Michael Fehr «super light», Der gesunde Menschenversand

Michael Fehr ist ein Phänomen. Da sitzt einer gleich neben mir an einem kleinen Tischchen, ein Glas Wasser, ein kleines schwarzes Büchlein und ein Mobilphone mit einer Tastatur auf dem Display. Er stampft und klatscht, gibt den Rhythmus mit Luft, die durch die Lippen schiesst, singt und gibt den Bass, ein einziges vielfältiges Instrument von der Sohle bis zum Scheitel. Mensch gewordenes Lebensgefühl!

Besucht man die Webseite von Michael Fehr, springt einem der Schriftsteller und Dichter nicht gleich entgegen. Auf den ersten Blick könnte er auch ein Musiker sein. Vielleicht ein Saxophonist, einer, der mit seinem rauen Spiel die Szene aufmischt. Vielleicht ist dieser erste Eindruck ja auch gar nicht falsch. Vielleicht ist Michael Fehr einmal Musiker, einmal Dichter, ein Stimm- und Wortmusiker, oder alles in einer Person. Einer, der mit seiner eigenwilligen Kunst schwer einzuordnen ist, es tunlichst vermeidet, einer Schulbade zuzugehören. Michael Fehr ist Schriftsteller, Dichter, Performer, Sänger. Jedes seiner Bücher ist eine Überraschung, so wie man davon ausgehen kann, dass sein im Frühling erscheinendes Buch „Hotel der Zuversicht“ auch zu einem Sprach- und Leseexperiment wird. Vielleicht ist Michael Fehr so etwas wie der Tom Waits der Schweizer Literatur, ein bisschen «lonsome Cowboy».

Michael Fehr «super light», Der gesunde Menschenversand, 2021, 45 Seiten, CHF 15.00, direkt beim Verlag zu beziehen

Das sind für die Charakterisierung eines Künstlers vielleicht ein bisschen viele «Vielleicht“. Wer „super light“ auf der Bühne lauscht, den entführt Michael Fehr in eine ungefähre Zwischenwelt. Ein Vielleicht. Das mag mit der Entstehung seiner Texte zusammenhängen, da sie viel näher am Klang, am Sound, an der Akustik sind, als bei den meisten anderen Wortkünstlern, bei denen die noch stumme Schrift vorausgeht. Das mag an der Konzentration seiner Sprache liegen, an der Verdichtung der Bilder, einer Szenerie der Verknappung. Michael Fehr Erzählminiaturen öffnen Räume, erst recht, wenn er sie selber liest, noch viel mehr, wenn er sie in einen Rhythmus setzt, sein ganzer Körper mitgeht, wenn er singt, wenn er seine Augen schliesst und seine Arme in der Luft seinem Gesang Richtung geben.

Michael Fehr gab an diesem Abend sehr viel von sich, seinen Arbeiten, seinem Ringen um Sprache, seinem Denken und Nachdenken preis. Gedanken, die in seine Texte fliessen, von denen er durchdrungen ist, die durch seine Performance ein Ventil finden. Vielleicht auch, um sich angesichts der vielen Ungerechtigkeiten Luft zu machen.

Das Literaturhaus Thurgau dankt Michael Fehr und im Speziellen der Zeitschrift ERNST für die Zusammenarbeit!

Die Redaktion des Magazins ERNST, einem Schweizer Magazin, das sich sehr ambitioniert mit den verschiedensten Themen auseinandersetzt, nicht zuletzt literarisch, beabsichtigte schon lange eine Nummer zur Literatur, zum Buch. Nun wurde es gar eine Doppelnummer zum Thema „Manuskript“. Angefragt wurden Schreibende, sich zu ihren ganz verschiedenen Arten des Schreibens zu äussern. Darunter Gianna Molinari, Paul Nixon und Michael Fehr. Mehr Informationen zum ERNST.

Michael Fehr, geboren 1982, aufgewachsen in Muri bei Bern. Er studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und am Y Institut der Hochschule der Künste Bern. 2014 gewann Fehr mit einem Auszug aus «Simeliberg» den Kelag-Preis und den Preis der Automatischen Literaturkritik in Klagenfurt.

superliecht auf YouTube

Beitragsbilder © Marc Doradzillo

Michael Fehr «Und ich dachte, Schreiben, also das ist wirklich die einfachste Kunst von allen…»


«…In einer gewissen Über­heblichkeit hatte ich
nicht allzu viel Respekt vor der Schriftstellerei.
Ich dachte, jeder und jede kann etwas denken und aufschreiben»

Text: Anita Zulauf

Da war mal einer. Ein Kleiner. Schmaler. Sechs Jahre alt, vielleicht. Er sitzt am Schlagzeug. In der Bibliothek einer feudalen, alten Villa, in Muri bei Bern. Es ist ein Sommer in den Achzigern. Die Sonne wirft Strahlen, warm, in diesen Raum, durch zwei Jahrhunderte alte, blind gewordene Fensterscheiben. Staubpartikel tanzen. Er sieht sie nicht. Sitzt an diesem Schlagzeug. Und spielt.

Der Schlagzeuglehrer hat ihn angewiesen, zu üben. Bis er wiederkommt. Wohin er ist? Irgendwohin. Aufs Klo? Nach draussen, rauchen? Der Junge schlägt die Stöcke auf die ­Becken. Bald in einer Art Trance. Den Fuss, rhythmisch auf das Pedal.

Und dann passiert es. 

«Auf einmal war da dieses Gefühl. Ich spürte, da ist was. Etwas, das tief in mir Zuhause ist. In mir angelegt. Etwas, das mich nie mehr loslassen wird.» Und er spielt. Und spielt. Und jetzt kann er nicht mehr aufhören. Und will auch nicht mehr aufhören. Er muss pinkeln, aber dafür ist keine Zeit. Er spürt, wie ihm der Urin die Beine runterläuft, er hört das leise Plätschern, vermutet, dass sich nun alles über das Pedal ergiesst. Er spielt weiter.

33 Jahre später. Michael Fehr. Autor.

«Als der Schlagzeuglehrer zurückkam, war es mir uh peinlich, und er fand es natürlich nicht grad lustig. Mit ­Papiertüchern tupfte er den Urin so gut wies eben ging vom Pedal.» Diese Geschichte erzählt mir Michael Fehr an einem Nachmittag im vergangenen August, an einem der wenigen warmen Sonnensommertage. Wir treffen uns im Seebistro Luz in Luzern. Die Holzterrasse des Restaurants ragt über den See, unter uns plätschern leise leichte Wellen an die Ufermauern.

Michael Fehr lebt in Bern. Er ist stark sehbehindert. Juvenile Makuladegeneration lautete die Diagnose, mit der er 1982 zur Welt kam. Seinen Mund umspielt ein Lächeln, spitzbübisch irgendwie, leicht ironisch, so, als wäre er amüsiert, über all die Wichtigkeiten und die sich zu wichtig Nehmenden. Er trägt einen Anzug, ein Hemd, elegant. Und trotzdem wirkt es irgendwie so, als hätte er sie in jenem Sommer in den Achtzigern in dieser Bibliothek schon getragen. Und sie wären einfach zusammen gross geworden. 

Obwohl fast blind, hält Michael Fehr mehrheitlich Blickkontakt. Kannst du mich sehen? Frage ich. Er versucht zu erklären, ich zu verstehen: «Ich erkenne Schemen, Farben, Ahnungen.» Und dann: «Wenn wir beide vom Sehen sprechen, sprechen wir nicht vom Gleichen. Ich habe ja nie ­gesehen wie du. Insofern kommt auf diese Frage keine Antwort.»

Es ist sein Vater, der ihm beibringt, Augenkontakt zu halten. Von klein auf. «Er sagte, schau hinauf zu den Leuten, wenn sie mit dir reden.» Dieser Vater, der mit derselben Sehbehinderung zur Welt gekommen ist. Wie wiederum dessen ­Mutter. Der Vater, der daher aus Erfahrung weiss, worauf es ankommt, im sozialen Miteinander, was wichtig ist, gesellschaftlich verlangt. «Doch wenn du klein bist und fast nichts siehst, siehst du die Gesichter der Leute erst recht nicht. ­Zudem hat es mich absolut nicht interessiert, was da oben vor sich ging. Doch mein Vater hat darauf bestanden. Darum kann ich den Blick halten, wenn ich will. Das hat einen entscheidenden Vorteil im sozialen Alltag. Obwohl mir selbst das wenig bringt.»

Wie nennt er, Michael Fehr, es, was er hat? Handicap? Beeinträchtigung? «Ich habe eine Behinderung. Ich habe dem immer so gesagt, das war in unserer Familie kein Tabuthema. Es ist genau das, was es macht: es behindert mich.» Nur mit der Änderung des Sprachgebrauchs und dessen Repetition verändert sich nichts, sagt er. «Dieses Bemühen um politische Korrektheit ist Stumpfsinn, wahnsinnig intellektuell und das Privileg der Reichen. Das langweilt mich total. Du darfst also gerne Behinderung sagen.»

Aufgewachsen ist er in Gümligen bei Bern, ein Dorf, damals. In einer Blockwohnung, ohne Geschwister. «Meine Eltern hatten wenig Geld. Mir wäre das aber nie aufgefallen, mir hat nichts gefehlt.» Als kleines Kind fürchtet er sich vor den anderen Kindern, die unberechenbar, rabiat, wild und schnell sind. «Meine Eltern stellten mich regelmässig raus. Freiwillig wäre ich nicht gegangen. Sie sagten, das musst du jetzt aushalten, wir kommen in fünf Minuten. Ich weiss, dass das auch für sie nicht einfach war.» 

Die Teenagerzeiten waren dunkler

Jodler, Schlager, Marschmusik, das mag er, als Kind. Und da ist der Wunsch, Schlagzeugspielen zu lernen. Er trommelt auf Blech und Büchertürme. Die Eltern mieten ein Schlagzeug. Da ist er, wie gesagt, etwa sechs. Sie organisieren einen Übungsraum, im Luftschutzkeller, gleich neben dem Wohnhaus. Dort fürchtet er sich zwar, in diesem Keller, fürchtet sich vor Gespenstern. Darum singt er, laut, trommelt, um sie zu vertreiben. 

Das Singen und Trommeln im Luftschutzkeller. Zusammen mit den unzähligen Geschichten, die er als Kind der Achziger ab «Kassettli» in Endlosschlaufe hört. Geschichten, vollgepackt mit Abenteuern, die ihm nur gefallen, wenn sie dunkler sind als dunkel, heller als hell, in denen es kracht und alles explodiert. Und am Ende trotzdem alles gut kommt. Dies alles sammelt sich, schlummert in ihm, gärt, wächst, kumuliert. Bis es sich Jahre später allmählich ineinanderzufügen beginnt.

Trotz Sehbehinderung wollte er unbedingt in die Regelschule, und «meine Eltern unterstützen mich darin total». Damals, in den Achzigern, in denen noch wenig über Integration und Inklusion gesprochen wurde, war das eher neu. «Da gab es Lehrer, die mich total unterstützten und solche, die mich absichtlich schlecht behandelten.» Unter den Kindern war er immer akzeptiert. «Ich kam mit den meisten gut aus, ich konnte gut zeichnen, trommeln, ich hatte das Gefühl, ­gehört zu werden, die meisten waren gern mit mir.» Die Teenagerzeiten waren dunkler, «aber schon da war das Gefühl, da ist jemand in mir, der etwas will.» 

Hintertür zurück in die Kunst

Beim Wirtschafts- und Jura-Studium an der Uni in Bern greift seine bislang angewendete Methode, zuhören und auswendig lernen, nicht mehr. Nach vier Studienjahren gibt er überfordert auf. Es ist der Berufsberater der Uni, der ihn schliesslich auf das damals neue Literaturinstitut in Biel aufmerksam gemacht hat. «Da war ein Hintertürchen zurück in die Kunst, nachdem ich das Schlagzeugspielen mit zwanzig in einer grossen Frustration aufgegeben hatte, weil ich fand, ich sei zu schlecht, oder jedenfalls ungenügend. Und dann dachte ich, schreiben, also das ist wirklich die einfachste Kunst von allen. In einer gewissen Überheblichkeit hatte ich nicht allzu viel Respekt vor der Schriftstellerei. Ich dachte, jeder und jede kann etwas denken und aufschreiben.» Allerdings ist es dann gerade dieser fehlende Respekt, der es ihm ermöglicht, wieder frei und hemmungslos die Kunst in Angriff zu nehmen. Wie damals, am Schlagzeug, als Kind. «Ich dachte, jeder kann wie er will. Inklusive ich. Und das hab ich auch so praktiziert.» Womit er natürlich auch angeeckt ist. Weil ganz so einfach ist es dann halt doch nicht.

«Aber was ich bekommen habe, war Raum, frei arbeiten zu können und das Vertrauen der Leute, dass ich schon weiss, was ich tue.» Und ja, er war ein Arbeiter, hat es sehr ernst genommen. Es gab immer wieder einzelne Leute, die ihn dort unterstützt haben, indem sie sagten, lasst ihn machen. Der rennt jetzt dreihundertmal gegen die Wand, bis er es selbst rausfindet. «Eine Zeit lang bin ich nicht müde geworden, zu stänkern und zu provozieren.» Dass sie das ausgehalten haben, ihn toleriert, dafür ist er ihnen im Nachhinein dankbar. Sie hätten mich auch rausschmeissen können. Das haben sie nicht getan.» Und ja, da waren noch ein paar wenige, «wahnsinnig gescheite Leute», die er in Biel und später an der Hochschule der Künste in Bern kennen gelernt hat. «Wenn mir einleuchtet, dass es bei jemandem etwas zu lernen gibt, bin ich der Erste, der eifrig ist.»

«Ich will nicht eingeordnet werden»

Seit dem Erscheinen seines ersten Buches «Kurz vor der Erlösung» im Jahr 2013 wollen ihn Kulturkritiker einordnen, was er tut, dieser Fehr, der in so gar kein Genre passen will. Sie nennen es rhythmische Prosa. Oder Spoken Word. «Ich will nicht eingeordnet werden, ich will meine eigene Kunst machen. Zum Einen mache ich Songs, zum Anderen Geschichten. Die Geschichten sind etwas länger, die Songs kürzer. So einfach ist das.» 

Am Anfang versucht er, sich anzulehnen, sucht Schriftsteller, die er für grossartig hielt, versuchte, sie auf eine gewisse Art zu imitieren. «Aber sehr bald bin ich meinem eigenen Regelwerk verfallen, dem kompositorischen Verfahren verbunden mit dem Klingenden, mit Sound.» Jedes Wort musste er mindestens einmal wiederholen, dann entweder noch ein zweites Mal oder ein zweites Mal in einer Variation. Auf Silben-, Wort- und Phrasenebene, in bestimmten Rhythmen und Klang. «Dieses Verfahren habe ich erfunden und gesagt, so muss es sein. Und wenn man das schafft, und gleichzeitig auch noch, eine Narration darzubieten, dann ist man wirklich gut.» Er findet diese Technik immer noch äusserst interessant. «Aber heute, würde ich sagen, werde ich immer einfacher, unintellektueller und, wie ich finde, beseelter. Die Storys, die sind aber – und das ist geblieben – sehr absurd. Die gehen sehr weit in den logischen Zusammenhängen. Sind sehr strapaziös. Da darf man ruhig verblüfft sein. Oder sogar entgeistert.» 

Seine Texte zeichnet er mit einem Handy-Tonaufnahmeprogramm auf. «Ich bin nicht der pragmatische Schriftsteller, ich bin ein Kopfschreiber», sagt er. Es gehe ums Fassen von Gedanken, ein absolut innerlicher Prozess, tief hinein in jede einzelne Formulierung. «Wenn ich mit den Audio-Aufnahmen beginne, habe ich die Texte im Kopf, oder heute würde ich sogar sagen, in der Seele. Ich weiss ganz klar, was herauskommen wird. Ausgenommen das Abenteuer, wenn mir während des Sprechens auf einmal ganze Fragmente fehlen, ausgeschnitten, aus dem Sinn, und du weisst in dem Moment, die kommen nicht zurück. In diesem Moment passiert das Abenteuer, und du machst einen Ausflug, der nicht vorgesehen war. Das ist absolut spannend. Aber bis auf diese Hindernisse oder Abenteuer, die sowieso passieren, bin ich total vorbereitet.» So entstehen Audios, Bühnenprogramme, Texte werden transkribiert und als Bücher herausgegeben.

Ein Gefühl von Wind, vielleicht

Auf der Bühne wird er wieder zu diesem Jungen im Luftschutzkeller. Er spielt Schlagzeug, schreit, singt laut, leise, die Stimme überraschend rau, rauchig, der Nachklang, ein Hauch, eine Ahnung, nach Abenteuer, Schurkenschaft, ­Halunken auf Raubzug. Worte explodieren. «Wenn nichts herrscht ausser Puls, stampfen, klatschen, singen, dann bin ich zufrieden, das gibt mir unendliche Geborgenheit.» Mit Musikerkollege Rico Baumann steht er aktuell mit dem Programm «super light» auf der Bühne. «Ich spiele für Menschen, die Freude haben an Irritation und Verblüffendem. Vielleicht sind sie auch mal entsetzt. Sie fragen sich, was ist das genau? Was will er sagen mit dem? Das gefällt mir. Es gefällt mir, wenn die Menschen danach nach Hause gehen, mit dem Gefühl, dass eine Türe aufgegangen ist, also nicht, dass sie mit einer Befriedigung heimgehen, sondern mit ­einem Gefühl von Wind, vielleicht. Mit Überraschung, Inspiration vielleicht.» 

 «Auftreten», sagt er, «ist ein wesentlicher Teil von mir. Der Moment des Entfaltens, der Präsenz, dieses Sendebewusstsein, mag ich sehr. Das musste ich lernen, übers ­Machen, im Sinn von Mut. Es ist eine Art Blossstellung, ein Gefühl, das wir erst mal gelernt haben, zu verhindern. Man könnte scheitern, gesellschaftlich in Ungnade fallen, man wird angreifbar. Doch man kann lernen, es zu geniessen, diese Radikalität, sich blossstellen, nackt fühlen, für einen Moment, oder einen Abend. Und wenn ich dann der bin, der schon lange ausgezogen dasteht, im Gefühl von Nacktheit, haben nur die anderen was zu verlieren. Weil hinter dieser Blossstellung, hinter der Scham, ist die totale Befreiung.»

«Ich arbeite an meinem Durchbruch»

«Mit ‹Kurz vor der Erlösung› ist es richtig losgegangen. Obwohl dieses Buch zunächst niemand gelesen hat ausser jene aus dem Betrieb, diejenigen, die mir die Preise gegeben haben. Damit wurde ein Interesse geboren, das man andernfalls vielleicht nicht hätte forcieren können, weil ich zu ungewöhnlich und schräg in der Landschaft stehe.» Zwei Jahre später gewann er mit «Simeliberg» unter anderem den Literaturpreis des Kantons Bern, den Kelag-, und den Preis der automatischen Literaturkritik im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises. Auf einmal wollten ihn alle. Zeitungen, Fernsehen, Radio. Anfangs ist es schön, dieses Erfolgsgefühl. «Man will mehr davon, mehr, und noch mehr. Und das passiert auch, eine gewisse Zeit lang. Dann geht es wieder zurück, genauso wie es gekommen ist. Und du merkst, das sind Wellen, du bist so schnell weg, wie du da warst. Aber ich muss sagen, ich akzeptiere bis heute nicht, dass ich nur so eine Welle bin. Ich arbeite bis heute an meinem Durchbruch.» Allerdings, sagt er, ist er nicht bereit, dafür Kompromisse in seiner Kunst zu machen. «Auf diesem Weg zu bleiben, das ist das Schöne daran. Es ist das Gefühl, das dich vor dem Fall bewahrt.»

Er schreibt nicht, weil er das unbedingt will. Er tut es, weil er muss. «So simpel das tönt, ich habe einen Auftrag in meinem Leben. Ich muss den Blues wiederbeleben, den ein paar Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts gespielt haben. Willie Johnson, Gary Davis, Lemon Jefferson, alle sehr mangelhaft sehende oder blinde Musiker, mit denen ich mich sehr stark identifiziere.» Er erzählt, von dem Bedürfnis, diese ungestüme und radikale, im Moment präsente Narration von etwas, das ihn jetzt gerade scharf betrifft, wiederzubeleben. Etwas, das hundert Jahre lang verloren gegangen ist. «Ich bin hier, in dieser Zeit, um das wiederzubeleben. Das ist mein Auftrag. Auf Teufel komm raus. Den verspüre ich des Nachts sehr intensiv. Dieses Ding muss ich stemmen.» Optimistisch gedacht habe er dafür hundert Jahre Zeit. «Das ist einfach wahnsinnig kurz. Weil zuerst musst du aufwachsen, dann muss dir alles bewusst werden. Dann musst du deine Ahnen, dein geistiges Kontinuum wieder finden. Herausfinden, wo sie sind, diese anderen. Vielleicht bin ich schon mal gestorben und jetzt dafür wieder geboren. Wie gesagt, es gibt viel zu tun. Also muss ich mich konzentrieren.»

Darum kann und will er sich nicht aufhalten lassen, schon gar nicht von Kritiken und Kritikern. «Natürlich bin ich total geschmeichelt, wenn mir jemand Komplimente macht. Natürlich bin ich verärgert, wenn mich jemand ­kritisiert. Manchmal auch betroffen. Aber ich habe einfach keine Zeit, mich länger damit zu befassen, insofern bin ich nicht kontemporär businesstauglich. Ich weiss auch nicht, ob ich mich selbst lesen würde. Ich bin natürlich ultrakritisch, finde eigentlich alles schlecht, was ich gemacht habe.» Zwar war es zu diesem Zeitpunkt das Richtige, sagt er. Aber nicht gut genug. «Das Bedürfnis nach dem finalen Werk ist da. Aber bis jetzt habe ich es noch nicht erreicht.»

Was hat dir deine Behinderung genommen? «Den Zugriff auf die Welt. Ich stelle es mir wahnsinnig schön vor, vom Tisch aus der Kellnerin zuzurufen, welches Sandwich von der Auslage ich gerne hätte. Ein schneller Blick auf die Bahnhofuhr, oder kurz mit dem «Charre» irgendwo hinfahren, auf der Autobahnraststätte Essen holen, das hat für mich etwas wahnsinnig Romantisches. Dieses Zugreifende, ich nehme mir was ich will, und ich nehme es vor allem, bevor du es nehmen kannst. In meiner Vorstellung wäre ich zweimal so breit geworden, wie ich bin, dann wäre ich so ein Typ, der mit dem Segelboot in die See und in die Welt sticht, loszieht, ich würde alles kurz und klein schlagen, alles wäre ganz gefährlich, es gibt fast keinen Ausweg, aber am Schluss gewinnen die Guten und alles ist genau richtig. Dann kommt man vielleicht wieder nach Hause und vielleicht nie mehr.»

Hat sie dir auch was gegeben, deine Behinderung? «Sound! Ich höre überall Artikulationen, höre, was alles kreucht und fleucht, Alltagssound, Musik, ich habe ein ­intensives Gefühl von Sound und Rhythmus. Wenn man da immer unterbrochen würde von allem, was man auch noch sieht, wäre es wahrscheinlich nicht so intensiv… aber vielleicht ist das auch ein romantischer Gedanke. Ich weiss ja nicht, wie’s wäre.»

Michael Fehr, geboren 1982, ist ein Schweizer Schriftsteller aus Bern. Fehr studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und an der Hochschule der Künste Bern. Er erhielt unter anderem den Literaturpreis des Kantons Bern und für seinen Roman Simeliberg den Kelag-Preis im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises.

ERNST-Magazin

Webseite Michael Fehr

Ivo Knill «Der Schneeleopard» aus dem ERNST-Magazin

Ivo Knill reist im Kopf durch den Himalaya.

Es ist vier Uhr nachmittags. In meinen Augen spüre ich den Schmerz des gleissenden Lichtes. Ich folge Schritt um Schritt dem Weg, den mein Wegführer vor mir geht. Ich richte meinen Blick auf den Boden, um sicheren Tritt zwischen den kantigen Steinen zu finden. Ich sehe die Grasbüschel, die karge Erde, die groben, mehr als faustgrossen Steine. Ich hebe den Blick. Ich sehe den Rucksack des Bergführers mit dem aufgeschnallten Zelt und der Isomatte. Mein Rücken lässt das Tragen nicht mehr zu, auch meine Kondition nicht. Hinter mir geht der junge Sherpa, der mein Gepäck trägt. Sooft ich mich umdrehe, lächelt er mir aufmunternd zu. Ich bewundere seine Stärke und sein freundliches Wesen. Heute ist ein schöner Tag. Kein Regen, offener Himmel, wenig Wind. Schwer steige ich zwischen den schwer bepackten jungen Männern bergan.
Wir suchen den Schneeleoparden.
Wir steigen die Flanke des Annapurnas hoch. Seine Gipfel sind Tausende von Metern über uns, ihre schneebedeckten Flanken fallen steil ab. Mehr als tausend Meter unter uns liegt das Tal.
Der Schneeleopard ist ein scheues Tier. Das helle Tageslicht meidet er. Seine Zeit ist die Dämmerung des Morgens und das Zwielicht des Abends. Mittags und nachts schläft er. Wir folgen seinem Rhythmus. Noch in den letzten Nachtstunden steigen wir vom Lager auf vier- und fünftausend Meter hoch. Mit der Morgendämmerung erreichen wir die Höhen, in denen das scheue Tier lebt. Eine Stunde haben wir zur Beobachtung. Wenn der helle Tag anbricht, marschieren wir weiter. Wir machen Pause, schlafen ein wenig und setzen unseren Marsch fort. Schritt für Schritt.
Viele sind auf dem Leopardentreck unterwegs. Wenige bekommen ihn zu Gesicht. Die andern Leopardensucher, die weniger Kundigen, die Lärmigen, die Bunten und Lauten, die Eiligen und Ungeduldigen treiben den Leoparden in die Höhe. Wie er fliehen wir ihrem Lärm und steigen in die kargen Höhen.
Der Mann, der vor mir geht, ist kein gewöhnlicher Sherpa. Er folgt nicht wie die Anderen blossen Gerüchten um mögliche Aufenthaltsorte des Leoparden. Er liest die Spuren im Schnee und in der weichen, vom Schmelzwasser aufgelösten Erde. Er findet Kot und Haare. Er deutet den Flug der Vögel. Nur weil ich mich lange im Land aufgehalten habe, konnte ich ihn engagieren. Trotzdem kann es sein, dass wir ohne Erfolg bleiben.
Ich atme langsam. Die Haut ist spröde und verschwollen. In der Nacht liege ich schlaflos. Der Puls beruhigt sich nie. Manchmal öffne ich das Zelt und blicke in den überwältigenden Sternenhimmel. Er lässt mich fühlen, wie klein und unbedeutend ich bin Die Tage und Nächte meines Lebens sind nichts in der Unendlichkeit der Zeit, die alles hervorgebracht hat – das All, die Galaxien, unser Sonnensystem, die Erde, auf der wir uns bewegen und die Berge, zwischen deren Gipfeln wir unterwegs sind. Schlaflos versenke ich mich in die Tiefen des Universums.
Jetzt setze ich Fuss um Fuss auf den steinigen, unsicheren Grund. Das einzige, was wirklich zählt, ist der Augenblick des Bewusstseins. Der Augenblick, in dem sich der Hauch des Lebens zeigt. Denn nichts anderes sind wir als ein kurzer Hauch. Nichts als diesen einzigen Augenblick haben wir der Unendlichkeit des Universums entgegenzusetzen. Denn sie kennt kein Jetzt, das sich vom Immer unterscheiden würde. Ich höre das Blut in meinen Ohren pulsieren. Der Augenblick. Leben ist jetzt. Ich stütze mich auf den Stock.
Der Himmel ist jetzt glasklar. Das Licht wird dünner, reiner, kostbarer. Im Tal sammeln sich die Schatten. Sie werden dichter, während sich die Gipfel in ein erst zartes und dann glühendes Rot kleiden. Das ist die Zeit. Der lodernde Untergang des Tages. Götterdämmerung. Ich vergewissere mich, dass die Kamera richtig eingestellt ist. Ich muss sie mit einem einzigen Handgriff nach oben ziehen können, im Hochziehen muss ich sie einschalten, den Deckel vom Objektiv nehmen und den Sucher ins Auge fassen. Es muss schnell gehen, denn der Schneeleopard ist scheu.
Nichts braucht der Leopard, um hier oben zu leben. Sein Fell schützt ihn vor dem gleissenden Licht der Sonne und der Kälte der Nacht. Wo wir uns schwerfällig bewegen und Berge von Material mit uns schleppen müssen, um nicht zu verhungern, zu erfrieren, zu verdursten und an Schmerzen zu leiden, bewegt sich die Katze der Wildnis frei, ohne Last, geschmeidig, und leicht. Nichts an ihr ist überflüssig. Alles an ihr ist Unbändigkeit, die sich scheu versteckt. In mir glüht das Verlangen, diesem einzigartigen Wesen zu begegnen.
Wir sind ihm nahe. Wir haben frischen Kot und frische Spuren gefunden. Hinter dem Busch könnte die Wildkatze sich verbergen. Sie könnte sich in eine Kuhle ducken. Es könnte sein, aber es ist nicht gewiss, dass wir heute den Schneeleoparden zu Gesicht bekommen.
Wenn ich ihn sehe, Auge in Auge: Das wird der Moment sein: Das Aufblitzen des Lebens im Moment. Nichts anderes. Das Jetzt des Lebens, frei, ungebunden, unzähmbar gegen ein Universum der Steine und eine Ewigkeit der Zeit.
Ich bin bereit. Der Sherpa macht ein Zeichen. Wir ducken uns.
Kein Geräusch! Keine Bewegung!
Jetzt.

«Nichts als einen Augenblick haben wir der Unendlichkeit des Universums entgegenzusetzen.»

«Leben ist immer jetzt.»

Ivo Knill ist 1964 als sechstes von sieben Kindern in Herisau geboren und aufgewachsen. Nach dem Studium in Germanistik und Geschichte arbeitet er als Lehrer an der Berufsmaturitätsschule der gibb in Bern. Er ist Vater von zwei Kindern. Er tritt mit Sprach- und Textperformances auf, schreibt literarische und journalistische Texte und sammelt auf Strassen und Plätzen Erzählungen vom Leben. Von 2005 bis 2016 ist er Chefredaktor der Männerzeitung. Seit 2017 schreibt er für das Nachfolgemagazin ERNST. 2017 eröffnet er das Schreibhaus Burgdorf und empfängt und begleitet dort Gäste mit unterschiedlichen Schreibvorhaben.

Das Schreibhaus Burgdorf: schreibhaus.blog

Das Burgdorfer Biografische Institut: erzaehlmal.ch

ERNST-Magazin

«Was ist Gerechtigkeit?», Sommer-ERNST #10

Weil es der zehnte ERNST-Magazin ist. Und weil es eben manchmal auch gross sein soll, stellen wir sie endlich, die monumentale Frage, die Frage nach der Gerechtigkeit.

Aus der Ferne lassen sich ihre scharfen Kanten noch klar erkennen, steh‘ ich aber vor ihr, ist die Frage überwältigend.
Trennscharfe Begriffe wie «Schuld“ und „Täter“ verlieren aus der Nähe betrachtet an Konturen. Wie Frank Keil zeigt, der sich knapp neun Jahre nach der Loveparade-Katastrophe in Duisburg umgeschaut hat. Noch immer ist niemand für dieses voraussehbare Unglück zur Verantwortung gezogen worden. Ist das gerecht?

Soziologe Martin Schoch ist für ERNST durch Kambodscha, aber auch durch seine Kindheit gereist und fragt: „Ist Ungerechtigkeit ein Gefühl, Gerechtigkeit eine Idee?“
Und Philosophin Svenja Flaßpöhler findet im Interview mit Anna Pieger, dass wir Ungerechtigkeiten zwar anprangern, aber dabei eben auch unsere eigene Position nicht unbetrachtet lassen sollten. Für sie sind Selbsterkenntnis und Verzeihen wesentliche Schlüssel im Umgang mit der grossen Frage.
Bei Jens Eber setzen sich eine junge, ungeduldige Klimaaktivistin und ein älterer, abgeklärter Berufspolitiker an den Tisch und ringen um das richtige Mass an Gerechtigkeit. In unserer Sparte „Politik und Bewegung“ beschäftigen sich zwei grosse Strecken mit Geschlechtergerechtigkeit. Sie zeigen, dass der Graben nicht entlang des Geschlechts verläuft, eher zwischen denjenigen, die Emanzipation als Recht – und denjenigen, die Emanzipation als Pflicht verstehen. Und auch wohltuend zu lesen ist das Plädoyer für einen gelasseneren Umgang mit Trennung.

„Sinn und Sinne“ bietet die gewohnt gute Mischung aus Musik- und Literatur, ERNST kocht ein Kichererbsen-Gericht und wir lernen „Kamerun-Ernst“ kennen. Und es fehlt nicht der Slam von Fabienne Krähenbühl, es fehlt nicht „Das Innerste“ von Ivo Knill, flankiert von einem tollen Foto, es fehlt nicht das Dreamscape-Abschlussbild von Luca Bricciotti und eine eindringliche Buchempfehlung von Gallus Frei-Tomic!

Also: Ein prall gefülltes Heft, nicht nur weil es die Nummer #10 ist.
Zehn schon, wir sind ein wenig – stolz!

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Ivo Knill «Das Innerste – Das letzte Geheimnis», erschienen im ERNST-Magazin #9

Das Innere ist unbekannt. Vielleicht ist es die Leere in uns, die wir hegen, denn in der Lehre, aus der Leere, kann sich alles ereignen – und vielleicht ist das Innere auch einfach: das Paradies.

von Ivo Knill

Das Innere des Teppichs, die grosse Mitte, heisst im Iran, so habe ich es von Nahostkorrespondent Werner van Gent gelernt, «Paradies». Der Ausdruck stammt aus dem Persischen und gehört im Orient bis heute zur grossen Kultur des Alltags, denn jeder Wohnraum, in dem ein Teppich liegt, hat sein Paradies. So sieht man die Welt im Iran, wo der Teppich nicht nur ein isolierender Bodenbelag ist, sondern ein Ausdruck des orientalischen Weltverständnisses: Das Draussen, das ist die Wüste, das ist die Welt der Tücken, der Schwierigkeiten und Widrigkeiten. Draussen ist Hitze, Staub, vielleicht der Verrat eines diktatorischen Regimes. Von diesem Draussen wird der Wohnraum, das Zuhause, durch die Mauern abgeschirmt. Man muss durch das Tor hineingelassen werden. Dann betritt man das geschützte Innere, den Innenhof mit Pflanzen und Wasser. Von da gelangt man in die Wohnräume. Hier liegt der Teppich mit seinem Paradies, das vom umlaufenden Randmuster umfasst wird.

Vielleicht finden wir in unserem Innersten auch einen Paradiesgarten, in den wir uns zurückziehen. Vielleicht ist das Innerste die sprudelnde Quelle des Lebens, das wir Atemzug um Atemzug, Pulsschlag um Pulsschlag in uns spüren. Aber auch wenn das Innerste nicht das Paradies wäre, so steht doch fest, dass wir einen Innersten Ort brauchen, aus dem sich unser Blick auf die Welt ergibt. Denn wie anders sollen wir handeln, Glück suchen, Glück finden, wenn nicht angetrieben von unseren innersten Wünschen, Regungen und Hoffnungen? Wir brauchen diesen Punkt, diesen Ort, vielleicht auch diese Momente des Einsseins, damit das Leben nicht in eine Vielzahl von Einzelheiten zerfällt. Das Innerste ist das Zentrum unserer Welt, der Punkt, um den unser Tun und Streben kreist.

Ist das Innerste ein Paradies, ein von Mustern und Ornamenten umfasster Garten? Oder ist es, ganz anders, die unerklärliche Unfähigkeit, sich zu motivieren, die mir in einem Studenten begegnet, der kampflos aufgibt, weil ihm, was er tun müsste, im Inneresten widerstrebt? Ist es der ständige Zweifel, das falsche Leben zu führen, über den ich mit dem guten Freund auf der Fahrt Richtung Berge spreche? Ist es die Begegnung mit der Erschöpfung im Innersten, die einen entfernten Bekannten dazu zwingt, ein lange geplantes Fest abzusagen? Ist es das Unheimliche, das Verdrängte, die abgründige Welt des Unbewussten, die Freud entdeckt hat, und von der wir gesteuert werden, ohne es zu bemerken?

Vielleicht ist es das Sprudeln von Lust und Leben, das mir im vierjährigen Kind begegnet, als es  in einem zwei Minuten dauernden Wirbel die Stube in ein Trümmerfeld aus Barbies, Legosteinen, Holzklötzen und blinkenden und hupenden Autos verwandelt, nur um dann im nächsten Moment auf meinen Knien eine vollendete Ruhe und Konzentration beim Betrachten des Bilderbuchs mit dem Bauernhof zu finden. Bis zum nächsten Moment und zur nächsten Idee.

Ich habe keine Theorie für das Innerste. Es könnte ein Paradies sein. Es könnte die Leere sein, von der der japanische Autor des Buches über die Farbe Weiss spricht. Kenya Hara legt dar, dass der Tempel in der japanischen Religion des Shintoismus dafür gebaut ist, die Götter zum Innehalten einzuladen. Wir heften in unseren Kirchen ein Kreuz an die Wand, malen Engel ins Gewölbe, und schliessen Brot im Allerheiligsten ein. Ein schintoistischer Tempel aber ist eine Leere mit Dach. Es gibt mehr als acht Millionen Götter. Sie können alle zusammen auf dem Kopf einer Stecknadel sitzen oder einer allein kann einen Wald ausfüllen. Aber wo wären sie lieber als an einem Ort der Leere? Die Leere, der unverstellte Raum lockt sie mit ihrem unbegrenzten Potenzial für alles Mögliche. Vielleicht ist auch das das Innerste: Die Leere, die wir hegen, denn in der Lehre, aus der Leere, kann sich alles ereignen. 

Diese Leere wäre gar nicht so weit vom Paradies entfernt. Vom Himmel, der ein immenses, leichtes Nichts ist. Ein Hauch der Möglichkeiten. 

Es könnte sein. Ich weiss es nicht. Ich will es nicht festlegen, ich will, wenn ich ein Kreuz, einen Punkt oder einen Kreis dorthin zeichnen soll, wo das Innerste ist, zugleich sagen: Ich weiss nur, dass es ein Geheimnis ist.

Ivo Knill ist in Herisau im Appenzellerland zusammen mit sechs Geschwistern aufgewachsen, hat Germanistik und Geschichte studiert und unterrichtet in Bern an der Berufsmaturitätsschule Deutsch und Geschichte. Von 2005 bis 2016 war er Chefredaktor der Männerzeitung, heute Mitschreiber und Herausgeber des ERNST.

Ernst-Redaktor Ivo Knill nähert sich in der Rubrik «das Innerste» schreibend dem Kern der Dinge. ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin. In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. Mit einem Abonnement dieses Printmagazins unterstützen Sie freien, ernst-haften Journalismus, ein Magazin mit Tiefgang. (Hier können Sie ERNST abonnieren!)

Anna Pieger «Komm, wir gehen», erschienen im ERNST#9

ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin für den Mann. In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. Mit einem Abonnement dieses Printmagazins unterstützen Sie freien, ernst-haften Journalismus, ein Magazin mit Tiefgang. (Hier können Sie ERNST abonnieren!)

Berufsverkehr, alle haben es eilig, nach Hause zu kommen, nur du stehst da ganz ruhig an der Ecke und wartest auf mich, in deinem Karohemd und deiner schwarzen Jacke, die du immer zur Arbeit trägst, und hältst diese braune Papiertüte in der Hand. Zur Begrüssung küssen wir uns nicht. Wir gehen nebeneinander her und schweigen. Deine Stirn ist gerunzelt. Wir überqueren den Fluss und sagen immer noch nichts. Deine Höflichkeitsfragen interessieren mich nicht, und meine Antworten haben nur eine Silbe. Unter hellem Frühlingsgrün, das unangemessen hübsch und hoffnungsfroh an den Bäumen der Allee spriesst, frage ich dich, ob ich dir etwas abnehmen soll, und du verneinst; trägst die Tüte bis zum Hafen. Wir setzen uns ans Ufer, meine Beine baumeln über den Rand, der Teer drückt sich in meine Handballen. In das Schweigen fallen dumpfe Sätze, die stammelnd vermitteln, wie sich das anfühlt, was geschehen ist. Von den violetten Industriewolken, die von der untergehenden Sonne beschienen werden, wende ich mich ab, weil ich dir in die Augen sehen möchte beim Versuch zu verstehen, ob du mein Gesicht von Ratten zerfressen lassen würdest. Wir haben beide Orwell gelesen. Aber du brauchst keinen Grossen Bruder, vielleicht genügen auch schon deine eigenen Interessen. Meine verbale Vehemenz verunsichert dich, dennoch bewahrst du die Contenance. Zurück bei den Brücken fragst du, wie es weitergehe. Die unvermeidliche Frage, aber es geht nicht weiter. Wir laufen in Richtung Bahnhof, manchmal lachen wir und ich sortiere vergeblich Gefühle, die Schubladen passen nicht. Hungrig vom langen Gehen und Sprechen bestellen wir bei Burger King Pommes und Eis. Als wir uns verabredet hatten, hatte ich gesagt, ich wolle dich nicht in einem Restaurant treffen, weil ich nicht in einem Restaurant heulen wolle. Aber als du mir die geliehenen Bücher und die Tüte hinstreckst und endlich verrätst, was darin steckt: bröselige Maiswaffeln, glutenfreie Linsenpasta, trockenes Beerenmüsli – du nennst es: «deine Sachen» –, da weine ich dann doch. Ich entgegne dir: Das will ich nicht, dass das dasjenige ist, was bleibt, und ziehe schniefend den Rotz hoch. Die Sechzehnjährigen an den Nebentischen drehen sich zu uns um, ich versuche ihre irritierten Blicke zu ignorieren. Du schaust mich entschlossen an und sagst: Komm, wir gehen. Der erste Satz an diesem Abend, für den ich dir dankbar bin. Ich nehme die Papiertüte in meine Hand, sie fühlt sich fremd und schwer an, und bringe das Tablett zurück, wundere mich, dass meine Beine tragen. Auf dem Bahnhofsplatz umarmen wir uns zwischen sich kreuzenden Tramlinien, dann gehen wir auseinander, und ich halte die Papiertüte, deren Inhalt ich am liebsten in den Müll schmeissen würde. Mit festen Schritten gehe ich am Abfallkübel auf der Passerelle vorbei. Mein Über-Ich flüstert mir ein, dass du recht hast, dass das Cracker und Müsliflocken sind wie alle anderen und kein Symbol. Deshalb gehe ich weiter und trage die Tüte, die sich anfühlt wie Feuer in meiner Handfläche, die Strasse hinunter, bis ich zum Haus des Mannes komme, der lange vor dir da war und es immer noch ist, weil wir Kinder zusammen haben. Er soll die Nahrungsmittel haben, für ihn lässt sich ihr Gehalt in Kalorien zählen. Zitternd suche ich mit nassen Augen den Schlüssel, da kommt er aus dem Haus, aufgekratzt, mit zurechtgegeltem Haar, neben ihm eine Frau, die schon da war, bevor ich da war. Mit rauer Stimme rufe ich seinen Namen und hebe die Tüte hoch, erkläre ihm den Inhalt, drücke sie ihm in die Hand. Und bin sie los.

Anna Pieger geboren 1981 in München, sesshaft in Basel. Schreibende, Mutter von zwei Kindern. Studium an der Universität Basel. Ihre Brötchen verdient sie als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache. Ihr literarisches Schaffen umfasst Prosa und Gedichte. Im Moment schreibt sie an ihrem zweiten Roman. Mit ihrem Mentor Urs Mannhart, den sie ihm Rahmen der Literaturplattform «double» des Migros-Kulturprozents kennengelernt hat, verbindet sie die Leidenschaft für kontroverse Diskussionen über Texte und eine Vorliebe für rezenten Käse. Unterstützt von der Literaturförderung Basel-Stadt geht das Mentoring mit ihm 2017 in die zweite Runde.

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literaturblatt.ch macht ERNST, 3. Streich

ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin für den Mann (und die interessierte Frau). In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. In seinen Rubriken analysiert das vierteljährlich erscheinende Magazin mit einer Auflage von rund 3500 Exemplaren insbesondere Gleichstellungs-, Geschlechter- und Familienpolitik.

In der neusten Nummer geht es um «Prokrastination». Was nicht anderes bedeutet als aufzuschieben. «Und so tot dieses Wort auch klingen mag, so lebendig sind seine Geschichten», so Adrian Soller, der Geschäftsführer und Redaktionsleiter.

Natürlich freut mich, dass ich mit einer Rezension wieder mit ERNST mitmischen kann:

Webseite des Magazins 

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

ERNST 4 / 22

ERNST 3 / 22

ERNST 2 / 2022

ERNST 1 / 2022

ERNST 3+4 / 2021

ERNST 2 / 2021

ERNST 1 / 2021

ERNST 4 / 2020

ERNST 3 / 2020

ERNST 2 / 2020

ERNST 1 / 2020

ERNST 4 / 2019

ERNST 3 / 2019

ERNST 2 / 2019

ERNST 1 / 2019

ERNST 4 / 2018

ERNST 3 / 2018

Literaturblatt macht Ernst!

ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin für den Mann. In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. In seinen Rubriken analysiert das vierteljährlich erscheinende Magazin mit einer Auflage von rund 4500 Exemplaren insbesondere Gleichstellungs-, Geschlechter- und Familienpolitik.

Die Redaktion besteht aus einem Kern von festen Mitarbeitern und ist zudem in ein grosses Netz von freien Journalisten, Autoren und Bloggern eingebunden. ERNST wird getragen vom Herausgeberverein Männerzeitung und finanziert sich durch Abos und Inserate. Der Herausgeberverein wurde am 15. August 2005 in Bern gegründet. Sein Sitz ist in Burgdorf. Mitglieder des Vereines sind die ERNST-Macher selbst. ERNST ist aus der Männerzeitung heraus entstanden.

«ERNST macht guten Journalismus. Und das steht bei uns an erster Stelle. Wir produzieren nicht nur Content, sondern schauen hin und nehmen teil. ERNST ist dabei, wenn zwei Brüder mit dem Klappervolvo in den Osten fahren, ERNST setzt sich in die Stube zum LGBT-Paar oder zum Hausmann und ERNST diskutiert über Teilzeitarbeit und Elternzeit. ERNST nimmt das Leben eben ernst. So wie es ist. ERNST will dich nicht besser machen und er will niemandem etwas beibringen. Denn ERNST weiss nicht viel, ist aber wissbegierig. ERNST ist unabhängig, tritt aber für die Würde des Menschen ein, er ist Anwalt aller Widersprüchlichkeiten und Brüche, die das Leben ganz machen. Mit ERNST wird das Leben nicht besser, aber es gewinnt an Farbe, Volumen und Glanz. Wer ERNST abonniert, bekennt sich. Wer ERNST abonniert, will mehr als publizistischen Massenfood. Wer ERNST abonniert, will einen Journalismus, der lebt, und der inspiriert, weil er lebt. Und, im ernst: ERNST macht Freude.»
Die Redaktion, im März 2017

Seit August 2018 ist literaturblatt.ch ein Teil des erweiterten Redaktionsteams. Ich freue mich auf die Zusammenarbeit und freue mich, wenn zuweilen Berichte, Rezensionen und andere Texte Niederschlag in einem gedrückten Magazin finden.

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