Urs Mannhart «Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen», Secession

Ganz am Schluss des Romans steht ein Mann oben auf einer Treppe, ohne Geld, ohne Kreditkarte, ohne Brille, mit seinen Schnürsenkeln in der Hand. Er hat alles verloren, nur das eine nicht; seinen unbändigen Glauben, stets eine Chance zu haben. Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.

Man kann Urs Mannharts Roman mit einem Lächeln weglegen. Kann man. Wenn man aber weiss, das der Autor nichts anbrennen lässt und alles, was er schreibt, bis ins Detail recherchiert, dann muss im Weglegen schon mal ein kleines Zögern liegen, denn da gehen Welten unter. Man kann den Roman auch weglegen und argumentieren, das Personal sei allzu plakativ und klischeehaft gezeichnet. Aber der Gier, der Dummheit, der Naivität, dem Extremismus, der Verklärtheit, der Verblendung sind selbst in der realen Welt keine Grenzen gesetzt. Die Gegenwart beweist das offensichtlich. Somit müsste auch hier ein Zögern liegen, denn Verrücktheiten sind uferlos, in der Realität und lustvoll in der Literatur.

Pascal Gschwind ist noch nicht lange in der Führungselite eines international agierenden Bergbauunternehmens. Zwar noch in der Probezeit, aber mit bester Aussicht, das Vertrauen seines Chefs zu gewinnen. Gschwind wohnt in einer schmucken Villa am Thunersee, ist seit mehr als zwei Jahrzehnten verheiratet und gesegnet mit einem Sohn, der eigentlich immer tat, was von ihm zu erwarten war. In der Garage steht ein Tesla der Extraklasse und in ein paar Wochen auch im Bootshaus ein schmucker Schlitten, selbstverständlich um einiges schnittiger als der seines Nachbarn. Gschwind ist mehr als zufrieden mit sich selbst. Und als man in den Bergen über dem Thunersee per Zufall die Seltene Erde Rapacitanium findet, einen Rohstoff, der die Effizienz von Batterien revolutioniert, und Pascal Gschwind von seinem Chef darauf angesetzt wird, scheint einer gesegneten Zukunft im Schoss einer expandierenden Firma nichts mehr im Wege zu stehen. Wär da nur nicht die Tatsache, dass sich Dinge höchst selten so entwickeln, wie man sich das in seinen Träumen vorstellt. 

Während Pascal Gschwinds Frau, die ihren Mann bald nur noch aus der Erinnerung kennt, in den Armen eines fürsorglichen Nachbarn Trost findet, Levin, ihr gemeinsamer Sohn die Schule schmeisst und in den Wäldern mit Gleichgesinnten das wahre Leben zu suchen beginnt, Gschwind die Arbeit mehr und mehr über den Kopf wächst, obwohl er mit jeder Faser seines Seins die Oberhand zu gewinnen sucht, beginnt nach eilig beschlossenen Sondierbohrungen über dem Thunersee die Erde zu beben, der Wasserspiegel des Thunersees zu sinken und ein Strohsack voller Geld im Tesla seines Besitzers zu glühen.

Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, Secession, 2021, 280 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-96639-039-2

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in eine Erzählgegenwart, in der mit Extremen dramatisiert werden muss, um mit den Extremen der Gegenwart die Gegenwärtigen zu rütteln. Sei es in Fernsehserien wie „Tschugger“ zur blossen Unterhaltung oder in Romanen wie dem neuen von Urs Mannhart. Denn eigentlich ist mit den im Roman beschriebenen Szenarien nicht zu spassen, weder mit der Gier und der Dummheit der menschlichen Spezies, noch mit den drohenden Abgründen des wirtschaftlich Machbaren. „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ peitscht mich als Leser hin und her zwischen perfekter Unterhaltung, scheinbarer Satire und offensichtlichem Mahnfinger.
Schon mit seinem ersten Roman „Luchs“ ging es um den Kampf zwischen Mensch und Tier. In seinem umstritten gewesenen Roman „Bergsteigen im Flachland“ um den Krieg des Menschen gegen die Natur. Urs Mannhart, Reporter, ehemaliger Velokurier und ausgebildeter Biobauer kann und will nicht verbergen, dass es ihm um weit mehr als Unterhaltung geht. Urs Mannhart hat eine Mission. Sein Held in „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ gibt wenig Grund zur Hoffnung. Zu hoffen ist, dass das Zirpen bleibt!

Interview

Pascal Gschwind ist ein Erfolgreicher, „fühlt sich hineingebaut in eine Gemeinschaft von Auserwählten“. Ein Formulierung in deinem Roman, die mich in den Kniekehlen traf. Seien es die Glückseligen in irgendwelchen Anschauungen, seien sie religiöser, gesellschaftlicher, politischer oder sonstiger Natur. Müssen wir uns vor den Erfolgreichen fürchten, weil ihnen ihr Erfolg stets Recht gibt?
‹Erfolg› ist ein positiv besetzter, semantisch verengter Begriff, dem ein mächtiger Wandel bevorsteht. Erfolgreich zu sein in der Schweiz, das hiess bisher meist, viel Geld zu verdienen und Besitz anzuhäufen. Diese Art von Erfolg ist jedoch folgenreich: Konsum kostet, sei er nun privat, unternehmerisch oder staatlich, und ein grosser Teil dieser Kosten wird derzeit externalisiert. Nur so sind die dicken Löhne in wohlhabenden Ländern überhaupt möglich. Der Rest der Rechnung wird oft von der Natur, von Menschen in anderen Ländern und von kommenden Generationen bezahlt. Bald wird Erfolg bedeuten, unabhängig von Geld tragende Zufriedenheiten zu finden.

Du nennst deinen Protagonisten fast durch das ganze Buch stets mit Vor- und Nachname. Ich glaube, es gibt nur zwei Szenen, in denen aus Pascal Gschwind Gschwind wird. In beiden Szenen ist der geschwinde (schnelle) Gschwind durch das Schicksal arg gebremst, bis zum absoluten Stillstand. Muss der Mensch durch Schock wachgerüttelt werden?
Unvermittelt sind wir angekommen im Anthropozän, in einem Erdzeitalter, das uns daran hindert, die Folgen unseres Tuns länger kleinzureden. Allmählich bildet sich dies auch in den Medien ab. Aber Informationen richten wenig aus; wie die anderen Säugetiere auch verändert sich der Mensch nur äusserst träge. Am liebsten modifiziert er seine Gewohnheiten erst, wenn es anders nicht mehr geht. Unterdessen zeigen sich auch in Europa deutliche Folgen klimatischen Wandels – jedoch längst nicht derart dramatisch, dass man nicht weitermachen könnte wie bisher. Ein Schock wäre also nötig. Wenn ich die Berichte des IPCC lese, dann stehe ich unter Schock.

Die Grenze zwischen Erfolg und Prostitution ist fliessend. Machen dich die Einsichten, die du durch die Recherche zu deinem Roman gewonnen hast nicht hoffnungslos?
Hoffnungslos war ich mit 18, als ich, schwer pubertierend, einen Hass verspürte auf alle Autos und den so genannten Fortschritt. Unterdessen bin ich angekommen bei einem inneren Zustand, der sich vielleicht als gut gelaunt resigniert bezeichnen liesse. Heftige Widersprüche globaler Dimension auszuhalten, das gehört offenbar zum 21. Jahrhundert. Ich versuche, meine Liebe zur Langsamkeit zu leben: Die Hin- und Rückreise von Bern zum Internationalen Literaturfestival Berlin im September 2021 zählt zu meinen schönsten Erlebnissen des Jahres — mit dem Velo bin ich gereist, eine Woche hoch, eine Woche runter, mit Zelt und Schlafsack. Wunderbar.

Gschwind will alles und verliert alles. Er lebt in einem Krieg mit sich selbst, seiner Frau, die er eigentlich liebt, seinem Sohn, der sich ihm entgegenstellt, seiner Mutter, die ihr altes Leben abstreift, selbst mit seiner Grossmutter. Dein Roman liest sich wie ein Kriegsroman, dessen Fronten sich vermischen, in denen alles wegzubrennen droht. Dein Buch gewordener Alptraum?
Ich denke, Gschwind will unbedingt das Gute. Für seine Liebsten, für sich, für die Gesellschaft. Bloss versteht er nicht, wer die Grundlagen der Ökonomie liefert. Als deren Grundlagen sieht Gschwind den Kapitalismus und dessen Gesetzmässigkeiten. Auf was dies fusst, erkennt er nicht; von der Natur hat er sich entfremdet. Wie zahlreiche Menschen im 21. Jahrhundert.

Eine Leserin hat mir geschrieben: «Sie beschreiben alles als Groteske, aber irgendwie ist es auch erschreckend real.» Ich jedenfalls habe den Verdacht, es könnte sich bei Gschwind wider Erwarten nicht um eine Karikatur handeln. 

Urs Mannhart liest aus seinem neuen Roman in der Buchhandlung Bostryche in Biel

Neben deinem Beruf als Reporter, jenem des Schriftstellers, bist du nun auch ausgelagerter Bauer. Was macht die Kombination von Schreiben und Bauern mit Urs Mannhart?
Das Landwirten hält mich in meist angenehmer Weise davon ab, nur am Schreibtisch zu sitzen. Und es politisiert mich, es erhellt meine Sicht auf das Ökologische. Wer selber wertvolle Lebensmittel herstellt, bekommt einen anderen Bezug zum Essen. Betrete ich einen Supermarkt, bekomme ich sogleich schlechte Laune. Die immer noch weiter fortschreitende Industrialisierung beim Anbau von Pflanzen und bei der Haltung von Tieren ist grauenerregend. — Jetzt bin ich freilich eingeschüchtert, weil Du eingangs die ‹Glückseligen in irgendwelchen Anschauungen› erwähnt hast. Aber als Biolandwirt habe ich tatsächlich eine politische Haltung, und für eine ökologische, tiergerechte und sozialverträgliche Landwirtschaft gibt es meiner Meinung nach eindrückliche Argumente, die sich fern aller Emotionen verankern lassen. Dass ich mich derzeit auf einem kleinen, tierhaltenden, ökologisch wirtschaftenden Hof in der Nähe von La Chaux-de-Fonds engagiere, heisst offenbar, dass ich tatsächlich noch nicht ganz hoffnungslos geworden bin. Vielleicht werde ich künftig vermehrt über Landwirtschaftliches schreiben?

Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Landwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Raubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die Ausbildung zum Bio-Landwirt. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter 2017 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.

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Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau