Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper

Mit ihrer Trilogie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“ hat sich die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev tief ins Bewusstsein vieler geschrieben. Nicht nur weil sich die Romane eindringlich lesen, nicht nur weil „Liebesleben“ wie ein Komet einschlug und sieben Jahre später erfolgreich in die Kinos kam, sondern weil die Autorin mit ihren Themen den Nerv der Zeit trifft.

Dass man nun Zeruya Shalevs Erstling, der bereits 1993 unter dem Titel „Dancing, Standing Still“ in Israel erschien und damals im Vergleich zu „Liebesleben“ niemals jene Resonanz erreichte, jetzt auch auf den deutschsprachigen Markt wirft, erscheint zuerst als geschickter Schachzug des Verlags, nach der Lektüre des Buches aber als echtes Geschenk. 

Als Zeruya Shalev diesen Roman in Israel schrieb, kannte man die Autorin in ihrem Heimatland in einem kleinen Kreis als Lyrikerin. Im Vorwort der Autorin erzählt Zeruya Shalev, wie sie in einem Café mit dem Manuskript eines Schriftstellers auf diesen wartete. Und weil er sich verspätete, begann sie auf den Rückseiten der Manuskriptseiten zu schreiben. Was damals im Café begann, war wie ein Dammbruch. Zeruya Shalev war 32, verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Als sie den Roman in einem wilden Rausch nach eineinhalb Jahren zu Ende geschrieben hatte, zerbrach ihre Familie. Und als der Roman 1993 erschien, liess die Presse die Autorin „verwundet und verängstigt zurück“, so sehr dass sie ihren Glauben an sich als Schriftstellerin beinahe verloren hatte.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer,

Zwei Jahrzehnte später, mit dem Erfolg einer ganzen Reihe Bestseller im Rücken, einer getreuen Leserschaft und dem Umstand, dass die Geschichte ihr Land und die Zeit ihre Themen in den Brennpunkt stellt, ist es nicht verwunderlich, dass „Nicht ich“ derart Wellen verursacht, eben darum, weil der Umstand seines Erscheinens viel mehr ist als ein geschickter Schachzug des Verlags. Als Zeruya Shalev den Roman schrieb, war die Autorin ein Niemand. Da waren keine Erwartungen, da war keine Linie, keine Marke „Zeruya Shalev“. Sie schrieb sich in einen Taumel, der aus jeder Seite schreit. Sie reizt aus, gibt sich unbeeindruckt von Konvention und Tradition. „Nicht ich“ ist der buchlange Monolog einer Frau, die sich verloren, ihre kleine Tochter verloren hat, ihren Mann, ihre Familie, ihre Eltern, ihr Zuhause, das Gesicht in ihrem Spiegel. Und mit dem Titel „Nicht ich“ macht sie unmissverständlich klar, dass es nicht ihre Geschichte ist, auch wenn es trotzdem die ihre ist, eine universelle Geschichte von jemandem, der aus der Spur gerissen wird. 

„Wie kann man etwas verlieren, was man nie besessen hat?“

Zeruya Shalev lebt und schreibt in einem Land, das seit seiner Entstehung von Krieg und Terror gebeutelt ist. Am 29. Januar 2004, also vor mehr als 20 Jahren, wurde Zeruya Shalev selbst Opfer eines Selbstmordattentäters und verletzte sich dabei sehr. Eine kollektive Verunsicherung, die im ganzen Roman spürbar ist. So wie ein Land, eine Zivilisation, eine Religion nach Rechtfertigungen sucht, tut es im Roman eine „zerstörte Frau“, der man ihr Kind genommen, die Mann und Familie verloren hat, die sich bewusst ist, vieles in ihrem Leben „falsch“ angegangen zu sein. „Nicht ich“ ist ein lauter Roman aus wilden Träumen und Erinnerungen, aus Bildern, die zwischen Wahn und Realität flirren. Eine Frau voller Schuldgefühle, voller Anklage und Verzweiflung, permanent am Rand ihrer Existenz, von sich selbst und ihrer Wahrnehmung bedroht. Eine Frau, die sich selbst so wenig traut wie ihrer Umgebung. Zu viele unterirdiche Gänge führen zu diesem Kindergarten, da laufen mir zu viele Leute rum. Ich bin mir sicher, ab und zu verschwindet in diesen Gängen unbemerkt ein Kind. Sätze, die wie Messerschnitte die Lektüre zerschneiden.

Alles, was die namenlose Frau hatte, wurde ihr genommen. Selbst die Erinnerung droht in Unsicherheiten zu zerbröseln. Eine Frau, die nicht versteht, was mit ihr geschah und geschieht, die an ihrem Hunger nach Liebe leidet und nicht versteht, wie ihr passieren konnte, was ihr den Boden unter den Füssen wegzieht. Das Erstaunliche an diesem Roman ist die sprachgewordene Verzweiflung und Verunsicherung, der Taumel, die Selbstzerfleischung und der Schmerz. Unglaublich, wie tief Zeruya Shalev in die Wunden blicken lässt. Ich bin mit El Ii Ee Be Ee nicht zurechtgekommen. Für mich war das eine stinkende Verbindung von Schweiss und Sperma, Stechen im Bauch vom Ärger und Kopfschmerzen vom Weinen. Und trotzdem ist „Nicht ich“ eine Liebesgeschichte, wenn auch eine verzweifelte. Da schreibt jemand, der die rosa Brille auf dem Asphalt zertrampelt. „Nicht ich“ ist das literarische Zeugnis einer damals noch unbekannten Autorin und Dichterin, die alles auf eine Karte setzt. Ein Text, der sich in seiner Kraft wie ein Beben liest, der sich auch 30 Jahre nach seinem Entstehen passgenau in eine Zeit fügt, in der alles unter den Bomben der Gegenwart erzittert.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

Anne Birkenhauer, 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik in Berlin und Jerusalem und lebt seit 1989 in Israel. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin an der Universität und übersetzt u.a. Aharon Appelfeld, Chaim Be`er, Daniella Carmi, David Grossman, Dan Pagis und Yaakov Shabtai.

Beitragsbild © Jonathan Bloom

Angelika Klüssendorf «Risse», Piper

Mit der Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später» brannte sich Angelika Klüssendorf in meine literarischen Erinnerungen. Nicht weil ihre Romane einem Zeitgeist, dem autofiktionalen Schreiben entsprechen, sondern weil die Autorin mit der Rückkehr zu ihrem grossen Thema eine Art des Schreibens kultiviert, die trotz aller Verwundung und Entblössung die Hoffnung nie zerstört.

Wie ist es möglich, dass Menschen, die durch die Hölle gehen, trotz allem aufrecht, offen und emphatisch durchs Leben schreiten können? Wie schaffen es Menschen, die angesichts grassierender Gewalt ein Leben aushalten müssen, das Feuer brennen zu lassen, nicht aufzugeben, zu resignieren?

Angelika Klüssendorf, die mit ihrem neuen Roman «Risse» an ihre Trilogie anknüpft, kehrt zu ihrem grossen Thema zurück. Aber nicht, um an alte schriftstellerische Erfolge anzuknüpfen, sondern weil die Autorin mit «Risse» in eine neue Dimension ihrer Auseinandersetzung tritt. Angelika Klüssendorf schildert in drastischen Bildern eine verlorene Kindheit, Menschen, die der Zerstörung trotzen. Aber sie versucht auch zu ordnen. Sie reflektiert, stellt sich über ein Geschehen, das ganz offensichtlich ein halbes Leben lang Schmerz verursachte. Sie schildert die Kindheit einer Frau, die sich in sich selbst zurückzieht, mit aller Kraft sich selbst nicht verlieren will und damit auch die letzte Hoffnung, dass es aus der Hölle auch einen Ausweg geben muss.

Angelika Klüssendorf «Risse», Piper, 2023, 176 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-492-05991-6

Wenn das «durch die Hölle gehen» eine Kindheit ist, dann schmerzt die Lektüre ganz besonders. Und Angelika Klüssendorf macht keinen Hehl daraus, dass es ihre eigene Kindheit ist. Eine in der Einsamkeit des Eingeschlossenseins, ob physisch oder psychisch. In den Ruinen einer «Familie», in der Mutter und Vater mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind, Liebe und Zuwendung fremd ist, Beziehungen in erster Linie Gefahr bedeuten, jede Regung ein Risiko birgt.
Als kleines Kind bei der geliebten Grossmutter aufgewachsen, einer Frau, mit der sie sogar das Bett teilte, unmittelbare Nähe, kam das Mädchen mit ihrer kleinen Schwester zu ihrer Mutter und einem gewalttätigen Vater. Was die beiden bei der Grossmutter an Geborgenheit und Verbundenheit erlebten, ist bei der getriebenen Mutter verschüttet und irgendwann ganz verloren. Angelika Klüssendorf erzählt, wie jenes Mädchen schon damals im Lesen, in Geschichten, in Büchern jene Welt suchte, die ihr in ihrer direkten Umgebung verwehrt blieb. Während die Mutter immer wieder mal für mehrere Tage von der Bildfläche verschwindet und die Kinder sich selbst überlässt, ist das Mädchen zum reinen Überleben gezwungen. Das Mädchen zieht sich mehr und mehr in ihren eigenen Kosmos zurück, kapselt sich auch emotional ab, «autonomisiert» sich. Auch zu ihrem Vater, zu dem sie abgeschoben wird, der als Aushilfskellner jobbt, verbindet sie bloss das Gefühl der Angst, die permanente Furcht eines Übergriffs.

«Risse» zu lesen, ist nicht einfach. Angelika Klüssendorf schmeisst einem aber nicht einfach das Schicksal einer ungeheuerlichen Kindheit vor die Füsse. Sie kommentiert ihren Weg damals aus dem Heute, setzt dem Ungeheuerlichen einen Kommentar aus der Gegenwart entgegen. Nicht dass sie sich mit dem Erlebten versöhnt hätte, schon gar nicht mit Mutter oder Vater (Schon allein diese Begriffe, Mutter und Vater, scheinen so gar nicht zu passen!), aber die Autorin gewinnt jene Distanz, die auch mir als Leser hilft. Keine Distanz, die die Kindheit damals unter Folie verpacken will, aber eine Distanz, die im eigenen Leben zu reflektieren hilft.

«Risse» ist ein ungemein starkes Buch. Geschrieben von einer Frau, die aus Verletzungen Stärke entwickelte, auch eine starke Sprache mit ungemein starken Bildern.

2 Fragen an Angelika Klüssendorf:

Ich arbeite seit Jahrzehnten als Pädagoge. Schicksale wie das von Ihnen beschriebene finden noch immer in den verschiedensten Varianten statt. Kinder, die sich selbst überlassen sind. Kinder, die nichts von dem geschenkt bekommen, was so gerne als „Familie“ idealisiert wird. Das schmerzt deshalb so sehr, weil nicht alle Kinder die Geister einer solchen Vergangenheit „besiegen“. Oder lassen sich diese Geister allerhöchstens bannen? Wie viele Menschen stecken in einem Mühlenrad fest, aus dem sie nicht aussteigen können.
Ich weiss nicht, wie viele Menschen feststecken, wie Sie selbst sagen, die Schicksale gibt es in den verschiedensten Varianten. Ich glaube, die infamsten Übergriffe, finden im Namen der Liebe statt. Denn Brutalitäten sind erkennbar, Menschen können sich ihnen stellen, wenn auch nicht als Kind. Der erste Schritt einer Befreiung wäre vielleicht, das Erkennen, das Erkennen der Muster in denen wir gefangen sind. Das sich bewusst werden, wer wir sind, die Defekte erkennen und nicht in den vertrauten Tunnel rasen, eben weil der so schön vertraut ist. Vielleicht auch das, was kaputt ist (ich sage extra kaputt, weil es an ein Spielzeug in der Kindheit erinnert und da werden ja die prägenden Grausamkeiten gesetzt, für das spätere Leben) zu akzeptieren, manches kann nicht geheilt werden, aber wir können lernen damit zu leben.

Sie schreiben auch von der Scham der Armut. Eine Scham, der die Kinder sehr oft äusserst unbarmherzig ausgesetzt sind, weil selbst Kinder untereinander alles andere als zurückhaltend sind. Zur Scham gesellt sich noch die Angst, nie davon befreit zu werden. Ein Angst, mit der sich auch viele Künstler auseinandersetzen müssen, weil es nicht reichte, sich um eine satte Altersvorsorge zu bemühen. Wird man als Verfasserin solcher Romane zu einer Klagemauer? Oder gar zu einer Anwältin?
Weder Anwalt noch Klagemauer. Allerdings ist die Armut eine Sache für sich. Wer in wirklicher Armut aufgewachsen ist, hat ein innerliches Stigma, äusserlich vielleicht nicht zu erkennen, weil es gut verborgen ist. Doch die Angst wieder arm zu sein, hat mich nie verlassen. Ich hatte lange Zeit die Vorstellung, obdachlos zu werden und meinen Gefährten die Goldfüllung in meinem Mund zu zeigen, als Beweis dafür, dass es mir einmal besser ging.

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Romantrilogie „Das Mädchen“, „April“ und „Jahre später“, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet. Die französische Übersetzung ihres Romans „Vierunddreißigster September“ stand auf der Longlist des Prix Femina 2022. Ihr Roman „Risse“ wurde für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominiert.

Beitragsbild © Sarah Wolff.

„Für jede Mutter ist Krieg die Hölle“ Zeruya Shalev in St. Gallen

Der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev fehlen die Worte, wenn es um den Angriff der Hamas geht. Trotzdem setzt sich die dreifache Mutter, die selbst einmal Opfer eines Anschlags war, für Versöhnung ein.

Gastbeitrag von Manuela Tschida-Swoboda

Ihr Debütroman «Nicht ich» erschien schon vor 30 Jahren auf Hebräisch, aber erst jetzt auf Deutsch. Beim Lesen hat man das Gefühl, in einen seltsamen Traum geraten zu sein.
ZERUYA SHALEV: Ja, das Buch unterscheidet sich in vielem von meinen späteren. Manchmal ist es realistisch, manchmal nicht, manchmal ist es ein Traum, dann wieder ein Albtraum. Das Buch ist bruchstückhaft, aber die seelischen Inhalte sind dicht gepresst.

Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die Mann und Tochter für einen Geliebten verlässt, mit dem dann aber nichts wird. Das Thema des Verlusts zieht sich von Beginn an durch Ihr Werk. Wieso eigentlich?
Hm. Ich denke, weil es eines der wesentlichsten Themen im Leben ist. In meinem Roman trägt die Frau besonders schwer an der Last des Verlusts, weil es vermutlich auch noch ihre Schuld war. Auf der anderen Seite gibt sie ihrem großen Traum nach, findet sich letztlich aber in einer unglaublichen Leere wieder. Sie hat alles verloren und muss fortan mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen leben, und das bringt sie fast um.

Ihr Roman ist wie eine Traumnovelle, die von Sigmund Freud interpretiert werden will, oder?
Ja, vielleicht. In gewisser Weise ist das Buch auch ein innerer Monolog, ein Bewusstseinsstrom. Als ich den Roman nach 30 Jahren noch einmal gelesen habe, mochte ich die Zerbrechlichkeit meiner Hauptfigur sehr, und auch ihren Galgenhumor.

Der Holocaust und der Konflikt mit den Palästinensern durch- dringen diesen Roman, ohne dass beides explizit erwähnt wird. Ge- schah das bewusst oder unbewusst?
Alles in diesem Roman ist hauptsächlich unbewusst passiert. Ich schrieb das Buch als junge Mutter. Meine Tochter war drei, vier Jahre alt. Und ich erinnere ich mich noch gut daran, wie ängstlich ich als Mutter plötzlich wurde. In Israel gab es immer schon Krieg, Terror und schreckliche Erinnerungen, aber für eine Mutter ist das alles ein Albtraum.

Als Sie das erste Mal Mutter wurden, brach die erste Intifada aus, der Aufstand der Palästinenser gegen Israel. Wie war das?
Ich sehe noch die Schlagzeilen der Zeitungen, die auf meinem Bett im Krankenhaus lagen, während ich meine Tochter stillte. Der Terror rundum wurde von da an immer stärker. Als meine Tochter drei wurde, kam es zum Golfkrieg. Und ich weiß noch, wie ich versuchte, eine Gasmaske auf ihren kleinen Kopf zu bekommen.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, 208 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-8270-1476-4

Es gibt eine starke politische Komponente in Ihrem Buch. Die Tochter wird entführt, sie wird von Soldaten vom Spielplatz weggeholt. Sie schreiben von unterirdischen Gängen unter dem Kindergarten, in denen Kinder verschwinden – unheimlich aktuell. Wie geht es Ihnen jetzt damit?
Es schockiert mich, dass etwas, das ich eigentlich nur metaphorisch verwendet habe, plötzlich Wirklichkeit geworden ist. Im Buch spielt sich alles in der Fantasie der Mutter ab, aber jetzt, nach der schrecklichen Attacke der Hamas, ist plötzlich alles real. Was soll ich sagen? Es ist alles so traurig.

Sie haben drei Kinder: Wo sind die jetzt?
Sie sind nicht in der Armee. Mein jüngster Sohn, er ist erst 17, muss erst im nächsten Jahr dahin. Und der ältere war in keiner Kampfeinheit, er war Lehrer in der Armee. Für jede Mutter ist Krieg die Hölle.

Wollten Sie nie weg von Israel, wo Trauer und Schmerz so treue Gefährten sind?
Nein. Das Leben hier ist wirklich schwierig, aber ich spüre ganz stark: Das ist mein Land, das ist mein Platz. Wir erinnern uns alle daran, was mit jüdischen Menschen passiert, wenn sie kein Land haben. Das war ja auch der Grund, warum Israel gegründet wurde. Unglücklicherweise sind wir aber auch hier nicht sicher. Aber ich kann nicht aufgeben, auch die anderen können das nicht. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit diesem Land. Und ich hoffe, dass es für Israelis einmal besser wird, und auch für die Palästinenser.

Der ehemalige israelische Premier Yitzhak Rabin war davon überzeugt, dass sich Israels Konflikt mit den Palästinensern nicht lösen lasse, sondern nur managen. Wie sehen Sie das?
Aber ich denke, man muss versuchen, diesen Konflikt zu lösen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das je gelingt. Wir müssen versuchen, eine Vereinbarung zu finden, denn auf Dauer kann dieser Konflikt nicht gemanagt werden, ohne eine klare Vereinbarung. Wir haben letztlich keine andere Wahl.

Sie selbst wurden 2004 bei einem Attentat eines Palästinensers schwer verletzt, setzen sich aber trotzdem immer für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Wie geht es Ihnen jetzt?
Ich sehe nicht hinter jedem Araber einen Terroristen. Natürlich bin ich tief schockiert von der sadistischen, barbarischen Attacke der Hamas. Mir fehlen die Worte für dieses Grauen. Ich bin tief schockiert. Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Hamas und der arabischen Zivilbevölkerung. Es gibt so viele Menschen, auch viele Frauen, die sich dafür starkmachen, dass der jüdisch-arabische Dialog nicht abbricht. Letztlich habe ich die Hoffnung, dass es nach diesen furchtbaren Schrecken doch auch die Chance auf Frieden gibt.

Kann aus soviel Schrecklichem je etwas Gutes entstehen?
Ich bin keine große Historikerin, aber überall in der Welt kam nach dem Krieg auch wieder der Friede. Meine Hoffnung gilt auch den nächsten Wahlen und einer neuen Regierung in Israel. Denn die ist notwendig, wenn der Staat wieder gesund werden soll. In Israel folgt auf den Krieg nicht immer gleich Friede, aber die Kriege haben immer zu Wahlen geführt. Ich hoffe, dass dieser fürchterliche Krieg dazu führt, dass sich alle in der Region gegen die extremen Fundamentalisten vereinen, auch die Bevölkerung in Gaza gegen die Hamas, die die Menschen dort als Schutzschilde missbraucht. Und ich hoffe, dass wir Netanyahu und seine Regierung loswerden.

Ein Leitmotiv in Ihren Büchern ist stets die Melancholie, a kind of blue: Ist der Sound von Shalev letztlich der Sound von Israel?
Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber wenn ich das jetzt so höre, kommt es mir sehr wahrscheinlich vor.

Wie ist Ihr Leben in Haifa seit dem Angriff der Hamas?
Mein Leben hat sich komplett verändert. Ich schreibe nichts, außer kleine Artikel. Die Zeit von damals bis heute fühlt sich an wie ein einziger langer Tag. Es scheint, als höre man in den Ereignissen vom 7. Oktober das Echo der gesamten jüdischen Geschichte. Und diese Geschichte ist lang und tragisch.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

erschienen in «Kleine Zeitung», Sonntagsbeilage, 14. Januar 2024
© Kleine Zeitung

Beitragsfotos © Jonathan Bloom

Thommie Bayer und «Sieben Tage Sommer» im Literaturhaus Thurgau

Thommie Bayer veröffentlichte seit den 80ern mehr als 20 Romane, nachdem er damals als Musiker und Texter schon eine beachtliche Karriere hingelegt hatte. Das bezeugten im Literaturhaus Thurgau die fast komplette Bayer-Bibliothek mit Langspielplattensammlung.

Max Torberg ist reich, lebt mit seinen siebzig Jahren zurückgezogen und macht sich Gedanken, was dereinst mit seinem Vermögen geschehen soll. Eigentlich ist alles ein- und angerichtet. Und doch kann Torberg jenen einen Tag vor 30 Jahren nicht vergessen, als eine Handvoll junger Leute ein Gewaltverbrechen verhinderte, das seinem Leben mit Sicherheit schlagartig eine andere Richtung aufgezwungen hätte, wäre damals jener eine Stein nicht geflogen. Jan, einer der fünf zufällig Anwesenden, einst Handballer und treffsicher, traf einen der Angreifer am Kopf. Der eine stürzte getroffen in den Abgrund, der andere nahm Reissaus. Jene fünf, die damals Torbergs Leben retteten, blieben. Auch wenn sich ihre Wege trennten und man sich nie wider sah, blieb die Verbindung und Torberg setzte im Hintergrund alles daran, jener Gruppe über die Jahrzehnte seine Dankbarkeit angedeihen zu lassen.

Thommie Bayer im Gespräch mit Moderatorin Cornelia Mechler

30 Jahre später lädt Torberg jene fünf ein in eine schicke Villa über dem Meer an der Côte d’Azur. Er möchte wissen, was aus den Menschen geworden ist, möchte ihre Seelen erkunden, ihren Herzen auf die Spur kommen. Er verspricht, in jenen sieben Tagen im Sommer irgendwann aufzutauchen, lässt sich vertreten durch seine junge Freundin Anja, der er die Rolle der Gastgeberin gibt, die aber die eigentliche Spionin spielen soll.

Thommie Bayers Roman «Sieben Tage Sommer» ist die behutsam nachgespürte Geschichte jener fünf Menschen, die damals sein Leben retteten. Fünf Menschen, die sich nach 30 Jahren nichts mehr zu sagen haben, die einzig Neugier, Hoffnung und eine Ahnung in jene Villa über dem Meer führt. «Sieben Tage Sommer» ist aber viel mehr der Brief- oder Mailwechsel zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Stimmen, nicht nur in ihrer Rolle, auch in ihrer Tonalität. LeserInnen erfahren nur soviel, wie sich die beiden erzählen. Es ist ein gegenseitiges Berichten, das um das Geschehen in diesem Haus mäandert, ein Ab- und Herantasten an Geheimnisse, die nie entblössen.

Das Veranstaltungsformat «Literatur am Tisch» gibt neben der klassischen Lesung die Möglichkeit, ganz unmittelbar im kleineren Kreis mit dem jeweiligen Autor ins Gespräch zu kommen. Ein Gespräch, das weit über das Inhaltliche hinausgehen kann. Ein Gespräch, von dem auch Autorinnen und Autoren schwärmen, weil ihnen offenbart wird, was ihre Bücher bei aufmerksam Lesenden auslösen und bewirken. Der Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mir Thommie Bayer verschränkte Schreiben und Lesen in ganz besonderer Weise!

«Es kommt selten vor, dass ich in der Schweiz lesen darf, umso mehr habe ich mich gefreut auf diesen Abend, und umso größer war die Freude, als ich so gastfreundlich, herzlich und fröhlich empfangen, gehätschelt und präsentiert wurde. Danke Gallus, Danke Cornelia und Danke Besucher für das Highlight in meinem Autorenleben.» Thommie Bayer

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Lesung und «Literatur am Tisch» im Literaturhaus Thurgau

Nach dreissig Jahren führt Max Torberg jene fünf Menschen zusammen, denen er sein Leben verdankt. In einem Haus über dem Meer begegnen sich Menschen, die sich scheinbar nichts mehr zu sagen haben, angelockt vom grossen Gönner. Eine literarische Versuchsanordnung!

Max Torberg, reicher Erbe einer Bankenfamilie, besitzt in den Hügeln der Côte d’Azur ein grosses Ferienhaus, wohin er eingeladen hat. Fünf Gäste, zwei Frauen und drei Männer, deren Wege sich rein zufällig dreissig Jahre zuvor mit dem seinigen bei einer Wanderung in der südfranzösischen Tarnschlucht kreuzten. Eine Begegnung, die ihm damals das Leben gerettet hatte, das zufällige Auftauchen jener fünf Menschen, die ihn vor einer versuchten Entführung retteten. Obwohl man sich nach jener Begegnung, bei der einer der beiden Angreifer in die Tiefe stürzte und kaum überlebt haben konnte, nie mehr wiedersah, begann Torberg als Schattengestalt die Leben der fünf Retter über die Jahrzehnte zu begleiten, leise und still in das Leben dieser Handvoll Menschen einzuwirken, weil er wusste, dass er sein Leben jenen Leben zu verdanken hatte. Torberg konnte nicht sicher sein, ob seine Hilfe unbemerkt geblieben war, denn stets zu Weihnachten, wenn man sich mit Briefen alles Gute wünschte, war allen klar, dass Torbergs Grosszügigkeit im Hintergrund die eine oder andere Wirkung haben musste.

Damals war jene Wanderung in das Naturschutzgebiet Torbergs erster Versuch, nach dem verstörenden Tod seiner Frau Judith, im Leben wieder Fuss zu fassen. Dreissig Jahre später ist Torberg noch immer im Bann jener Geschehnisse, sei es der schreckliche Autounfall seiner Frau oder die schicksalshafte Begegnung mit jener Gruppe Menschen; Jan, der damals den tödlichen Stein geworfen hatte, seine damalige Freundin und Studentin Danielle, Julia, die Krankenschwester, ihr Freund Hans, der Schauspieler war und der Musiker André.

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Piper, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-07044-7

Nun, dreissig Jahre später, hatte Torberg eingeladen und seine Freundin Anja als eine Art stellvertretende Gastgeberin in seinem Ferienhaus angewiesen, die fünf etwas auszuhorchen, herauszufinden, was man über ihn zu sagen hatte, wie sehr sie ahnen würden, dass Torberg in ihren Leben mitmischte. „Sieben Tage Sommer“ ist der Mailwechsel zwischen Torberg und Anja, das Protokoll eines Versuchs, der eigenen Wirkung nachzuspüren. Während Torberg seine Gäste durch die Freundlichkeiten seiner stellvertretenden Gastgeberin Anja alle Annehmlichkeiten eines luxuriösen Ferienaufenthalts geniessen lässt, entwickelt sich zwischen den fünf Gästen, die sich in den drei Jahrzehnten untereinander aus den Augen verloren und ganz unterschiedlich entwickelt hatten, eine „Versuchsanordnung“ die es in sich hat, gemeinsame Tage, die nur auf den einen Moment warten: das versprochene Auftauchen von Max Torberg himself.

Aber Torberg lässt sich entschuldigen, zögert sein Auftauchen immer wieder hinaus. Und während sich mir als Leser das Muster dieser fünf Gäste immer deutlicher zeigt, sich das Wesen der einzelnen offenbart, sich neue Allianzen finden, es auf der einen Seite zu knistern auf der andern zu kriseln beginnt, offenbart sich zwischen Anja und Torberg eine seltsame Beziehung zwischen Freundschaft und Ergebenheit. Torberg weiss um seine Wirkung durch seinen Reichtum, ist sich gewohnt, dass sein Strippenziehen Wirkung zeigt. Und die fünf Gäste beweisen, wie schnell man sich unbeobachtet fühlt, wie leicht sich Tugenden verflüchtigen, dass das, was man als Fassade mit sich führt bei weitem nicht dem entsprechen muss, was das eigene Menschsein ausmacht.

„Sieben Tage Sommer“ erzählt scheinbar flockig, leicht von der Kraft der Verführung. Von der Versuchung, durch Reichtum und Macht im Hintergrund „Gott“ zu spielen. Von der Distanz, die Reichtum erzeugt und wie sehr Freundlichkeiten käuflich werden können. Thommie Bayers neuer Roman tut wie lockere Strandlektüre, erzählt aber von der unterschwelligen Macht des Geldes, von den Versuchungen der Masslosigkeit und dem irrigen Glauben, Glück wäre käuflich. Torbergs Versuch, die Macht seiner finanziellen Potenz in Dankbarkeit umzuwandeln, scheitert. „Sieben Tage Sommer“ ist das Protokoll des Scheiterns, vielleicht sogar mit einem Augenzwinkern an den göttlichen Versuch, in sieben Tagen ein Paradies zu erschaffen.

***

Thommie Bayer und das Literaturhaus Thurgau laden nebst einer klassischen Lesung auch zu «Literatur am Tisch» ein. Gäste, die den Roman «Sieben Tage Sommer» gelesen haben, sind eingeladen, mit dem Autor zu diskutieren. Maximal 12 Gäste geniessen den Autor, die direkte Begegnung, das Gespräch begleitet von einem kleinen Imbiss, Wein und Getränken.
Literatur am Tisch – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus.» Andreas Neeser

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».

Webseite des Autors

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«Im Koffer ein Weltuntergang» Zum 80. Todestag von Irène Némirovsky

Irène Némirovsky geboren 11. Februar 1903,
gestorben am 17. August 1942

Morgens nach dem Frühstück geht sie los. Die Töchter sind in der Schule, der Mann bleibt zu Hause im Dorf. Manchmal wandert sie zehn Kilometer, bis sie einen Platz findet, der sich zum Arbeiten eignet. Setzt sich auf ihren blauen Pullover, schaut in das stille Tal im Burgund. Liest und schreibt bis zum Abend. Das Tschechow-Buch wurde auf diese Weise fertig, auch der Roman «Feuer im Herbst», der zwischen 1914 und 1939 spielt. Nun nähert sie sich der Gegenwart: Anfang der Vierzigerjahre; Frankreich ist zur Hälfte besetzt, zur Gänze geschlagen. Niemand weiß, wie es weitergehen wird, aber die meisten richten sich ein: Wenn wir uns mit den Deutschen arrangieren – die sich, grosso modo, doch ganz anständig benehmen –, dann fahren wir weltpolitisch besser, als wenn wir den Aufstand markieren. Der Franzose dieser Kaste, notiert sie im Jahr 1942, empfindet gegen niemanden Hass; er ist weder von Neid noch von enttäuschtem Ehrgeiz noch von wirklichem Rachedurst erfüllt. Er hat Schiss. Wer wird ihm am wenigsten weh tun (nicht in Zukunft, nicht abstrakt, sondern sofort und in Form von Tritten in den Arsch und Ohrfeigen)?

Sie bereitet auch dieses neue Buch vor, indem sie sich Notizen macht – zur politischen Situation, zu ihren Figuren. Der Roman ist auf fünf Teile angelegt, ihr bisher ehrgeizigstes Projekt. Ein Blick auf die Gesellschaft, wie ein Ameisenforscher ihn hat, der die Sprache der Tiere versteht. Schau, wie sie laufen, man hat ihren Bau zerstört! Was nehmen sie mit? Wer rettet wen? Wer bricht sich auf der Flucht ein Bein? Wer stirbt, und wie bestatten sie ihn?

Sie, die selbst eine Ameise ist, beschreibt mit kühlem Verständnis, was in den Leuten vor sich geht, wenn es ernst wird. Jahrelang hieß es, jenseits der Linken, es gibt keinen Krieg. Sie werden das doch nicht wagen … die Verhandlungen waren erfolgreich … jetzt, mit der Tschechoslowakei, ist Schluss … es fehlt ihnen an Munition … es fehlt ihnen an Geld … wir haben ihnen doch nichts getan … Doch am 10. Juni 1940, als die deutschen Panzer sich der französischen Hauptstadt nähern, wollen sich unzählige Pariser in Sicherheit bringen, plötzlich verhakt in hektische Fragen: Schmuck mitnehmen oder verstecken? Wohin mit den Papieren? Nehmen wir das Auto? Gibt es noch Benzin? Und dann, wenn alles fertig ist, der Wagen bepackt bis unter das Dach, auf dem sie die Matratzen festgeklemmt haben, muss der gelähmte Opa noch einmal pinkeln …

So war es, so hat sie es beobachtet, denn sie war selbst dabei. Sie floh mit den Töchtern in die Provinz; da lebt sie jetzt. Sie ist eine Ameise wie alle anderen, und doch nicht: Sie ist behördlicherseits keine Französin. Und sie, ihre Töchter und ihr Mann Michel Epstein, tragen den gelben Stern.

Mein Gott! Was tut dieses Land mir an? Da es mich von sich stößt, betrachten wir es kalten Bluts und schauen wir zu, wie es seine Ehre und sein Leben verliert. Und was bedeuten mir die anderen? Die Reiche vergehen. Nichts ist wichtig. Ob man es nun aus mystischer oder persönlicher Sicht betrachtet, es ist alles eins. Bewahren wir einen kühlen Kopf. Verhärten wir unser Herz. Warten wir.

Sie wartet, und sie arbeitet. Sie ist zu dieser Zeit bekannt, beinahe berühmt. Der Name Irène Némirovsky, so meint ihr treuer Verleger Albin Michel in Paris, sollte genügen, ihr alle Türen zu öffnen. Sie schreibt in der Provinz, im Departement Saone-et-Loire, für Zeitungen, um ein wenig Geld zu verdienen. Als das unter ihrem Namen nicht mehr möglich ist, wählt sie männliche Pseudonyme. Sie lebt mit ihren Kindern und ihrem Mann in der besetzten Zone; anfangs in einem Hotel, in dem französische Flüchtlinge mit Offizieren und Soldaten der Wehrmacht wohnen, später in einem gemieteten Haus, in dem sich wiederum deutsche Soldaten einquartieren. Das Zeugnis, das sie hinterlassen, eineinhalb Jahre vor der Wannsee-Konferenz:

O. U. den I. VII. 41

Kameraden. Wir haben längere Zeit mit der Familie Epstein zusammengelebt und sie als eine sehr anständige und zuvorkommende Familie kennengelernt. Wir bitten Euch daher, sie dementsprechend zu behandeln. Heil Hitler!
Hammberger, Feldw. 23599 A.

Das Zeugnis wird nicht helfen. Am 13. Juli 1942 holen französische Gendarmen Irène Némirovsky ab, drei Tage später wird sie nach Auschwitz deportiert, wo sie einige Wochen später stirbt. Ihr letzter Brief an ihren Lektor ist vom 11. Juli datiert: Ich schreibe derzeit viel. Ich denke, es wird ein postumes Werk werden. Doch auf diese Weise vergeht die Zeit.

Den Quellen nach hat sie nichts unternommen, um sich in Sicherheit zu bringen. Kein Fluchtversuch in die Schweiz; keine Anstalten, an gefälschte Papiere zu gelangen. Nur Gesten der Sorge für ihre Töchter: ein detailliertes Testament, genaue Instruktionen für die Pflegemutter, die – nachdem auch der Vater nach Auschwitz deportiert worden ist – mit beiden Kindern untertaucht.

Das Manuskript, an dem sie gearbeitet hat, war im Fluchtgepäck mit dabei. Gut 60 Jahre später entziffert die Tochter Denise die winzige Schrift, die sie für Tagebuchnotizen hielt. Sie liest die ersten beiden Teile des Romans, der auf fünf Teile angelegt war; sie heißen: »Sturm im Juni« und »Dolce«. Stilistisch kühl, voller mokanter Heiterkeit beschreiben sie die Flucht der Pariser vor den Deutschen in die Provinz und die Zeit der Besatzung bis zu dem Zeitpunkt, als die meisten deutschen Soldaten nach Russland abkommandiert werden. Es ist ein Werk, das an Präzision und Schönheit seinesgleichen sucht; ein überragendes Romanfragment, das im kollektiven Gedächtnis eine bedeutende Lücke füllt. Das dichte Gewebe aus Angst und Kalkül, aus Anpassung und Widerstand im besetzten Frankreich wird genau beschrieben. Dem Buch fehlt nur: eine wie sie. Das Schicksal der Juden in Frankreich kommt in «Suite française» nicht vor.

Ursprünglich war die jüdische Gesellschaft ihr Thema. Ihr erster Roman aus dem Jahr 1929, «David Golder», behandelt den Zusammenbruch eines russischstämmigen Bankiers in Paris. Von alldem verstand sie viel: Ihr Vater, ein Privatbankier, floh mit seiner Frau und dem einzigen Kind im Verlauf der Russischen Revolution über Skandinavien in die französische Hauptstadt. Es gelang ihm, dort erneut zu Vermögen zu kommen. Irène Némirovsky führte ein luxuriöses, äußerlich behütetes Leben, schloss ihr Studium der Literaturwissenschaft an der Sorbonne mit Auszeichnung ab und begann mit 18 Jahren, Prosa zu schreiben.

Sie galt als anmutig und charmant, glamourös, gebildet und immens begabt. Ihre Mutter, die von monströser narzisstischer Kälte gewesen sein muss (sie starb hochbetagt und reich im französischen Süden; ihre verwaisten Enkelkinder verwies sie an die öffentliche Fürsorge), machte sie mit der genialen Novelle «Der Ball», erschienen 1930, den literarischen Prozess. Snobismus und Vulgarität, Empfindungslosigkeit und Ehrgeiz französischer Juden sind wiederkehrende Motive in ihrem Werk, mit dem sie sofort erfolgreich war – und zur Kronzeugin der Antisemiten wurde. Jüdische Kritiker machten ihr den Vorwurf, dass sie mit einer Figur wie «David Golder» Vorurteile schüre; sie verteidigte sich damit, dass sie bei ihrer Beobachtung geblieben sei: Mein Vater war Bankier, Geldkonflikte waren die ersten Dramen, denen ich beiwohnte. Im Rückblick erscheint politisch naiv, wie wahllos sie Zeitschriften mit ihren Novellen und Kurzgeschichten bedachte – harmlose Frauenmagazine, aber auch reaktionäre und judenfeindliche Publikationen.

Die in rascher Folge publizierten Romane sind konventionell erzählt, an Maupassant und Flaubert geschult und von unterschiedlicher Qualität: Dichte Beschreibung, psychologische Intelligenz, Eleganz im Ton und sichere Konstruktion kämpfen, nicht immer erfolgreich, mit ihrem Hang zur spektakulären Fabel und zum Klischee. Sie heiratete mit 23 Jahren und führte ein produktives Leben, und über lange Zeit deutete für sie offenbar nichts darauf hin, dass sich das Drama von Flucht und Vertreibung ihrer Kindheit wiederholen sollte. 1939 ließ sie, noch immer staatenlos, sich und die Töchter katholisch taufen; ihre Bemühungen um die französische Staatsbürgerschaft allerdings scheiterten. Im Jahr darauf adressierte sie einen Brief an Marschall Pétain, Staatschef des Vichy-Regimes: Zwar sei sie Russin jüdischer Abstammung, aber immer eine Gegnerin des Sozialismus gewesen. Man möge sie und ihre Familie nicht der Kategorie der unerwünschten, sondern der ehrenhaften Ausländer zuordnen.

Ihre künstlerische Aufmerksamkeit aber galt zuletzt nicht ihr selbst und dem Schicksal der Juden, sondern jener bourgeoisen Gesellschaft, die sie aussonderte. Über den gegenwärtigen Krieg«, heißt es in der «Suite française», die 2004 in Frankreich erschien, wurde wenig gesprochen. Die Katastrophe war den Leuten noch nicht ins Bewusstsein gedrungen, sie würde erst Monate, vielleicht Jahre später ihre lebendige, schreckliche Form annehmen, vielleicht wenn die verschmutzten Kinder, die Jean-Marie über dem kleinen Holzzaun vor ihrer Tür auftauchen sah, erwachsen wären.

Es sollte noch länger dauern.

Elke Schmitter

«100 Autorinnen in Porträts»
Von Atwood bis Sappho,
von Adichie bis Zeh
Eine Auswahl der 100 bedeutendsten schreibenden Frauen aus zwei Jahrtausenden und der ganzen Welt, vorgelegt von den renommierten Kritikerinnen Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter und Julia Encke. Von Sappho bis Atwood, von Adichie bis Zeh porträtieren sie Schriftstellerinnen und ihren Weg zum Schreiben, betten ihr Werk in Lebens- und Zeitumstände ein und positionieren sie innerhalb literarischer Traditionen.
Mit Beiträgen von Verena Austermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März und Elke Schmitter

© Stefan Fertig / Piper Verlag

Elke Schmitter wurde 1961 in Krefeld geboren. Sie studierte in München Philosophie und war von 1992 bis 1994 Chefredakteurin der taz. Seitdem schreibt sie als freie Autorin, unter anderem für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und den Spiegel. 1981 veröffentlichte sie den Lyrikband «Windschatten im Konjunktiv», 1998 einen Essayband über Heinrich Heine, «Und grüß› mich nicht unter den Linden» und den Roman «Frau Sartoris» (2000), der bislang in 17 Sprachen übersetzt wurde. Es folgten der Roman «Leichte Verfehlungen», und der Lyrikband «Kein Spaniel». 2021 erschien bei C. H. Beck ihr Roman «Inneres Wetter».

Angelika Klüssendorf «Vierunddreißigster September», Piper

Das Buchcover erlaubt eine dunkle Vorahnung: Der abgebildeten, durchaus noch im Leben stehenden Taube fehlt der Kopf. Kopflose Wesen kennt man aus Horrorfilmen, doch so schlimm kommt es dann doch nicht. Das Leben der Toten ist in Angelika Klüssensdorfs neuestem Roman «Vierundreissigster September» ein eher beschaulicher Ort. 

Gastbeitrag von Cornelia Mechler, Leiterin Verwaltung und Marketing im Kunstmuseum Thurgau, Moderatorin im Literaturhaus Thurgau

Der Roman beginnt mit einem Mord: «Sie hätte das Gewehr nehmen können, entschied sich aber für die Axt. Hilde liess sie auf Walters Kopf niedersausen, als wollte sie ein Holzscheit spalten.» Mit dieser Tat endet eine unglückliche Ehe, die zum Leidwesen der Frau nach einer Fehlgeburt auch noch kinderlos geblieben war. Hilde verschwindet im Schneesturm und gilt ab jenem Moment als vermisste Person. Walter aber kommt ins Reich der Toten und wohnt erst mal seiner eigenen Beerdigung bei. Schon hier zeigt sich der lakonische Witz der Autorin. Die folgenden Sequenzen schwanken zwischen schwarzem Humor, etwas Melancholie und einer Prise Heiterkeit.

Walter lebt nun auf dem Friedhof und trifft zahlreiche Bekannte wieder, die bereits vor ihm verstarben. Alle Verstorbenen sind in dem Zustand in ihre neue «Welt» eingezogen, den sie zuletzt innehatten. Bei Walter bedeutet dies: Er wandelt mit einem gespaltenen Schädel unter den Toten umher und hat nun viel Zeit, das Leben der Lebenden zu beobachten. Er wird zum Berichterstatter, zum Chronisten, wobei sich sein Bewegungsradius auf die Dorfgrenzen beschränken. Ihn selbst treiben drei entscheidende Fragen um: Wer war er früher? Wieso wurde er ermordet? Und wo ist eigentlich Hilde abgeblieben?

Angelika Klüssendorf «Vierundreißigster September», Piper, 2022, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05990-9

Im Dorf ist Hildes Verschwinden kaum ein Thema mehr. Einige Bewohner beschäftigt in diesem Sommer vor allem der angekündigte Besuch von Steven Spielberg, der im Ort einen Film drehen möchte. Das Warten auf die Ankunft des Starregisseurs beginnt, und da werden auch die pessimistischsten Träumer nochmals wach. Überhaupt ist auch das lebende Personal in diesem Buch ein sehr besonderes. Da gibt es die dicke Huber, das Rollschuhmädchen, Eisenalex und Bipolarchen. Jede und jeder im Dorf trägt eine mal mehr mal weniger schwere Lebenslast mit sich herum. Die eindrücklichen Charakterbeschreibungen werden getragen durch eine Grundsympathie der Autorin für ihre Figuren.

Der Wechsel der Erzählperspektiven ist sehr gut gewählt, das Leben der Toten steht damit immer in engem Bezug zu dem der noch Lebenden. Auch wenn Letztere nichts von ihren Schatten ahnen, so ist es für die allwissende Leserschaft ein äusserst kurzweiliges Lektürevergnügen.

Speziell auch dies: Die Toten können die Träume der Lebenden sehen, wenn diese schlafen. Da ist ein spannendes Nachtprogramm geboten, das vor allem Walter äusserst gelegen kommt. Aber auch in den Träumen der anderen kommt bei niemandem Hilde vor. Doch dann findet er eine wage Spur – und er muss erkennen, dass seine Frau ein ganz anderes Leben führte, als er es zu kennen meinte…

«Ein hintersinniges Meisterwerk über eine Zeit der Wut, Melancholie und Zärtlichkeit», so heisst es im Klappentext. Wahrlich, das ist nicht zu hoch gegriffen. Es gilt: Lesen und staunen!

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Roman-Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später«, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet.

Illustration leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Didi Drobna «Was bei uns bleibt», Piper

Manchmal wächst Gras über eine Sache oder ein ganzer Wald. Manchmal will man vergessen, obwohl man spürt, dass es unmöglich ist. Das Erlebte modert über Jahrzehnte weiter, Wunden verschliessen sich nie, Versöhnung, auch jene mit sich selbst, ist unmöglich. Didi Drobna erzählt, wie sich der Schrecken über Generationen fortsetzt, die Geschichte zweier Familien im langen Schatten des Grauens.

Besucht man die Webseite der Ortschaft Hirtenberg in Niederösterreich, erinnert nichts an den Umstand, dass in der Hirtensteiner Patronenfabrik Zwangsarbeiterinnen und KZ-Häftlinge unter widrigen Umständen den Krieg an den Fronten mit Munition zu versorgen hatten, dass kurz vor der deutschen Kapitulation über 300 Frauen gezwungen wurden, einen 150 km langen Gewaltsmarsch Richtung KZ Mauthausen unter die Füsse zu nehmen, ohne Perspektive, bewacht von der SS. Selbst der Wikipediaeintrag über Hirtenberg verrät bloss mit einer Notiz die ansässige Munitionsfabrik und ihre Rolle im 2. Weltkrieg. Wichtiger dort der Vermerk, dass die Auslastung des Werks „gut“ war. 

Aber was in Landschaften und Ortsbildern verschwunden ist, wirkt trotzdem weiter. Ganz bestimmt in den Geschichten all jener, die von Geschichte direkt oder auch in Generationen danach betroffen waren. Dass das grosse Schweigen über die dunklen Jahre des Nationalsozialismus ein Phänomen ist, das bis in die Gegenwart wirkt, ist nichts Neues, dass persönliches dem institutionellen Aufarbeiten meist hoffnungslos hinterherhinkt, ebenfalls. Didi Drobna erzählt eine Geschichte, ein Stück Geschichte, Tatsachen, die mit den letzten Überlebenden, die berichten könnten ins allgemeine Vergessen zu rutschen drohen.

Didi Drobna «Was bei uns bleibt», Piper, 2021, 256 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-492-07052-2

Klara, nie weit weg gekommen, selbst in der Seele verwundet durch einen Vater, den die Front schluckte, wird als Zwangsarbeiterin in der Hirtensteiner Patronenfabrik verpflichtet. Eine Patronenfrau, in einer Zeit, als nur noch die Parteibonzen an den Endsieg glaubten. Man produziert Munition für die Front, jeden Tag eine Million Patronen. In den letzten Monaten des Krieges soll die Produktion durch KZ-Häftlinge noch gesteigert werden. So arbeiten in den letzten Wochen einheimische Zwangsarbeiterinnen und ausgezehrte KZ-Frauen Schulter an Schulter. Als die Front immer näher rückt und mit ihr die Angst, werden kriegswichtige Maschinen in einen Zug verfrachtet, mit ihnen eine begrenzte Zahl der Belegschaft. Ein Zug in den Tod. Klara bleibt zurück, schlägt sich in die Wälder und folgt dem Zug jener KZ-Frauen, die von SS-Leuten bewacht zu Fuss nach Mauthausen aufmachen. Unter den KZ-Frauen ist Lujza, die Klara nicht aus den Augen verlieren will.

Klara, weit über 80, spürt, dass sich ihre Lebenskraft verabschiedet. Sie muss sehen, wie die Geschehnisse rund um jenen fürchterlichen Krieg, den sie als junge Frau miterleben musste, selbst im Leben ihres Enkels Luis weiterwirken. Sie sieht ihren Nachbarn Horst, der ganz alleine seine wilde Tochter Dora grosszieht, die an den „Geistern ihrer Vorfahren“ leidet. Und weil Luis ebenfalls spürt, dass nicht nur das Dach des Hauses, in dem er seit dem Tod seiner Eltern mit seiner Grossmutter zusammen wohnt, in Ordnung gebracht werden muss, nimmt Klara an der Hand und fordert sie auf, ihr Schweigen endlich zu brechen.

Didi Drobna erzählt ganz behutsam. Von einer unkritischen jungen Frau in einer kriegswichtigen Fabrik, die einfach zufrieden ist, einen sicheren Platz in einer unsicheren Zeit zu haben. Von der Begegnung mit einer jungen Frau, der man alle Rechte, jede Würde genommen hat. Von einer alten, fürsorglichen Frau, die den Alp nie abschütteln konnte, der bis ins Leben ihres Enkels wirkt. Von einem Mann und seiner Tochter, die das Schicksals einer Mutter und Ehefrau mit sich herumtragen, ein Schicksal, das sich im Leben der Tochter spiegelt, dem das Mädchen hilflos ausgeliefert ist. „Was bei uns bleibt“ ist keine Enthüllungsgeschichte. Aber eine Mahnung dafür, dass weder Gras noch Bäume das Leiden in der Vergangenheit verbergen können.

Didi Drobna bei den Ruinen der zweiten Hirtenberger Patronenfabrik

Interview

Sind wir uns der Tatsache, dass der Boden, auf dem wir leben, von Geschichte getränkt ist, zu wenig bewusst? Man mahnt zwar immer, man müsse im „Hier und Jetzt“ leben. Aber birgt sich darin nicht eine fatale Portion sich permanent entschuldigender Oberflächlichkeit?

Nach dem Krieg floss alle Kraft in den Wiederaufbau. Viele Dinge wurden ausser Acht gelassen, auch die konsequente Auseinandersetzung mit verbliebenem nationalsozialistischem Gedankengut. Es gab da eine grosse Angst, selbst in den Fokus zu geraten. In manchen Punkten ist in Österreich der Umgang mit dieser Zeit immer noch viel zu zögerlich. Auch da ist die Geschichte meines Romans ein gutes Beispiel: Dass eine Fabrik wie in Hirtenberg nach 1945 nahtlos weiterproduziert, ist wenig überraschend. Irgendwo ist immer Krieg, und damit lässt sich Geld verdienen. Heute hat Hirtenberg auf ganze andere Produktsegmente umgestellt und ist nach 160 Jahren Patronen und Granaten endlich „friedlich“. Andererseits erinnert vor Ort immer noch nichts an die Vergangenheit. Keine Gedenktafel, kein Schild, das aufklärt. Das hat mich bei meinen Besuchen und Recherchen vor Ort irritiert. Wichtig ist aber, dass wir dieses Kapitel nicht als abgeschlossen begreifen.

„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ mag in gewissen Situationen stimmen. Aber wir alle schleppen Geheimnisse mit uns herum, kleine und grosse, mit unter lebensbedrohliche. TherapeutInnen verschiedenster Couleur kassieren im Kampf gegen dieses Schweigen vielleicht eben jenes Gold. Warum fällt es dem Menschen so schwer zu reden, zu erzählen?
Ich glaube, dass einige Menschen mit der Zeit oder im Alter von Schuldgefühlen oder Reue eingeholt werden können. Es gibt doch immer etwas zu bereuen, Dinge die man getan oder eben nicht getan hat. Das können kleine oder grosse Dinge sein. Nicht immer muss es sich dabei um etwas Schlechtes handeln. Aber ich kann mir vorstellen, dass besonders grosse Lebensthemen und Geheimnisse am Ende stark hochkochen können – so wie sie es im Roman bei der Hauptfigur Klara tun. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg geht, gab es eine ganze Generation, die ihre Erfahrungen, egal ob gut oder schlecht, zu einem grossen Grad verschwiegen hat. Manche konnten nicht darüber sprechen und manche wollten es auch nicht. Für die nachkommenden Generationen ist es aber unglaublich wichtig, von diesen Erfahrungen zu lernen und diese Geschichten zu hören.

Klara und ihr mittlerweile erwachsener Enkel Luis, ein junger Mann, den sie an Stelle seiner Eltern grossgezogen hatte. Sie beide sind Versehrte. Klaras Nachbar Horst, ein alleinerziehender Vater und seine Tochter Dora. Das ist das Viereck, in dem sich ihr Roman bewegt. Auch sie beide Versehrte. Alle allein gelassen, gepeinigt durch die Geschichte. Müssten nicht all jene, die das Glück der Unversehrtheit oder einer minimalen Versehrtheit geniessen dürfen, laut skandierend auf den Strassen ihr Glück demonstrieren?
Dazu zitiere ich gerne einen Satz, der im Roman meine Hauptfigur Klara mehrmals umtreibt: «Die Abwesenheit von Unglück ist ein Glück an sich.»

Wie sind sie auf diesen Stoff gestossen?
Am Anfang von allem stand Klara – eine alte Frau, die auf ihr Leben zurückblickt. Eher zufällig kam mir die Idee, ihr eine Vergangenheit in der Patronenproduktion zu geben. Im Zuge der Recherchen dazu stiess ich auf Hirtenberg und war völlig erstaunt, dass ich noch nie von diesem Ort und dieser Fabrik, die zwei Weltkriege beliefert hatte, gehört habe. Dann fiel ich wie Alice im Wunderland ins Kaninchenloch: Ich recherchierte in verschiedenen Archiven, darunter auch dem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Archiv der Hirtenberger Fabrik, sprach mit ZeitzeugInnen, las mich umfangreich zum Zweiten Weltkrieg ein und durchkämmte den Hirtenberger Wald nach den Überresten der zweiten Fabrik. Spätestens da wurde mir klar, dass ich hier auf ein Stück Geschichte gestossen bin, das wie die Erinnerungen der dort arbeitenden und gefangenen Menschen bisher verschüttet geblieben ist. Und ich entschloss mich, diese Geschichte mit Hilfe von Klara zu erzählen.

Ihr Roman ist nicht zuletzt ein Roman darüber, was „Familie“ bedeuten kann. Selbst dann, wenn das Personal dazu alles andere als dem überall als Mass genommenen Idyll entspricht. Klara und Horst sind dabei zwei ziemlich entgegengesetzte Archetypen. Beide Familien in einem Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz. Pumpen wir das Ideal „Familie“ nicht zu sehr auf?
Familie ist in meinen bisherigen Werken immer ein zentrales Thema. Der Begriff «Familie» hat sich im Laufe der Zeit sehr stark gewandelt, dessen Personal ebenso. Dem versuche ich mithilfe meine Figuren nachzuspüren.

Didi Drobna wurde 1988 in Bratislava geboren und lebt seit 1991 in Wien. Sie studierte Germanistik und  Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Für ihre literarische Arbeit wurde sie mit mehreren Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet. Didi Drobna arbeitet auch als Jurorin für Literaturwettbewerbe und lehrte von 2018-2019 an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Parallel zu ihrem Schreiben arbeitet Didi Drobna an einem Wiener IT-Forschungszentrum. 2018 erschien ihr zweiter Roman «Als die Kirche den Fluss überquerte» bei Piper. 

Beitragsbild © Barbara Wirl

Heinrich Steinfest „Amsterdamer Novelle“, Piper

«Das Foto täuscht nicht, natürlich nicht. Sondern wir täuschen uns.» Das wir dem nicht mehr trauen, was wir sehen, zeigt die Gegenwart mehr als deutlich. Dabei ist es nicht das, was wir sehen, sondern wie wir sehen. Heinrich Steinfest hat eine kluge Novelle geschrieben. Von einem Mann, der sich in einen tödlichen Strudel ziehen lässt.

Ein paar Monate nachdem mein Vater gestorben war, sass ich in einer Strassenbahn in Zürich. Ein paar Reihen vor mir setzte sich ein Mann im Mantel, ohne Hut und legte seine Hände auf den Sitz vor sich. Ich sass paralysiert in meinem Sitz schräg hinter ihm und hätte für einen langen Augenblick wetten können, dass mein Vater dort sitzt: die gleiche Figur, die gleiche Haltung, die gleichen sich lichtenden Haare, und was mich am meisten verunsicherte, die gleichen Hände, die gleiche Art, den Daumen an den Zeigerfinger zu legen. Ich wäre am liebsten aufgestanden, hätte sanft seine Schulter berührt. Aus meiner Starre erwacht war ich sicher, einem Doppelgänger begegnet zu sein. Allerdings nur, bis sich der Mann von seinem Sitz erhob, sich umdrehte und die Strassenbahn verliess. Mit einem Mal war alle Ähnlichkeit abgefallen.

Heinrich Steinfest «Amsterdamer Novelle», Piper, 2021, 112 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-492-07117-8

Roy Paulsen ist Visagist in einer Fernsehstation, deckt das zu, was Scheinwerferlicht und Nahaufnahmen unweigerlich zeigen würden. Sein Sohn fotografiert zu Recherchezwecken in Amsterdam und schickt ihm eines der Fotos, überzeugt davon, seinen Vater auf einem Fahrrad, eine der Grachten entlangradelnd fotografiert zu haben. Aber Roy Paulsen war noch nie in Amsterdam. Paulsen pinnt das Foto in seinem Arbeitszimmer an die Wand, aber es bleibt viel mehr in seinem Kopf hängen als an der Wand zuhause. Ein Mann in kurzen Hosen vor einem dreistöckigen Klinkerbau, ein Mann mit seinem Profil, seiner Nase, seiner Brille. Und neben dem Mann auf dem Rad entdeckt Paulsen in einem Fenster des Hauses ein Gesicht.
Das Foto lässt ihm keine Ruhe, als ob es sich über alles andere darüber gelegt hätte. Paulsen beschliesst, seinen Sohn in Amsterdam zu besuchen, obwohl dieser ihm deutlich macht, eigentlich keine Zeit für ihn zu haben. Nachdem die Internetrecherche, digitale Fahrten durch Amsterdam ohne Erfolg blieben, das Haus nicht zu verorten war und sein Sohn auch keine Angaben über den Moment des Abdrückens machen konnte, macht sich Paulsen auf in die Stadt, in der er noch nie war. Es sollte eine Verifizierung werden, fünf Tage, die wenigstens Klarheit liefern sollten, wo dieses Haus steht.

Und tatsächlich, nach einem heftigen Gewitter sieht er auf der anderen Seite einer Gracht dieses Haus, unzweifelhaft. Er geht hin, steht davor und sieht, dass die Eingangstür über der Treppe bloss angelehnt ist. Von unstillbarer Neugier getrieben geht er hinein in das stille Haus, bis er mit einem Mal in einem Raum im Rücken zweier bulliger Männer mit Pistolen steht, die vor einem auf Stühlen gefesselten Paar vor sich deutlich machen, dass die Lage gleich endgültig werden würde. Ein Schuss fällt, der gefesselte Mann auf dem Stuhl kippt zu Seite, Paulsen greift ein und nichts ist mehr so, wie im sonst so geregelte Leben des Visagisten bisher. Aus blosser Neugier wird existenzieller Ernst.

Heinrich Steinfest erforscht nicht nur, was Wahrnehmung anzurichten weiss. Er entwickelt aus einem unscheinbaren Szenario einen wahren Krimi, bei dem es aber nur hintergründig um ein Verbrechen und die eventuelle Aufklärung geht. Neben dem „Doppelgängermotiv“ geht es auch um die Erfahrungen von Déjà-vus, Momenten, die einem glauben machen, man sei in einer Schlaufe gefangen. Paulsen ist getrieben vom Wunsch einer Erklärung. Ein Wunsch, der ihn immer tiefer in einen Strudel rutschen lässt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt, dass ihm sein altes Leben entreisst.

„Amsterdamer Novelle“ ist ein virtuos erzähltes, literarisches Kleinod, viel mehr als ein Geschichtchen, schon gar kein Krimi – aber steinfestes Kunsthandwerk!

Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis. Bereits zweimal wurde Heinrich Steinfest für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 mit «Ein dickes Fell»; 2014 stand er mit «Der Allesforscher» auf der Shortlist. 2016 erhielt er den Bayerischen Buchpreis für «Das Leben und Sterben der Flugzeuge», 2018 wurde «Die Büglerin» für den Österreichischen Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Burkhard Riegels