Lana Lux «Geordnete Verhältnisse», Hanser Berlin

Immer wenn sich Beziehungskatastrophen ereignen, stellt sich die Frage, wann und wo man etwas hätte tun können, noch tun können, um das schlimme Ende zu verhindern. Lana Lux dritter Roman „Geordnete Verhältnisse“ spielt das, was den Beobachtern sonst verborgen bleibt und zeigt, dass selbst 290 Seiten niemals für eine Erklärung reichen.

Es hätte auch eine Liebesgeschichte sein können. Es war über weite Strecken auch eine Liebesgeschichte. Aber wir wissen von klassischen Theaterstücken, wie unabwendbar eine Liebe in ein Drama, in eine Tragödie umschwenken kann und wieviel Leid von dieser Lawine mitgerissen wird.

Noch in der Grundschule kommt Fiana aus Russland zu Philipp in die selbe Klasse. Sie beide sind Aussenseiter, beide rothaarig und sommersprossig. Philipp ist schon als Junge eingesperrt in seine Marotten. Und obwohl er sich nichts mehr wünscht als Freundschaft, bleibt er in der Schule aussen vor. Weder seine Tante Martha, bei der er lange Zeit wohnt, noch seine Lehrerin und schon gar nicht seine alkoholkranke Mutter finden einen Zugang zu Philipp, der sich mehr und mehr in seiner immer enger werdenden Welt zurückzieht.

Bis Fiana auftaucht und sie von der Lehrerin gezwungen wird, sich mit ein paar radebrechenden Sätzen vor der lachenden Klasse vorzustellen. Fiana ist mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, in ein fremdes Land, mit fremden Sitten. Und weil Fiana genauso wie Philipp jemanden braucht, der sie schützt, schliessen sich die beiden zusammen. Philipp im Glück, jemandem etwas zu bedeuten, Fiana im Glück, jemanden an ihrer Seite zu wissen, der ihr hilft, wenn auch damals schon ausschliesslich und fordernd.

Vielleicht hätte damals jemand oder etwas helfen können. Aber die beiden waren sowohl in Familie und Schule derart isoliert, unverstanden und von Erwartungen gepeitscht, dass sie sich in ihrer Not immer mehr aneinanderklammerten, in guten und in schlechten Zeiten.

Lana Lux «Geordnete Verhältnisse», Hanser Berlin, 2024, 288 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-27955-1

Beide kommen weiter ins Gymnasium, Philipp von den Eskapaden seiner Mutter gebeutelt und Fiana von den Erwartungen ihrer Familie, die in sehr beengten Verhältnissen von Sozialhilfe lebt. Es ist logische Konsequenz, dass die beiden im Duett durchs Leben schreiten, auch wenn sich immer deutlicher abzeichnet, dass sich die Vorstellungen von „Leben“ bei den beiden immer weiter auseinderbewegen. Philipp will sich von einer Welt absondern, die er nie zu lesen verstanden hat und Fiana möchte eintauchen in ein Leben, von dem sie fürchtet, es könnte ohne sie an ihr vorbeiziehen. Auch in der Beziehung zwischen Fiana und Philipp ändern sich die Vorzeichen. Während sich Fiana immer mehr nach Zärtlichkeiten und körperlicher Geborgenheit zu sehnen beginnt, macht Philipp unmissverständlich klar, dass er von dem ganzen Getue gar nichts hält, schon gar nichts von Sex.

Es kommt zum ersten, grossen Zerwürfnis. Fiana verlässt Philipp. Philipp leidet. Mit dem Verschwinden seiner Freundin ist ihm sein Lebensinhalt genommen. Bis sie Jahre später wieder vor seiner Tür steht, schwanger, mit Schulden, einem kaputten Leben. Bei ihm, der sich in seinem gestylten Schneckenhaus zurückgezogen hatte. Was dann aus den beiden wird, ist ein toxisches Gemisch zwischen Abhängigkeiten, Liebe, Wahnsinn, Wut und Obsession. Bis zur Katastrophe.

„Geordnete Verhältnisse“ schmerzt, weil Lana Lux nicht aus auktorialer Erzählperspektive schildert, sondern aus der Sicht der beiden in der Ich-Perspektive. Somit auch in ihrer jeweiligen Sprache, ihrer Weltsicht, ihrem eigenen Schmerz. Ich verstehe als Leser vieles, weiss, dass jede Handlung, die auf eine Katastrophe hinzielt, die Summe vieler kleiner und grösser Ursachen ist und irgendwann eine selbst- und fremdzerstörerische Eigendynamik ergibt, die kaum mehr aufzuhalten ist. „Geordnete Verhältnisse“ ist das Protokoll einer Katastrophe, die kein Einzelfall ist, die über Jahrhunderte verharmlost und verschwiegen, den Frauen selbst in die Schuhe geschoben wurde. „Geordnete Verhältnisse“ ist ein ungeheuer mutiges Buch ohne Schuldzuweisung. Lana Lux reisst Fassaden nieder!

Lana Lux ist eine deutschsprachige Schriftstellerin, Illustratorin und Moderatorin ukrainisch-jüdischer Herkunft. Sie ist 1986 in Dnipro geboren, emigrierte 1996 ins Ruhrgebiet und lebt seit 2010 in Berlin. 2017 ist ihr Debütroman «Kukolka» erschienen, 2020 ihr zweiter Roman «Jägerin und Sammlerin«. Geordnete Verhältnisse ist ihr erster Roman bei Hanser Berlin.

Beitragsbild © Paula Winkler

Jan Wagner «gürteltier», Plattform Gegenzauber

gürteltier

I

manchmal kehren die toten zurück. sie rufen:
wir waren nicht tot, nur verschollen,
und plötzlich klumpt der zucker in den raffine-
rien, rutscht in rüben, rutscht in bollen

unter die äcker, aus der holzpiroge
wird wieder wald, der grabstein mit tiara
aus schnee gleitet zurück in sein gebirge
wie ein buch ins regal. zum beispiel das gürteltier.

II

schöpfungslaune, leder-staub-coquille,
bei nieselregen mit dem glanz von seifen-
blasen, hängt als stille discokugel
im morgendlichen tanzsaal der savanne,

wenn eine erste fokker oder cessna
den himmel auftrennt – oder kauert
gleich neben der entfernteren cousine
von dornbusch, kaktus oder taumelkraut;

wie unverhofft ins rampenlicht geschoben,
fast tapsig, aber springt durch alle ringe
seiner selbst; saturngegürtet, schuppen-
akkordeon, goldbraun oder orange;

gepanzert wie ein pferd beim lanzenritt
oder der ritter selber, der als staugut
von einem kran emporgehoben werden muß
                                          und in der schwebe hängt,
                                          für einen augenblick
nicht wissend, ob er abstürzt oder steigt.

III

getilgt von wein
     oder kurz davor,
im park vom hotel
     ambassador

allein mit der liege,
     der nacht von natal,
den fledermäusen
     samt ultraschall,

sehr tief aus dem funkeln
     im rücken, der bar,
ein schrei und ein letztes
     taumelndes paar,

ein fetzen von samba,
     zersplitterndes glas,
und einen moment lang
     im pampasgras

als flüchtige geste,
     als bitte zum tanz,
kaum da, dann verschwunden,
     dein zierlicher schwanz.

 

Jan Wagner «Steine & Erden», Hanser Berlin, 2023, 112 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-446-27730-4

Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt seit 1995 in Berlin. Er ist Lyriker, Übersetzer englischsprachiger Lyrik (unter anderem von Charles Simic, James Tate, Simon Armitage, Matthew Sweeney, Jo Shapcott und Robin Robertson) sowie Essayist und war bis 2003 Mitherausgeber der internationalen Literaturschachtel „Die Aussenseite des Elementes“. Für seine Gedichte, die für Auswahlbände, Zeitschriften und Anthologien in vierzig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und den Georg-Büchner-Preis (2017). Jan Wagner ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Nadine Kunath

44. Solothurner Literaturtage: Ein überzeugendes Comeback!

Nach pandemiebedingtem Unterbruch strahlen die 44. Solothurner Literaturtage über alle Erwartungen hinaus. Ein dreitägiges Fest der Literatur, der kulturellen Vielfalt und der Freundschaften. Und fast 20000 BesucherInnen!

Mag sein, es hatten alle Hunger und Durst. Es war, als würde über allem das Wort „Endlich“ stehen. Durchaus im doppelten Sinn. Zum einen war da die Freude, dass es dieses Festival in der einem so lieb gewordenen Form überhaupt wieder gegeben hat. Zum andern war man sich bewusst, dass es der äusseren Einflüsse genug gäbe, die einem solchen Festival an die Gurgel springen können.
Es war ein Fest – ein Fest des Wiedersehens, ein Fest der Begegnungen, ein Fest der Freude, ein Fest der Hoffnung, ein Fest des Buches, ein Fest der Kunst – ein Fest der Freundschaft. Und niemand hatte Lust, sich dieses Fest verderben zu lassen, schon gar nicht, wenn das Wetter zum verlässlichen Freund wird. Ich erinnere mich an Austragungen der Solothurner Literaturtage, an denen heftigst darüber diskutiert wurde, wen man versäumt habe, einzuladen, wer vergessen ging, wie gross der angerichtete Schaden sei. Diese Diskussionen fanden kaum statt, auch wenn man hätte diskutieren können.

«Ein eindrücklicher Beweis, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!» Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir»

Es gab wie immer von allem einiges, von Spoken Word, zum Beispiel die junge Sarah Elena Müller, der das Publikum artig applaudierte, obwohl sie all den Gutbetuchten einen grellen Spiegel vorhielt, Lyrik wie der von Simone Lappert, die bewies, das Dichtung einen Körper zum Instrument werden lassen kann und dieses Instrument ein Stadttheater zum Wabern bringt, grosse Namen der Belletristik wie jener von Nino Haratischwili, die mit ihrer Art des Erzählens nicht nur in ihren Büchern bannt, bis hin zu Kinder- und Jugendbuchliteratur, die es meisterhaft versteht, Geschichten sinnlich werden zu lassen. Kleine Verlage und grosse, grosse Namen und unbekannte. Als Ganzes war das Programm durchaus gelungen, auch wenn der ganz grosse Gast aus Übersee, Joshua Cohen, eben preisgekrönt durch den Pulitzer-Preis, seine Teilnahme absagen musste.

«Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.» Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht»

Auffällig war, wie sichtbar das Aufbrechen von Grenzen war. Musik beispielsweise wird immer offensichtlicher nicht einfach zu einer Begleitung, einer Auflockerung. Vielen AutorInnen gelingt es eindrücklich, mit Musik Sinne zu öffnen, Bilder und Eindrücke zu verstärken, manchmal alleine durch die eigene Stimme, die Rhythmus und Tonalität in ganz andere Sphären hieven kann. So sah man Michael Fehr auf der Bühne des Stadttheaters sitzen und singen, ohne Begleitung, nur mit sich und seiner Stimme! Da wird jemand zu Musik! Oder in Formation, unterlegt durch einen eigentlichen Soundtrack.

Lange forderte man das Ende der klassischen „Wasserglaslesung“, schien es nicht mehr zu genügen, dass Schreibende aus ihren Werken lesen und Fragen dazu beantworten. Glücklicherweise gibt es diese noch immer, auch jene kauzigen Urgesteine der Literatur, bei denen man nie so richtig weiss, ob sie Zuhörende an der Nase herumführen oder die Performance der einzige Weg durch das Buch ist.

«Frank Heer vermischt Genre ebenso lustvoll wie Handlungsstränge. Und alles ist unterlegt vom satten Sound einer Generation, die noch glaubt, dass mit der Kraft der Musik etwas zu erreichen ist.» Frank Heer «Alice»


Auch bei den Formaten ist man selbst nach der 44. Austragungen noch immer auf der Suche nach Verbesserungen. So platzierte man die „Gratislesungen“ auf der Aussenbühne vor die breite Treppe der St. Ursenkathedrale. Was für ein Anblick, wenn bei der Lesung von Julia Weber aus ihrem Roman «Die Vermengung» auf der Treppe vor der beeindruckenden weissen Kalksteinfassade regelrechte Arenastimmung aufkommt und der Eindruck, Literatur breite sich über eine ganze Stadt aus!

«Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!» Rebecca Gisler «Vom Onkel»


So viele Menschen wie schon lange nicht mehr besuchten dieses Festival der geschriebenen Bilder. Der Organisation der Solothurner Literaturtage gelang das, was eigentlich nur schwer zu schaffen ist; eine repräsentative Nabelschau der CH-Literatur, angereichert mit grossen Namen aus dem Ausland. Aber es waren nicht Landesgrenzen, die man demonstrativ überschritt, sondern jene der Künste. Etwas, was angesichts der Grenzenlosigkeit in der aktuellen Geschichte Signal sein könnte.

«Ein Roman, der mir das Blut in den Kopf treibt, der mich schwindlig macht, der mich hin- und herschlägt zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, in der Gegenwart der Hölle ein schönes Stück näher gekommen zu sein.» Julia von Lucadou «Tick Tack»

Wer nicht an den Solothurner Literaturtagen war – lesen Sie! Kaufen Sie Bücher! Lesen ist vielfach sinnlich. Und wenn auch kein Buch die Welt zu retten vermag; Literatur schenkt unendliche Weiten! Besuchen Sie die vielen Festivals, die übers Jahr stattfinden. An solchen Festivals, an Lesungen und Darbietungen rund um die Literatur entsteigt den Büchern der Dschinn, der fast jeden Wunsch in Erfüllung bringen kann.

«Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.» Yael Inokai «Ein simpler Eingriff»


An einer Lesung von Urs Mannhart aus seinem hellsichtigen Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, sass eine Frau neben mir, die während der Lesung zeichnete. Die hier wiedergegebenen Zeichnungen sind ein Geschenk der Zeichnerin Charlotte Walder, entspringen einer spontanen Begegnung und symbolisieren wunderbar, was ein solches Festival leisten kann: Viel mehr als Berührungen!

«Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.» Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“

Reservieren Sie sich den 19. bis 21. Mai 2023!

(Eingefügt in den Text sind all jene Rezensionen auf literaturblatt.ch, die mit den AutorInnen an den 44. Literaturtagen in Solothurn korrespondieren.)

Yael Inokai «Ein simpler Eingriff», Hanser Berlin

Kranke Tiere im Gehirn 

Yael Inokai erzählt in ihrem neuen Roman «Ein simpler Eingriff» von Gehirnoperationen, die psychische Krankheiten heilen sollen. Dabei wirft sie die Frage auf, wo die Grenze zwischen Heilung und Normierung liegt. 

Gastbeitrag von Nina Hurni
Nina Hurni studiert Deutsche Philologie und Politikwissenschaften in Basel. Ansonsten liest und schreibt sie und leitet Kreativworkshops für Jugendliche. 

Es ist eine seltsame Welt, in die uns Yael Inokai in ihrem dritten Roman entführt. Sie erscheint fremd und doch der uns bekannten viel zu ähnlich, unaushaltbar altmodisch und wissenschaftlich visionär. 

Ohne Zeit und Ort der Geschichte zu definieren, erzählt die Schweizer Autorin von der Krankenpflegerin Meret, einer mitfühlenden jungen Frau, die sich in der kalten Umgebung des Krankenhauses manchmal verliert und sich doch ihrer Aufgabe sicher ist: Durch die Eingriffe am Gehirn sollen Menschen, insbesondere Frauen, die an psychischen Krankheiten leiden, geheilt werden. Was bedeutet: wieder arbeitsfähig und gesellschaftstauglich gemacht. 
Dazu wird die angeblich problematische Stelle im Gehirn «eingeschläfert» wie «ein krankes Tier», worauf Wutanfälle, Schizophrenie und Depressionen verschwinden sollen. Was nach einem Science-Fiction-Plot klingt, hat durchaus medizinhistorische Vorlagen. Inokai verpackt diese in eine tief berührende und kritische Geschichte. 

Yael Inokai «Ein simpler Eingriff», Hanser Berlin, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-27231-6

In der Logik des Krankenhauses, in dem Meret arbeitet, ist der Mensch Biologie, er ist Zimmernummer, und wenn jemand stirbt, bleibt nur ein Raum, der möglichst schnell geputzt werden soll, ein Koffer mit Gegenständen, um die sich irgendjemand kümmern muss. Das Hirn ist eine Landkarte. Alles was ich bin ist irgendwo verortet. – Dem Menschen wird jedes Geheimnis genommen, er ist ein Bündel Nerven, in denen allfällige Probleme angelegt sind. 
Merets Job hingegen ist es, die Menschlichkeit hineinzubringen. Sie hat mehr Zeit für ihre Patientinnen – und kommt ihnen dadurch näher, was Abgrenzung zum Teil unmöglich macht.  Von den anderen Schwestern wird sie gelegentlich dafür belächelt. 

Morgen werde ich verschwinden, erklärt eine Patientin vor der Operation. Ihre Wut wird verschwinden, berichtigt Meret sie. Und bald wird deutlich: so klar ist die Unterscheidung von psychischer Krankheit und Persönlichkeit nicht zu ziehen.  
Es ist eine Welt aus Regeln, an die man sich zu halten hat. Wer sich widersetzt, muss angepasst werden – oder bestraft. Meret arbeitet viel, Antrieb ist die Hoffnung an Fortschritt, an den sie glaubt. So erarbeitet sie sich Privilegien, und der Doktor holt sie mehr und mehr in sein Büro. 
Ab und zu besucht sie ihre Familie und zieht dazu ihr Kleid an, das sie «zu einer Tochter» macht. Auch in Merets Familie gibt es einen ganzen Katalog von ungeschriebenen Gesetzen. Nur die Schwester widersetzt sich allem und wird dadurch von Meret gleichzeitig geliebt und gehasst. 

Als nun Sarah als neue Zimmergefährtin bei Meret einzieht, beginnt sich vieles zu ändern. Die beiden Frauen kommen sich näher, und es entspinnt sich eine zarte Liebesgeschichte. Sarah ist es auch, die leise Zweifel in Merets stabile Weltsicht zu streuen beginnt. Sie werden lauter, als eine Operation schiefläuft und eine junge Frau als leere Hülle ihrer selbst zurückbleibt. Dies sei der Preis für den Fortschritt, meint der Doktor. Dies ist kein Einzelfall, meint Sarah, sondern ein grundsätzlicher Fehler der Behandlung. 

Inokai setzt das Skalpell an die schmerzhaften Stellen unserer Gesellschaft, indem sie diese überzeichnet – ohne jedoch karikierend zu werden. Und sie zeigt damit auf, dass wissenschaftlicher Fortschritt ohne gesellschaftlichen Wandel und ethische Auseinandersetzung uns in eine dystopisch anmutende Zukunft führen kann. 
Denn wenn Gehirne modelliert werden können, die Strukturen aber immer noch patriarchal sind, lesbische Liebe unerwünscht und das Funktionieren des Menschen als Arbeitskraft oberstes Ziel ist – dann wird die Medizin dazu benutzt werden, diese Vorstellungen zu zementieren. 

In Inokais drittem Roman leuchten ausgefallene Wortbilder zwischen nüchternen Sätzen, so wie Merets Wärme zwischen den getakteten Arbeitsschritten, wie der auf der Strasse gefundene Stuhl mit Zimmerpflanze im unpersönlichen Heimzimmer. Die Morgenstimmung im Schwesternheim wird beispielsweise so beschrieben: Auch der Gestank unruhiger Träume hing in der Luft, das Sandige, Erdige der Augen, aus denen die Unglücklichen den Schlaf zu reiben versuchten.
Inokai ist ein dichter und tiefsinniger Roman gelungen, der nachdenklich stimmt. Wir nehmen teil an Merets Weg, wenn sie zwischen Rebellion und Konvention hin und her stolpert, sich verliebt und distanziert, alle ihre Gewissheiten verliert und schliesslich einen Aufbruch wagt. Und so endet der zum Teil recht düstere Roman auch mit einem hoffnungsvollen «Ja». 

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, studierte Philosophie in Basel und Wien, anschliessend Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman «Storchenbiss». Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift PS: Politisch Schreiben und lebt in Berlin.

Beitragsbild © Ladina Bischof

Julia von Lucadou mit «Tick Tack» am Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

„Tick Tack“ ist ein Roman, der mir das Blut in den Kopf treibt, der mich schwindlig macht, der mich hin- und herschlägt zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, in der Gegenwart der Hölle ein schönes Stück näher gekommen zu sein.

Almette ist 15, hochbegabt, mit dem Gefühl, jener Welt, in die sie hineingeboren wurde, alles andere als zugehörig zu sein. Nach einer Aktion, die als Suizidversuch gewertet werden musste, sitzt sie einer Psychologin gegenüber, nach ihrer Mutter die einzige Möglichkeit, die „Sache“ an den Nagel hängen zu können. Mette selbst hatte die Aktion in den sozialen Medien inszeniert, weil der Konsum solcher Videos jenes Prickeln verursacht, das einem Leben beweist. Almette fühlt sich nicht nur der Psychologin überlegen. Alles was sie sieht, was passiert, ist die permanente Bestätigung dessen, dass die Welt ihrer nicht gewachsen ist. Eigentlich will Mette nichts mehr, als sich aus dem ganzen Theater ausklinken. Einzige Vertraute ist Yağmur, ihre Freundin mit türkischen Wurzeln, Tochter eines Ärzteehepaars, das kaum je Zeit zuhause verbringt. Auch eine intellektuelle Überfliegerin, wenn auch nicht derart zur Kompromisslosigkeit bereit wie Mette, die mit 15 nichts mehr will, als aus dem Dunstkreis ihrer Bemutterung und dem aufgesetzten Feminismus ihres Vaters entfliehen.

Almette ist das beklagenswerte Opfer einer entstellten Gegenwart, die ihr Sein nur noch auf Bildschirmen und Displays gespiegelt sieht, die in „Existenzängste“ gerät, wenn sie die „Natur zu radikal an sich heranlässt“. Almette und Yağmur wollten die Macht jenen entreissen, die das „Schicksal der Menschheit in den Händen von geriatrischen, testosterongesteuerten, geldgierigen CEOs lassen“. Almette führt gar ein Fake-Tagebuch, um darin eine alternative Storyline ihres Lebens zu ziehen, für den hundertprozentigen Fall, dass ihre Eltern dieses lesen und glauben, was sie lesen. Alles, was Almette tut, schreit nach Bestätigung im Netz, nach FollowerInnen. Die Resonanz im Netz spiegelt ihre Existenz. Almette ist die Verkörperung dessen, was passiert, wenn individualisierter Hochmut und selbst befeuerte Arroganz die einzigen Waffen werden, um gegen den Strom anzukämpfen, den letzten Rest Selbstwahrnehmung zu retten.

Julia von Lucadou «Tick Tack», Hanser Berlin, 2022, 256 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27234-7

Almette lernt Jo kennen, den älteren Bruder von Mia aus ihrer Klasse. Almette bestimmt Mia zu ihrer Musterfreundin, aber wieder nur, um falsche Fährten zu legen. Denn fasziniert ist sie von Jo, eigentlich Joshua, 10 Jahre älter als sie. Er liegt in seinem ehemaligen Kinderzimmer, von seinem „Muttertier“ umsorgt, weigert sich, an dem teilzunehmen, was sich vor seiner Tür abspielt. Jo ist ein Radikaler. Exmatrikuliert, was aus der Sicht seines Muttertiers nur ein grosses Missverständnis sein kann. Einer, der auch mit Unverpacktläden und Lastfahrrädern nicht an ein Überleben der Spezies glaubt. Für Jo ist die Menschheit verloren, einziger Ausweg; der Massensuizid. Einer, der nur mit absoluter Radikalität an einen Systemwandel glaubt und all das, was in den sozialen Medien kocht zu seinen Gunsten nutzen will, nicht zuletzt das Inszeniertalent der Freundin seiner kleinen Schwester.

Jo und Mette freunden sich an. Wobei bis fast zum Schluss des Buches nicht klar ist, ob diese scheinbare Freundschaft Mittel zum Zweck ist oder die sanfte Annäherung zweier sich von der Gravitation verabschiedeter Fremdkörper. Beide sind der Überzeugung, sich der grossen Lüge entziehen zu müssen. Und als Corona all jenen in die Hände spielt, die schon immer ahnten, dass die Allmacht der Verborgenen die unsichtbaren Fäden zieht, wird es der Kampf gegen all die Lemminge, die fremdgesteuert gegen den Abgrund rennen. Jo wird Mettes Priester, Mette Jos Messias, der die Botschaft in die Welt bringen soll. Eine Lunte, die zu brennen beginnt, aber eigentlich nichts anderes will, als den grossen Knall am Ende dieser Lunte. Jo hat seine Lunte gefunden. Mette brennt lichterloh.

In den 70ern und 80ern war die Hippiebewegung der Kampf gegen das Establishment, das Spiessbürgertum, gegen Konvention und Verknöcherung. Jo und Mette wollen, dass kein Stein auf dem andern bleibt. Ihr Kampf ist einer gegen die Welt ihrer ErzeugerInnen.

Julia von Lucadou erzählt in zwei ineinander verwobenen Strängen. Aus der Sicht der 15jährigen Mette, einer Sicht, die den ganzen Kampf der jungen Frau schmerzhaft nachvollziehbar zeichnet. Und die nur schwer durchschaubare Sicht von Jo, der sich wie ein Hikikomori im Zimmer seiner Kindheit suhlt, um von dort den Flächenbrand zu zünden, der das Blatt wenden soll. Julia von Lucadous Roman „Tick Tack“ ist von einer sprachlos machenden Unmittelbarkeit. Als wäre sie mit dem Stoff unmittelbar aus der zähen Suppe der Pandemie entstiegen. Die Autorin spiegelt genau das, was mich viel zu oft zu Sprachlosigkeit verdammt angesichts der Argumentlawine, die mich niederwalzt, wenn ich mich naiv den Priestern und Aufklärern der digitalen Gegenwelt entgegenstemme.

Nach dem ersten Lockdown fragte mich einmal ein Schriftsteller: „Worüber schreiben, wenn sich alles versteckt.“ Warum nicht so wie Julia von Lucadou und die Hand mitten ins Feuer halten!

Am Wortlaut Literaturfestival St. Gallen 2022 © Wortlaut

Julia von Lucadou wurde 1982 in Heidelberg geboren und ist promovierte Filmwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Regieassistentin, Redakteurin beim Fernsehen und als Simulationspatientin; sie lebt in Biel, New York und Köln. Ihr erster Roman «Die Hochhausspringerin» (2018) stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis und wurde mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Guido Schiefer

Yael Inokai «Ein simpler Eingriff», Hanser Berlin

Dass mit Yael Inokai eine gewichtige literarische Stimme schreibt, bewies die junge Autorin schon mit ihren ersten beiden Romanen, aber sicher mit „Mahlstrom“, mit dem sie 2018 den Schweizer Literaturpreis gewann. Ihr neuer Roman „Ein simpler Eingriff“ setzt noch einen drauf und geht tief unter die Haut!

Meret ist ein junge, verantwortungsbewusste Krankenschwester. Jemand, der nicht einfach seinen Job macht, der die Menschen, die sie umsorgt, ans Herz gehen. Ihr Chefarzt weiss um die Fähigkeiten der jungen Frau und nimmt sie mit in seinen Operationssaal, wo Meret bei einem neuartigen Verfahren assistieren soll, bei dem Patienten bei vollem Bewusstsein am offenen Schädel mit einem gezielten Eingriff genommen werden soll, was sie unfähig macht, als produktives Glied einer Gesellschaft zu funktionieren. Ein kleiner Schnitt, ein gezieltes Abklemmen und Unkontrollierbarkeiten der Patienten lassen sich beheben. Merets Aufgabe bei diesen Eingriffen; Sie kommuniziert mit den Patienten während des Eingriffs, um dem Operierenden die Wirksamkeit des Eingriffs sofort spiegeln zu können.

Meret fühlt sich in ihrer Aufgabe, in den immer häufiger werdenden Treffen im Büro des Chefarzt geschmeichelt, bis eine der Patientinnen, der sie sich schon bei der Einweisung auf ganz spezielle Weise verbunden fühlt, nach der Operation nicht mehr aufwacht. Meret bleibt an der Seite Mariannes, besucht sie, bleibt an ihrem Bett sitzen. Marianne ist eine Frau aus reichem Haus, von ihren Eltern mehr oder weniger zum Eingriff gedrängt.

Yael Inokai «Ein simpler Eingriff», Hanser Berlin, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-27231-6

So wie Meret Marianne immer weiter in einen komatösen Zustand entgleitet, so unmittelbar wird die Nähe zu Sarah, einer Mitkrankenschwester, die im Schwesternhaus das Zimmer mit Meret teilt. Ebenfalls eine junge Frau, wie Meret seltsam eingeschlossen in einen Klinikkosmos, in dem sich die Schwestern eingekleidet bewegen, diesen nur selten und seltsam ärmlich gekleidet verlassen und kaum Möglichkeiten zu haben scheinen, Beziehungen nach Aussen zu pflegen, selbst zu ihren Familien.

Zwischen Meret und Sarah beginnt sich ganz zaghaft eine Liebe zu entwickeln, eine Liebe, die nicht sein darf, die in diesem einen Zimmer eingeschlossen bleiben muss. Eine Liebe, die in ihrer Leidenschaft und Körperlichkeit aber diametral zur Eingeschlossenheit auf den andern und in das eigene Leben ein- und übergreift. So sehr jene Liebe, jene Zugewandtheit zur Patientin Marianne an der medizinischen Wirklichkeit zu scheitern droht, so sehr wird die leidenschaftliche Liebe zu Sarah zu einem Sturm, den Meret immer mehr mit- und wegreisst. Bis Meret, die bislang bedingungslos hinter den Behandlungsmethoden ihres Chefs stand, Widerstand zeigt.

Da ist diese eigenartige, nur schwer in Zeit und Raum zu verortende Krankenhausgeschichte. Diese seltsame Methode, mit der man unbequeme Zeitgenossen mit einem Schnitt zu nützlichen Mitgliedern einer Gesellschaft machen kann. Dieser in sich geschlossene Krankenhauskosmos, in dem junge Frauen so lange erfolgreich dienen, bis sie zu alten Schwestern werden, stets folgsam, immer sauber und makellos. Das Setting des Romans erzeugt eine eigenartig beklemmende Stimmung. Junge Frauen, die ihr Gesicht nicht zeigen dürfen, ihr wahres Sein verstecken, einer Linie zu gehorchen haben.

Yael Inokais neuer Roman ist auf eine seltsam eigenartige Weise gesellschaftskritisch. Nicht nur der Eingriff im Kopf der meist unfreiwillig Eingewiesenen scheint simpel. Auch die Welt, in der sich das Personal bewegt. Yael Inokais Roman schleicht sich unmerklich in meinen Kopf, spiegelt eine Welt, die eine komplizierte Welt simpel machen will. Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.

Der jungen Autorin ist ein ausserordentlicher Roman gelungen, etwas ganz Eigenes. Nicht zuletzt in einer Sprache, die wie die seltsame Geschichte aus seltsam unaufgeregte Weise von den grossen Regungen des Lebens erzählt.

Yael Inokai liest und diskutiert am Wortlaut Literaturfestival in Sta. Gallen am Samstag, den 26. März um 11 Uhr im Stadthaus, Festsaal, Gallusstrasse 14. Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Literaturhaus Wyborada. Moderation: Anya Schutzbach

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, studierte Philosophie in Basel und Wien, anschliessend Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman «Storchenbiss». Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift «PS: Politisch Schreiben» und lebt in Berlin.

«Wo die Musik spielt» Yael Inokai 2018 in St. Gallen

Beitragsbild © Ladina Bischof

Doris Knecht «Die Nachricht», Hanser

Es ist vier Jahre her, seitdem Ruth ihren Mann Ludwig durch einen tragischen Skiunfall verloren hatte. Aber statt sich auf ein neues Leben zu fokussieren, erschüttern anonyme Nachrichten ihr Leben. Obwohl sie sich mit aller Kraft gegen den Kontrollverlust stemmt, werden aus den hereintropfenden Nachrichten überhohe Wellen, die ihr Leben zu kippen drohen.

Mit der Wasserfolter können Menschen durch stetig auf den Körper tropfendes Wasser um den Verstand gebracht werden. Jeder einzelne Tropfen ist ein Nichts. Das permanente Tropfen allerdings reisst am Verstand.

Ruth hat sich nach dem Tod ihres Mannes in ihrem neuen Leben eingerichtet, zumindest einigermassen, denn der Schmerz sitzt noch immer tief. Sie lebt in einem kleinen Holzhaus, das sie einst zusammen mit Ludwig baute. Zwei ihrer drei Kinder führen ein eigens Leben. Und der Jüngste, auch wenn er in der Schule nicht sein Möglichstes tut, schickt sich immer deutlicher an, ein eigenes Leben führen zu wollen. Ruth ist erfolgreich in ihrer Arbeit, zufrieden mit ihrem „Alleinsein“, an dem sie gar nichts ändern will. Eine Ruhe, die nicht leicht zu erreichen war, denn Ruth hatte nach dem Tod ihres Mannes feststellen müssen, dass Ludwig nicht der war, für den sie ihn ein Leben lang hielt, zumindest was seine Treue betraf. Ludwig führte ein Nebenleben, von dem Ruth erst beim Aufräumen seiner Hinterlassenschaft erfahren musste. Ein Stachel, der ihr nicht einfach nur Schmerzen bereitete. Er verunmöglichte jene Trauer, mit der sie sich gerne von ihrem Mann verabschiedet hätte.

Doris Knecht «Die Nachricht», Hanser Berlin, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-27103-6

Und als mit einem Mal, wie aus dem Nichts, Nachrichten über Social Media in ihr Dasein eindringen, Nachrichteten, die von Mal zu Mal verletzender und zerstörerischer werden, Nachrichten, die nicht nur an sie gelangen, sondern an alle, die zu ihrem Umfeld gehören, bis zu ihren Arbeitgebern, bröckeln all jene Sicherheiten, auf denen Ruth ihr neues Leben einzurichten versuchte. Es sind Nachrichten, die nicht nur sie und ihren verstorbenen Mann beschmutzen. Es sind Nachrichten, die sich in der Brutalität ihrer Sprache ins Unterbewusstsein schleichen und dort zu steuern beginnen – nicht nur bei ihr, sondern aus Ruths Sicht auch in den Leben um sie herum, hinein bis in ihre Arbeit. Ein zerstörerisches Tropfen, gepaart mit der dauernden Frage, wer der Verfasser oder die Verfasserin dieser Nachrichten sein könnte. Bis hin zu Verdächtigungen, die sie an sich selbst zweifeln lassen, die ihre Familie, ihre Freundschaften belasten. Nachrichten, die zu einem immerwährenden Alp werden.

Wie wenig braucht es, dass ein Leben in Schieflache gerät. Wie verletzend können Wörter und Sätze sein, selbst wenn sie mit der Wahrheit rein gar nichts zu tun haben. Wie einsam kann man sich fühlen, wenn man sich nicht zu wehren weiss, wenn sich Dinge in ein Leben einmischen, die nicht zu beeinflussen sind. So sehr wie Krebs Ruths Freund von innen zerfrisst, sich unaufhaltsam an seine Zerstörung macht, so kann das zersetzende Gift von Unwahrheit und Beleidigung das Denken und Handeln zerfressen. „Die Nachricht“ offenbart diesen Zersetzungsprozess, den Sog, den diese Zersetzung auszulösen vermag. Ebenso eindrücklich beschreibt Doris Knecht unterschwellig aber auch jene Kraft, mit der man sich diesem Zersetzungsprozess entgegenstellen kann, auch wenn er damit nicht aufgehalten werden kann.

Klar liest man den Roman mit der Spannung, wer wohl der Verfasser dieser Nachrichten ist und was  die Gründe dafür sein könnten. Aber die eigentliche Spannung des Romans liegt ganz woanders: Ich will wissen, wie es Ruth schafft. Ich will sie siegen sehen. Ich will, dass sie ihr Leben zurück bekommt. „Die Nachricht“ dringt tief ein. Nicht nur, weil es Doris Knecht meisterlich versteht, die Spannung hochzuhalten, sondern weil ich weiss, dass das, was Ruth geschieht, auch mir passieren könnte, jetzt.

Interview

Obwohl es für Ruth immer klarer wird, wer der Verfasser dieser „Nachrichten“ sein könnte, bleibt jene Person eigentlich ein Gespenst, unfassbar. So wie anonyme Verfasser:innen von irgendwelchen Texten immer Geister sind. Wir leben im Zeitalter der Geister. Inhalte sind wichtiger als ihre Verifizierung, als ihre Verfasser:innen. Alles wird kommentiert, behauptet, erfunden. Gleichzeitig steigt das Bewusstsein, dass Wahrheit subjektive Wahrnehmung ist. Ruth ist diesem Geist lange hilflos ausgeliefert, eine ganze Welt den Fake-News. Müssen wir kapitulieren?
Es ist jedenfalls sehr schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Bzw: sich gegen einen unfassbaren, anonymen Stalker zu wehren, braucht Fokussierung und eine Menge Energie, die einem dann woanders fehlt. Und meistens bringt es am Ende nichts, man verliert also. Ruth wird das bald klar, und sie wählt einen anderen Weg: Sich zu stärken gegen solche Angriffe, weniger verwundbar zu werden, das abperlen zu lassen. Allerdings: Das führt auch dazu, dass viele Frauen verstummen und sich unsichtbar machen, um nicht zum Ziel von Angriffen zu werden.

Warum schaffen wir das „einfache Leben“ nicht mehr? Ruth will doch eigentlich nur den Frieden mit sich selbst und der Welt. Ist unser Leben derart kompliziert geworden, dass wir uns nicht mehr auf die wesentlichen Dinge konzentrieren können?
Es wird immer schwieriger, sich nicht ablenken zu lassen, wenn man nicht auf die Bequemlichkeiten des Internets, der digitalen Kommunikation, der sozialen Medien verzichten möchte. Da tun sich halt Welten auf, auch Wissens-Welten, in denen man sich gut verlieren kann. Das Problem ist: Wenn man darauf verzichtet, wird das Leben vielleicht ruhiger, konzentrierter, fokussierter, aber einfacher wird es nicht.

Es gibt in ihrem Buch, das eigentlich auch ein Liebesroman ist und ein Roman einer „Ernüchterung“ ist, ein ganzes Kapitel, dass sich wie eine Liebeserklärung liest. „Ludwig war ein kräftiger Mann…“ (S. 69). Ein Text wie eine Hymne. Ein Kapitel, dass deutlich macht, wie tief der Stachel der Enttäuschung sitzt und wie sehr sich das Ganze „entzündet“ hat. Pumpen wir Begriffe wie „Liebe“, „Familie“, „Ehe“ nicht zu sehr auf?
Unsere Gesellschaft macht Liebesglück, eine gelungene, funktionierende Ehe oder Beziehung, ein harmonisches Familienidyll leider noch immer zu einem Massstab eines erfolgreichen Daseins. Das schafft einen Erwartungsdruck auf Frauen und Männer, die für sich andere Existenzformen gewählt haben, der sich mitunter schwer abschütteln lässt.

Ruth steigert sich in das Rätsel dieser Nachrichten hinein. Das Fundament ihres Lebens scheint zu zerbröseln. Der Grat über den menschlichen Abgründen wird immer schmaler. Gibt Ihnen das Schreiben Halt, weil es ordnet? 
Tatsächlich ja. Man beschäftigt sich ja jahrelang mit dem Thema und den Figuren eines Romans, und mit diesem Thema habe ich mich besonders lange auseinandergesetzt. Daraus eine Geschichte zu machen, sie aufzuschreiben, sie für andere fühlbar zu machen, schafft ein gute Distanz, aus der sich auch komplizierte, schwierige Dinge klarer sehen lassen.

Am Schluss ihres Romans könnte das Wörtchen „Ende“ nicht stehen. Ich mag Geschichten, die nicht „zu Ende“ erzählt sind, weil keine Geschichte ein Ende hat, meist nicht einmal einen Anfang. Hätte die Geschichte im Prozess des Schreibens auch einen anderen Verlauf nehmen können oder war der Plan von Beginn weg festgelegt?
Ganz zu Beginn habe ich noch die Möglichkeit eines Rache-Exzesses erwogen, aus dem das Opfer als strahlende Siegerin hervorgeht. Mir war dann gleich klar, wie utopisch und märchenhaft das wäre. Ich wollte eine realistische Geschichte mit einem realistischen Ausgang erzählen, und das Match Feminismus gegen Patriarchat wird halt leider so gut wie immer vom Patriarchat gewonnen. Viele finden das Ende unbefriedigend, aber genau so ist das Leben nun mal.

Doris Knecht laust aus «Die Nachricht» am 5. November um 19.30 Uhr in der Kantonsbibliothek Frauenfeld. Reservationen bei der Organisatorin Marianne Sax (saxbooks.ch).

Doris Knecht, geboren in Vorarlberg, ist Kolumnistin (u.a. beim Falter und den Vorarlberger Nachrichten) und Schriftstellerin. Ihr erster Roman, Gruber geht (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen «Besser» (2013), «Wald» (2015), «Alles über Beziehungen» (2017) und «weg» (2019). Sie erhielt den Literaturpreis der Stiftung Ravensburger und den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. Doris Knecht lebt mit Familie und Freunden in Wien und im Waldviertel.
 
 
Beitragsbild © Heribert Corn

Nicolas Mathieu «Rose Royal», Hanser Berlin

Irgendwann kauft sich Rose, bald fünfzig, im Internet einen Revolver. Es sollte und durfte niemals mehr passieren, dass ein Mann sie mit der Hand oder auch mit Worten zu Boden schlägt. Nie mehr! Der Revolver in der Handtasche als Versicherung, dass es nie mehr passieren würde, nie mehr.

Rose hat sich in ihrem Leben eingerichtet. Ein Leben mit vielen Ups and Downs. Einer Scheidung, zweier Kinder, die sich irgendwie verlieren konnten, einer Arbeit, die sie nicht wirklich brauchte, aber müde machte und der Einfältigkeit eines immer gleichen Feierabends mit ziemlich viel Alkohol.

Bis in der Bar, in der sie sich nach der Arbeit oft mit ihrer einzigen Freundin trifft, die wie sie auf den einen besonderen Moment in ihrer immer schmaler werdenden Zukunft hofft, ein Mann in der Bar auftaucht. Ein Mann mit einem blutendenden Hund in seinen Armen. Einem Hund, dessen Eingeweide wegen eines Autos aus der Bauchhöhle fliessen, der sterben wird. Rose holt ihren Revolver aus ihrer Handtasche, dieses Ding, dass sie bisher nur im Wald ausprobierte, das sie mit seiner kalten, stählernen Schönheit aufrechter gehen lässt. Sie schiesst ein Mal, dem Hund in den Kopf. Das eine Leben hört auf, die Beziehung zu Luc beginnt, denn kurz nach dem Schuss ruft dieser an und sie treffen sich. Zuerst zaghaft, weil Rose keine Lust und auch keine Kraft mehr hat, sich ein weiteres Mal in den Fängen eines Mannes, in den Ketten einer Beziehung zu verheddern. Aber aus den gelegentlichen Treffen werden mehr. So wie aus der anfänglichen Faszination für diesen Mann auch die Ernüchterung steigt. 

Nicolas Mathieu «Rose Royal», Hanser Berlin, aus dem Französischen von Lena Müller und André Hansen, 2020, 95 Seiten, ISBN 978-3-446-26785-5

Und dann passiert es wieder. Ohne Vorwarnung, mit aller Wucht trifft Lucs Hand Roses Gesicht. Sie spürt den kupfernen Geschmack im Mund. Und als Luc ihre Wohnung mit Gepolter verlässt, ist sie es, die mit Schuldgefühlen zurückbleibt. Aber mit dem Entschluss, dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Wenn nötig auch mit dem Revolver.

Aber es kommt anders. Luc schafft es, sich mit Rose zu versöhnen. Obwohl Rose spürt, dass in der Beziehung keine Hoffnung mehr liegt. Zu viel ist passiert, zu viel Unentschuldbares, zu viele Verletzungen, zu viel Schmerz, zu viel Alkohol. „Eine Frau und ein Mann, die sich an der Hand hielten und dachten, sie verstanden sich. Mehr braucht es nicht, um ein Paar zu sein.“

Rose und Luc fahren noch einmal gemeinsam weg, in ein Hotel mit vielen Sternen. Sie sitzen an einem Tisch und alles inszeniert Luc zu einem grossen Neubeginn, einem Neustart, an den Rose weder hofft noch glaubt.

Auch wenn Nicolas Mathieus Roman nicht einmal hundert Seiten zählt, strotzt er vor Kraft und Wucht. Lebensentwürfe gibt es mit fünfzig keine mehr. Die Möglichkeiten in der Zukunft sind begrenzt und das, was man an Vergangenem mit sich herumträgt wird immer schwerer und belastender. Rose versucht sich an dem wenigen festzuhalten, was ihr geblieben ist. Und das Wenige, das sie sich noch erhofft, will sie sich nicht aufzwingen lassen. Aber wie soll man aus dem Ungleichgewicht ausbrechen, aus der Tatsache, dass viele Frauen in einer Beziehung alles aufgeben, und Männer nichts preisgeben. Dass das Feuer einer Liebe allzu schnell erlischt in Gewohnheiten, Unausgesprochenem und der Gewalt des Erstarrten. Die Sehnsucht nach Geborgenheit, Liebe und Sicherheit macht nicht blind, aber sie lähmt. Und je länger eine „Beziehung“ in unerfüllter Sehnsucht vertrocknet, desto schwieriger wird es, aus ihr auszubrechen.

Nicolas Mathieu schreibt Sätze wie Revolverschüsse. Sie peitschen sich ins Bewusstsein: Der Revolver würde den üblichen Lauf der Dinge stoppen oder Das Unglück sass ihr unter der Haut. „Rose Royal“ ist ein Konzentrat. Der Roman schreit förmlich nach einer Verfilmung. Er zeichnet in wenigen Strichen, was meine Phantasie braucht, um mit eigenen Bildern den „Streifen“ aufzufüllen. Eine harte Geschichte um betoniertes Rollenverständnis. Frauen geben ihre Sicherheiten auf, Männer gewinnen.

Schnörkellos erzählt fährt der Roman bis in die Knochen!

Nicolas Mathieu wurde 1978 in Épinal geboren und lebt in Nancy. Sein erster Roman erschien 2014 und wurde für das Fernsehen adaptiert. «Wie später ihre Kinder» wurde 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Beitragsbild © Bertrand Jamot

Tommy Orange «Dort dort», Hanser Berlin

Manchmal drängen sich Bücher auf. „Dort dort“ tat es, weil es tut, was Literatur wie kaum eine andere Kunstgattung tun kann. Sie mischt sich ein. Sie prügelt mich als Leser aus meiner Komfortzone. Sie schimpft mich einen Ignoranten, weil ich mich mit Erklärungen verschanze, Erklärungen darüber, warum meine Welt aus derart vielen Irrtümern besteht. 

1492 entdeckte Columbus eine neue Welt, nannte die Völker dort Indianer. Man pries ihn Jahrhunderte lang als Entdecker, goss ihn in Bronze, feierte ihn als Helden. Damals sollen nach Schätzungen 60 Millionen Menschen in Nord- und Südamerika gelebt haben. 100 Jahre später hatten bloss 10% von ihnen überlebt.
Aber das Sterben, Morden und Vertreiben ging Jahrhunderte lang weiter und hat sich tief ins Bewusstsein der indigenen Völker gefressen. Allein die Indianer in Kalifornien schrumpften zahlenmässig bis 1900 in Zeiten des Goldrauschs von 300 000 auf 16 000. Dass man dabei nicht von einem Genozid spricht, ist ein Hohn. Dass die USA sich ihrer Verantwortung allen nicht weissen Bevölkerungsgruppen gegenüber nicht bewusst ist, zeigen die jüngsten Ereignisse mit aller Deutlichkeit. Noch immer glaubt der Weisse an seine Vormachtstellung, an ein von Gott gegebenes Privileg. Dass dieses Selbstverständnis auch in Europa im Unterbewusstsein und manchmal auch ganz offen im Bewusstsein vieler steckt, beweisen Interviews mit in Deutschland, Österreich und der Schweiz geborenen nicht Weissen.

„Man kann das Leben nicht schönreden, wenn es nicht schön ist.“

Noch immer ist das Bild eines Indianers das in romantisch verklärten Bildern gezeichnete Fantasiemotiv aus Filmen und Büchern. Auch wenn sich dieses Bild langsam zu relativieren beginnt, bleibt eine kritische Auseinandersetzung mit sämtlichen Regungen kolonialen Denkens aus. Eroberung und Expansion, Übernahme und Ausweitung sind Begriffe in Wirtschaft und Geschichte. Die 500 Jahre Leidensgeschichte der nordamerikanischen Ureinwohner sind nicht vorbei, nicht ansatzweise aufgearbeitet. Wenn wir mit dem Wohnmobil in den Staaten Ferien und Fotos von bunt gekleideten Indianern machen, eine Kette kaufen und in die untergehende Sonne blinzeln, ist uns nicht bewusst, wie viel Zerstörung weisses Selbstverständnis angerichtet hat.

„Zuhause war ein verriegelter Kombi auf einem leeren Parkplatz. Zuhause war eine lange Busfahrt. Zuhause war, wo auch immer sie für eine Nacht sicher waren.“

Tommy Orange «Dort dort», Hanser Berlin, dem Englischen von Hannes Meyer, 2019, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26413-7

Darum braucht es die Literatur. Darum braucht es Romane wie diesen von Tommy Orange. Weil sie in aller Klarheit und Direktheit schildern, was ist, nichts beschönigen aber auch in keine Depression verfallen. Tommy Orange erzählt aus dem Leben der Indianer heute, tut es von innen heraus. Und es ist nicht einfach die Geschichte eines Einzelnen, sondern eines Kollektivs, eines ganzen Volkes, das man seit Jahrhunderten schamlos belügt, betrügt und hinhält. Dass Teil des amerikanischen Traums sein soll, aber statt dessen den amerikanischen Alptraum erlebt.

Jaquine Red Feather, Drogenberaterin und selbst erst seit ein paar Tagen frei von Alkohol, gab als junge Frau nach einer Vergewaltigung ihr Kind zur anonymen Adoption frei. Wie alle in diesem Roman ist sie unterwegs in ein Stadion, unterwegs zu einem Powwow, einem grossen indianischen Treffen, an dem getanzt, gesungen und getrommelt wird. Jaquine Red Father ist aber wie alle auch unterwegs zu ihrer Familie, ihrer kleinen Familie, ihrer grossen, indianischen Familie. Dene Oxendene, ein junger Cheyenne und Arapaho Triebs, will mit der Kamera seines Onkels Geschichten der Native Americans, der Indianer festhalten. Und Erwin Black, ein junger Mann mit einer weissen Mutter und einem indianischen Vater, ist auf der Suche nach seiner Herkunft, seinem inexistenten Vater.

„Jugendliche springen aus dem Fenstern brennender Gebäude und stürzen in den Tod. Und wir glauben, das Problem wäre, dass sie springen. Getan haben wir Folgendes: Wir haben nach Möglichkeiten gesucht, um sie am Springen zu hindern. Sie davon zu überzeugen, dass es besser ist, bei lebendigem Leib zu verbrennen, als Schluss zu machen, wenn es so heiss wird, dass sie es nicht mehr aushalten.“

In „Dort dort“ sind sie alle unterwegs, alle auf der Suche. Unterwegs zum Powwow, unterwegs zu einem Sehnsuchtsort, unterwegs, raus aus der Hoffnungslosigkeit, getrieben von Fetzen einer Perspektive. Und alles in diesem Buch, alles was aus einer grossen indianischen Katastrophe gründet, sich aus dem grossen indianischen Trauma zu schälen versucht, mündet wieder in einer Katastrophe. Ausgerechnet an jenem Ort, an dem die indianische Seele Atem schöpft, soll ein Verbrechen stattfinden, ein Raub.

„Du bist Indianer, weil du Indianer bist, weil du Indianer bist.“

Tommy Orange erzählt mit den Stimmen der Menschen, die er beschreibt, mit authentischen Dialogen, abgrundtiefen Einsichten in die gebeutelte indianische Seele. Und doch ist „Dort dort“ von grandioser poetischer Kraft, wenn Tommy Orange von Emotionen, Landschafts- und Seelenbildern erzählt – nicht zuletzt vom Sterben. Der Roman tut weh, weil Tommy Orange das letzte Fitzelchen Romantik verbannt, weil er mir mit Gewalt in den Nacken greift und mich zwingt hinzuschauen.

Tommy Orange, geboren 1982 in Oakland, ist Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Angels Camp, Kalifornien.

Hannes Meyer wurde 1982 in Preetz bei Kiel geboren. Er studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen und arbeitet seit 2007 als freier Übersetzer. Er übersetzte u. a. Bücher von James Franco, Philip Kerr und Dana Spiotta. Für seine Übersetzung des Romans «Der Geschichte einer kurzen Ehe» von Anuk Arudpragasam wurde er für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt nominiert.

Beitragsbild © Christopher Thompson/NYT/Redux/laif

David Vann «Momentum», Hanser Berlin

Schon eines seiner ersten Bücher „Legend of a Suicide“ (Im Schatten des Vaters, Suhrkamp, 2011) drehte sich thematisch um die Selbsttötung seines Vaters. Sein neuster Roman „Momentum“ (engl. Halibut on the moon) ist ein schmerzhafter Roadtripp zweier Brüder. Der eine gelähmt durch seine Hilflosigkeit, der andere zerfressen von einem Schmerz, der ihn von allem wegreisst und unaufhörlich auf ein selbstzerstörerisches Ende zutreibt.

Ich fragte einen Freund, ob er in diesen Zeiten ein aussergewöhnliches Buch gelesen habe. Er zögerte keinen Augenblick und nannte „Momentum“ von David Vann. Er musste den Namen buchstabieren, hatte ihn noch nie gehört, obwohl ich im Nachhinein feststellen musste, dass Suhrkamp ein halbes Dutzend Bücher dieses Autors preist, die alle an meiner Wahrnehmung vorbeigingen. Ein Versäumnis!

Jim wird an einem Flughafen in San Francisco von seinem jüngeren Bruder Gary abgeholt. Gary, dessen Bruder für ihn lange sein grosser Bruder, sein Vorbild war, wird vom kleinen Bruder zum Beschützer, zum Behüter seines Bruders. Jim ist Ende dreissig und schwer depressiv. In der halbvollen Ledertasche, die er von Alaska mitgebracht hat, liegt ganz unten eine 44er Ruger Magnum und in seinem Koffer die dazugehörige Munition. Dr. Brown, der Jim Medikamente verschreibt, warnt, dass diese erst nach zwei Wochen zu wirken beginnen und man Jim auf keinen Fall alleine lassen dürfe, weder am Tag noch in der Nacht.

„Du bist wie ein Kompass neben einem Magneten.“

So fährt Gary am Steuer seines Pick-ups, neben ihm sein Bruder. Gary will seinen Bruder zurück und Jim steuert entschlossen auf den von ihm bestimmten Endpunkt seines Lebens entgegen. Für ihn gibt es nichts zu retten, schon gar nicht sein beschissenes Leben, ein Leben, das ausser Kontrolle geraten ist, das ihn hin- und herschlägt von überbordender Euphorie in abgrundtiefe Depression. Das einzige, was ihm Sicherheit gibt, ist die Knarre in seinem Gepäck und die Gewissheit, dass sie ihn in einem einzigen kontrollierten Moment aus dem permanenten Schmerz wegreissen kann, für immer befreien.

David Vann «Momentum», Hanser Berlin, 2020, 304 Seiten, 35.90 CHF, ISBN 978-3-446-26594-3

Jim, der in der Schule zu den Besten gehörte, wie sein Vater Zahnarzt wurde und einen Haufen Geld verdiente, zweimal verheiratet war, zwei Kinder hat und nichts lieber tat, als mit seinem Bruder zu jagen, hat allen Halt verloren, alle Sicherheit, jede Hoffnung. Er stellt alles in Frage, stellt dauernd Fragen, die jene, die ganz in der Gegenwart zu leben versuchen, gar nie stellen, sich gar nie zu stellen trauen. Jim reisst alle Fassaden, alle Kulissen nieder. Selbst als er seine Ex noch einmal besucht und einen Ausflug mit seinen beiden Kindern zu machen versucht, endet alles im Fiasko von Fragen, überbordender Reaktionen und der Hilflosigkeit aller Beteiligten. Unversöhnliche Gegensätze zerschmettern das wenige, das geblieben ist, da der fatalistische Frontalangriff auf alles, dort die immer gleichen religiösen und konformistischen Litaneien. Jim kann nicht mehr. Das Theater seines Lebens formiert sich zu einem finalen Ende.

„Wir kommen nirgends hin und entkommen auch nicht meiner Zukunft.“

Gary und Jim fahren zu ihren Eltern, beide alt geworden, müde vom Leben. Irgendwann sitzen sich Jim und sein Vater im Halbdunkeln gegenüber. Beide verstehen nicht. Bis der Vater sagt: „Alles ist ein Haufen Scheisse. Das ganze Leben. Nichts ist so, wie es sein sollte.“ Jim kann nicht fassen, dass sein Vater für einen kurzen Moment sein Versteck verlässt. Und doch ist Jim unrettbar verloren, die Fahrt mit seinem Bruder eine Fahrt auf den Abgrund zu.

Zugegeben, es tut weh. Erst recht, wenn einem bewusst wird, dass der Autor Jims Sohn den Namen David gegeben hat, etwas von seinem eigenen Leben erzählt, der Depression, dem Suizid seines Vaters. Wenn David die Szenen mit Jims Kindern schildert, die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung des Bruders, die Ratlosigkeit einer ganzen Familie, dann wird deutlich, wie tief das Leiden, wie gross die Verzweiflung war.
Und doch braucht es solche Bücher, die an Fassaden und Kulissen reissen, die Fragen stellen, die sonst nicht gestellt werden, existenzielle Fragen über Sinn und Erlösung, über Wahrheiten und Liebe. David Vann tut es mit seinem Buch unmittelbar. Wer während der Lektüre nur ein Fünkchen Selbstreflexion zulässt, wird das Buch nicht atemlos lesen können, wird es weglegen müssen, weil sich Eigenes aufdrängt. Was will Literatur mehr!

© Mathieu Bourgois Agency

David Vann wurde 1966 auf Adak Island/Alaska geboren. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und erscheinen in 22 Ländern. David Vann lebt in Neuseeland und ist derzeit Professor an der University of Warwick in England.

Der Übersetzer Cornelius Reiber, 1963, studierte Germanistik, Geschichte und Kulturwissenschaften in Köln, Berlin und Princeton und lebt in Berlin. Daneben lehrt er gelegentlich an der Universität Basel. Zuletzt übersetzte er Bücher von Forrest Leo, Paul Theroux sowie einen Gesprächsband mit David Bowie.

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