann alphabetisch zu ordnen, richtete Werkstätten ein, eine mit rumänischen, eine mit deutschen Wörtern. Wenn sie keine Prosa schrieb, sass sie an ihrer Werkstatt, einer Arbeit, bei der «die Wörter von aussen kommen», jedes Wort ein kleines Theater, eine Inszenierung, selbst die gewöhnlichsten, alle ein Unikat. Und dann die Schönheit der farbigen Schnipsel, die Ästhetik eines aufgeklebten Arrangements. Die Arbeit an den Gedichtcollagen gebe ihr Halt, nicht zuletzt darum, weil die Auseinandersetzung mit ihrer Prosa, mit Vergangenheit und Gegenwart, ein schmerzhafter Prozess sei, das Suchen und Kleben ein Ausgleich. Ganz oft entstehe ein Sog, nur schon deshalb, weil sie Wörter findet, denen sie gerne einen Platz geben würde, die sie nicht so leicht einfach in eine Schublade zurückgeben kann. Herta Müller spielt mit Wörtern und Sätzen, begegnet ihnen wie den verschiedensten Pflanzen in einem unendlich grossen Garten. Eine sinnliche Arbeit, ganz anders als die Prosaarbeit am Computer.

Es gibt «Dinge», die nicht erledigt werden können, nicht in einem ganzen Leben, um die sich das Denken ein ganzes Leben lang dreht. Es brauche unsäglich viel Kraft aus einem «beschädigten Leben», das Schreiben notwendig macht, dem Trauma entgegenzutreten, sich nicht zu ergeben.

Wer noch nicht mit dem Lesen Herta Müllers Collagengedicht begonnen hat, kaufe sich eines der Bücher beim Hanser Verlag, schlage es auf, lasse es liegen und wirken. Es besteht akute Ansteckungsgefahr.

Herta Müller eröffnte mit ihrer Lesung das 14. Internationale Lyrikfestival in Basel