Ivo Knill «Der Schneeleopard» aus dem ERNST-Magazin

Ivo Knill reist im Kopf durch den Himalaya.

Es ist vier Uhr nachmittags. In meinen Augen spüre ich den Schmerz des gleissenden Lichtes. Ich folge Schritt um Schritt dem Weg, den mein Wegführer vor mir geht. Ich richte meinen Blick auf den Boden, um sicheren Tritt zwischen den kantigen Steinen zu finden. Ich sehe die Grasbüschel, die karge Erde, die groben, mehr als faustgrossen Steine. Ich hebe den Blick. Ich sehe den Rucksack des Bergführers mit dem aufgeschnallten Zelt und der Isomatte. Mein Rücken lässt das Tragen nicht mehr zu, auch meine Kondition nicht. Hinter mir geht der junge Sherpa, der mein Gepäck trägt. Sooft ich mich umdrehe, lächelt er mir aufmunternd zu. Ich bewundere seine Stärke und sein freundliches Wesen. Heute ist ein schöner Tag. Kein Regen, offener Himmel, wenig Wind. Schwer steige ich zwischen den schwer bepackten jungen Männern bergan.
Wir suchen den Schneeleoparden.
Wir steigen die Flanke des Annapurnas hoch. Seine Gipfel sind Tausende von Metern über uns, ihre schneebedeckten Flanken fallen steil ab. Mehr als tausend Meter unter uns liegt das Tal.
Der Schneeleopard ist ein scheues Tier. Das helle Tageslicht meidet er. Seine Zeit ist die Dämmerung des Morgens und das Zwielicht des Abends. Mittags und nachts schläft er. Wir folgen seinem Rhythmus. Noch in den letzten Nachtstunden steigen wir vom Lager auf vier- und fünftausend Meter hoch. Mit der Morgendämmerung erreichen wir die Höhen, in denen das scheue Tier lebt. Eine Stunde haben wir zur Beobachtung. Wenn der helle Tag anbricht, marschieren wir weiter. Wir machen Pause, schlafen ein wenig und setzen unseren Marsch fort. Schritt für Schritt.
Viele sind auf dem Leopardentreck unterwegs. Wenige bekommen ihn zu Gesicht. Die andern Leopardensucher, die weniger Kundigen, die Lärmigen, die Bunten und Lauten, die Eiligen und Ungeduldigen treiben den Leoparden in die Höhe. Wie er fliehen wir ihrem Lärm und steigen in die kargen Höhen.
Der Mann, der vor mir geht, ist kein gewöhnlicher Sherpa. Er folgt nicht wie die Anderen blossen Gerüchten um mögliche Aufenthaltsorte des Leoparden. Er liest die Spuren im Schnee und in der weichen, vom Schmelzwasser aufgelösten Erde. Er findet Kot und Haare. Er deutet den Flug der Vögel. Nur weil ich mich lange im Land aufgehalten habe, konnte ich ihn engagieren. Trotzdem kann es sein, dass wir ohne Erfolg bleiben.
Ich atme langsam. Die Haut ist spröde und verschwollen. In der Nacht liege ich schlaflos. Der Puls beruhigt sich nie. Manchmal öffne ich das Zelt und blicke in den überwältigenden Sternenhimmel. Er lässt mich fühlen, wie klein und unbedeutend ich bin Die Tage und Nächte meines Lebens sind nichts in der Unendlichkeit der Zeit, die alles hervorgebracht hat – das All, die Galaxien, unser Sonnensystem, die Erde, auf der wir uns bewegen und die Berge, zwischen deren Gipfeln wir unterwegs sind. Schlaflos versenke ich mich in die Tiefen des Universums.
Jetzt setze ich Fuss um Fuss auf den steinigen, unsicheren Grund. Das einzige, was wirklich zählt, ist der Augenblick des Bewusstseins. Der Augenblick, in dem sich der Hauch des Lebens zeigt. Denn nichts anderes sind wir als ein kurzer Hauch. Nichts als diesen einzigen Augenblick haben wir der Unendlichkeit des Universums entgegenzusetzen. Denn sie kennt kein Jetzt, das sich vom Immer unterscheiden würde. Ich höre das Blut in meinen Ohren pulsieren. Der Augenblick. Leben ist jetzt. Ich stütze mich auf den Stock.
Der Himmel ist jetzt glasklar. Das Licht wird dünner, reiner, kostbarer. Im Tal sammeln sich die Schatten. Sie werden dichter, während sich die Gipfel in ein erst zartes und dann glühendes Rot kleiden. Das ist die Zeit. Der lodernde Untergang des Tages. Götterdämmerung. Ich vergewissere mich, dass die Kamera richtig eingestellt ist. Ich muss sie mit einem einzigen Handgriff nach oben ziehen können, im Hochziehen muss ich sie einschalten, den Deckel vom Objektiv nehmen und den Sucher ins Auge fassen. Es muss schnell gehen, denn der Schneeleopard ist scheu.
Nichts braucht der Leopard, um hier oben zu leben. Sein Fell schützt ihn vor dem gleissenden Licht der Sonne und der Kälte der Nacht. Wo wir uns schwerfällig bewegen und Berge von Material mit uns schleppen müssen, um nicht zu verhungern, zu erfrieren, zu verdursten und an Schmerzen zu leiden, bewegt sich die Katze der Wildnis frei, ohne Last, geschmeidig, und leicht. Nichts an ihr ist überflüssig. Alles an ihr ist Unbändigkeit, die sich scheu versteckt. In mir glüht das Verlangen, diesem einzigartigen Wesen zu begegnen.
Wir sind ihm nahe. Wir haben frischen Kot und frische Spuren gefunden. Hinter dem Busch könnte die Wildkatze sich verbergen. Sie könnte sich in eine Kuhle ducken. Es könnte sein, aber es ist nicht gewiss, dass wir heute den Schneeleoparden zu Gesicht bekommen.
Wenn ich ihn sehe, Auge in Auge: Das wird der Moment sein: Das Aufblitzen des Lebens im Moment. Nichts anderes. Das Jetzt des Lebens, frei, ungebunden, unzähmbar gegen ein Universum der Steine und eine Ewigkeit der Zeit.
Ich bin bereit. Der Sherpa macht ein Zeichen. Wir ducken uns.
Kein Geräusch! Keine Bewegung!
Jetzt.

«Nichts als einen Augenblick haben wir der Unendlichkeit des Universums entgegenzusetzen.»

«Leben ist immer jetzt.»

Ivo Knill ist 1964 als sechstes von sieben Kindern in Herisau geboren und aufgewachsen. Nach dem Studium in Germanistik und Geschichte arbeitet er als Lehrer an der Berufsmaturitätsschule der gibb in Bern. Er ist Vater von zwei Kindern. Er tritt mit Sprach- und Textperformances auf, schreibt literarische und journalistische Texte und sammelt auf Strassen und Plätzen Erzählungen vom Leben. Von 2005 bis 2016 ist er Chefredaktor der Männerzeitung. Seit 2017 schreibt er für das Nachfolgemagazin ERNST. 2017 eröffnet er das Schreibhaus Burgdorf und empfängt und begleitet dort Gäste mit unterschiedlichen Schreibvorhaben.

Das Schreibhaus Burgdorf: schreibhaus.blog

Das Burgdorfer Biografische Institut: erzaehlmal.ch

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