2. Weinfelder Buchpreis: Noemi Somalvico «Ist hier das Jenseits fragt das Schwein»

Katharina Alder verlieh als Initiatorin, Organisatorin und Sprecherin der Jury des 2. Weinfelder Buchpreises den mit 4000 Franken dotierten Literaturpreis an die junge Schriftstellerin Noemi Somalvico. Eine mutige Entscheidung für eine mutige Schriftstellerin mit einem mutigen Debüt.

Die fabelhafte Welt der Noemi Somalvico – Laudatio an das Gewinnerbuch «Ist hier das Jenseits, fragt Schwein» 

Schwein, Dachs und Gott begeben sich in Noemi Somalvicos charmantem Romandebüt gemeinsam auf Sinnsuche. Sie reisen ins Jenseits, wo sie in einem Hotel am Meer verweilen. Dort macht Schwein einen Tanzkurs, Dachs spielt Tennis und Gott verbringt viel Zeit im Bett.

Klingt kurios, oder? So erscheint einem Somalvicos falbelhafte Welt zunächst auch. Eine Fabel ist ihr Erstling Ist hier das Jenseits, fragt Schwein jedoch nicht. Obwohl Tierfiguren mit ziemlich menschlichen Eigenschaften die Erzählung tragen. Und obwohl der formale Aufbau des Romans sich durchaus für die Vermittlung von Moral eignen würde: Das schmale Buch ist in kurze Kapitel geteilt, die man auf den ersten Blick für Lektionen halten könnte. In ihnen spielen das Dreiergespann Schwein, Dachs und Gott die Hauptrollen – und noch viele weitere Tiere haben einen Auftritt, darunter das Reh, ein Fisch und ein zwielichtiger Hase.

Aber Somalvico verfällt nicht einem moralisierenden Ton. Die Lebensweisheiten, die hie und da dennoch vorkommen, wirken daher nie belehrend, sondern unkompliziert erfrischend. Wie wenn da steht: «Dem Himmel ist heute keine Farbe gelungen. Wenn es in schwierigen Zeiten auf etwas ankommt, dann aufs Licht». Mit dieser Beobachtung zeigt Somalvico ihr Talent, einen kindlichen Blick auf die Welt zu wahren – nicht naiv, sondern neugierig, unverfroren und ehrlich.

Auch nutzt sie ihre Tierfiguren nicht aus, um unsere menschlichen Lebens- und Verhaltensweisen satirisch vorzuführen. Nein, die junge Schweizer Autorin begegnet ihnen stets auf Augenhöhe. Und hat dabei ein Gespür fürs Zwischenmenschliche.

Als zum Beispiel das Reh verlassen wird und sagt, dass es noch nie so traurig war, legt sich Schwein zu ihm und «sorgt dafür, dass stets ein Bein oder sein ganzer Rücken gegen Rehs Körper drückt. Reh soll wissen, dass Schwein sich nicht verschieben oder gar verschwinden wird». Und auch als Schwein lieber im Jenseits bleiben würde, obwohl es Gott dort nicht gut geht, bleibt Somalvicos Sprache feinfühlig. Dem Schwein ist halt «das Herz in den Kopf gestiegen». Aber dann stürzt es doch bei «knapp 30 Grad im Schatten» an Dachs vorbei in Gottes Hotelzimmer und weint «alle Tränen, die es in der glücklichen Jenseitswoche nicht geweint hat».

Somalvicos Werk ist also keine Fabel. Was aber nicht heisst, dass ihrer wunderlichen Welt die Moral abhanden gekommen ist. Es fällt auf, dass die Autorin ihren Figuren anerkennend und wertfrei begegnet – so bleibt zum Beispiel das Gender der Charakteren bis zum Schluss offen. Auch dem Publikum wird keine Lesart aufgezwungen. Das Büchlein lässt sich einfach geniessen, kann aber auch diskutiert werden. Etwa im Hinblick die ethische Verantwortung gegenüber anderen, Gottes Existenz oder, nun ja, Tiersymbolik.

Mit Ist hier das Jenseits, fragt Schwein gelingt der Autorin also ein Balanceakt zwischen schlicht und wunderlich. Ihre literarische Welt kommt unbemüht vielschichtig, überraschend zauberhaft und doch altbekannt daher. Eine Lektüre lohnt sich für alle, die schon mal Fernweh hatten – und sich zugleich nach einem Zuhause sehnen.

Würdigung «Culturestress» von Sarah Elena Müller

Wenn man, um kurz ein Velo zu mieten, zuerst ein Abo abschliessen muss (aber zumindest noch einen Haselnussmilch-Latte dazu bekommt), wenn posttraumatische Verbitterungsstörungen in der «Post-Nüüt-Ära» überhand nehmen, wenn kleine Nager mit ihrer toxischen Mäuslichkeit hadern, oder wenn der Samichlaus vom Sonderkommando niedergerungen wird – ja spätestens dann ist man mitten im «Culturestress» angelangt. Sarah Elena Müllers Kolumnensammlung nimmt die Leser:innen mit auf eine Reise durch die durchdigitalisierte, selbstoptimierte, spätkapitalistische Horrorshow, die wir unsere Gegenwart nennen. Die siebenunddreissig Kurztexte sind sprachlich treffsicher und mitreissend, es sind Kolumnen, die auch auf einer Poetry-Slam Bühne nicht fehl am Platz wären. Müllers Ton ist manchmal hässig, manchmal staunend, manchmal beissend, manchmal resigniert – immer gefühlt am Rand der Klippe, immer so lustig wie abgründig: «Du chasch no dis PhD mache, aber d Welt gaht unter. Du chasch no öppis publiziere, bi me Verlag, vilich chasch du das, aber d Welt gaht unter.» Wir freuen uns trotzdem auf ihren ersten Roman, der nächstes Jahr erscheinen wird.

Würdigung «Die Dinge beim Namen» von Rebekka Salm

Gleich im ersten Kapitel versucht sich ‘der Vollenweider’ als Autor. Endlich will er «die Wahrheit» über den unheilvollen Unterhaltungsabend im Jahr 1984 veröffentlichen – mit dem Ziel vor Augen, «die Dinge beim Namen zu nennen». Die Leerstelle in Rebekka Salms Romantitel Die Dinge beim Namen weist aber darauf hin, dass sich ihre Erzählweise deutlich von der ihrer Figur unterscheidet. Sie will in ihrem Roman nicht einfach be-nennen, von einer einzigen Wahrheit zu sprechen liegt dem Text fern. Stattdessen kommen die Figuren selbst zu Wort: Aus der Perspektive von zwölf Bewohner:innen wird die Geschichte eines Dorfes geschildert. Zusammengehalten werden diese unterschiedlichen Erzählstränge von jenem Abend im Jahr 1984, um den der Text kreist. Man erfährt von den allgegenwärtigen Träumen, der Beengung des Dorfes zu entkommen, von falschen Entscheidungen mitsamt deren Auswirkungen auf die Bewohner:innen und das Zusammenleben und vor allem von den Geschichten und den Gerüchten, die im Dorf die Runde machen. Mit seinem polyphonen Aufbau zeigt Rebekka Salms Roman, dass es eben doch nicht nur eine Geschichte ist, die sich über dieses Dorf, über den Unterhaltungsabend und über einen vermeintlichen Zuckerrübendiebstahl erzählen lässt, ganz im Gegenteil: Die verschiedenen Perspektiven ergänzen und korrigieren sich, sie widersprechen einander und ergeben zusammen doch ein kohärentes Bild. Nicht nur ist dies geschickt erzählt, sind die einzelnen Figurenperspektiven gelungen zusammengefügt, es macht auch Spass, diesen Text zu lesen.

Würdigung «Gegen Gewicht» von Andri Bänziger

Andri Bänzigers Erstling «Gegen Gewicht» besticht durch seine Leichtigkeit, mit der er sich durch schwere Themen manövriert. Den Brocken Depression, Psychose und Behinderung nimmt sich der Roman mit einer unaufgeregten, geschmeidigen Sprache und einer genauen Schilderung der Figuren an. Die viel gelesene Erzählung von Beziehung, Familie und sich später einschleichenden Problemen stellt er dabei auf den Kopf. Hier ist zuerst alles schwer und wird später leicht. Diese Umkehrung ist erfrischend, weil neu. Die Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrer Tochter gestaltet sich zunächst schwierig. Da ist ein Kind, das purer «Rock» ist – keine Konvention kennt und nichts und niemandem gehorcht. Und da ist eine Frau, die eine zynisch-distanzierte Haltung hat, sogar wenn sie sieht, wie ihr Kind nicht in diese Welt passt. Als Lesende muss man dem beleidigenden, zuweilen aggressiven Verhalten der Tochter zuschauen, Wut und Fremdschämen inbegriffen. Dass man diese Gefühle nicht mit der Mutter teilt, ist umso befremdender. Sie sagt von sich, dass sie eine Mauer aufgebaut hatte, um ihre jahrelang angestauten Probleme zu verdrängen. Der Tochter gelingt es schliesslich, diese Mauer niederzureissen. Dass hinter einer gefallenen Mauer nicht nur Leichtes, sondern auch noch mehr Schweres zum Vorschein kommen kann, blendet der Roman aus. Nichtsdestotrotz birgt er auf vielen Ebenen – wie der der Figuren und der Sprache – Potenzial und wirft die Lesenden auf ihr eigenes Verstehen von (Ab-)Normalität zurück.

Würdigung „Vom Onkel“ Rebecca Gisler

In Rebecca Gislers Roman „Vom Onkel“ bestimmen die Marotten eines Onkels den Alltag: Am liebsten schaut er die blutrünstigsten Horrorfilme, verschlingt Berge an Wurstbroten und Keksen und leert kanisterweise Bier und Limonade. Der Blick der Autorin auf ihren Helden aber bleibt stets von einer faszinierenden und vorallem auch schillernden Präzision: Dieser Onkel ist naiv, kindlich, kindisch, komisch, tragisch, traurig, unberechenbar, auch animalisch, bedrohlich, erhaben und noch vieles mehr. So wie die Sprache an diesem Sonderling (oder Sonderding?) immer wieder abgleiten muss, so unangepasst ist der Onkel auch sozial. Unter der mitziehenden Komik des Skurrilen also verstecken sich durchaus auch neuralgische Punkte einer latenten Gesellschaftskritik. Man könnte sogar sagen, eine gnadenlos irdisch-materialistische Ökonomie prägt den Roman. Was nämlich in den Körper des Onkels eintritt, das sammelt sich in ihm an oder es wird ihn auch wieder verlassen müssen. Rebecca Gisler gelingt eine ausdrucksstarke, aufdeckende und somit treffende und aktuelle Groteske, die unser Bedürfnis nach Konformität und klinischem Oberflächenglanz herausfordert. Zum Lesen ist das unbedingt reizend – und zwar bewusst auch im Sinne einer lästigen Hautstelle, die weiterhin juckt, egal wie oft man sie noch kratzen wird. 

Rezension Preisträgerbuch von Aline Tettamanti 

Rezension Preisträgerbuch von Caterina John

„Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn.“ Michael Köhlmeier an den 5. Weinfelder Buchtagen

Wer sich mit Literatur der Gegenwart beschäftigt, wird irgendwann am Namen Michael Köhlmeier hängen bleiben. Dass es für Katharina Alder, der Initiantin der Weinfelder Buchtage, ein Herzensding war, den grossen Österreicher einzuladen, war am ersten Abend dieser Buchtage greif- und spürbar!

Michael Köhlmeier lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Monika Helfer seit langer Zeit nicht weit von der schweizerisch-österreichischen Grenze, war lange Radiomann beim ORF und hat in den vergangenen 40 Jahren ein umfangreiches Werk an Romanen, Erzählungen, Essays herausgegeben, hat sich lange erfolgreich mit der griechischen Sagenwelt und Märchen auseinandergesetzt und scheut sich nicht, zu aktuellen Themen pointiert seine Meinung zu äussern, selbst dann, wenn bei grossen Veranstaltungen die Angesprochenen im Publikum sitzen. Eindrückliches Beispiel dazu ist sein Buch «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle. Rede gegen das Vergessen.» Heinz-Christian Strache, mittlerweile verurteilter rechtspopulistischer Politiker, sass mit anderen seiner «freiheitlichen» Partei im Publikum, als Michael Köhlmeier in sechs Minuten ruhig und gelassen «seiner» Regierung die Leviten las.

Mittlerweile ist der Menge an Veröffentlichungen höchst beeindruckend, ebenso wie die lange Liste all der Preise, auch Veröffentlichungen zusammen mit seiner Frau Monika Helfer, beispielsweise ihr gemeinsames Buch „Der Mensch ist verschieden“.

Michael Köhlmeier «Matou», Hanser, 2021, 960 Seiten, CHF 45.00, ISBN 978-3-446-27079-4

Obwohl das Schicksal von Menschen stets im Vordergrund des Schaffens von Michael Köhlmeier stand und steht, erschien diesen Sommer mit «Matou» ein fast 1000seitiger Roman, der scheinbar die sieben Leben einer Katze in den Vordergrund stellt. Die Geschichte von Matou, von den Wirren der französischen Revolution bis in die Gegenwart. Die sieben Leben einer Katze, zuerst an der Seite Camille Desmoulins, eines Mitstreiters von Danton während der französischen Revolution, der 1794 auf dem Schafott einen Kopf kürzer gemacht wurde. Im nächsten Leben als Begleiter von E.T.A Hoffmann, der Matou das Schreiben und Lesen beibrachte. Auf der griechischen Katzeninsel Hydra, auf der man allen Katzen den Garaus machen wollte und Matou sein Königreich, seine Diktatur errichtete. Als Grosskatze im Kongo, als Begleiter eines verkrüppelten Mädchens, auf einem grausigen Rachefeldzug gegen den Massenmörder König Leopold II. Während des ersten Weltkriegs in Prag, als Schosstier von Andy Warhol in New York und schlussendlich in seinem letzten Leben unglücklich verwickelt in das schwierige Liebesleben eines schwierigen Zeitgenossen.

Aber „Matou“ ist nicht einfach ein Katzenroman. Glauben sie mir, Katzenbücher mag ich nicht, lese ich nicht. «Matou» ist nur vordergründig die epische Geschichte einer Katze, eines Katers, der kein Mensch sein will, aber wie ein Mensch sein will. «Matou» ist ein Epos, das uns vom Menschsein erzählt, von den Schwächen jener, die die Geschicke dieses Planeten auszumachen scheinen und von Tieren, die wir allzu schnell nur als Nutz- und Kuscheltiere deklarieren. Ein mächtiges Buch, das mäandert, mit Sprache spielt, das fasziniert und mich, das gebe ich zu, während der Lektüre manchmal auch verunsicherte.

Im Gespräch mit Michael Köhlmeier verriet der Schriftsteller, dass er sich oft bei der Arbeit an seinem Tisch im Erdgeschoss seines Hauses mit der Katze hinter dem Laptop fragte, was im Kopf der Katze vor sich gehe. Katzen sind eigenwillig, egozentrisch und launisch, ihr Blick sehr oft misstrauisch und kritisch.
Die Geschichte von den sieben Leben des Katers ist der rote Faden dieser Geschichte. Die Geschichte vom Resümieren des sprechenden, denkenden, lesenden und schreibenden Katers in seinem letzen Leben zwischen Berlin und Wien die Rahmenhandlung. Darüber hinaus ist «Matou» ein Meer von Subgeschichten. So wie die eine von Adenauer und de Gaule, die sich nach dem Krieg immer wieder heimlich treffen und sogar gemeinsam kochen und dabei in Streit geraten.

«Matou» ist auch Ausdruck einer buchgewordenen Schreiblust, eines Autors, der mich als Leser ganz direkt anspricht, der mit Ausdrucksformen, machmal bis ins Typographische spielt, ein Sprachexperiment, wie das Menschsein aus einer Aussenperspektive wahrgenommen werden kann, philosophische Betrachtungen, beispielsweise die über den Irrsinn und den Wahnsinn, eine Betrachtung, die in der Gegenwart nicht wichtiger und dringender sein könnte. Über der Unterschied zwischen «Jemanden lieben» und «Jemanden brauchen». Oder darüber, was Charisma sein könnte oder müsste.

Besuchen Sie die 5. Weinfelder Buchtage!Und dann noch:

Meinen dreifach grossen Respekt zolle ich Katharina Adler:
1. Sie wurde mit ihrer Buchhandlung «Klappentext» in Weinfelden zu einem Epizentrum der Literatur. In einer Zeit, in der an anderenOrten Buchhandlungen schliessen.
2. Sie wagt zusammen mit ihrem Team zum 5. Mal die Durchführung der Weinfelder Buchtage, allen Widrigkeiten der Gegenwart zum Trotz. Und
3. Sie spendiert aus eigener Tasche zum ersten Mal den «Weinfelder Buchpreis», dotiert mit 4000 CHF.
Ich verneige mich!

Beitragsbild © Dominik Anliker

Weinfelder Buchtage 2019

Zsuzsa Bánk, Alex Capus, Walter Millns, Marius und die Jagdkapelle, Hans Platzgumer, Michael Theurillat und Verena Rossbacher waren bei der 3. Ausgabe der Weinfelder Buchtage die klingenden Namen, mit denen das Team rund um Katharina Alder Literaturinteressierte aus nah und fern zu locken wusste.

Nach seinem vielbeachteten Roman «Am Rand» erschien 2018 sein neuster: «Drei Sekunden Jetzt». Ein Roman über ein Findelkind auf der Suche nach seiner Herkunft, seiner Identität. Hans Platzgumer, der auch Musiker und Theaterkomponist ist, erzählte, dass er bei der Lektüre von Tschechows Theaterstück «Der Kirschgarten» zweimal fast auf die gleiche Textstelle stiess, die Ursprung seines Romans wurde: «Ich weiss nicht, wie alt ich bin, und ich habe immer das Gefühl, ich bin jung. Woher ich komme, wer ich bin, wer meine Eltern waren… Ich weiss nichts. (Charlotta Iwanowa in «Der Kirschgarten von Anton Tschechowa, 1903). Es sei die Mischung aus der Melancholie des Nichtwissens und der unendlichen Chance, aller offen stehenden Möglichkeiten, die ihn beim Schreiben angetrieben hätten. Hans Platzgumer wollte einen Roman schreiben über jemanden, dessen Ankerseil gekappt ist.

François, der eigentlich nicht einmal weiss, wie sein richtiger Name einst war, wurde mit 13 Monaten «zur Hand» genommen, hineingeschoben in einen Supermarkt und stehengelassen, hinausgetrieben aus einer Familie, in der es mit ihm an machbarer Zukunft fehlte.
François weiss, dass es eine Mutter gibt, oder zumindest eine Frau, die sich dafür halten lässt. Auf einem Überwachungsvideo des Supermarktes festgehalten, eine Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille, die den Kinderwagen in der Buchabteilung zwischen den Regalen stehen liess, vielleicht in der Hoffnung, dass sich da jemand dem Kind annimmt, jemand, der bildungsnah, belesen, intelligent und mit voller Brieftasche wäre.

Aber François genügt die neue Familie, in die er aufgenommen wird, nicht. Da bleibt dieser Schmerz, das Offene, diese Wunde, das Nicht-wissen. Kaum erwachsen haut François ab, landet in einem seltsamen Hotel am Löwengolf, westlich der Stadt Marseille. In einem heruntergekommenen, undurchsichtigen Hotel mit Namen «Le Richard», wo er ein Zimmer, eine Arbeit, einen Hafen am Meer der Möglichkeiten bekommt.

François ist Fatalist, der sein Leben durchaus in den Griff zu bekommen versucht, daran und am Leben selbst scheitert. In Marseille, der Stadt der grossen Ungewissheit, dem Schmelztiegel alles Fremden, einer Stadt, die Hans Platzgumer durch viele Aufenthalte bestens kennt; ein Tor zu Welt für Ankommende und Wegfahrende, jene Stadt, die neben Paris wie keine andere in Geschichte und Literatur bis in die Gegenwart zum bedeutenden Schauplatz wurde.

«Drei Sekunden Jetzt» sind die drei Sekunden Gegenwart, die man als solche wahrnimmt, dieses kleine Stück, das danach in die Vergangenheit rutscht, Stück für Stück, eine lange Kette. Die Gegenwart ist das einzige, worauf sich François verlassen kann. François, einmal und immer wieder alleine gelassen, macht sich auf die Suche dessen, was Erinnerung ist.

Hans Platzgumer liest neben dem kleinen Tischchen mit Lampe und Wasserflasche, den Requisiten, die man für ihn bereitgestellt hatte. Er ist Theatermann, versteckt sich nicht, auch wenn seine unruhigen Beine den Eindruck machen, als müsse die Stimme sich aus ihm herauswinden. Er liest wie ein Theatermann, den Blick oft im Publikum, seine Geschichte lebendig machend, manchmal Sätze lang auswendig.

Am Schluss der Lesung war die Bewunderung gleichmässig auf Autor und Veranstalterteam verteilt. Man weiss in Weinfelden, was man an der kleinen Truppe um die Buchhändlerin Katharina Alder hat. Die Gruppe schenkt der Stadt drei Tage lang Geschichten, einen Tisch voll lebendig gewordener Literatur; Begegnungen der besonderen Art.

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, lebt in Bregenz. Er studierte an der Musikhochschule in Wien, absolvierte ein Filmmusik-Studium in Los Angeles und veröffentlichte in unterschiedlichen Formationen elektronische Musik. Er schreibt Romane, Hörspiele, Opern, Theatermusik und Essays. Sein Roman «Am Rand» stand 2016 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Dominik Anliker

Grossen Namen, z. B. Judith Hermann an den 1. Weinfelder Buchtagen 2017

Zuerst war da die Zusage der Schriftstellerin Judith Hermann. Diese machte Mut und es wurden daraus die 1. Weinfelder Buchtage 2017. Katharina Alder, Organisatorin und leidenschaftliche Buchhändlerin in Weinfelden, machte das eine schon klar: «Die 1. Weinfelder Buchtage werden nicht die letzten sein!»

Für Katharina Alder sind Bücher mehr als eine Verpflichtung. Erst recht in einer Welt, die sich immer mehr vom Fremden distanzieren, am liebsten mit hohen Mauern abschotten will. Wer liest, muss neugierig sein, auch auf das Fremde. Für Katharina Alder sind Bücher ein Teil ihrer grossen Leidenschaft, die sich nicht nur in ihrer Buchhandlung Klappentext mitten in Weinfelden zeigt. Sie will sie hinaustragen, zusammen mit einem Team, zusammen mit Autorinnen und Autoren wie dem Urweinfelder Peter Stamm und den weit gereisten Judith Hermann, Takis Würger, Lukas Hartmann, Christoph Poschenrieder, Tim Krohn und anderen.

Judith Hermann reiste mit dem Zug von Berlin nach Weinfelden, weil auf dem Berliner Flughafen das Bodenpersonal streikte. Damit wurde die Reise länger als geplant, beinahe episch. Aber sie war da, hinter einem kleinen Tisch im Rampenlicht, im edlen Rathaussaal zu Weinfelden und machte schon einmal klar, nur lesen wolle sie nicht, es müsse ein Gespräch sein. Nur schon weil es Geschichten sind, die man nicht einfach hintereinander vorlesen kann. Zu allem entschlossen, selbst in der tiefsten Provinz, die sich dann aber erstaunlich aufmerksam, engagiert und präzise gab, als Judith Hermann nach der ersten Geschichte den Blick ins Publikum richtete und auf Fragen wartete.

Judith Hermann erzählte vom Schreiben, wie das Private ins Schreiben versenkt wird. Wie sie beim Schreiben von Erzählungen oft nicht weiss, wo genau ihr Schreiben hinführt. Und selbst wenn die Geschichten geschrieben und veröffentlicht sind, bleibt ein Rest Geheimnis, die Unsicherheit selbst bei ihr, wo genau der Kern einer Erzählung ist. Geschichten führen die Autorin. Die Figuren selbst sind es, die die Geschichten zum Leben bringen und damit viel Geheimnis zurücklassen. Sie bereite sich auf das Schreiben vor wie auf eine Expedition. Der schönste Moment des Schreibens aber sei der Schwebezustand, während dem man als Schreibende ganz allein mit dem dem Text ist, der Geschichte und den Personen ganz nah. Erzählungen wissen nichts mehr als ihre Leser, würden dem Leser viel mehr überlassen als ein Roman, der in der Regel abgeschlossen ist. Judith Hermann lässt den Leser gerne allein, weil sie weiss, dass nur ein übrig gebliebenes Rätsel den Leser zum Mitdenken zwingen kann.

Schriftsteller sind beneidenswert. Wer sonst kann alte Bekannte einfach so zu sich zurückholen? Wer kann Menschen, seien sie nun real oder fiktiv, so nah wie ein Schriftsteller kommen? Wer kann Erinnerungen so lustvoll erfinden? Wer kann wie ein Schriftsteller ungelöst Heikles, Rätselhaftes mit Schreiben bannen, ohne verstehen zu müssen, was genau passiert?

Judith Hermann zwang zum Nachdenken. Und das verdanke ich den mutigen Organisatoren der 1. Weinfelder Buchtage!

Webseite der Buchhandlung Klappentext in Weinfelden

Elisabeth Binder in der Buchhandlung klappentext Weinfelden

Seit ein paar Jahren überrascht und erfreut die Buchhandlungen klappentext in Weinfelden mit einer feinen Buchauswahl, viel Engagement und Fantasie und einem erstaunlichen Buch-Kulturprogramm. Am Mittwoch, 11. Januar, um 19.30 Uhr, liest Elisabeth Binder aus ihrem neusten Buch «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter».

Elisabeth Binder ist Gründerin des 2014 erstmals in Erscheinung getretenen amato-Verlag in Unterstammheim im Kanton Thurgau. In ihrem in diesem Verlag erschienen Buch «Ein kleiner und kleiner werdender Reiter» unternimmt die Autorin Spaziergänge, Annäherungen an den Ort ihrer Mutter Kindheit. Ein Dorf an der Thur, das zwischen den Kriegen und danach durch Textilindustrie Bedeutung erlangte und diese in der Gegenwart wieder verlor. img_0210Elisabeth Binder sucht nach dem, was von ihrer Vergangenheit und derer des unscheinbaren Dorfes geblieben ist, nach Bildern aus der Kindheit, Spuren ihrer Familie und all jener Menschen, die damals das Leben des Dorfes ausmachten. Zugegeben, da schwingt manchmal Schmerz und Ernüchterung mit über all das Unwiederbringliche. Trotzdem ist jede Seite von so viel Liebe, Zartheit und Respekt getragen, dass selbst das Kaff, zu dem das Dorf geworden ist, zu einer Perle wird, zu einer ganzen Kette literarisch eingefärbter Perlen, von denen ich mich entzücken liess.

img_0209Elisabeth Binder ist 1951 in Bürglen (Thurgau/Schweiz) geboren. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte in Zürich war sie Lehrerin, dann Literaturkritikerin beim Feuilleton der «Neuen Zürcher Zeitung». Seit 1994 ist sie freie Schriftstellerin. 2004 erschien bei Klett-Cotta ihr Roman «Sommergeschichte», 2007 «Orfeo» und 2010 «Ein Wintergast». Elisabeth Binder erhielt die Medaille der Schweizer Schiller-Stiftung sowie den Förderpreis zum Mörikepreis.

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