Frank Heer «Alice», Limmat

Nicht für alle ist die Vorweihnachtszeit die schönste Zeit des Jahres. Ganz sicher nicht für Max, damals, 1975, eingekeilt zwischen dem neuen Job in einer Zeitungsredaktion, den Launen der Liebe, aller möglichen Versuchungen und den steinernen Ansichten all jener, die es genau wissen, schon immer wussten. „Alice“ blendet in eine Zeit, die vergessen scheint, evoziert Bilder, die während des Lesens jenes „dokumentarische Wackeln“ erzeugen, das einen Roman untermalt, der mit Witz und Verspieltheit glänzt.

„Alice“ ist vieles zugleich; die Geschichte eines verzweifelt Liebenden, ein Abenteuerroman, eine Kriminalgeschichte, ein Zeitdokument, vielleicht sogar eine Art Sittengemälde. Max Rossmann, eben eine Stelle als Lokaljournalist in einer konservativen Regionalzeitung angenommen, in der die Ressortleiter (selbstverständlich Männer) alle wie kleine Könige und Allwissende residieren, lernt bei einem Konzertbesuch Alice kennen, die Sängerin auf der kleinen Bühne, der erst kaum jemand zuhören will, die ihn dann aber nicht nur mit ihrer Stimme zu Tränen rührt. Was als Interview beginnt, wird zu einer vertrackten Liebesgeschichte, denn zum einen verschwindet Alice mit einem Mal, zum andern muss Max feststellen, dass einiges von dem, was Alice im Interview zum besten gab, erfunden und erlogen war. 

Max versucht seine Füsse auf eigenen Boden zu bekommen, auf seinen Boden. Auch weg von seiner Ex, die ebenfalls Alice heisst. Weg von den steinernen Strukturen seines Elternhauses, vielleicht sogar weg von den Blutspuren eines Untiers, dass Hunde reisst und die zerfetzten Kadaver zurücklässt, einer Spur, die sich immer wieder im schmelzenden Schneematsch verliert. Weg von der Paranoia, die ein rätselhafter Anrufer verursacht, der seine eigene Todesanzeige aufgeben will, sich immer wieder am Telefon meldet, der sich wie ein Gespenst in seine Träume mischt.

Bis sich die Ereignisse überstürzen, das blutgierige Monster vor dem Haus seiner Eltern auftaucht, Pistolen zum Einsatz kommen und Alice im Spital landet.

Frank Heer «Alice», Limmat, 2022, 208 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-038-6

Was an Frank Heers Roman „Alice“ fasziniert, ist seine erfrischend, unkonventionelle Erzählweise, die stimmungsvollen Szenerien und ein Personal, das nicht nur mit seinen Namen (Alice Zidane, Breitscheitel, Krauthammer, Händel…) Stirnrunzeln verursacht, auch mit den Szenerien, sei es in den Verkaufsräumen eines Tierpräparators oder im Traumszenario eines mit Büchern und Müll vollgestopften Einfamilienhauses, sei es in der Runde der Anonymen Alkoholiker oder in den verrauchten Redaktionsräumen eines selbstgefälligen Schreiberlings. Aber auch die Hauptperson selbst, ein junger Wilder, der sich auf einem Tripp nach Paris auch mal in einem Warenhaus bedient, nachdem er sich sein Geld abknöpfen liess, sein Leben als grosses Abenteuer sieht und um jeden Preis nicht werden will, was seine Eltern und ihre Generation geworden sind; Spiesser.

Frank Heer vermischt Genre ebenso lustvoll wie Handlungsstränge. Und alles ist unterlegt vom satten Sound einer Generation, die noch glaubt, dass mit der Kraft der Musik etwas zu erreichen ist. Da ist nicht nur die geheimnisvolle Alice, die an den Grenzen von Delirium und Genialität zu scheitern droht, die den grossen Traum der Musik in sich trägt, sondern all die grossen Namen einer Zeit, in der Musik Kampfansage war.

„Alice“ ist Literatur in satten Farben. Es scheint, als wäre seit der Veröffentlichung seines Romansdebüts „Flammender Grund“ 2005 ein Damm gebrochen; unbändige Erzähllust, weit weg von helvetischer Zurückhaltung. „Alice“ ist Literatur gewordenes Vergnügen!

Interview

Sie sind Jahrgang 66. Ihr Buch spielt 1975. Ihr Protagonist ist also ein Jahrzehnt älter als Sie. Was reizte Sie an genau dieser Zeit? War es die Musik oder das Nebeneinander zwischen Aufbruch und Spiessbürgertum?
Vor allem Letzteres: der Aufbruch. Auch wenn es noch ein paar Jahre dauern sollte, bis die musikalischen Vorboten der Veränderung – die frühen Punkbands aus London und New York – die Schweiz erreichen sollten. Die Siebziger schienen mir eine interessante Schnittstelle zwischen Desillusion und Neuanfang. Entscheidend für mich, meinen Roman dort anzusiedeln, war aber das Schweizer Road-Movie «Reisender Krieger» von Christian Schocher, der im Jahr 1981 erschienen war und ein grandios trostloses Bild der Siebzigerjahre zeichnete. Ich hatte ihn vor etwa zehn Jahren in einer restaurierten Version im Kino gesehen. Diese kühle aber schöne Tristesse wollte ich einfangen. In meinem Kopf ist «Alice» daher auch ein Roman in Schwarz-Weiss – wie die Bilder von Kameramann Clemens Klopfenstein. 

Ihr Roman ist sowohl in seinem musikalischen wie politischen Umfeld stark an den tatsächlichen Gegebenheiten angehängt. Drückt da die Recherchearbeit des Journalisten durch? Und auch ein bisschen „die gute alte Zeit“?
Mich interessierte Schochers Filmkulisse als Projektionsfläche, nicht die Nostalgie. Ich kam 1991 als junger Volontär zu einer Ostschweizer Tageszeitung. Viele Erfahrungen aus dieser Zeit liessen sich problemlos um zwei Jahrzehnte nach hinten verschieben. Da hatte sich gar nicht so viel verändert. In die Gegenwart hätte das aber überhaupt nicht funktioniert. Insofern dienten mir die Siebzigerjahre einfach als Bühne, auf keinen Fall als Sehnsuchtsort. Die Recherchearbeit dazu hielt sich in Grenzen. Klar, die Fakten mussten stimmen, aber mir war es viel wichtiger, ein Gefühl fassbar zu machen, als eine Epoche möglichst akkurat aufleben zu lassen. Vinylschallplatten, aufregende Musik und volle Aschenbecher sollen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Siebzigerjahre in der Schweiz eine vergleichsweise trostlose, ja beklemmende Zeit waren. Die Jugend wurde erst erlöst, als der Punk aus England und Amerika in unseren Städten ankam und die bewegten Achtzigerjahre einläuteten.

So wie sich Max Rossmann ziemlich intensiv an seinem Umfeld abarbeiten muss, sei es in seinem steifen Elternhaus oder an einem Arbeitsplatz im Kampf gegen Arroganz und Besserwisserei, schleift sich der junge Mann auch an zwei Frauen, seiner Phantasie und der Verlockung, einfach alles stehen und liegen zu lassen. 
«Alice» kann man als Coming-of-Age-Roman lesen. Es gibt ja kaum eine Zeit, die man intensiver erlebt, als seine Jugend. Und natürlich habe ich in meinem persönlichen Steinbruch geschürft. Aber auch hier: Es ging mir nur darum, dieses Gefühl zu vermitteln, das immer auch ein Gefühl der Orientierungslosigkeit und Verunsicherung war, gerade wenn man in einer Kleinstadt aufgewachsen und sozialisiert worden war und sich fragte, ob es das denn nun schon gewesen sei. Schule, Ausbildung, Studium, Beruf, Beziehungen. Was mich aus dieser Überforderung gerettet hatte, war zum grossen Teil die Musik. Auch meine eigene Musik. Meine Band. Die Subkultur. Und später dann, Ende zwanzig, meine «Flucht» nach New York. Da habe ich wirklich alles stehen und liegen gelassen. Etwas, was meinem Protagonisten Max ja nicht wirklich gelingt. Oder noch nicht.

Als Journalist beschäftigen Sie sich wahrscheinlich in der Begegnung mit Menschen selten mit „Normalos“. Ihr Roman ist von einer ganzen Reihe spezieller Figuren bevölkert, sei es die Mutter, die selbst zuhause in Stöckelschuhen auftritt, das kiffende Liebespärchen, das sich im Zug verlustiert oder die eine ganze Kolonne Männer, die in einem Geschäft eines Tierpräparators verschwindet und nicht mehr auftaucht. Müssen Sie sich beherrschen, dass die Lust am Figurenspiel nicht überbordet?
Ich muss mich tatsächlich beherrschen, ja, und verspreche beim nächsten Roman Besserung! Wenn ich überborde, dann vielleicht aus einer Angst heraus, dass die Figuren ansonsten leer bleiben. Ich weiss es nicht. Ich würde gerne schreiben wie Raymond Carver, der mit wenigen Sätzen alltägliche Figuren in dichten, atmosphärischen Szenen auftreten lassen konnte. Aber nun ja, es macht auch Spass, sein eigenes Figurenkabinett an der Nase herumzuführen. Und dem Unwahrscheinlichen einen Platz zu geben. Der Magie. Das darf ich als Journalist ja nicht.

„Alice“ ist auch ein Roman über Welten, die aneinander und aufeinanderprallen. Sind Schriftsteller Seismografen?
Vielleicht. Man reagiert auf das, was einen umgibt und übersetzt es in eine Geschichte. Mit etwas Glück trifft man den Nerv der Zeit. Ich finde es schon fast erschreckend, wie aktuell mein Roman gerade wieder geworden ist. Wie in den Siebziger- und Achtzigerjahren, leben wir wieder in Zeiten grösster Verunsicherung. Der Ost-West-Konflikt, das geopolitische Kräftemessen, schiebt sich gerade als hässliche Drohkulisse aus meinem Roman heraus in die Realität und lässt uns erschaudern. Aber als Seismograf hatte ich hier jämmerlich versagt: dieses Beben liess sich nicht voraussagen.

Ich habe meinen Kindern, die mittlerweile auch längst erwachsen sind, allen schon einmal Musik aus meiner Jugend demonstriert. Musik, die noch immer vollgeladen ist mit Erinnerungen, Emotionen, Lebensgefühl und Kampfansage. Ist «Alice“ auch ein bisschen „Musikgeschichte“. 
Das kann man so lesen, muss man aber nicht. Ich wollte mit den popkulturellen Ausflügen vor allem die Leidenschaft meines Protagonisten für die Musik spürbar machen. Es ist ja bezeichnend, dass er sich in eine Musikerin verliebt, als er sie singen hört. Auf der Strasse wäre ihm die Frau vermutlich nicht aufgefallen, aber der Song, den sie in dieser kleinen Bar, im Scheinwerferlicht und umhüllt von Rauchschwaden, sang, liess ihn in Tränen ausbrechen. Es ist das, was ich spüre, wenn ich die Songs von Judee Sill höre, die mir als Vorlage für die Frauenfigur von Alice Bay gedient hatte.

Was bedeutet Musik für den 56jährigen Frank Heer?
Die Musik ist für mich eine nie versiegende Quelle. Ihre Kraft ist wunderbar, rätselhaft und heilsam. Manchmal schafft das auch die Sprache.

Frank Heer, 1966 in Uzwil bei St. Gallen geboren, ist Redaktor für Musik und Film bei der «NZZ am Sonntag». Er schreibt als Freelancer für Publikationen wie «Das Magazin», «Die Zeit» oder «Schweizer Familie». Von 1995 bis 2005 lebte er als Korrespondent in New York. 2005 erschien bei Hoffmann & Campe sein Romandebüt «Flammender Grund». Frank Heer ist nebenberuflich Musiker und veröffentlichte mit verschiedenen Formationen zahlreiche Tonträger. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.

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Beitragsfotos © Ayse Yavas