Jaroslav Rudiš «Weihnachten in Prag», Luchterhand

Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš und sein bester Freund Jaromir 99 nehmen mich an einem Weihnachtsabend mit in ihre Stadt Prag, Jaroslav Rudiš mit seiner literarischen Imagination, der Zeichner, Comiczeichner und Maler Jaromír Švejdík mit seinen wunderschönen Illustrationen. Ein schmales Buch mit einer ganz speziellen Aura!

Prag ist ihre Stadt, ihre Heimat, aufgeladen mit Geschichten von Verstorbenen und Gegenwärtigen, von Geistern und Begeisterten. Ein Winterspaziergang an einem 24. Dezember, wenn alles auf jenes erhellende Licht wartet, wird mit den beiden zu einem ganz besonderen, vielsinnlichen Abenteuer!

Illustration von Jaromir99 © Luchterhand

„Ich wusste nichts von Kafka, von Hašek und Hrabal. Ich wusste nicht, dass ich später einmal in Prag leben und mit dem Ertrunkenen in einer Band singen werde. Dass ich mal eine Italienerin aus Milano treffen werde, deren Mann Strassenbahnfahrer war und sich immer gewünscht hatte, Strassenbahnfahrer in Prag zu sein. Ich wusste nicht, dass sich in Prag Dichter, Maler und Musiker in Vögel und Fische verwandeln. Ich wusste nicht, das mir mal der König von Prag im Anker beibringen will, wie man alle Prager Schlösser aufsperrt.“

Jaroslav Rudiš «Weihnachten in Prag», Illustrationen von Jaromir99, Luchterhand, 2023,

Auch ich weiss nicht viel über diese Stadt. Nur eines weiss ich mit Sicherheit; wenn ich dereinst mit dem Zug nach Prag fahre und wie der Erzähler am Bahnhof stehe, werde ich mich mit diesem Buch in der Tasche auf den Weg machen, über die Karlsbrücke in die schmalen Gassen der Altstadt. Ich werde in die Geschichten eintauchen und in diesen Tagen vielleicht sogar das eine oder andere Bier trinken, weil tschechisches Bier zu den besten gehört, und weil man wohl Bier trinken muss, um einen Schlüssel, einen Zugang in all den alt eingesessenen Spelunken der Stadt mit ihren seltsamen Namen zu bekommen. Einen Schlüssel zu den Menschen, zu den Geistern, zu den Erleuchteten und Verschatteten, zu den Lebenden und den Toten. 

Prag ist die Stadt von Jaroslav Rudiš. Und nur wer wie er eine Stadt kennt, kennt das, was für Touristen unsichtbar in den Zwischenräumen und Mauern, in der Moldau, die leise und träge durch die Stadt fliesst, in den Schichten darunter und darüber ist und wirkt, was die Vogel in die Stadt tragen, was an Schatten durch die Stadt geistert.

Der Erzähler trifft sie wieder; Hana, die er mit 17 kurz vor der Wende im Sommer 1989 in Prag in einer vollen Kneipe, im Schwarzen Ochsen trifft, den Leuchtturm, den Mann, dessen Kopf leuchtet, der ihm vom letzten Atemzug Franz Kafkas erzählt, dass dieser wie alle Künstler nun einer der Krähen wäre, der Leuchtturm, der eigentlich Kavka heisst, alle aber bloss Kafka nennen, so wie jenen Franz, den alle kennen. Er trifft den König von Prag. Nicht jenen von der Burg hoch oben über der Stadt, sondern jenen aus der Gasse, der weiss, wie Schlösser zu knacken sind, durchaus methaphorisch! Er trifft die Italienerin, die von Prag schwärmt als wäre sie die schönste aller italienischen Städte. Sie treffen sich und ziehen von Kneipe zu Kneipe, warten auf den Moment, wo ihnen das Christkind ein Geschenk bringt.

Illustration von Jaromir99 © Luchterhand

„Weihnachten in Prag“ ist ein magisch, surrealer Spaziergang durch eine Stadt, der auch Kälte und Schnee den Liebreiz nicht vertreiben kann – ganz im Gegenteil. Wer eine Stadt so kennt wie Jaroslav Rudiš, der weiss, dass die Stadt nicht von den Fassaden lebt, sondern von den Geschichten dahinter und den Menschen, die dort leben und lebten, von den Eigenwilligen, den Spinnern, den Verschrobenen und Verrückten. Wer diesen literarischen Spaziergang mitmacht, wer sich traut, dem wird ein Geheimnis zuteil. „Weihnachten in Prag“ bezaubert gleich vielfach, nicht zuletzt durch die stimmungsvollen und eigenwilligen, kongenialen Illustrationen von Jaromír Švejdík!

Wir sehen uns im Ausgeschossenen Auge!

Jaromir99 & Jaroslav Rudiš © Vojtěch Veškrna

Jaroslav Rudiš, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane «Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstrasse», bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er ausserdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.

Jaromír Švejdík alias Jaromir99, geboren 1963, ist Comiczeichner, Maler sowie Sänger und Texter der tschechischen Kultband Priessnitz. Er arbeitet als Musiker für verschiedene Bands, zeichnet Storyboards für Filme und veröffentlichte mehrere Graphic Novels und Comics. Zuletzt auf Deutsch erschienen: «Alois Nebel» und «Alois Nebel ‒ Leben nach Fahrplan». Er lebt und arbeitet in Prag.

Rezension «Der Besuch von Herrn Horváth» auf literaturblatt.ch

Rezension «Nachtgestalten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Vojtěch Veškrna

Jaroslav Rudiš liest aus «Weihnachten in Prag» an den Schaffhauser Buchtagen 2023 im Bücherfass Schaffhausen

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen

Buchtaufe im Literaturhaus Thurgau

Ich habe mir zuhause einen Vorrat an Zsuzsanna Gahse Büchern angelegt. Warum? Weil ich ihre Bücher, erschienen in der Edition Korrespondenzen, über alles liebe. Ihre Prosaminiaturen, die für mich reine Poesie sind, nennt sie Störe;„Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“.

Gastbeitrag von Thomas Kunst
Schriftsteller, Dichter, Kleist-Preiträger

„Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.

Das Bühnenwasser der Murg. Die Brücken und Stege von Frauenfeld. „Viele setzen sich bei der diesjährigen Trockenheit einfach ins Gras, aber wir haben uns vor Kurzem kleine, leichte Klappstühle besorgt, mit denen wir sogar durch die Stadt ziehen und beliebig Pausen einlegen, die zu unserer Langsamkeit passen.“ Die Chance, dass Texte zu großer Literatur werden, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit. Zsuzsanna Gahse schafft es, uns auf ihre Prosafelder zu entführen, ohne uns daran zu erinnern, dass das Denken auch eine konzentrierte Fortbewegungsart des Sehens sein kann.

Ich musste beim Lesen von Zsuzsannas Buch an ein Gedicht von einem meiner amerikanischen Lieblingsdichter denken, das ich Mitte der neunziger Jahre zufällig beim Durchblättern einiger Ausgaben der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“ gefunden hatte: „Kriminalroman“ von Robert Kelly, ein Titel, der in seiner deutlichen Bezeichnung hoffentlich nur liebevolle Genreirritationen ausgelöst hat. Dieses Gedicht hatte von Anfang an kein Entkommen für mich parat, zog mich, von seinem Tempo, von seiner Gelassenheit her, sofort in seinen ambivalenten Kreis, beeindruckte mich vor allem durch die verhaltene Ökonomie im Gebrauch seiner Mittel, ein Gedicht, das klar und stringent war, elliptisch und karg, fast nur aus Hauptwörtern bestehend, wie es vielleicht seinerzeit Gottfried Benn in seiner Rede „ Probleme der Lyrik“ vorgeschwebt sein mag, ein Gedicht, geräumig entschlackt von verbalem Geraune und adjektivistischer Ausgelassenheit, einer der unverbindlichen Arten überzeichneter Wahrnehmungsplusterung.

„…Bei der Klinke. In der Schublade.
Mit einem Taschentuch in der
Hand. In der Hand. Im Zimmer
die Hand. Im Zimmer. Auf dem Vorleger
neben dem Bett. Neben dem Bett. Im
Bett. Chenille. Auf dem Bett. Im Bett.
Im Zimmer im Bett. In dem Zimmer
In dem Bett…“

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-902951-78-6

Genauso fühle ich mich beim Lesen der grandiosen Bücher von Zsuzsanna Gahse, das Glücksgefühl der Anstrengung bei der Lektüre auf sich zu nehmen, nicht nachzulassen in einer Art von musikalischer Konzentriertheit, den Einzelsätzen zu vertrauen, den sprachlichen Herzstücken der Gedanken niemals die Kondition bei der Durchblutung der poetisch-intuitiven Verästelungen zu versagen, wie es der kubanische Dichter José Lezama Lima einmal formuliert hat. „Nur die Anstrengung kann uns anregen, nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten.“ 

Verzeih mir, liebe Zsuzsanna, dass ich versucht habe, mich mit fremden Federn deinem neuen Buch zu nähern. Es ist deine Freiheit. Es ist meine Demut und auch ein Scheitern in Liebe.

Die Chance von Texten, große Literatur zu sein, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit.

Es gibt Störe in der Murg. Wenn man sich Klappstühle ans Wasser stellt, kann man sie zählen, bestaunen und bei austauschbaren Temperaturen auswendig lernen, denn Die alten Jahreszeiten gehören zum Weltkulturerbe. Für diese Sätze liebe ich dich und deine Bücher. 

„Ein Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst.“ (Paul Valery, Faust III)

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Tanja Maljartschuk «Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf.» Klagenfurter Rede zur Literatur 2023, Edition Meerauge

Tanja Maljartschuk gewann 2018 den Ingeborg-Bachmannpreis, in einer anderen Zeit, einer anderen Welt, als hätten sich Gewalt und Kampf danach mit infernalem Grinsen gegen sie, ihr Volk, ihr Land, den Glauben an Menschlichkeit und die Kraft der Kunst gerichtet.

Dass die ukrainische Schriftstellerin die Einladung annahm, im Sommer 2023 das Wettlesen in Klagenfurt mit einer Rede zu eröffnen, ist ebenso mutig wie bewundernswert. Eine Veranstaltung zu eröffnen, die das eben Gesagte, das, was Tanja Maljartschuk nach Klagenfurt mitbrachte, postwendend wieder zu einer Nebensache macht, in der Texte und ihre ErschafferInnen ebenso im Rampenlicht stehen wie KritikerInnen, die sich zwischen Selbstinszenierung und Profilierung bewegen. Dass die Autorin angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die sich in ihrem Land, in ihrem Freundeskreis, ihrer Familie abspielen, überhaupt noch Worte findet, treibt zumindest mir, der ich in meiner Bibliothek diesen Text schreibe und meine kleine Welt wohl geordnet sehe, Schamesröte in den Kopf.

«Ich betrachte mich selbst als eine gebrochene Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – noch viel schlimmer – in die Sprache verloren hat.» Wenn das eine Schriftstellerin vor Publikum offenbart, eine Frau, die der Sprache ihr Glück, ihr Sein zu verdanken hat, ist ermesslich, was dieser Krieg mit all jenen anrichtet, die sehenden Auges miterleben müssen, dass ein Krieg nicht einfach ein Schauplatz irgendwo ist, dass Detonationen der Bomben, das Zischen der Kugeln, das Rasseln der Panzer mitten im eigenen Herz stattfindet mit dem Wissen, dass das eigene Leben niemals ausreichen wird, um die offenen Wunden vernarben zu lassen.

Tanja Maljartschuk «Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf.» Klagenfurter Rede zur Literatur 2023, Edition Meerauge, mit Linolschnitten von Valentyna Pelykh, 2023, 32 Seiten, CHF ca. 18.90, ISBN 978-3-7084-0686-2

Tanja Maljartschuk erzählt, wie sie zu Beginn des russischen Vernichtungskriegs an einem Roman schrieb, einem Roman, der für immer unvollendet bleiben werde, so die Autorin. Ihre literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust in der Ukraine. Verständlich! Wie soll man sich mit etwas final auseinandersetzen, das noch immer geschieht; eine Vernichtung. In jenem Dorf, in dem sie aufwuchs, geschah gegen Ende des Weltkriegs ein schauerliches Massaker an der jüdischen Bevölkerung. Nichts und niemand schien sich mehr daran zu erinnern, auch ihre eigene Familie nicht. Und nun dieser Krieg gegen Zivilisten, gegen Mütter und ihre Kinder, alte Leute. Ein Krieg, der sich für viele Europäer nur in der Brieftasche und auf Bildschirmen abspielt. Ein Krieg, mit dem sich Betroffene nicht einfach auseinandersetzen können, als wäre es ein Objekt, das man schriebend umkreisen könnte.

Die Sprache ist alles, was Tanja Maljartschuk hat. Und der Krieg macht sie mehr und mehr sprachlos, hat ihr das Vertrauen in das Gute der Sprache vernichtet, nicht bloss genommen. Sie schreibt. Die Sprache ist ihre Stimme. Die genau gleiche Sprache, mit der andere Soldaten in den Krieg peitschen, mit der Politiker und Generäle lügen, mit der man Millionen Russinnen und Russen blendet und im verbalen Dauerfeuer zur gefügigen Masse macht. Die selbe Sprache, mit der man Gedichte schreibt.

Das schmale Büchlein mit den Linolschnitten von Valentyna Pelykh endet mit einem hoffnungsvollen Zitat von Ingeborg Bachmann, dass einst ein Tag komme, an dem die Hände der Menschen begabt sein werden für die Liebe und […] für die Güte – ein Tag der den Menschen verheisst sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter Wasser gehen, […] sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sie gemeint haben.

Grafiken: Valentyna Pelykh, Gesichter von Ukrainern, die durch russische Raketen und Geschosse verletzt wurden, Linolschnitte, 2023. Die Schnitte basieren auf Fotos von Danil Pavlov aus dem Reporters-Projekt Patched Up Souls. https://reporters.media/en/patched-up-souls/

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband »Neunprozentiger Haushaltsessig«, 2013 ihr Roman »Biografie eines zufälligen Wunders«, 2014 »Von Hasen und anderen Europäern«, 2019 ihr Roman »Blauwal der Erinnerung«. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmässig Kolumnen und lebt in Wien.

Rezension von „Überflutet“ auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Tarima Darim

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich

Manchmal begegnet einem in der Flut von Büchern und Neuerscheinungen solche, die sich gleich mehrfach aus der Masse erheben. Bücher, die man schon der Texte wegen liebt, die aber als Kunstwerke selbst lange aufgeschlagen liegen bleiben wollen und Raum fordern. Ein solcher Buchmonolith ist dem norwegischen Dichter Tarjei Vesaas gewidmet. Wundervoll!

Einer meiner Freunde, den ich ganz der Literatur verdanke, den ich nur selten sehe und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit Literatur, empfahl mir Tarjei Vesaas. Einen Autor, den ich bisher ganz und gar nicht kannte, nicht einmal seinen Namen. Tarjei Vesaas war Norweger und starb vor mehr als einem halben Jahrhundert. Kein Wunder also, dass jemand, der sich fast ausschliesslich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, dem Namen noch nie begegnete. Was für ein Versäumnis!

Und weil ich weiss, wie sorgfältig und ausgesucht dieser Freund liest, war seine Frage, ob ich den Namen Tarjei Vesaas kenne, mehr als eine Frage, sondern eine Aufforderung. Der im deutschen Sprachraum kaum bekannte Autor, dem sich der Guggolz Verlag verdienstvoll angenommen hat, kann in einer schmucken, dreibändigen Box, die im Verlag Kleinheinrich herausgekommen ist, entdeckt werden. Eine überaus schöne Ausgabe mit Schuber und kongenialen Illustrationen des Malers Olav Christopher Jenssen. Ein Band mit Gedichten und zwei Bände mit Erzählungen, durchsetzt mit den Bildern des Malers, eingefasst in gefaltete Umschläge, die für sich selbst schon Augenweide sind.

Was der Verleger und Kunstkenner Josef Kleinheinrich mit den Texten Tarjei Vesaas› und den Bildern Olav Christopher Jenssens gestaltete und herausgab, ist unvergleichbar, eine Buchperle der ganz besonderen Art!

Nimm meine Hand

Gedichte von 1949 bis zu seinem Tod 1970, ausgewählt von Jon Fosse, einem der Grossen in der norwegischen Gegenwartsliteratur, jeweils norwegisch und deutsch einander gegenübergestellt. Tarjei Vesaas geht es in seinen Naturgedichten nicht um den romantisch verklärenden Blick. Seine Lyrik ist glasklar und zeigt die tiefe Verbundenheit des Autors mit der Natur, seiner Herkunft und den Menschen, die darin leben. Die Liebe zu einem Leben, das sich der Hektik der Städte und Zentren entgegenstellt. Filigrane Beobachtungen, Selbstbefragungen, Bilder, die dunkle Tiefe ausstrahlen.

Boot am Abend

Erzählungen, Erinnerungen, Begegnungen, ob mit der Natur oder mit Menschen – stets stark reflektierend, zu lesen, als wären es Meditationen eines Mannes, der sich auf das Kleine, Feine, Fluide, Zarte zurückzieht, der allem entfliehen will, das ihn in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung ablenkt und stört. Die Texte lesen sich seltsam fremd und fast ein bisschen hölzern. Eine ganz eigene Sprache, archaisch mit starken Farben, kurzen Sätzen, als hätte der Autor seine Empfindung in Jetztzeit notiert – unmittelbar.

Der wilde Reiter

Erinnerungen an das bäuerliche Leben, kleine und grosse Dramen in Familie und Arbeit. Tarjei Vesaas erzählt mit viel Empathie ganz nah an seinen ProtagonistInnen und öffnet vor mir als Leser der Gegenwart ein Tor in eine Vergangenheit, die weit weg erscheint, das Leben unmittelbar war und nichts von den Wichtigkeiten eines wahrhaftigen Lebens ablenkte.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich, 2022, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, ausgewählt vom norwegischen Autor Jon Fosse, alle 3 Bände illustriert mit zahlreichen Bildern des norwegischen Künstlers Olav Christopher Jenssen, 3 Bände in einer Kassette, Format je Band 24 x 16 cm, 214 Seiten, 136 Seiten, 190 Seiten, CHF ca. 117.90, ISBN 978-3-945237-59-5

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete.

Tarjei Vesaas im Guggolz Verlag

Hinrich Schmidt-Henkel (1959) übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.

Olav Christopher Jenssen (1954) ist ein norwegischer bildender Künstler und Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jenssen und zählt zu den renommiertesten Künstlern skandinavischer Herkunft. Seine Arbeiten werden seit den 1980er Jahren weltweit gezeigt.

Dr. Josef Kleinheinrich, geboren 1953 in Harsewinkel, studierte Skandinavistik, Germanistik und Philoso- phie. Seit der Verlagsgründung im Jahr 1986 hat er rund 130 Titel veröffentlicht. Seine Buchkunst zeigte Kleinheinrich in zahlreichen Ausstellungen ausserhalb des Oer’schen Hofs, darunter im Westfälischen Kunstverein in Münster und im Stedelijk Museum in Amsterdam. Mehrmals zeichnete ihn die Königlich Schwedische Akademie aus, 2019 erhielt er den Deutschen Verlagspreis.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers», Hanser

«das unüberbrückbare des Lebens in jedem moment in dem es sich vollzieht vervielfacht den sinn den man ihm geben kann» – Genau das kann Raoul Schrott mit seinem neusten Buch «Inventur des Sommers»; Er nimmt mich mit und setzt Spuren, die überraschen, faszinieren und Türen öffnen, die mir sonst verschlossen blieben.

Raoul Schrott ist ein literarischer Gigant. Kann sein, dass er diese Bezeichnung nicht mag und sie genau das suggeriert, was Raoul Schrott nicht will; Distanz. Ein Gigant nur schon deshalb, weil sich ein Regalbrett allein mit seinen Büchern durchbiegen würde. Ein Gigant deshalb, weil eine Verleihung des Georg-Büchner-Preises, der vielleicht grössten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, längst logische Konsequenz wäre und dem äussert breitgefächerten Werk des Dichters und Schriftstellers, Übersetzers und Essayisten gerecht werden würde.

Zudem hat Raoul Schrott etwas geschafft, was vielen oder den meisten Lyrikern vergönnt bleibt: Man kennt ihn. Man kennt ihn sogar vom Fernsehen, von Filmen und Sendungen wie dem SRF-Literaturclub. Man kennt seine Leidenschaft für das anspruchsvolle Buch, für das gute Gedicht. Und welcher Kritiker in dieser Runde hätte jemals derart euphorisch Lanzen für die Lyrik gebrochen, nie schulmeisterlich, obwohl er Lehrer und Dozent war und ist, nie elitär, obwohl durch sein Wissen eine ganze Enzyklopädie der Literatur mitzureden scheint, von den Griechen bis in die Neuzeit.

Ich lernte Raoul Schrott mit seinem ersten Roman kennen, mit dem er vor bald 30 Jahren das Bachmannpreislesen aufmischte, «Finis Terrae», eine phantastische Reise in eine erfundene Vergangenheit, die sich in der Wirklichkeit spiegelt. Ein Roman, der funkelt und von den Farben der Sprache lebt. Zweites Buch war «Hotels», tagebuchartige Aufzeichnungen in Gedichtform – zwei Bücher, die schon einmal zeigten, dass es für den Dichter und Schriftsteller weder in Themen, Form und Zugang Grenzen gibt.

TRAUREDE

der alte boden unter neuen schuhen verschwunden
wirst du dich aus der luft greifen
mit einem mal · unumwunden
eine zeitlang wirst du noch an den dingen streifen
doch vor lauter glück fühlt sich hernach alles anders an
der himmel breit · eine einzige stoffbahn
faltenlos und aus vogelseide
               dein hochzeitskleid das schneide
dir daraus zurecht · zeige- und mittelfinger als schere
für diese wunderbare drehung in der leere
rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum
               schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen
sie ist deine selbst wenn du sie nicht siehst
sie stellt dich in den raum
mit diesen deinen dunklen augen · unverdrossen
solange du weiterhin dem unerwarteten entgegen ziehst

oruro 19.11.17

 

platons sokrates erklärt, dass zwischen zwei formen des begehrens zu unterscheiden sei: ›himeros‹ als verlangen, das sich auf anwesendes richtet, und ›pothos‹ als jenes nach dem abwesenden – die leidenschaft für etwas, das gerade anderswo ist oder ganz fehlt. vorstellen lässt sich dieses abwesende als geisterhaftes ›phasma‹, ablesen an den von ihm hinterlassenen spuren und darstellen in form von ›kolossoi‹, unter denen man ursprünglich puppen verstand, wachs- oder tonfigürchen als lebensähnliche nachbildungen einer person.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben)


Raoul Schrott kommentiert, untermalt seine Gedichte mit Ergänzungen, Gedanken, Erklärungen, Reisenotaten, macht aus seinem Gedichtband eine Mischung zwischen Poesie und Essay. Wie immer lädt diese Form der Präsentation zum Verbleiben ein; Man möchte das Buch auf einem separaten Möbelstück offen liegen lassen, um immer wieder zu verweilen, um etwas in den Tag mitzunehmen.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers. Über das Abwesende», Hanser, 2023, 176 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27633-8

Raoul Schrott zeigt mit «Inventur des Sommers» seine grenzenlose Lust, sich mit Welt auseinanderzusetzen, auch wenn es die dunklen Seiten der Gegenwart sind. Wir wissen sehr wohl, dass da mehr ist, als was sichtbar ist. In der Literatur weiss man das schon lange, liest man doch auch zwischen den Zeilen. «Inventur des Sommers» ist eine Sprachreise ins Dazwischen. Im Intro zu seinem neusten Buch steht der Satz: „Denken braucht Distanz, um abstrahieren, sich von den Dingen, abziehen, entfernen und trennen zu können.“ Raoul Schrotts Distanz, aus der er schreibt, ist aber nie distanziert und unterkühlt. Raoul Schrott ist nicht nur ein Freund der Muse, wartet auch nicht, bis er gnädigst von ihr geküsst wird. Er reist ihr entgegen, reist ihr nach – mit Kopf, Herz und Hand. «Inventur des Sommers», ein Buch, das auch in den kommenden Sommer passen wird.

Raoul Schrott, geboren 1964, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel- und den Joseph-Breitbach-Preis. Raoul Schrott arbeitet zurzeit im Auftrag der Stiftung Kunst und Natur an einem umfangreichen Atlas der Sternenhimmel. 2023 wird er die Ernst-Jandl-Dozentur der Universität Wien innehaben.

Beitragsbild © Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen (Raoul Schrott bei seiner Lesung in der Kellerbühne)

Wilhelm Hauff «Das kalte Herz», 8 grad

Auch wenn es fast 200 Jahre her ist, dass der Romantiker Wilhelm Hauff das Märchen „Das kalte Herz“ schrieb, hat die Geschichte nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Dass der kleine Verlag „8 Grad“ daraus ein derart wunderschönes Lesegeschenk macht, erfreut und fasziniert den Haptiker so sehr, dass man das Buch gar nicht ins Regal zwischen all die andern schieben möchte.

Das schöne Buch!

Peter Munk soll nach dem Tod seines Vaters die Köhlerei weiterführen. Eine Arbeit, die er eigentlich gerne macht. Aber weil er sehen muss, wie andere durch viel weniger schmutzige Arbeit einen viel pralleren Geldbeutel mit sich herumtragen und in der Wirtsstube damit Staat machen, juckt ihn die Gier und die Frage, wie er zum schnellen Geld kommen könnte. Er erfährt, dass im Schwarzwald ein Waldgeist, das Glasmännlein haust, der jedem Sonntagskind drei Wünsche erfüllt, wenn dieser ihn mit einem besimmten Vers beschwört. Drei Wünsche, die dem Jungspund alles andere als langfristiges Glück bringen, so wie in Märchen zu erwarten. Erst recht als der Kohlenmunk-Peter sich in seiner Verzweiflung an den Holländermichel wendet, einen anderen Waldgeist im Schwarzwald, der mit dem Bösen im Bunde steht. Dieser hilft ihm, schenkt ihm sackweise Geld zum Preis für sein Herz. Holländermichel setzt ihm einen kalten Stein in die Brust und die Dinge nehmen ihren Lauf. Nicht nur, dass der Kohlenmunk-Peter weder Freude, Trauer oder Liebe empfinden kann – er wird zu einem herzlosen Geist seiner selbst und zieht eine Spur der Verwüstung hinter sich her. Bis ihm das Glasmännchen durch eine List zurück in die Welt der Glücklichen verhilft.

Die Gegenwart scheint uns beweisen zu wollen, dass es für das Glück sehr wohl einiges an finanzieller Sicherheit braucht. Wir spazieren mit einer ordentlichen Portion Neid an Häusern mit Sicht aufs Wasser vorbei, lesen die Klatschspalten in Zeitschriften, auch wenn sie uns nur bezeugen, dass es auch denen dreckig gehen kann. Wir sehen mit Befremden, dass die einen mit dem Niedergang einer Grossbank Millionen scheffeln, während anderen ein Leben lang Arbeit nicht reicht, um mit der Rente Ruhestand zu finden. Und vielleicht bekräftigen Märchen wie jenes des Romantikers Wilhelm Hauff unsere stille Hoffnung, dass Red- und Ehrlichkeit doch irgendwann belohnt werden.

Was das Buch „Das kalte Herz“ aber zum idealen Geschenk aller BücherfreundInnen macht, ist das Buch selbst. Die wunderschönen, kongenialen Illustrationen von Christian Sobeck und die einzigartige Buchbindung des Buches. Die mit kräftigem Strich gemalten Ilustrationen unterstreichen die Stimmung, malen eine Kulisse wie im Theater, illustrieren nicht einfach den Text, sondern unter- und übermalen ihn. 

Während des Lesens wird man gezwungen, die Seiten vor sich aufzufalten. Jedes „Blättern“ wird zu einer fast rituellen Handlung. Die Geschichte breitet sich förmlich aus.

Dass sich ein Kleinverlag an ein solches Unterfangen wagt, ist verdienstvoll. Und dass eine solche Geschichte, ein Märchen, diese Wirkung erzeugt – erstaunlich.

Ein Buch, das die Seele wärmt!

Wilhelm Hauff «Das kalte Herz», illustriert von Christan Sobeck, 8 Grad, 2023, 101 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-910228-16-0

Wilhelm Hauff, geboren 29. November 1802 in Stuttgart, gestorben am 18. November 1827 in Stuttgart, war ein deutscher Schriftsteller des Biedermeier. Er war ein Hauptvertreter der Schwäbischen Dichterschule.

Christian Sobeck wurde 1991 im Allgäu geboren. Nach einer Ausbildung zum Grafikdesigner absolvierte er den Studiengang Mediendesign an der DHBW Ravensburg. Seit seinem Studium gestaltet und illustriert er für einen Schulbuchverlag Unterrichtsmaterialien und Lektürehilfen zu Romanen. Parallel führt er ein Designstudio im Illertal.

Beitragsbilder © Christan Sobeck / Lucra-Design

José Luis Gonzalez Macías «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt», mare

In einer Zeit, in der es keine unentdeckten Inseln mehr gibt, keine weissen Flächen mehr auf Karten, in denen es die Menschen immer weiter ins All hinauszieht und selbst die Tiefen der Meere langsam aus dem Dunkel der Ahnung aufsteigen, ist die Sehnsucht nach dem letzten Ort, dem Rand der Welt nicht kleiner geworden.

2009 erschien ebenfalls bei mare das Buch „Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky und entwickelte sich in der Folge zu einem unerwarteten Bestseller. Dass das Buch damals dermassen viele glückliche LeserInnen fand, lässt sich mit der Inselsehnsucht, dem Mythos Insel erklären. Aber ganz bestimmt auch mit Erinnerung. Vielleicht ging es ihnen als Kind wie mir; Karten und Atlanten versprühten gleichermassen Geheimnis und Abenteuer. Mit Augenpaar, Zeigefinger und einer ordentlichen Portion Vorstellungskraft wurde aus dem flachen Papier eine Kulisse, in die man eintauchen konnte. Gedankenreisen mit dem Potenzial zu epischen Ausschweifungen.

Dass der Spanier José Luis Gonzalez Macías mit «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ die perfekte Weiterführung zeichnete und schrieb, macht aus beiden Büchern ein wunderbares Pendant. Leuchttürme sind so etwas wie Zeigefinger, hochgehoben, mahnend und selbstbewusst angesichts der Naturgewalten, die auf die Mauern und Stahlkonstruktionen einhämmern. Zeigefinger, die ausrufen; Wir sind hier! Wir lassen uns allem zum Trotz nicht vertreiben. Klar haben moderne Techniken, GPS, Sonar und Radar die stolzen Recken menschlichen Willens weitgehend unnötig gemacht. Klar nagen Stürme, Salzwasser, Gezeiten und Verschleiss an den Giganten am Meer. Aber je mehr die Glanzzeiten der Leuchttürme in die Vergangenheit rutschen, desto mehr werden die Geschichten, die sich über die Jahrhunderte an jenen einsamen Orten abspielten, zu Mythen.

José Luis González Macías «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt», mare, 2023, aus dem Spanischen von Kirsten Brandt, 160 Seiten, CHF 49.90, ISBN 978-3-86648-693-5

Die Sehnsucht des Menschen nach Abgeschiedenheit ist ungebremst. In Zeiten, in denen fast alle stets erreichbar sind, in denen Offlinezeiten für die einen schon Abenteuer genug sind, in denen Einsamkeit zu einer Idylle wird, die sie in den seltensten Fällen war, zumal es für den Leuchtturmwärter im letzten Jahrhundert keine Möglichkeit gab, bei aufkommender Depression um einen Helikopter zu bitten, bedient ein Buch wie dieser Leuchtturmatlas Sehnsüchte und Träume perfekt.

Jules Vernes Abenteuerroman „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ machte schon vor mehr als hundert Jahren aus wenigen Quadratmetern den idealen Nährboden für Drama und Tragödie. Dass das Leben eines Leuchtturmwärters, selbst dann, wenn der Turm auf dem Festland steht, kein einfaches war, erzählen all die Geschichten, die José Luis Gonzalez Macías mit Illustrationen und Karten zu den Leuchttürmen verwebt. Geschichten von der Härte, der die Menschen ausgesetzt waren, von Hunger und Krankheit, Wahn und Tod, vom Verschwinden, von Geheimnissen, nie von Reichtum, nie von Ruhm und Ehre, ausser jene von Grace, der man wegen ihrer Heldentat in ihrem Geburtsort Bamburgh ein kleines Museum widmet. Am 7. September 1838 zerbricht die SS Forfarshire in zwei Teile und zerschellt an der Insel Big Harcar vor der britischen Küste. Mit einem kleinen Ruderboot retten Grace und ihr Vater, der Leuchturmwärter einen grossen Teil der Mannschaft und Passagiere. Grace stirbt 28jährig an Tuberkulose, bleibt aber Sinnbild dafür, dass Menschen, die an solchen Orten leben und wirken, aus einem ganz besonderen Holz geschnitzt sind.

Die Namen der Orte, an denen die Leuchttürme stehen, lesen sich wie eine Kette kantiger Steine: Clippeton, Erded Rock, Great Isaac Cay, Maatsuyker, Robben Island… „Der Leuchtturm am Ende der Welt“ ist ein Mahnmal für all jene Orte und Menschen, die der stürmischen See und mit einem solchen Buch dem globalen Vergessen trotzen.

Und nicht zuletzt ein wunderschönes Zeugnis moderner Buchkunst!

José Luis González Macías, geboren 1973 in Ponferrada, ist Grafikdesigner, Autor und Herausgeber und seit seiner Kindheit fasziniert von Karten. In seinem Leuchtturm-Atlas verbindet er seine Leidenschaft für Texte und für Bilder und beweist, dass man nicht am Meer gelebt haben muss, um darüber zu schreiben. Der Atlas wurde 2020 vom spanischen Kulturministerium als schönstes Buch Spaniens ausgezeichnet und bereits in vierzehn Sprachen übersetzt.

Kirsten Brandt, geboren 1963, studierte nach einer Buchhandelslehre Portugiesisch, Englisch und Deutsch in Frankfurt, Hamburg, Lissabon und Braga und lebte anschliessend sieben Jahre in Barcelona. Seit 2002 übersetzt sie aus dem Katalanischen (u. a. Carme Riera, Josep Pla und Jaume Cabré), Spanischen und Portugiesischen. 

(Bildmaterial aus dem Buch «Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt“ mit freundlicher Genehmigung des Verlags!)

Beitragsbild © Ediciones Menguantes

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl

Aus der Irischen Proklamation von 1916: „… Die Republik garantiert allen ihren Bürgern religiöse und bürgerliche Freiheit, gleiche Rechte und gleiche Chancen und erklärt ihre Entschlossenheit, nach Glück und Wohlstand der ganzen Nation und aller ihrer Teile zu streben, indem sie alle Kinder der Nation gleichermassen wertschätzt.“ Ob 1916 oder 1984 – i wo!

Ein kleiner Ort in Irland. Winter, Weihnachten 1984. Furlong, Eileen und ihre fünf Mädchen machen sich an die Vorbereitungen zum Weihnachtsfest. Furlong spürt Unruhe in sich. Diese Unruhe wird zu einem Beben, als er bei einer Kohlelieferung zum nahen Nonnenkloster ein verschrecktes Mädchen, eingesperrt im klösterlichen Kohlekeller, findet. Und schlussendlich nimmt er ein Mädchen ohne Schuhe, in Lumpen gekleidet, mit Haaren, als wären sie blind geschnitten worden mit nach Hause, in die Wärme seiner Familie. Eine Weihnachtsgeschichte?

Ein kleiner Ort in Irland. Ganze Schwärme von Raben machen sich über alles Fressbare in dem kleinen Dorf her, besetzen Dachgiebel, machen aus kahlen Bäumen schwarze, krächzende Gebilde. Furlong sieht eines Tages bei einem seiner Spaziergänge durch sein Dorf, das seine Welt ist, eine Katze über dem Kadaver eines Raben. Dreht sich die Welt? Werden die schwarzen Schwärme, die den Ort in den Weihnachtsvorbereitungen regelrecht heimsuchen, mit einem Mal zum „Opfer“? Eine Umkehrung? Doch nicht eine Weihnachtsgeschichte?

Claire Keegan «Kleine Dinge wie diese», Steidl, übersetzt von Hans-Christian Oeser, 112 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-96999-065-0

Ein kleiner Ort in Irland. Nicht weit vom Ort steht seit Urzeiten ein Nonnenkloster mit Wäscherei. Alle im Ort, die es sich leisten können, bringen ihre Wäsche ins Kloster, denn zum Kloster gehört ein Magdalenenheim, wie es damals viele in Irland gab und das letzte erst Jahre nach den Geschehnissen dieser Geschichte schliessen würde. Ein Heim für „gefallene“ Mädchen. Mädchen, denen man sich in der konservativen, katholischen Gesellschaft entledigen (was für ein Wort!) wollte. Was von aussen aussehen sollte, als wäre es Zeichen christlicher Mildtätigkeit, institutionalisierter Fürsorge, war in Wirklichkeit ein perfides System grausamer Peinigung, Zwangsarbeit und Humanentsorgung. Zehntausende junge Frauen wurden bis zur totalen Erschöpfung in konzentrationslagerähnlichen Zuständen wie Tiere gehalten und zur Arbeit gezwungen. Und die Kinder dieser Mädchen wurden zu Hunderten hinter den hohen Mauern dieser Klöster in Massengräbern verscharrt. Alles unter dem Schutzmantel der Kirche, erst in der Gegenwart in seiner fatalen Tragweite realisiert, immer noch ein irisches Trauma. In einem Land, das in seinen Traumata wohl noch lange nicht zur Ruhe kommen wird.

Claire Keegan erzählt genau dort, an der Schnittstelle dieser Geschehnisse. Sie erzählt die Geschichte eines Mannes, der seinen Vater nie kennenlernte, dessen Mutter, in ihrer Schwangerschaft allein gelassen, das Glück hatte, eine wohlgesinnte Arbeitgeberin zu haben, ihre Stelle als Haushälterin nicht verlor und den kleinen Furlong im Haus ihrer Arbeitgeberin aufziehen konnte. Furlong, zeitlebens Aussenseiter, findet Eileen, geniesst sein kleines Glück als Vater von fünf gesunden Töchtern. Die einen gehen sogar in die Musikschule des nahen Nonnenklosters! Aber Furlong weiss und spürt, wie brüchig dieses Glück ist. Und jetzt, in den Vorbereitungen zu Weihnachten, die Töchter schreiben Briefe an Santa Claus und man backt Kuchen, ahnt Furlong, dass hinter den Klostermauern nicht die Liebe regiert und es Leben gibt, die vom Glück verlassen sind. Selbst Eileen und er reagieren ganz unterschiedlich auf die Bedrohungen des Glücks. Bis Furlong die Zeichen nicht mehr leugnen kann und er sich gezwungen sieht, ein Zeichen zu setzen. Bis er eines der blossfüssigen Mädchen an der Hand nimmt und es in seinen Mantel gehüllt durch sein Dorf nach Hause zieht, während man auf den Strassen raunt oder die Strassenseite wechselt.

Claire Keegan stellt sich einem Trauma ihres Landes. Vordergründig erzählt sie eine zärtliche Geschichte von einem feinsinnigen Mann, der nicht mehr wegschauen kann. Hintergründig erzählt sie von diesen schwarzen Gestalten, die in Schwärmen ihren unbegrenzten Hunger stillen, die sich hinter Mauern verstecken und sich über Jahrhunderte in Mechanismen hineinmanövrierten, aus die sie nur die Umkehrung zwingen kann.

Claire Keegan erzählt so feinsinnig und zart, wie Furlong seiner Welt begegnet. Seine Art Licht ins Dunkel zu bringen, ist seinem Wesen geschuldet. Er tut es in Liebe. Claire Keegan hätte die alten Mauern des Schweigens auch mit Knall und Rauch niederreissen können, effektheischend und mit aller Macht anklagend. Tat sie aber nicht, weil die Autorin weiss, dass die Wirkung mit ihrer Art des Erzählens viel subtiler ist.

Es dauerte bis 2013, bis sich die Irische Regierung öffentlich entschuldigte!

Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände
«Wo das Wasser am tiefsten ist» und «Durch die blauen Felder» (in einem Band: «Liebe im hohen Gras», 2022) erschienen. Ihre Erzählung «Kleine Dinge wie diese» (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Murdo McLeod

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus – Solothurner Literaturpreis für das Gesamtwerk

Manchmal erscheinen im Meer der Neuerscheinungen Bücher, die wie Leuchttürme aus der schieren Unendlichkeit der grossen und kleinen Wellen ihre Strahlen bis in den Horizont werfen. «Partita» ist ein solcher Leuchtturm. Ein Schatz mit 77 Funkelsteinen, die mich rauschig machen!

1975 veröffentlichte Gertrud Leutenegger mit „Vorabend“ ihren ersten Roman – bei Suhrkamp. Eine beeindruckende Steilvorlage! Drei Jahre später gewann sie, nachdem sie bei Suhrkamp auch ihren zweiten Roman „Ninive“ herausgebracht hatte, dreissig Jahre alt, am Ingeborg-Bachmann-Wettlesen den Preis der Klagenfurter Jury. Seither veröffentlichte die Dichterin Gedichte, Romane und dramatische Poems stets im Suhrkamp Verlag – und nun mit „Partita“ ihre zweite Veröffentlichung bei Nimbus. Eine überaus erstaunliche und beeindruckende schriftstellerische Karriere, die sie schon lange zu einer der ganz Grossen der deutschsprachigen Literatur macht. Aber da sich der Zeitgeist wenig um Qualität kümmert und schon gar nicht um die grossen Leistungen eines ganzen Lebens, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich das Scheinwerferlicht allzu schnell von den dicken Stämmen im Literaturwald abwendet. (Lieber die bunten Büsche mit knallig leuchtenden Beeren und Blüten!)

«Meine Stimme nicht als ein Teil, sondern als eine Grenze der Welten.»

Aber schon der Umstand, dass auf der Nimbus Verlagswebseite zwei Rezensenten der Extraklasse aufgezählt werden, lässt erahnen, dass dieses scheinbar unspektakuläre Bändchen einen ganz besonderen Schatz birgt. Dass Charles Linsmayer und Michael Krüger sich vor dem Buch der Altmeisterin verneigen, beeindruckt mich so sehr, dass es mich zweifeln lässt, ob ich überhaupt noch etwas Relevantes zu diesem Kleinod beitragen kann.

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus, 2022, 92 Seiten, CHF 22.00, ISBN 978-3-03850-089-6

„Partita“ ist ein Begriff aus der Musik und beschreibt einen Teil einer Tanzfolge oder einer Variationsreihe. Genau das tut Gertrud Leutenegger; sie tanzt in ganz verschiedenen Schrittfolgen durch die Welt ihres Tuns, durch das Schreiben, das Erschaffen, ihre Kreativität. Und ihr Tanz ist derart leicht, anmutig und graziös, dass die Lektüre einem demütig macht. „Partita“ sind 77 Notate, manchmal nur ein einziger Satz, ein andermal eine Betrachtung, sprachliche Meditationen, Schritte, Tanzschritte, Tanzfolgen nach Innen. Die 77 Sprachperlen entstanden wohl nicht, um sie irgendwann zu publizieren. Es waren, wie die Autorin in einem kurzen Nachwort beschreibt, Notate, die über viele Jahrzehnte im Kontext ihres literarischen Schaffens entstanden. Glücklicherweise lässt mich Gertrud Leutenegger an diesen Leichttürmen ihres Lebens teilnehmen.

«Echoraum werden für die geliebten Menschen.»

Fast alle diese Notate drehen sich vordergründig um das Schreiben, ihre Arbeit am Text, was Sprache mit ihr macht, wie sie ringt und ihr Schaffen prüft. Aber wenn man sich während der Lektüre einen Schritt zurück begibt und das Thema ihres Schreibens „verallgemeinert“, denn für Gertrud Leutenegger ist ihr Schreiben ihr Leben, ihr Sein, ihr ganzen Tun, dann werden diese Notate zu Aufforderungen an ein Tun ganz allgemein. Sie erinnern mich durchaus auch an Ermahnungen, dem Geschenk des Lebens, des Erschaffens jenen Respekt zu zollen, den dieses Geschenk einfordert. Gertrud Leutenegger reflektiert ihr Tun. Diese Notate sind die Prüfsteine, mit denen sie ihr Schaffen hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit prüft. Schon alleine die Ernsthaftigkeit dieses steten Prüfens beeindruckt – und noch viel mehr die Leuchtkraft der Notate selbst. Der Dichterin geht es nie um Effekte, so wie „Partita“ in nichts nach Effekt hascht. Eine Seite – ein Satz. Als wären es die in den Leutenegger-Boden versenkten Mark- und Merksteine ihres Schaffens.

«Unter Tränen zum Leben verführen.»

„Partita“ ist ein Geschenk an all jene, für die Lesen auch Kontemplation sein soll.

Der Solothurner Literaturpreis geht in diesem Jahr an Gertrud Leutenegger.

Erst im letzten Jahr wurde der Preis neu aufgestellt; seither wird er vom Verein Solothurner Literaturtage getragen. Der Preis ist mit 15’000 Franken dotiert und zeichnet ein Gesamtwerk aus.

Die fünfköpfige Preisjury begründet ihren Entscheid für die 74-jährige Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger damit, dass sie in ihrem Werk Persönliches und Weltwahrnehmung miteinander verbinde. Sie erforsche «auf zeitlose Weise die menschliche Existenz», heisst es in einer Mitteilung von Mittwoch.
Der Solothurner Literaturpreis wird ihr am 21. Mai im Rahmen der Solothurner Literaturtage verliehen. Zu den bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern gehören unter anderem die deutsche Autorin Iris Wolff (2021), die Österreicherin Monika Helfer (2020), Peter Stamm (2018) und Lukas Bärfuss (2015).

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014) und «Späte Gäste» (2020).

Rezension von «Das Klavier auf dem Schillerstein» auf literaturblatt.ch

Andri Perl «Im Berg ist ein Leuchten», Elster & Salis

Sulvaschin ist ein Ort im Kanton Graubünden, ein fiktiver Ort in einem Bergtal. Lisa, die Erzählerin in Andri Perls Erzählung kehrt auf Forschungsreise zurück an den Ort ihrer Kindheit, an den Ort ihrer Familie, an den Ort, an dem Ihr Vater verschwand und sich über sein Verschwinden ein Mantel des Schweigens legte.

Es gibt Bücher, die sich ganz leise gebärden. Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist Andri Perl Musiker. Seine Erzählung „Im Berg ist ein Leuchten“ ist ein leises Stück Literatur, eine Erzählung, die nicht nur in ihrem schönen Titel ein Leuchten zurücklässt. “Im Berg ist ein Leuchten“ ist eine Liebesgeschichte an einen Ort, ein Dorf, ein Tal, auch an die Menschen, ihre Besonderheiten, die fest mit den Besonderheiten des Tals, der Gegend, der Topographie verbunden sind. 

Sulvaschin hat eine lange Geschichte, eine Geschichte, die mit dem Berg, dem Stein verbunden ist, denn über Jahrhunderte versprach der Berg Reichtum. Man glaubte, im Bergbau dem Fels jene Geheimnisse entlocken zu können, die dem Tal weit über die Grenzen Bedeutung geschenkt hätten. Ein Unternehmen, das immer wieder scheiterte, im Berg aber viele Narben hinterliess, Löcher, Stollen, Minen. Scheiterte und Opfer hinterliess, Leben, die sich im und am Berg verloren.

Andri Perl «Im Berg ist ein Leuchten» Elster & Salis, mit Illustrationen von Adina Andres, 2022, 120 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-03930-041-9

Auch Lisas Vater ist eines dieser Opfer. Er verschwand, sehr wahrscheinlich im Berg. Lisa besucht jenen Ort, das Tal, in dem das Militär nach der endgültigen Aufgabe aller Bergbauversuche, einen Schiessplatz einrichtete, einen Übungsplatz, sich auch wieder zurückzog und das Tal sich selber und all den Geistern überliess. Dort, wo über Jahrhunderte das Hämmern am und im Berg am Fels hallte, später das Schiessen aus allen möglichen todbringenden Rohren, eroberte sich in den letzten Jahrzehnten die Natur ihren Platz zurück. Jenes Stück Tal unweit des Dorfes wurde zu einem Refugium vieler Pflanzen und Tiere, die nur dort noch einen Lebensraum finden; Vögel, Fledermäuse, Falter, Blumen.

Sulvaschin war über die Jahrhunderte Schauplatz aller möglichen wirtschaftlichen Interessen. Selbst in der Gegenwart hätte man es gerne gesehen, im Tal mit einem Steinbruch Fels zu Geld zu machen. Lisas Vater hatte sich damals gegen die Zulassung eines solchen Steinbruchs gewehrt, stellte sich den Interessen der Dorfregierung entgegen. Und als er verschwand, förmlich vom Boden verschluckt wurde, war sein Verschwinden erst einmal Ursprung wildester Vermutungen. Lisa erforscht eben diese Höhlen, diese Löcher im Berg, diese Narben im Berg. Aber eigentlich erforscht sie auch das Verschwinden ihres Vaters, jenen seltsamen Ort unweit des Dorfes, der Blumen und Tieren eine Heimat gibt, die sonst kaum anzutreffen sind. Einen Ort, mit dem Geschichten verbunden sind, die nicht zu erklären sind. Einen Ort, wo das Unmögliche verschwindet und das Ewige zu Leuchten beginnt. Einen Ort, der über die Jahrhunderte einen Schatz versprach, den man nie fand, der mit dem Suchen danach aber nie zu leuchten aufgehört hat.

Andri Perls wunderschön gestaltetes und von Adina Andres illustrierte Erzählung ist ein funkelndes und leuchtendes Stück Literatur, dass auch sprachlich mit feinen und zarten Strichen zeichnet. Eine Erzählung, die das Mythische, Unerklärbare mit sich nimmt und die Erzählstimme in einer ganz eigenen Mischung zwischen Legende, Sage und Erzählung schweben lässt. Andri Perls Erzählung steht in einem seltsamen Kontrast zur eigentlichen Absicht der Protagonistin, die Erklärungen und wissenschaftliche Erkenntnisse sucht.

Andri Perl (1984) aus Chur ist Rapper bei Breitbild und Autor der Romane «Die fünfte, letzte und wichtigste Reiseregel» (2010) sowie «Die Luke» (2013). Perl hat an der Universität Zürich Germanistik und Kunstgeschichte studiert und ein Masterstudium in Dramaturgie an der Zürcher Hochschule der Künste absolviert. Ausserdem sitzt er für die SP im Bündner Kantonsparlament und ist ein zusehends lahmender Hobbyfussballer der Schriftstellernationalmannschaft. 2019 ist er Träger des Bündner Literaturpreises. 

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