Klaus Merz und Sandro Zollinger «LOS»

Zusammen mit dem Bildkünstler Sandro Zollinger tourt Klaus Merz mit seiner 2005 erschienen Erzählung „Los“ durchs Land. „LOS“ wird zu einem mehrdimensionalen Sprach- und Bilderlebnis, das mit Hilfe von Virtual Reality, 3D-Brillen in ungewohnte Dimensionen führen will.

Erstaunlich genug, dass sich ein Dichter, der sich sonst so sicher und gewandt alt bewährter Kunstformen bedient, ein solches Wagnis auf dem Rücken digitaler Technik eingeht. Und weil ich dem sonst so besonnenen Dichter keine Experimente zutraue, die den Absturz mit einkalkulieren, freue ich mich auf einen akustisch-visuellen „Kunsttripp“ der Sonderklasse.

Spät im Herbst bricht Thaler auf eine Bergwanderung auf, von der er nicht wieder zurückkehrt. Es beginnt eine aufgeregte Suchaktion nach dem Verschwundenen. Aber selbst Hubschrauber, Passbilder im Fernseher oder Hellseher bringen ihn nicht zurück. Er bleibt verschollen, verschwunden – für die Zurückgebliebenen ohne Hoffnung – höchstens so wie jene Verstorbenen, denen man in leicht verschobener Perspektive mit einem Mal zu begegnen glaubt. Mit dem leisen Verdacht, dass sich da jemand aus dem Staub machte, der die Absicht lange mit sich getragen hatte, der nicht einfach verschwand, sondern verschwinden wollte.

„Los“ ist das knappe Erzählen eines Lebens, in dem der Protagonist gar nie richtig angekommen zu sein schien, von einem Mann, der sich noch in den letzten Monaten vor seinem eigenen Verschwinden mit dem Sterben seiner Mutter auseinandersetzte, einen eigentlichen Bericht verfasste, ein Protokoll einer zunehmenden Entfernung.
 Thaler spürte, dass in ihm etwas wuchs, das nicht zu stoppen war. Und als ihm ein Arzt bestätigt, was er in seinem Bauch querliegen spürt, als Zeichen ihm bestätigen, wird unumkehrbar, was enden wird, erst recht als ein Schwan vom Himmel fällt.


Mit Thalers Pensionierung ist nicht eingetroffen, vorauf viele hoffen, weder Freiheit noch ein Stück unverbaute Zukunft. Schon gar nicht nach einer misslungenen Reise mit einer Freundin in den Grand Canyon. Thaler ist sich nicht sicher, ob all die Sehnsucht nach Zweisamkeit nur Verzweiflungen, dem Zweifel entspringt. Weder in der Ehe seiner Eltern, noch in der Tatsache des frühen Todes seines ihm so nahen Bruders kann Thaler die Bestätigung finden, dass es jene tiefe Verbundenheit gibt, nach der er sich stets sehnte. War der Gang in die Berge letzte Konsequenz? Eine Herausforderung an das Schicksal?

Klaus Merz «Los», Haymon, 2005, 96 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-85218-466-1

Thaler hat sich verloren. Er geht nicht nur einfach „los“, er lässt „los“, bindet sich „los“. Selbst der Rückblick auf ein Leben als Lehrer für Kultur, Sprache, Philosophie gibt ihm nicht jenen Trost, jene Hoffnung, mit dem wirklichen Leben je verschmolzen zu sein. Alltag und Routine machten ihn stumpf. Kann ein Ultimatum an das Leben der Grund für jene Wanderung im November gewesen sein? Er geht auf eine Reise, weil Reisen das einzige ist, was ihm ein Zuhause gibt. Auf eine Reise an einen ungewissen Ort.

In nicht einmal hundert Seiten öffnet Klaus Merz eine Welt. Er leuchtet sie nicht aus. Er analysiert nicht, er ordnet nicht ein. „Los“ sind lose Bilder eines Lebens, die ich als Leser selbst zusammenfügen muss, Facetten eines Lebens, die nur erahnen lassen, was wirklich passierte. Wichtig in Klaus Merz Erzählung ist aber nicht das Warum, sondern das Wie. Das Wie seines Erzählens, wie er es schafft, mit wenigen Strichen, mit wenig Farbe jene Tiefe zu schaffen, die sein verdichtetes Schreiben auszeichnet. „Los“ ist ebenso poetisch wie lyrisch, ebenso verdichtet wie offen. „Los“ ist eine jener literarischen Perlen, für den man den stillen Dichter nicht genug würdigen kann!

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, zählt zu den prägenden Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und mit renommierten Preisen im gesamten deutschsprachigen Raum ausgezeichnet.

Sandro Zollinger, Buch & Regie, geboren 1975 in Arosa, studierte nach seiner Ausbildung als Treuhänder Film- und Medientheorie in Berlin. Seit 2004 arbeitet er als unabhängiger Filmschaffender und Zukunftsforscher. Er ist Mitinhaber von «Montezuma». In seinen mehrfach ausgezeichneten Arbeiten beschäftigt er sich eindringlich mit der Suche nach innovativen Erzählformen und neuen Perspektiven.

Roman Vital, Montage & Regie, geboren 1975 in Arosa, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Montage und Dokumentarfilm. Seit 2006 arbeitet er als freier Produzent, Regisseur und Filmeditor in Zürich. Er ist Inhaber von «Turaco Filmproduktion». Seine mehrfach preisgekrönten Arbeiten setzen sich nachdrücklich mit gesellschaftlichen Themen auseinander.

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«20/21 Synchron» Silvia Tschui, Klaus Merz und Texte von Helen Meier und Raphael Urweider

Charles Linsmayer veröffentlichte mit seinem gewichtigen Lesebuch «20/21 Synchron» nicht nur einen persönlichen Überblick über die Schweizer Literatur der letzten hundert Jahre, sondern mit jeder von ihm verfassten Kurzbiographie eine Liebeserklärung an die Literatur der jeweiligen Dichterinnen und Dichter!

Im Gespräch zwischen Moderator Peter Surber und Charles Linsmayer konnte sich der Fragende die Bemerkung nicht verkneifen, warum denn so gewichtigen Stimmen aus der Gegend wie jene von Zsuszanna Gahse, Michelle Minelli oder Christian Uetz der Eingang zu diesem Buch verwehrt blieb. Charles Linsmayers sympathischer Erklärungsversuch bewies wie all sein Tun seinen Respekt vor der grossen Vielfalt der hiesigen Literaturszene. Hätte er all jene in den Band mitgenommen, die es verdient hätten, wäre aus dem Band ein Koloss geworden. Seine Auswahl war eine subjektive Wertung, aber niemals ein Ausschliessen. So wichtig es ihm war, Stimmen aus dem Vergessen zu tragen, so wichtig war ihm die Viersprachigkeit, selbst sie Ausgewogenheit der Geschlechter («Das muss heute ja so sein.»).

«Es gab schon Veranstaltungen zu meinem Buch «20/21 Synchron» in Bern, Basel, Zürich und St. Gallen. Aber so geglückt wie der Abend im heimeligen Dachgeschoss des Literaturhauses Thurgau war keine von ihnen. Es stimmte einfach alles: die mit Emphase vorgetragenen Beiträge von Silvia Tschui und Klaus Merz, die zu ihren eigenen Texten noch je einen von Raphael Urweider und Helen Meier gestellt und gelesen haben. Die musikalische Begleitung durch den Gitarristen Philipp Schaufelberger und die Lieder, die Silvia Tschui aus ihrem Text herauszauberte und zur Freude des Publikums gekonnt und mit Verve vortrug, und nicht zuletzt das Gespräch, das Peter Surber als Moderator mit mir führte und das mir Gelegenheit gab, meiner eigenen Freude über das geglückte Buch und die Aufnahme durch die beteiligten Autorinnen und Autoren Ausdruck zu geben.  Auch das Publikum, das den Saal bis zum letzten Platz füllte, schien in die schöne Bewegung, die das Buch unter den Anwesenden auslöste, mit einbezogen zu sein, und am schönsten für mich war wohl Gallus Freis Erklärung in seiner Begrüssung, dass man das Gefühl, das mich mit der Schweizer Literatur verbinde, Liebe nennen müsse. Der Abend vom 10.März 2022 in Gottlieben wird mir jedenfalls für immer in schöner und dankbarer Erinnerung bleiben.» Charles Linsmayer

«20/21 Synchron» ist kein Kanon der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Charles Linsmayer, der als Autor und Herausgeber von mehr als 120 Buchveröffentlichungen über die Jahrzehnte ein Leuchtturm in der Schweizer Literaturszene wurde, wählte für diesen 40. Band der Reihe «Reprinted by Huber» seine ganz persönlichen Favoriten, all jenen, denen er in seinen unzähligen Begegnungen, seien sie nun persönlich oder schriftlich, nahe gekommen war. 

Und nicht zuletzt ist «20/21 Synchron» ein Gegenentwurf zur «um sich greifender Lesemüdigkeit und dunkler Prognosen vom Ende des Buchzeitalters und dem Heraufziehen einer digital unterfütterten Jekami-Unterhaltungskultur». Nicht nur Charles Linsmayer, auch Silvia Tschui und Klaus Merz vermochten im Gespräch ihre pessimistische Sicht auf die Zukunft des Buches nicht zu verbergen. Der beinahe volle Veranstaltungssaal des Literaturhauses an diesem Abend konnte das bisschen nötige Hoffnung nicht wecken, denn junges Publikum ist rar.

Besonders beeindruckend war «Oben», der Text von Helen Meier, der grossen Dichterin, die im Februar 2021 ganz still und leise aus dem Leben schied, die mit ihren Erzählungen und Romanen eine ganz Grosse der Schweizer Literatur wurde und mit der Charles Linsmayer in den letzten zehn Jahren ihres Lebens eine tiefe Freundschaft verband. Mit der Stimme von Klaus Merz hörte man ihr beim Schreiben zu.

Wie sehr Charles Linsmayer seine Liebe zur Literatur mit sich trägt, wurde an einer Lesung aus seinem Lesebuch in St. Gallen zusammen mit Ilma Rakusa sichtbar, als der Herausgeber mit den Tränen zu kämpfen hatte. Nicht nur weil ihn der Text berührte, sondern die Intensität der Sprache und die vollendete Komposition der Geschichte.

«Wie schön der gestrige Abend zur Feier von Charles Linsmayers überwältigendem Werk «20/21 Synchron» im schönen Gottlieben doch war! Ein neugieriges, offenes Publikum, und ein Veranstalter, der sich auf Experimente einlässt. Man kann sich mehr nicht wünschen. Danke!» Silvia Tschui

Silvia Tschui wird zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger das traditionelle Sommerfest in und ums Literaturhaus Thurgau am 20. August 2022 mitgestalten. Reservieren Sie sich den Termin!

Beitragsbilder @ Philipp Frei

Lesebuch für KomplizInnen

100 Jahre, 135 Autorinnen und Autoren: Charles Linsmayers Anthologie «20/21 Synchron» besichtigt die viersprachige Buchschweiz.

von Peter Surber, Kulturredaktor

«Boden unter den Füssen zu gewinnen, flüchtet man in Erinnerung, sieht sich, wie Lenz, der den 20. Jänner durchs Gebirg ging, als kleiner Bub mit Vater nach dem Vesperbrot, wenn der diffuse Tag unmerklich in die Nacht überzukippen beginnt, vom Dorf durch den frischen Schnee die Aufforstung hinauf zum Glaspass stapfen…» – ein erster Satz, der hier noch lange nicht zu Ende ist, ein typischer Hänny-Satz. Reto Hänny, 1947 im bündnerischen Tschappina geboren, hat vor wenigen Tagen den Schweizer Grand Prix Literatur 2022 zugesprochen erhalten. Darum haben wir ihn als ersten gesucht im Lesebuch zu hundert Jahren Schweizer Literatur, das Charles Linsmayer herausgegeben hat. Hänny ist natürlich drin – aber nicht mit einem Auszug aus seinen Romanen mit den rabiaten Kurztiteln Ruch, Flug oder Sturz, sondern mit einem original für das Lesebuch geschriebenen Text: Glaspass.

Von «überraschend vielen» noch lebenden Autorinnen und Autoren habe er solche bisher unveröffentlichten Beiträge für die Anthologie erhalten, schreibt Linsmayer im Nachwort und bedankt sich für das «intensive Jahr» mit Schweizer Literatur, das ihm die Gespräche mit den Angefragten und die Arbeit am Buch beschert hätten.

Kanon und Entdeckungen
Eine solche intensive Entdeckungsreise durch Regionen, Themen und Jahrzehnte bietet das Buch auch den Leserinnen und Lesern. Es schlägt einen gewaltigen Bogen von 1920 bis 2020, aber geordnet ist es nicht chronologisch, sondern thematisch in kleinen, eher ad hoc gebildeten als systematisch wirkenden Gruppen. «Frühe Erfahrungen» stehen am Anfang, es folgen Texte über die Liebe, über «Väter und Mütter», «Freundschaften», «Städte und Landschaften», die Schweiz wird verhandelt oder der Tod, Schicksale «Auf der Schattenseite» oder Erlebnisse «Jenseits des Realen», Witziges steht neben Tragischem – ein beinah unerschöpfliches Kaleidoskop von Stimmen und Stimmungen.

Walser, Hesse, Ramuz, Hohl, Inglin und so weiter: Die Klassiker sind drin, die Grossschriftsteller von Frisch bis Dürrenmatt bis Burger bis Nizon, die erste Autorinnengarde von Annemarie Schwarzenbach, Alice Rivaz, Amélie Plume, Agota Kristof, Luisa Famos bis Helen Meier. Linsmayer hat den (inoffiziellen, aber über ein Jahrhundert herauskristallisierten) Kanon des viersprachigen Literaturschaffens intus und teils mitgeprägt: Er erinnert auch an Namen, die vermutlich vergessen wären, wenn er sie nicht selber seit den Achtzigerjahren in den 30 Bänden der Reihe «Frühling der Gegenwart» oder in der vierzigbändigen Edition «Reprinted by Huber» ans Licht geholt hätte: Francis Giauque, Cilette Ofaire, Monique Saint-Hélier, Kurt Guggenheim…

Man kommt mit Aufzählen nicht nach. Die Jüngsten? Arno Camenisch, Dorothee Elmiger, Meral Kureishi, Anna Stern, alles Achtzigerjahrgänge. Die Ostschweiz? Neben Elmiger, Meier und Stern sind Regina Ullmann, Niklaus Meienberg, Eveline Hasler, Peter Stamm und Peter Weber in Linsmayers «Long List aufgenommen. Dagegen fehlen wichtige regionale Stimmen wie Christoph Keller, Christian Uetz, Christine Fischer, Renato Kaiser, Lara Stoll und andere.

Generell sind Spoken-Word-Stimmen rar, wohl dem ausdrücklichen Lesebuch-Charakter geschuldet. «Vollständigkeit wurde nicht angestrebt», schreibt Linsmayer gleich selber im Nachwort – bei schweizweit rund 2500 Schriftstellerinnen und Schriftstellern wäre das auch ein Ding der Unmöglichkeit. Die Auswahl habe sich aus seinen Vorlieben und Erfahrungen ergeben. Begründungen, Gewichtungen und Tonalitäten, Wahlverwandtschaften und Kontraste schält das Nachwort heraus, und eine unübertreffliche Leistung sind die 135 Kurzbiografien, je eine Seite lang, die alle im Buch vertretenen Autorinnen und Autoren samt Bild vorstellen.

Vögel und Pilze
Am besten folgt man also als Leser ebenfalls seinen Vorlieben. Findet zum Beispiel Dorothee Elmigers Lockdown-Reflexion Schlafprotokoll, verfasst für eine Produktion am Zürcher Schauspielhaus 2020. Oder einen gespenstisch apokalyptischen Text mit dem Titel Vögel, frittiert der Zürcher Romanautorin Silvia Tschui. Darin ist die Welt, überhitzt und zu Tode ausgebeutet, am Ende, die Farben verloren, der Boden ausgetrocknet, die Wörter vergessen, «und man hatte nie eine Chance». «Verhängnis und Vision» heisst das Kapitel, in dem auch eines der wenigen Gedichte im Band zu finden ist, Raphael Urweiders tropische Trauer. Zur Aufheiterung folgt ein paar Seiten weiter Peter Webers Pilzöffentlichkeit, in der die Hallimasche das letzte Wort haben.

In einer kulturpessimistischen Schlussbetrachtung warnt der Herausgeber vor der «digital unterfütterten Jekami-Unterhaltungskultur globalen Zuschnitts», die das gedruckte Wort zunehmend «in eine Randexistenz» dränge. Er hofft im Gegenzug auf ein Lesepublikum, das, statt «Trends und Moden» zu folgen, dem Geschriebenen wieder mehr Zeit widmet und «zu neugierigen, aufnahmebereiten, geduldigen Adressaten und echten, begeisterungsfähigen Komplizen der Schreibenden» wird. Sein Lesebuch will dazu einen Beitrag leisten.

Dieser Bericht erschien in der Märzausgabe der Kuturzeitschrift Saiten.

Bei der Veranstaltung vom 10. März im Literaturhaus Thurgau sind Klaus Merz uns Silvia Tschui mit auf der Bühne. Begleitet werden Sie vom Gitarristen Philipp Schaufelberger. Moderation Peter Surber

Silvia Tschui, geb. 1974 in Zürich, studierte Germanistik und Grafikdesign. Ihr erster Roman „Jakobs Ross“ war in der Schweiz ein preisgekrönter Bestseller. Ihr aktueller Roman „Der Wod“ erschien bei Rowohlt.
Klaus Merz, geb. 1945, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018).

Klaus Merz aus «firma»

Wir führen
nur sporadisch Buch.
Es geht um die Denk-
würdigkeiten.

 

20. Juli 1968

Fast dämmert es schon unter den hohen Bäumen der Badeanstalt, die ihre Kronen mit den nahen Friedhofsbäumen verschränken. Seit je schwebt leichter Karbolineumgeruch, vermischt mit einem Hauch von Urin, über den grünen Wassern. Frau Droz macht Kasse und räumt das Leckereienkabäuschen auf, sie will heim, läutet mit ihren Schlüsseln. Während der junge Heilsarmeeoffizier zu einem letzten Überschlag vom Einmeterbrett ansetzt, greifen wir entschlossen nach den Kugelschreibern und setzen unsere Signaturen unter den Mietvertrag des Gebäudes, der schon seit dem Morgen in doppelter Ausführung vor uns auf den Badetüchern liegt: Die Firma steht.

 

7. August 1969

Kurz vor Feierabend versetzt Alexander, unser kaufmännischer Lehrling, die junge Belegschaft in Unruhe: Es gebe kein richtiges Leben im falschen, habe er über Mittag in einem Nachruf gelesen. Und er fragt grübelnd nach, ob es das „richtige“ Leben vielleicht gar nicht gebe. Da unser Dasein schon von Grund auf „falsch“ angelegt sei: sodass es eigentlich nur das falsche im falschen geben könne. Was ja dann aber, minus mal minus ergibt plus, durchwegs wieder zum „richtigen“ führen müsse. Unsere Belegschaft atmet auf, hörbar.

 

2. September 1971

Im Frühjahr entsteht neben dem florierenden Betrieb eine Minigolfanlage, achtzehn Bahnen, was bei den Angestellten natürlich stets für unliebsame Ablenkung sorgt und auch wochentags „viele Sportbegeisterte samt Familie ans Schlageisen ruft“, wie der Berichterstatter des Tagblattes elegant festzuhalten weiß. – Am Samstag, es nieselt, ziehen wir das Milchglas hoch, bis über den Scheitelbereich.

 

16. Mai 1972

Wir werden durchleuchtet. Der Wagen der Frauenliga fährt vor – Schirmbild – und macht uns alle ein wenig krank. Zuerst sind die Männer an der Reihe, sie machen sich schon im Freien oben frei. Einatmen. Still- halten. Ausatmen. „Aufatmen“, sagen die Raucher und langen noch schnell nach einem Sargnagel, bevor sie wieder an die Arbeit gehen. „Nach dem Durchleuchten der Damen riecht es jeweils weniger streng im Wagen als bei den Herren, Angstschweiss halt“, sagt der Fahrer, er raucht eine mit. „Die strahlende Röntgenschwester hat uns ja alles ganz leicht gemacht“, sagen wir, versenken die Kippen im  Abwasserschacht.

 

19. Januar 1973

Irina, die wir kurz nach dem Scheitern des Prager Frühlings bei uns aufgenommen und dann gern in der Firma behalten haben, trägt ein Medaillon um den Hals. Wer sich denn unter dem feinen Golddeckel verstecke, wollen wir immer wieder von ihr wissen. Sie widersetzt sich den Neckereien konsequent, „zieht den Eisernen Vorhang zu“, sagt Graber und erschrickt, als Irina ihm ihr Kleinod vor die Nase hält: Es ist ein Bildchen des jungen Jan Palach, der sich aus Protest gegen den sowjetischen Einmarsch auf dem Wenzelsplatz selbst angezündet hat. Vier Jahre zuvor, auf den Tag genau.

 

19. April 1975

Wäre der Geschlechtsverkehr nicht offensichtlich in geschäftseigenen Räumen vollzogen worden, wir hätten darüber hinwegsehen können: Die beiden Beteiligten zeigen ihre erhitzten Gesichter, dahinter unscharf das Firmenlogo. (Vom Fotografen, der das Bild kurz nach Neujahr ans Schwarze Brett gepinnt hat, keine Spur.) Wir haben Stellung beziehen müssen und halten fest: Es ist Liebe. Unterm Reisregen der gesamten Belegschaft verlässt das Hochzeitspaar kurz vor Mittag guter Hoffnung die Kirche.

 

2. April 1978

In unserem Firmenkeller wird getrommelt und geschwitzt. Mittwochnachmittags ist schulfrei, Kambers Sohn hat sich mit drei Freunden und ihrem Schwermetall zwischen den Kartoffelhorden eingerichtet. Von fern nur erahnen wir Obergeschossigen, was es heisst, wenn einem Hören und Sehen vergehen soll. „Gezinst“ wird auf den 1. Januar, ein Gratiskonzert für die Belegschaft, so steht’s im „Vertrag“. Noch wissen wir nicht, ob wir uns darauf freuen oder davor fürchten sollen.

 

7. Februar 1980

Hutlose Lieferanten werden nicht empfangen! Das Emailschild dräut über dem Geschäftseingang unseres einzigen Untermieters, dem permanent klammen Hutfabrikanten mit seinen sieben Kindern. Aus Solidarität zu ihm und seiner kleinen Belegschaft, der zarten Modistin aus Graz, entschliessen wir uns, über der Tür des eigenen Betriebes eine entsprechende Warntafel anzubringen: Herzlose Lieferanten werden nicht empfangen. Der Nachbar dankt es uns mit einem Allwetterhut.

 

7. Januar 1981

Mit ihrem nigelnagelneuen Schweizer Pass in der Jackentasche hat unsere lebensfrohe Irina ihre erste, lang ersehnte Reise in die einstige Heimat angetreten. Anfangs Woche ist sie wieder aus Pilsen zurückgekehrt. Sie habe ihr Geburtshaus betreten, sei vorgegangen bis zum Wohnzimmer: „Auf der Ofenbank sitzt Grossvater, Onkel Pepin auf der Couch, Grossmutter hantiert wie immer in der Küche.“ Beim Erzählen steigen Irina Tränen in die Augen: „Aber ich“, sagt sie, „bin eine andere geworden. Eine Fremde.“

 

11. Juni 1981

„Zweierlei Blunzen. Und dann geschnetzeltes Herz, hat unser neuer Kunde beim Mittagessen im Salzamt in Auftrag gegeben, während mir in meiner kulinarischen Unentschlossenheit nur das Schnitzel (aber was für eines!) in den Sinn gekommen ist.“ – Fast habe er sich vor dem Schlachtverständigen ein wenig geschämt. Überhaupt sei es einer seiner anregendsten Kundenbesuche seit Jahren gewesen, berichtet Karl, der langjährige Aussendienstmitarbeiter, bevor er uns die Bestellliste der Wiener Firma, korrekt wie immer, durchfaxt.

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005, Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012) sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018). Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden. 2020 ist mit der Erzählung «Im Schläfengebiet» ein Sonderdruck in bibliophilem Gewand und mit einem Begleitwort von Beatrice von Matt erschienen.

Beitragsbild © Fotowerk Aichner

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Januar – Mai 2022 steht!

Mit grosser Vorfreude präsentiere ich das neue Programm von Januar bis Mai 2022 im Literaturhaus Thurgau. Klar bleibt ein Vorbehalt, die leise Angst, dass uns wie im ersten Quartal 2021 ein Strich durch die Rechnung gemacht werden könnte. Aber wäre die Zuversicht nicht da, dann würden sich all die ProgrammmacherInnen nicht die Mühe machen, der Kultur einen Bühne zu bieten.

Das neue Programm bietet viel: Prosa und Lyrik, Musik und Installation, Ausstellung und Diskurs! Bleiben Sie uns auch in schwierigen Zeiten treu, treu dem schmucken Haus am Seerhein aber auch all den Kunstschaffenden, denen Orte wie das Literaturhaus Thurgau Lebensader ist!

Sämtliche Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

20 Jahre Bodmanhaus Gottlieben: Literaturhaus Thurgau

Das Bodmanhaus in Gottlieben, die Stiftung, das Literaturhaus Thurgau feiern «20 Jahre Literaturhaus»! Nach Zürich und Basel war Gottlieben das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Was damals mit Sicherheit Mut brauchte, ist heute Institution und ein Ort mit besonderer Strahlkraft!

„Härzlichi Gratulazio dum Bodmaahüs va Gottliäbu, dum künftigu Literaturhüs vam Kantoo Thurgau. Ja, hei wär du Biächär witärhi Sorg, will was weeri iischi Läbu ooni Biächär: Woll wiän äs zärtrikkts Gornischo ooni Ragglett. Heit sus güät! Tschau zämu!“
Rolf Hermann, Schriftsteller

Zu einem Jubiläum gehören neben einem Fest GratulantInnen. So versammelt sich in diesem Bericht ein ganzer Chor von unterschiedlichsten Stimmen, die genau wissen, wie wichtig ein Literaturhaus als Kultur- und Identivikationsort ist:

«Ich habe auf meinen Lesereisen viele Literaturhäuser kennengelernt, mondäne wie in München oder Frankfurt, moderne wie in Basel oder Innsbruck, kleine, gemütliche wie in Kiel oder Oldenburg, Häuser, die Treffpunkte für die Literaturszene waren wie in Stockholm oder Istanbul, aber das Bodmanhaus hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Nicht nur als ein Haus des Lesens, sondern auch als eines des Schreibens. Immer wieder habe ich mich hier eingemietet und an meinen Texten gearbeitet, an diesem stillen und doch nicht abgelegenen Ort, der Literatur nicht nur ausstellt, sondern auch ihre Entstehung ermöglicht. Und was Schöneres kann ein Literaturhaus tun.»
Peter Stamm, Schriftsteller 

„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben geworden und gewesen in den letzten zwei Dekaden: für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Ein Gruss. Ein Dank. Eine Gratulation. Für engagiertes Wirken im Zeichen von Buch und Schrift, von Schreiben.
Die Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben war immer beides.
Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.
Das wurde im Bodmanhaus gelebt – 20 Jahre, mit Engagement von vielen Einzelnen (ihre Namen mögen bleiben und genannt werden), mit jener Leidenschaft, die das Besondere schafft, mit jener Menschlichkeit der Begegnung, die bewegt und in Erinnerung bleibt.
All das möge aufgehoben sein im neuen Literaturhaus Thurgau, ein Ort von Geheimnis und Ankunft, von Begegnung und Gespräch, von erfüllten Augenblicken in denen die Zeit stillsteht: gestundet in der Ahnung von Zuhause-sein, das wir nach Novalis immer suchen, von Heimat vielleicht.“
Urs Faes, Schriftsteller

In der Schweiz existieren heute sechs Literaturhäuser, wenn auch nicht alle in der gleichen «Qualität», mit der gleichen Veranstaltungsdichte oder ähnlicher Tradition: 
das Literaturhaus Zürich, seit 1999, von einer grossen Bank ebenso grosszügig unterstützt, mit über 100 Veranstaltungen pro Jahr mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein,
seit 2000 das Literaturhaus Basel mit ähnlich hoher Veranstaltungsdichte, mitgetragen von einer grossen Stiftung, die auch das Literaturfestival BuchBasel und die Vergabe des Schweizer Buchpreises mitfinanziert,
das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg, das seit 2004 mit einem äusserst kompetenten Team neben Veranstaltungen grossen AutorInnen einen dreimonatigen Schreibplatz im Haus bietet
und das Literaturhaus Zentralschweiz in Stans, 2014 eröffnet, gut vernetzt und mit einem überraschungsreichen Programm überzeugend.
Seit letztem Jahr wächst auch in St. Gallen das Literaturhaus und Bibliothek Wyborada, auch wenn das Pflänzchen noch jung ist.

„In einer Zeit, in der das Lesen sich dramatisch wandelt, braucht die Literatur mehr denn je ihre Lagerfeuer. Zu diesen gehören die Literaturhäuser. In ihrem Widerschein beginnen Texte erst richtig zu glimmen. Ein ganz besonderes Feuer, weil nicht in der urbanen Mitte angefacht, trägt neuerdings den Namen «Literaturhaus Thurgau». An der Kreuzung der zwei Übergänge Seerhein und deutsch-schweizerische Grenze befindet es sich in einer ganz anderen Mitte, die unsere Aufmerksamkeit genauso verdient wie der Trubel der Metropolen. Ich gratuliere dem Bodmanhaus und allen, die zu seinem Erhalt beigetragen haben, für die letzten 20 Jahre und wünsche dem Literaturhaus Thurgau eine erquickliche Zukunft.“
Jens Steiner, Schweizer Buchpreisträger 2013 und Stipendiat 2020 im Literaturhaus Thurgau

Und das Literaturhaus Thurgau?
Es hiess 20 Jahre lang «Bodmanhaus Literaturhaus Gottlieben» und darf stolz sein, in diesen 20 Jahren vielen, die im deutschen Sprachraum literarisch Rang und Name haben, eine Bühne für ihr Schaffen geboten zu haben. Wenn ich die Namen auf der langen Listen lese, schmerzen mich noch jetzt all jene, die ich aus was für Gründen auch immer versäumt und verpasst habe. Aber es sind auch «kleine Namen», Namen, die es wert sind, entdeckt zu werden, die allzu leicht von den grossen verdrängt werden. Namen, denen sich das Literaturhaus Thurgau ebenso verpflichtet fühlte und fühlt.

„Es ist ein grosser Tag, wenn man zwanzig wird. Man ist kein Teenie mehr, aber man muss auch noch nicht erwachsen sein. Man ist noch übermütig, aber man weiss doch schon zu schätzen, was vorhergehende Generationen geleistet haben. Die Welt steht einem offen, ist aber grosszügig genug, noch keine allzu hohen Anforderungen an einem zu stellen. 
In diesem Sinn wünsche ich dem Literaturhaus Thurgau, dass es auf immer zwanzig bleiben kann! Möge die Neugierde auf Literatur nie abflachen, weder auf Seiten des Publikums noch auf Seiten der Macherinnen und Macher, und mögen die Förderstellen grosszügig bleiben, ohne einengende Forderungen zu stellen. Die Literatinnen und Literaten werden es zu schätzen wissen – die jungen Übermütigen genauso wie die reifen Erfahrenen. 
Auf die nächsten zwanzig Jugendjahre in diesem gediegenen, ehrwürdigen Haus.“
Tabea Steiner, Schriftstellerin

„Das Literaturhaus Thurgau ist ein magisches Haus an einem magischen Ort. Müsste ich es einer literarischen Strömung zuordnen, zählte ich es zum magischen Realismus. Zum Geburtstag wünsche ich dem Literaturhaus ein langes, frohes Leben!“
Pedro Lenz, Schriftsteller

Aber warum mit einem Mal «Literaturhaus Thurgau»?
Nicht nur weil ein Haus zuweilen einen neuen Anstrich braucht. Auch nicht, weil das kleine feine Literaturhaus am Seerhein mit einer Tradition brechen, sich schon gar nicht von der Stiftung Bodman distanzieren will, die seit 20 Jahren alles daran setzt, dass dieses Haus gedeiht und sich weiter entwickelt.

«Ganz herzliche Grüsse von ganz im Osten nach ganz im Norden. Die Grenzregionen sind ja gern die Orte, an denen es brodelt, wo es kratzt und sich reibt und sich Feuer an der Kollision von scheinbar Unverträglichem entzündet, aus dessen Asche dann die schönste Kunst in ihrer ganzen Jungfräulichkeit und Ungeschütztheit entsteht. Ihr seid ein Ort, an den man immer mit Freuden wiederkehrt, belebt und betreut von herzlichen Menschen, und ich zweifle nicht daran, dass es euch noch weitere zwanzig und vierzig und zweihundert Jahre geben wird. Einen herzlichen Toast auf Bodmans Literaturhaus.»
Tim Krohn, Schriftsteller

Das Literaturhaus Thurgau hat allen Grund, sich mit Selbstbewusstsein in die Reihe der grossen Häuser zu hieven, auch wenn die dörflich, schmucke Kulisse eine ganz andere ist als in Zürich, Basel oder St. Gallen. Dafür aber werden die Gäste nachweislich um ein Vielfaches mehr verzückt, ihre Auftritte für sie unvergesslich.

„So wie das schöne Bodmanhaus ist auch die wertvolle Literatur: Nicht an der grossen Strasse gelegen, sondern eher fern des Rummels, letzten Endes aber doch erreichbar. Sie ist immer da, wo sich Grenzen aufheben und wir, mit der nötigen Musse, dem Näherkommen, was die Welt zusammenhält. 
Ich möchte mich feierlich in die Reihe der Gratulantinnen und Gratulanten stellen und diesem wunderbaren Literaturhaus, seinen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie allen seinen treuen Besucherinnen und Besuchern meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken. Möge das Literaturhaus noch viele schöne Jahre seine Stellung als literarisches Leuchtfeuer am Bodensee bewahren!“
 
Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Es müsste eine ganze Gegend, der Kanton selbst dieses Selbstbewusstsein entwickeln, diesen Stolz darüber, eine Perle zu besitzen, einen schlicht glänzenden Schatz, einen Ort, an dem Kunst lebendig wird, Literatur seinen Atem holt. Und für dieses Selbstbewusstsein braucht es den Namen «Literaturhaus Thurgau», gekoppelt mit der Hoffnung, dass dieses Haus an Ausstrahlung zunimmt und es nicht mehr passiert, dass durchaus Literaturbegeisterte den Namen dieses Hauses nicht einzuordnen wissen.

«Falls Literatur tatsächlich mit Poesie zu tun hat – Gottlieben i s t ein poetischer Ort. Nicht in erste Linie der Literatur wegen. Sondern von Natur aus. Des Rheins wegen, dieses kleinen Stücks sogenannten Seerheins wegen, das glücklicherweise, neben der Thur, auch noch zum Thurgau gehört. Max Frisch hat zwar nicht dieses Stück Seerhein im Sinn, sondern den Rhein bei Basel, vom Münster aus gesehen, wenn er in seinem kurz nach Kriegsende entstandenen Tagebuch, im März 1946 schreibt: 
„… der Rhein, wie er in silbernem Bogen hinauszieht, die Brücken, die Schlote im Dunst, die beglückende Ahnung von flandrischem Himmel –

Wie klein unser Land ist.
Unsere Sehnsucht nach Welt, unser Verlangen nach grossen und flachen Horizonten, nach Masten und Molen, nach Gras auf den Dünen, nach spiegelnden Grachten, nach Wolken über dem offenen Meer; unser Verlangen nach Wasser, das uns verbindet mit allen Küsten dieser Erde; unser Heimweh nach der Fremde…»
Ein nicht gleiches, aber vergleichbares Heimweh kann man verspüren, wenn man an einem schönen Sommerabend auf der Terrasse des Waaghauses sitzt und über das spiegelnde Stück Seerhein, den glänzenden Untersee hinweg die Erhebungen des Hegaus, das hügelige Land von Baden-Württemberg sieht, von dem man weiss, dass es nicht sehr weit entfernt, aber doch jedenfalls nicht mehr in der Schweiz liegt. In einem Jenseits, das im Sonnenuntergangslicht sich verbündet mit einem Verlangen in uns, das vielleicht Frischs „Heimweh nach der Fremde“ entspricht. Wobei wir nicht an fremde Länder dabei denken, sondern ein ganz und gar unpolitisches – eben poetisches Verlangen in uns erwacht nach jener schönen Fremde, jener Anderswelt, Gegenwelt, die auch die Literatur verkörpert. Ohne die wir – auch in Zeiten von Corona – nicht leben wollen, sollen und können. 
Aus diesem Grund ist das nun seit zwanzig Jahren bestehende Literaturhaus in Gottlieben vielleicht das poetischste der Schweiz. Ich danke dem alten Bodmanhaus für manche schöne Einladung und dem neuen Literaturhaus Thurgau wünsche ich viel – poetisches – Glück!»

Elisabeth Binder, Schriftstellerin und Verlegerin

Nebst vielen Zentren für bildende Kunst, Museen, Theatern, Kinos und einem Mekka für den modernen Tanz, spielen im Kanton Thurgau zwei Zentren der Literatur; die Kantonsbibliothek in Frauenfeld und das Literaturhaus Thurgau. Schon allein die Tatsache, dass das eine in der Hauptstadt wirkt und das andere, auf dem Land, an der Peripherie, dort wo sich der Kanton seinem Nachbarland hin öffnet, ist perfekte Synchronisation; Kantonsbibliothek Thurgau und Literaturhaus Thurgau. Wenn daraus eine noch intensivere Partnerschaft erwächst, ist das nur wünschenswert.

„Im ersten Moment erinnere ich mich an das Bett, auf dem ich etwas von Blanchot lese, draussen eiskalter Winter 2015, ich schreibe bei Goethe ab: «Es wird immer kälter, man mag gar nicht von dem Ofen weg», laufe durch das Dorf am frühen Abend. Dann fallen mir die Hunde im Erdgeschoss ein, riesige, zuverlässige Wächter, das Fahrrad, das ich einem Lehrling abkaufe, um damit nach Konstanz zu fahren, zu meiner Linken der stille, glänzende See. Schliesslich Emanuel von Bodmans unheimliche Kammer, überhaupt die Räume und Flure, nächtliche Lichter, wie von Geisterhand angezündet. Viel Glück zum Geburtstag, liebes Bodmanhaus!“
Dorothee Elmiger, Schriftstellerin

So feiert die Bodman-Stiftung am 20. Juni, ganz bescheiden aber mit berechtigtem Stolz. Was im Haus am Dorfplatz in Gottlieben alles passierte, wer dort in diesen zwei Jahrzehnten auftrat, das darf sich mehr als sehen lassen. Das Bodman-Haus, das nach dem Dichter Freiherr Emanuel von Bodman (1874–1946) benannt ist, lebt mehr den je. Der Dichter lebte von 1920 bis zu seinem Tod in diesem Haus. Auf Initiative der 1996 gegründeten thurgauischen Bodman-Stiftung wurde es fachgerecht restauriert und als Haus des Buches und der Literatur wieder mit Leben gefüllt.

„…In Zürich wie auch in Gottlieben durfte ich immer wieder mit Veranstaltungen – zweimal sogar mit Theaterstücken! –  zu Gast sein, und gegenüber den zwei anderen Häusern, die auf lange Zeit hinaus von den gleichen Personen geleitet wurden, fand ich es in Gottlieben schon deshalb spannend, weil immer wieder andere Persönlichkeiten die Leitung übernehmen und dem Programm wieder eine neue Richtung geben. So erinnere ich mich mit Dankbarkeit an das Wirken von Hans Rudolf Frey, aber auch an jenes von Stephan Keller, und auch bei Marianne Sax, die dank ihrem Background als Buchhändlerin und ihrer Tätigkeit als Jurorin in Deutschland eine ganze Reihe Korophäen an den Bodensee locken konnte, durfte ich ab und zu mitmachen. Nun freue ich mich sehr auf das Wirken des Amriswiler Literaturvermittlers Gallus Frei Tomic, von dem ich u.a. in «Saiten» immer wieder Spannendes gelesen habe. Es ist wunderbar, dass der Kanton Thurgau an diesem schönen Ort am Bodensee ein Literaturhaus besitzt, um das ihn viele grössere Orte in der Schweiz beneiden und dem eine erfolgreiche Zukunft mit immer wieder neuen inspirierten Leitungspersönlichkeiten und einem begeisterungsfähigen Publikum zu wünschen ist.“
Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Heute ist das Bodman-Haus wieder eine Stätte der Kultur, der Begegnung und des Austauschs, was es bereits zu Lebzeiten Bodmans war, als es in Gottlieben eine Künstlerkolonie gab. Das Bodman-Haus beherbergt Stipendiaten, bemüht sich um ein hochkarätiges literarisches Programm und bereichert im Erdgeschoss mit einer Handbuchbinderei, in der sich Sandra Merten weit über Buchdeckel hinaus um das Kulturgut bemüht.

„Das Bodmanhaus fällt mir immer wieder durch sein abwechslungsreiches und interessantes Programm auf. Ohne gutes Knowhow und viel Herzblut wäre das nicht möglich. Immer wieder staue ich darüber, wen die engagierten LeiterInnen und Programmverantwortlichen alles ins kleine Gottlieben locken. Dass diese Begegnungen schon seit 20 Jahren gelingen, ist in der Tat ein Grund zum Feiern. Ich gratuliere herzlich und wünsche dem zukünftigen Literaturhaus Thurgau weiterhin viel Erfolg!“
Katrin Eckert, Leiterin Literaturhaus Basel, das im April 20 Jahre alt geworden ist

Ich gratuliere dem Stiftungsrat, all den treuen Besucherinnen und Besuchern, den Geldgebern und den bisherigen Programmmachern. Ganz besonders bedanke ich mich bei der Stiftungssekretärin Brigitte Conrad, die sich mit Ruhe, Umsicht und grösstem Engagement seit Jahr und Tag um Literatur, Haus und Gäste bemüht. Eine Kraft, die unschätzbare Arbeit leistet!

«Landschaften wie die, in der sich das Bodmanhaus befindet, hat man früher ‹gesegnete› genannt, weil das Zusammenwirken der Naturgegebenheiten und der 2000jährigen Kultivierung der Natur etwas hat entstehen lassen, das man nur als Schönheit bezeichnen kann. Und deshalb ist mir, wenn ich dort zu Gast war, auch immer eine wichtige und oft vergessene Aufgabe der Literatur wieder bewußt geworden: die Schaffung von Schönheit in und mittels der Sprache. Denn auch Schönheit kreieren zu wollen, ist eine Gesinnung, und vielleicht von allen Gesinnungen, die dem Schriftsteller abverlangt werden, nicht die Unwichtigste.»
Michael Kleeberg, Schriftsteller

Anfang Juli wird das neue Programm von August bis Oktober 2020 bekannt gegeben!

Literaturhaus Thurgau

Handbuchbinderei Merten

„Ich wünsche dem schönen Bodman-Haus in Gottlieben ein stetes weiteres Aufblühen, Wachsen, Erstarken und Ausstrahlen – immer mit dem Wissen darum, dass das Wachsen an sich für ein Kulturhaus immer auch viele Aspekte des Erfolgs mit sich bringt, die wenig mit Kunst zu tun haben und mit dieser auch in Konflikt kommen können. Wachstum, mehr Aktivitäten von Jahr zu Jahr, dieser Dynamik entgeht beinahe kein Kulturort und kein Literaturhaus – umso mehr braucht es heutzutage die Reflexion darüber, was Kulturförderung, was Literaturförderung soll und warum und für wen. Den Hausverantwortlichen, den Programmverantwortlichen wünsche ich deshalb viel Weisheit, Einsicht und Weitsicht bei ihren Entscheidungen, viel Mut zur Eigenständigkeit und Gelassenheit angesichts der Erwartungen von Geldgebern, politischen Entscheidungsträgern, Partnern, Autor/innen und Publikum – und viele Portionen Extrahumor und überbordenden Enthusiasmus. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Literaturbegeisterten, die wiederkehrenden Besucherinnen und Besucher, die treuen Seelen werden es euch danken. Letztlich sind es nicht die Zahlen, weder die der Besucher noch die der Einnahmen oder die einer Veranstaltungsstatistik, um die sich alles drehen sollte, sondern diese Sternschnuppenmomente in einem Gespräch über einen Text, eine unerwartete, erhellende Perspektive, der Widerhall von Worten, Ideen, Sprachklängen an den Wänden eines Ortes, dieses tiefe Leuchten in den Augen.“
Bettina Spoerri, Schriftstellerin und Leiterin Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Klaus Merz «firma», Haymon

Klaus Merz las in St. Gallen zusammen mit dem Musiker Rudolf Lutz als Vorpremière aus seinem neuen Buch «firma». Eine Performance im Gewölbekeller der Buchhandlung zur Rose in St. Gallen, bei der sich Dichter und Musiker schlussendlich umarmen, so wie schon den ganzen Abend lang.

Rauriser Notiz

Eine Sprache finden,
Worte, die nicht
über das Erzählte
hinweg flutschen,
sondern Reibung
erzeugen, Wärme,
Licht

Im Prosatext firma versammelt Klaus Merz Tagebucheinträge oder Protokollauszüge aus einem halben Jahrhundert, von 1968 bis 2018, von den Auswirkungen des Prager Frühlings bis zur Finanzkrise in der Gegenwart, von der Firmengründung an einem Sommerabend auf Badetüchern bis zur kollektiven Kündigung 50 Jahre später am Weihnachtsabend nach dem allerletzten Ausverkauf. Es sind Textfenster, zwischen denen Monate und Jahre liegen, Miniaturen, Beobachtungen und Kleinsterzählungen, die die Perspektive in die Zeit öffnen.

Ganz nebensächlich wirkt Weltgeschichte ins Kleinräumige hinein, der Fall der Berliner Mauer, das neue Deutschland, der Krieg im Irak, die Wahl des US-Präsidenten. Das kann erfrischend nah und erfrischend schräg ausfallen, wenn der Revisor vor seiner Arbeit fragt, «ob es recht sei, wenn er zum heutigen Allerseelentag zuerst ein paar Seiten aus Ein anderes Leben von Per Olov Enquist vorlese». Oder erfrischend knapp und erfrischend kantig, wenn sich Merz im Text mit seiner Kritik an der Welt nicht zurückhält.

«firma» lässt sich mit ‹beglaubigen›, ‹unterschreiben›, ‹Signatur setzen› übersetzen. Und Klaus Merz tut genau dies, er setzt dem Weltgeschehen seine Signatur hinzu. «Wir führen / nur sporadisch Buch. / Es geht um die Denk- / würdigkeiten.» steht im Vorspann.

Die Verwandlung

Fotografien heben
die Wirklichkeit auf.

Wir lagern sie aus
In die Wolke. Und

unsere Allerwelts-
verbundenheit hält

uns gefangen. Auf
engstem Raum.

Der zweite Teil des Buches unter dem Titel „Über den Zaun hinaus“ tun genau das, was der Titel meint; sie schärfen den eigenen Blick, den Blick nach Innen.

Klaus Merz Gedichte sind derart unangestrengt schlicht, dass sie einem mit offenen Armen empfangen. Er muss nichts mehr beweisen, weiss sich seiner Leserschaft sicher. Einmal vom Merzvirus befallen, auf ewigem verfallen. Ob feine Beobachtungen im Alltag, Einsichten eines langsam Schreitenden, ob bissig, feinsinnig, witzig oder mit hellen Farben malend, Klaus Merz ist stiller Könner, der sich nie verliert. Man möchte seine Gedichte langsam abschreiben, sie verinnerlichen, oder so wie der Freund, der mir einmal verriet, dass er die abgeschrieben Gedichte von Klaus Merz auf kleinen Zettel auf den Spiegel im Badezimmer klebt, um sie beim Rasieren und Zähneputzen auswendig zu lernen.
So klar alle Texte scheinen und sie alle so tun, als waren sie Teile eines Ganzen, ist jeder Text für sich Sprachblitzlicht, das all das für einen kurzen Moment ins Zentrum stellt, was sonst vergessen ginge, was man übersehen würde. Die Texte wirken weiter, hallen nach.

Kleiner Reiseführer

1
das Auge, unser
individuelles Salz-
kammergut.

2
Vielleicht sind
die Unentwegten
die eigentlich
Entwegten.

3
Wohin nur
führen die Blut-
bahnen uns?

4
Eden. Gerste. Elfmeter
schreibt die Zugsnachbarin.
Und hat ihr Rätsel gelöst.

5
Auf welcher Seite
des fahrenden Zuges
liegt eigentlich die bessere
Hälfte der Welt?

Die Vorpremière in St. Gallen war dem Musiker Ruedi Lutz zu verdanken, die Tatsache, dass Klaus Merz vor der Premiere im Literaturhaus Zürich die St. Galler beschenkt. Lutz und Merz ist keine zufällige Begegnung, sondern langjährige Freundschaft zwischen Musik und Literatur. Ruedi Lutz uns Klaus Merz übergeben einander das Wort, die Musik, die Melodie, den Klang. So wie Klaus Merz› Prosa und Lyrik weit mehr als Häppchen, literarisches Kurzfutter sind, spielt Ruedi Lutz filigran, zauberhaft, einen ganzen Saal mitreissend.
Musik und Literatur verschränken sich, so wie Lyrik und Prosa in Klaus Merz Schaffen, so wie Freude am Schluss eines Abends.

Wie fast immer ist «firma» illustriert mit Pinselzeichnungen des Künstlers Heinz Egger.

Ich danke dem Haymon Verlag für die Erlaubnis, zwei Gedichte aus dem Band «firma» in die Rezension einfügen zu dürfen.

Foto © David Zehnder

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005 sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016), Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012).
2016 erschien «Helios Transport. Gedichte» und 2017 zusammen mit Nora Gomringer, Marco Gosse, Annette Hagemann und Ulrich Koch «Flüsterndes Licht. Ein Kettengedicht». Seit Herbst 2011 erscheint bei Haymon die Werkausgabe Klaus Merz in mehreren Bänden.

Webseite des Musikers Ruedi Lutz

Rezension von «Helios Transport» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Klaus Merz «Helios Transport», Haymon

«Unser Leben besteht aus Alltag. Meine Literatur soll den Alltag neu oder mit einer kleinen Verschiebung der Wahrnehmung sehen. Überhaupt ist das eine wesentliche Aufgabe der Kunst; die häufig abgenutzte Wahrnehmung des Alltags rückgängig, den Alltag wahrnehmbarer machen.»

7272-jpg-thumb-380x550-keepratioKlaus Merz neuer Gedichtband «Helios Transport» tut genau das. Klaus Merz folgt seiner Spur seit mehr als 50 Jahren, seit seinem ersten Gedichtband «Mit gesammelter Blindheit», der 1967 noch in St. Gallen erschien. Klaus Merz schreibt noch immer gegen Blindheit an, formuliert als Sehender und Beobachter Texte, die einem durchaus die Augen öffnen, den Nebel der Gewohnheit wegreissen können. Die Gedichte in seinem neuen Buch sind Konzentrate. Helios ist der griechische Sonnengott, der den von vier Hengsten gezogenen Sonnenwagen über den Himmel lenkt. Klaus Merz bringt Licht, «transportiert Lasten aller Art» auf seine ganz eigene Weise. Seine Lyrik ist die eines gereiften Mannes, der es versteht, einen Blick hinter das Wesen der Dinge zu werfen, oft nur einen ganz kurzen Blick, dafür entlarvend, in die Tiefe. Seine Gedichte, eines jeden Morgen auswendig gelernt, können dem Tag ein anderes Licht aufsetzen, den Brennpunkt ganz leicht verändern, korrigieren. Blitzlichter in die Gegenwart, manchmal nur drei Zeilen, nicht einmal 10 Wörter lang. Blitze, die Türen öffnen, Kleinstbeobachtungen, die das scheinbare Grau und Einerlei des Alltags mit einem Mal erhellen, in helle Farben tauchen. Substrate, die wie lyrisches Antidepressivum wirken. Texte, die weit entfernt vom online-Gebabbel und reissenden Schlagzeilen über Nichtigkeiten beweisen, was Sprache als Kunst bewirken kann: Glück! Klaus Merz Gedichtband ist ein Manifest des Sehens!

Kind of Blue

Bei Einbruch der Nacht

die Unerschütterlichkeit der Dinge
gewahrend, wandte ich mich
wieder dem Fenster zu:
Da lag noch ein Klang in der Luft
der nur uns Sterblichen galt.
Ein hörbares Blau.

"Hörbares Blau", Pinselzeichnung des Künstlers Heinz Egger (mit Erlaubnis des Künstlers wiedergegeben)
«Hörbares Blau», Pinselzeichnung des Künstlers Heinz Egger
(mit Erlaubnis des Künstlers wiedergegeben)

Seit mehr als 20 Jahren erscheinen Klaus Merz Bücher beim Innsbrucker Verlag Haymon, illustriert vom Burgdorfer Künstler Heinz Egger. Über die Jahre muss aus der Zusammenarbeit der beiden Künstler eine Freundschaft geworden sein, spürbar in den wunderschön gestalteten Büchern, die Gesamtkunstwerke geworden sind.

merz_foto_davidzehnder-jpg-thumb-380x550-keepratioKlaus Merz, geboren 1945 in Aarau, lebt in Unterkulm in der Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Hermann-Hesse-Literaturpreis 1997, Gottfried-Keller-Preis 2004, Aargauer Kulturpreis 2005, Werkpreis der schweizerischen Schillerstiftung 2005 sowie zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016), Basler Lyrikpreis und Friedrich-Hölderlin-Preis (beide 2012).

Klaus Merz liest am Sonntag, den 30. Oktober um 17 Uhr in der Kirche Linsebühl in St. Gallen. Begleitet wird er vom Organisten Rudolf Lutz.

Unterkulm Nord

Mit der Strassenbahn
passieren wir das Verlangen.
Ohne Halt.

(Ich danke dem Verlag für die Erlaubnis, zwei Gedichte zu veröffentlichen!)