Tabea Steiner «Immer zwei und zwei», edition bücherlese

Tabea Steiner zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Warum lässt man sich derart in Zwänge, Muster, Pflichten und Bedingungen einbinden, dass das alles die Luft zum Atmen nimmt. Tabea Steiner hat mit ihrem zweiten Roman „Immer zwei und zwei“ ein beklemmendes Buch darüber geschrieben, wie schwer es werden kann, wenn man aussteigen, sich befreien will.

Erinnern sie sich an ihre Zeit im Kindergarten, als man vom Schulhaus zur Turnhalle paarweise, immer zwei und zwei, gehen musste? War es nicht Noah, der immer zwei jeder Sorte Tier auf seine Arche mitnahm und vor der Sintflut rettete? Scheinbar liegt in dieser Ordnung die Rettung vor drohender Gefahr. Scheinbar braucht es die klare Ordnung, um sich nicht im Chaos zu verlieren. Ob das Gesetze sind, die uns vor Anachie und Willkür schützen oder Gemeinschaften, die uns das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben. Ob es eine Bubble ist, die einem das Gefühl von Zusammengehörigkeit schenkt oder straffe Systeme wie Schule oder Militär. Immer zwei und zwei. Im Ausbruch, in der Freiheit liegt die Gefahr.

Natali ist ein junge Frau, verheiratet mit einem Mann, den sie liebt und Mutter zweier Kinder, berufstätig und mit einem Atelier, in dem sie in Stunden der Muse aus Stein und Ton Neues formt. Natali scheint alles zu haben, was eine glückliche Existenz braucht. Aber Natalis Glück ist brüchig geworden. So wie ihre Welt, in die sie sich eingebunden fühlt, ein Eingebundensein, das sich mehr und mehr wie Fesseln anfühlt. Ein Gefühl der Einsamkeit, das sie schon als Kind mit sich herumschleppte. Da wurde ihr klar, dass sie allein war, wirklich allein … auf der Welt, endgültig und nur sie. Ein panisches Gefühl, am falschen Ort, mit den falschen Menschen zu sein. 

Tabea Steiner «Immer sei und zwei», Edition Bücherlese, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-73-4

Natali gehört zu einer freikirchlichen Gemeinschaft, einer Gemeinschaft mit klaren Regeln, Strukturen und Wertvorstellungen. Solchen, die ihr mehr und mehr aufstossen und eine innere Rebellion provozieren. Ihre Freundin Rosalie, wie sie fest eingebunden in jene Gemeinschaft, ist verheiratet mit Tobias, der Natalis Kinder in der Sonntagsschule unterrichtet und dort Geschichten erzählt, die ihren Kindern den Schlaf rauben. Mit einem Magnet war er über Büroklammern aus Metall und Plastik gefahren und hatte erklärt, so werde es sein, wenn Jesus wiederkomme. Er nimmt nur diejenigen mit, die wirklich an ihn glauben. Die anderen bleiben auf der Erde zurück, wie die Plastikklammern.

Seien es gewünschte Schlagzeugstunden, die nicht erlaubt werden, weil man das Instrument im Gottesdienst nicht brauchen kann, sei es eine Reise nach Israel, zu der man sich verpflichtet fühlt und die völlig abgeschottet von der Aussenwelt durchexerziert wird, seien es Kleidervorschriften oder Kommentare ihrer eigenen Kinder – Natali schnappt nach Luft in der Umklammerung dieser scheinbaren Gemeinschaft. Und als sie sich bei einer Fortbildung in eine evangelische Pfarrerin verliebt und selbst ihre Familie ins Wanken gerät, mietet sich Natali eine eigene Wohnung. Ein Prozess der Distanzierung aus ihrer Welt, den ihr Mann und ihre Freundin Rosalie nicht nachvollziehen können. Natali begibt sich in ein Dazwischen, das sie einmal mehr mit ihrer Panik vor drohender Einsamkeit konfrontiert. Alles, was ihre Welt ausmacht, beginnt sich gegen sie zu wenden. Sie droht in einem Meer aus Schuldgefühlen zu versinken.

Tabea Steiners Roman erzählt behutsam und unspektakulär. Die Autorin hätte ihren Stoff, die Geschichte ganz leicht zur spektakulären Loslösungsgeschichte aufblasen können. Aber darum ging es der Autorin nicht. Tabea Steiner schildert einen Prozess, der alles andere als linear verläuft, ein permanentes Ringen mit Situationen, in denen sich die junge Frau nicht mehr zurechtfindet. „Immer zwei und zwei“ ist auch keine Anklage gegen freikirchliche Gemeinschaften, sondern die Geschichte einer jungen Frau, die ganz langsam ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung und innerer Freiheit folgen kann. Gemeinschaften, die einengen und bestimmen, mögen für die einen Wegweiser oder Leitplanke sein. Aber sie missachten, dass die Freiheit eines Menschen eben jene Selbstbestimmung, jene Freiheit ausmacht, die das Lebewesen Mensch zum Menschen macht.

„Immer zwei und zwei“ ist ein wichtiger Roman – eindringlich geschrieben, ganz offensichtlich voll mit persönlicher Erfahrung.

Tabea Steiner liest nicht nur am 6. Juli im Literaturhaus Thurgau! Vor der Lesung können all jene zusammen mit der Autorin diskutieren, die das Buch bereits gelesen haben. Das Format «Literatur am Tisch» lädt bei Speis und Trank zu einer ganz speziellen Vertiefung ein, einem Gespräch weit über den Roman hinaus. Sie sind herzlich eingeladen! Eine verbindliche Anmeldung ist unbedingt erforderlich.

Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival Literaare initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und war bis 2022 Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen, 2019 war sie LCB-Stipendiatin. 2019 erschien ihr erster Roman «Balg«, der für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Tabea Steiner lebt und arbeitet in Zürich.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Regula Wenger «Lamborghini Görlz», edition 8 – «Literatur am Tisch»!

Ich mag eigenartige Bücher. Der zweite Roman nach „Leo war mein erster“ reizte meine Neugier fast bis zur letzten Seite aus. Was will mir ein Roman sagen mit einem Lenz in roten Jeans, Black und Red, zwei aufreizend gekleideten Begleiterinnen und einem orangen Lamborghini mit angehängtem Wohnwagen? Regula Wenger verpackt die Frage nach dem Sinn in einen schrägen Roadtrip.

Lenz ist 45 Jahre alt. Die Betonung liegt auf den drei betonschweren Buchstaben ALT. Von Frühlingsdüften keine Spur mehr. Lenz Leben ist in der Tristesse parkiert, auf einem sperrigen Gamersessel und reichlich Bier in Griffnähe. Selbst seine Kinder und seine Frau schaffen es nicht, das parkierte Leben wieder in Fahrt zu bringen, dieses im Schlick festgefahrene Auslaufmodell. Lenz hat das Aufschieben längst zu seinem Programm erklärt, seine Träume beerdigt, nicht aber seine Frau und seine Freunde. 

Es ist, als ob der Zwist mit seinem Freund Finn, der die beiden vor einem Jahr im Streit auseinanderbrachte, etwas in Lenz blockiert hätte, was kein Rütteln und Schütteln mehr in Fahrt brachte. Finn und er waren beste Freunde. Bis Finn sein halbes Bier im Streit stehen lassen musste, weil Lenz ihn aus seinem Haus jagte. Lenz ist mit leckem Tank parkiert. Nicht nur seine Frau, auch seine Freunde wissen, dass Lenz nur mit List aus seiner Lethargie zu katapultieren ist. Deshalb legen sie alle zusammen und schenken ihm einen Tripp mit jenem Auto, das als Modell auf seinem Regal steht, zusammen mit zwei Frauen, die aus Teufels Küche entsprungen scheinen: Black und Red.

Regula Wenger «Lamborghini Görlz», edition 8, 2022, 240 Seiten, CHF 25.00, ISBN 978-3-85990-464-4

Auch wenn der Tripp nicht jener ist, den sich Lenz zu Beginn erhofft, denn die beiden Frauen lassen ihn aus versicherungstechnischen Gründen nicht ans Steuer und setzen ihn, weil ihm die Beine auf dem schmalen Rücksitz (auch der Lamborghini ist nicht genau der, der auf dem Regal unter Staub begraben liegt) einschlafen, in den engen kleinen Wohnwagen, der doch eigentlich nichts am Heck eines Sportwagens verloren hat. Auch die beiden Frauen halten sich in dieser Woche streng an einen Fahrplan, zaubern einen Gutschein nach dem andern aus ihren engen Ausschnitten und konfrontieren Lenz mit einer ganzen Reihe von skurrilen Situationen, als wäre Don Quichotte für einmal nicht mit einem lahmen Gaul unterwegs.

Regula Wengers wilde Geschichte erinnert an Fellini, David Linch und ein wenig Heinz Rühmann. Auch ihr zweiter Roman hat in der Schweizer Literaturszene kaum Verwandte. Als ob Regula Wenger einen Ton treffen würde, Bilder evozieren kann, die an Leichtigkeit, Heiterkeit, subtilem Humor ihres- und seinesgleichen suchen. Zugegeben; der Roman verunsichert, nicht nur inhaltlich, weil er sich wie ein Rätsel liest, sondern auch in seiner Konstruktion. Denn es braucht die sieben Tage Schöpfung, um dem „armen“ Lenz zu zeigen, wie er zurück ins Paradies findet. „Lamborghini Görlz“ ist eine köstliche Parabel mit viel Witz und einem übervollen Mass an Schrägem. So viel, dass der sperrige Wohnwagen den schnittigen Lamborghini manchmal zu überholen droht. „Lamborghini Görlz“ ist der quicklebendige Beweis dafür, dass sich Literatur nicht zwangsweise in Selbstzerfleischung und raumgreifender Ernsthaftigkeit suhlen muss.

Vielleicht ist „Lamborghini Görlz“ auch ein modernes Märchen, von einem Mann, den man wie Hans im Glück auf eine lange Reise schicken muss.

Regula Wenger wuchs im Laufental im Kanton Baselland auf (früher Bern). Heute lebt sie mit ihrer Familie in Basel. Sie arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Texterin, veröffentlichte Kolumnen und Kurzgeschichten. Ihr Romandebüt «Leo war mein erster» ist im Waldgut Verlag, der 2021 seine Geschäftstätigkeit eingestellt hat, in vier Auflagen erschienen. Neu ist es bei edition 8 erhältlich.

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Beitragsbild © Roland Schmid

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Lesung und «Literatur am Tisch» im Literaturhaus Thurgau

Nach dreissig Jahren führt Max Torberg jene fünf Menschen zusammen, denen er sein Leben verdankt. In einem Haus über dem Meer begegnen sich Menschen, die sich scheinbar nichts mehr zu sagen haben, angelockt vom grossen Gönner. Eine literarische Versuchsanordnung!

Max Torberg, reicher Erbe einer Bankenfamilie, besitzt in den Hügeln der Côte d’Azur ein grosses Ferienhaus, wohin er eingeladen hat. Fünf Gäste, zwei Frauen und drei Männer, deren Wege sich rein zufällig dreissig Jahre zuvor mit dem seinigen bei einer Wanderung in der südfranzösischen Tarnschlucht kreuzten. Eine Begegnung, die ihm damals das Leben gerettet hatte, das zufällige Auftauchen jener fünf Menschen, die ihn vor einer versuchten Entführung retteten. Obwohl man sich nach jener Begegnung, bei der einer der beiden Angreifer in die Tiefe stürzte und kaum überlebt haben konnte, nie mehr wiedersah, begann Torberg als Schattengestalt die Leben der fünf Retter über die Jahrzehnte zu begleiten, leise und still in das Leben dieser Handvoll Menschen einzuwirken, weil er wusste, dass er sein Leben jenen Leben zu verdanken hatte. Torberg konnte nicht sicher sein, ob seine Hilfe unbemerkt geblieben war, denn stets zu Weihnachten, wenn man sich mit Briefen alles Gute wünschte, war allen klar, dass Torbergs Grosszügigkeit im Hintergrund die eine oder andere Wirkung haben musste.

Damals war jene Wanderung in das Naturschutzgebiet Torbergs erster Versuch, nach dem verstörenden Tod seiner Frau Judith, im Leben wieder Fuss zu fassen. Dreissig Jahre später ist Torberg noch immer im Bann jener Geschehnisse, sei es der schreckliche Autounfall seiner Frau oder die schicksalshafte Begegnung mit jener Gruppe Menschen; Jan, der damals den tödlichen Stein geworfen hatte, seine damalige Freundin und Studentin Danielle, Julia, die Krankenschwester, ihr Freund Hans, der Schauspieler war und der Musiker André.

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Piper, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-07044-7

Nun, dreissig Jahre später, hatte Torberg eingeladen und seine Freundin Anja als eine Art stellvertretende Gastgeberin in seinem Ferienhaus angewiesen, die fünf etwas auszuhorchen, herauszufinden, was man über ihn zu sagen hatte, wie sehr sie ahnen würden, dass Torberg in ihren Leben mitmischte. „Sieben Tage Sommer“ ist der Mailwechsel zwischen Torberg und Anja, das Protokoll eines Versuchs, der eigenen Wirkung nachzuspüren. Während Torberg seine Gäste durch die Freundlichkeiten seiner stellvertretenden Gastgeberin Anja alle Annehmlichkeiten eines luxuriösen Ferienaufenthalts geniessen lässt, entwickelt sich zwischen den fünf Gästen, die sich in den drei Jahrzehnten untereinander aus den Augen verloren und ganz unterschiedlich entwickelt hatten, eine „Versuchsanordnung“ die es in sich hat, gemeinsame Tage, die nur auf den einen Moment warten: das versprochene Auftauchen von Max Torberg himself.

Aber Torberg lässt sich entschuldigen, zögert sein Auftauchen immer wieder hinaus. Und während sich mir als Leser das Muster dieser fünf Gäste immer deutlicher zeigt, sich das Wesen der einzelnen offenbart, sich neue Allianzen finden, es auf der einen Seite zu knistern auf der andern zu kriseln beginnt, offenbart sich zwischen Anja und Torberg eine seltsame Beziehung zwischen Freundschaft und Ergebenheit. Torberg weiss um seine Wirkung durch seinen Reichtum, ist sich gewohnt, dass sein Strippenziehen Wirkung zeigt. Und die fünf Gäste beweisen, wie schnell man sich unbeobachtet fühlt, wie leicht sich Tugenden verflüchtigen, dass das, was man als Fassade mit sich führt bei weitem nicht dem entsprechen muss, was das eigene Menschsein ausmacht.

„Sieben Tage Sommer“ erzählt scheinbar flockig, leicht von der Kraft der Verführung. Von der Versuchung, durch Reichtum und Macht im Hintergrund „Gott“ zu spielen. Von der Distanz, die Reichtum erzeugt und wie sehr Freundlichkeiten käuflich werden können. Thommie Bayers neuer Roman tut wie lockere Strandlektüre, erzählt aber von der unterschwelligen Macht des Geldes, von den Versuchungen der Masslosigkeit und dem irrigen Glauben, Glück wäre käuflich. Torbergs Versuch, die Macht seiner finanziellen Potenz in Dankbarkeit umzuwandeln, scheitert. „Sieben Tage Sommer“ ist das Protokoll des Scheiterns, vielleicht sogar mit einem Augenzwinkern an den göttlichen Versuch, in sieben Tagen ein Paradies zu erschaffen.

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Thommie Bayer und das Literaturhaus Thurgau laden nebst einer klassischen Lesung auch zu «Literatur am Tisch» ein. Gäste, die den Roman «Sieben Tage Sommer» gelesen haben, sind eingeladen, mit dem Autor zu diskutieren. Maximal 12 Gäste geniessen den Autor, die direkte Begegnung, das Gespräch begleitet von einem kleinen Imbiss, Wein und Getränken.
Literatur am Tisch – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus.» Andreas Neeser

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».

Webseite des Autors

Urs Mannhart mit Rapacitanium und einer Kuh im Literaturhaus Thurgau

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in eine Erzählgegenwart, in der mit Extremen dramatisiert werden muss, um mit den Extremen der Gegenwart die Gegenwärtigen zu rütteln. Urs Mannhart zu Gast im Literaturhaus Thurgau!

Als ich Urs Mannhart am Bahnhof Tägerwilen/Gottlieben abholte, erklärte er, er fühle sich gar nicht richtig „ausgestiegen“, irgendwie „durch den Wind“, denn eben habe er das zweiseitige Interview mit ihm in der NZZ gelesen. Er habe wohl damit gerechtet, habe man ihm doch den Text zum Gegenlesen zugesandt. Aber es sei doch irgendwie unwirklich, für ein Buch an dem er ein paar Monate mit aller verfügbaren Intensität geschrieben habe, nun derart viel und prominente Aufmerksamkeit zu erfahren. An seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ habe er mehrere Jahre geschrieben, ein mehrfaches an Energie investiert und die Resonanz lasse sich nicht vergleichen.

So waren beide Bücher des Autors auf dem Tisch, auch wenn er nur das eine mitgenommen hatte; sein Roman über einen Mann, der sich an den Fronten seines alltäglichen Kampfes verliert, dem die Erde buchstäblich unter den Füssen wegbricht und das Essay über Lentille, eine Kuh im Stall jenes jurassischen Kleinbauern, bei dem er zwei Tage in der Woche zweimal 10 Stunden arbeitet. So unterschiedlich die beiden Bücher in ihrer Erzählweise und Schauplätzen sind, das eine in der Welt eines teslafahrenden Kravattenträgers, das andere in einer, die nach Stall und Tieren riecht, so zeugen beide von der unbändigen Lust eines Schriftstellers, sich ganz in eine Welt hinein zu begeben. „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in die Schublade von Ökoromanen, ist aber ebenso Gesellschaftskritik wie das Essay „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“. Beides sind Bücher, die mich zur Selbstreflexion zwingen ohne jemals einen moralischen Zeigefinger zu schütteln. Beides sind Bücher, die sanft darauf hinweisen, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden, dass es naiv ist, weiterhin mit der Überzeugung zu leben, alles sei möglich.

Pascal Gschwind, der Protagonist aus dem Roman, ein Mann der eigentlich alles hat, eine neue Stelle in einem erfolgreichen Rohstoffkonzern, ein sattes Salär, eine Villa am Thunersee, das teuerste Teslamodell in der Garage und bald auch ein neues Boot, ein bisschen grösser als jenes seines Nachbarn, eine attraktive Frau, die sich mit Yoga verwirklicht und einen Sohn, der bislang stets tat, was man von ihm erhoffte, muss feststellen, dass sich die Erde nicht in jene Richtung dreht, die stets der Sonne zugewandt ist. Alles wankt. Das Beben erschüttert nicht nur ihn, sondern alles, was ihn ausmacht. 

Urs Mannhart, der an gleich zwei Veranstaltungen im Literaturhaus Thurgau mit seinem Schreiben im Zentrum stand, verstand es, in seiner ehrlichen und unmittelbaren Art, die BesucherInnen in seinen Bann zu ziehen. Zuerst im Format „Literatur am Tisch“, in einer kleinen Runde, die alle seinen Roman bereits gelesen hatten, die sich in einer Auseinandersetzung mit dem Buch bis in die Feinheiten seines Schreibens vorwagten. Und danach in einer klassischen Lesung im Scheinwerferlicht, vor einem Publikum, das dem Autor in äusserster Konzentration hinein in seine Geschichte folgte.

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“
„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“

Beitragsbilder © Philipp Frei

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Urs Mannhart «Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen», Secession

Ganz am Schluss des Romans steht ein Mann oben auf einer Treppe, ohne Geld, ohne Kreditkarte, ohne Brille, mit seinen Schnürsenkeln in der Hand. Er hat alles verloren, nur das eine nicht; seinen unbändigen Glauben, stets eine Chance zu haben. Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.

Man kann Urs Mannharts Roman mit einem Lächeln weglegen. Kann man. Wenn man aber weiss, das der Autor nichts anbrennen lässt und alles, was er schreibt, bis ins Detail recherchiert, dann muss im Weglegen schon mal ein kleines Zögern liegen, denn da gehen Welten unter. Man kann den Roman auch weglegen und argumentieren, das Personal sei allzu plakativ und klischeehaft gezeichnet. Aber der Gier, der Dummheit, der Naivität, dem Extremismus, der Verklärtheit, der Verblendung sind selbst in der realen Welt keine Grenzen gesetzt. Die Gegenwart beweist das offensichtlich. Somit müsste auch hier ein Zögern liegen, denn Verrücktheiten sind uferlos, in der Realität und lustvoll in der Literatur.

Pascal Gschwind ist noch nicht lange in der Führungselite eines international agierenden Bergbauunternehmens. Zwar noch in der Probezeit, aber mit bester Aussicht, das Vertrauen seines Chefs zu gewinnen. Gschwind wohnt in einer schmucken Villa am Thunersee, ist seit mehr als zwei Jahrzehnten verheiratet und gesegnet mit einem Sohn, der eigentlich immer tat, was von ihm zu erwarten war. In der Garage steht ein Tesla der Extraklasse und in ein paar Wochen auch im Bootshaus ein schmucker Schlitten, selbstverständlich um einiges schnittiger als der seines Nachbarn. Gschwind ist mehr als zufrieden mit sich selbst. Und als man in den Bergen über dem Thunersee per Zufall die Seltene Erde Rapacitanium findet, einen Rohstoff, der die Effizienz von Batterien revolutioniert, und Pascal Gschwind von seinem Chef darauf angesetzt wird, scheint einer gesegneten Zukunft im Schoss einer expandierenden Firma nichts mehr im Wege zu stehen. Wär da nur nicht die Tatsache, dass sich Dinge höchst selten so entwickeln, wie man sich das in seinen Träumen vorstellt. 

Während Pascal Gschwinds Frau, die ihren Mann bald nur noch aus der Erinnerung kennt, in den Armen eines fürsorglichen Nachbarn Trost findet, Levin, ihr gemeinsamer Sohn die Schule schmeisst und in den Wäldern mit Gleichgesinnten das wahre Leben zu suchen beginnt, Gschwind die Arbeit mehr und mehr über den Kopf wächst, obwohl er mit jeder Faser seines Seins die Oberhand zu gewinnen sucht, beginnt nach eilig beschlossenen Sondierbohrungen über dem Thunersee die Erde zu beben, der Wasserspiegel des Thunersees zu sinken und ein Strohsack voller Geld im Tesla seines Besitzers zu glühen.

Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, Secession, 2021, 280 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-96639-039-2

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in eine Erzählgegenwart, in der mit Extremen dramatisiert werden muss, um mit den Extremen der Gegenwart die Gegenwärtigen zu rütteln. Sei es in Fernsehserien wie „Tschugger“ zur blossen Unterhaltung oder in Romanen wie dem neuen von Urs Mannhart. Denn eigentlich ist mit den im Roman beschriebenen Szenarien nicht zu spassen, weder mit der Gier und der Dummheit der menschlichen Spezies, noch mit den drohenden Abgründen des wirtschaftlich Machbaren. „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ peitscht mich als Leser hin und her zwischen perfekter Unterhaltung, scheinbarer Satire und offensichtlichem Mahnfinger.
Schon mit seinem ersten Roman „Luchs“ ging es um den Kampf zwischen Mensch und Tier. In seinem umstritten gewesenen Roman „Bergsteigen im Flachland“ um den Krieg des Menschen gegen die Natur. Urs Mannhart, Reporter, ehemaliger Velokurier und ausgebildeter Biobauer kann und will nicht verbergen, dass es ihm um weit mehr als Unterhaltung geht. Urs Mannhart hat eine Mission. Sein Held in „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ gibt wenig Grund zur Hoffnung. Zu hoffen ist, dass das Zirpen bleibt!

Interview

Pascal Gschwind ist ein Erfolgreicher, „fühlt sich hineingebaut in eine Gemeinschaft von Auserwählten“. Ein Formulierung in deinem Roman, die mich in den Kniekehlen traf. Seien es die Glückseligen in irgendwelchen Anschauungen, seien sie religiöser, gesellschaftlicher, politischer oder sonstiger Natur. Müssen wir uns vor den Erfolgreichen fürchten, weil ihnen ihr Erfolg stets Recht gibt?
‹Erfolg› ist ein positiv besetzter, semantisch verengter Begriff, dem ein mächtiger Wandel bevorsteht. Erfolgreich zu sein in der Schweiz, das hiess bisher meist, viel Geld zu verdienen und Besitz anzuhäufen. Diese Art von Erfolg ist jedoch folgenreich: Konsum kostet, sei er nun privat, unternehmerisch oder staatlich, und ein grosser Teil dieser Kosten wird derzeit externalisiert. Nur so sind die dicken Löhne in wohlhabenden Ländern überhaupt möglich. Der Rest der Rechnung wird oft von der Natur, von Menschen in anderen Ländern und von kommenden Generationen bezahlt. Bald wird Erfolg bedeuten, unabhängig von Geld tragende Zufriedenheiten zu finden.

Du nennst deinen Protagonisten fast durch das ganze Buch stets mit Vor- und Nachname. Ich glaube, es gibt nur zwei Szenen, in denen aus Pascal Gschwind Gschwind wird. In beiden Szenen ist der geschwinde (schnelle) Gschwind durch das Schicksal arg gebremst, bis zum absoluten Stillstand. Muss der Mensch durch Schock wachgerüttelt werden?
Unvermittelt sind wir angekommen im Anthropozän, in einem Erdzeitalter, das uns daran hindert, die Folgen unseres Tuns länger kleinzureden. Allmählich bildet sich dies auch in den Medien ab. Aber Informationen richten wenig aus; wie die anderen Säugetiere auch verändert sich der Mensch nur äusserst träge. Am liebsten modifiziert er seine Gewohnheiten erst, wenn es anders nicht mehr geht. Unterdessen zeigen sich auch in Europa deutliche Folgen klimatischen Wandels – jedoch längst nicht derart dramatisch, dass man nicht weitermachen könnte wie bisher. Ein Schock wäre also nötig. Wenn ich die Berichte des IPCC lese, dann stehe ich unter Schock.

Die Grenze zwischen Erfolg und Prostitution ist fliessend. Machen dich die Einsichten, die du durch die Recherche zu deinem Roman gewonnen hast nicht hoffnungslos?
Hoffnungslos war ich mit 18, als ich, schwer pubertierend, einen Hass verspürte auf alle Autos und den so genannten Fortschritt. Unterdessen bin ich angekommen bei einem inneren Zustand, der sich vielleicht als gut gelaunt resigniert bezeichnen liesse. Heftige Widersprüche globaler Dimension auszuhalten, das gehört offenbar zum 21. Jahrhundert. Ich versuche, meine Liebe zur Langsamkeit zu leben: Die Hin- und Rückreise von Bern zum Internationalen Literaturfestival Berlin im September 2021 zählt zu meinen schönsten Erlebnissen des Jahres — mit dem Velo bin ich gereist, eine Woche hoch, eine Woche runter, mit Zelt und Schlafsack. Wunderbar.

Gschwind will alles und verliert alles. Er lebt in einem Krieg mit sich selbst, seiner Frau, die er eigentlich liebt, seinem Sohn, der sich ihm entgegenstellt, seiner Mutter, die ihr altes Leben abstreift, selbst mit seiner Grossmutter. Dein Roman liest sich wie ein Kriegsroman, dessen Fronten sich vermischen, in denen alles wegzubrennen droht. Dein Buch gewordener Alptraum?
Ich denke, Gschwind will unbedingt das Gute. Für seine Liebsten, für sich, für die Gesellschaft. Bloss versteht er nicht, wer die Grundlagen der Ökonomie liefert. Als deren Grundlagen sieht Gschwind den Kapitalismus und dessen Gesetzmässigkeiten. Auf was dies fusst, erkennt er nicht; von der Natur hat er sich entfremdet. Wie zahlreiche Menschen im 21. Jahrhundert.

Eine Leserin hat mir geschrieben: «Sie beschreiben alles als Groteske, aber irgendwie ist es auch erschreckend real.» Ich jedenfalls habe den Verdacht, es könnte sich bei Gschwind wider Erwarten nicht um eine Karikatur handeln. 

Urs Mannhart liest aus seinem neuen Roman in der Buchhandlung Bostryche in Biel

Neben deinem Beruf als Reporter, jenem des Schriftstellers, bist du nun auch ausgelagerter Bauer. Was macht die Kombination von Schreiben und Bauern mit Urs Mannhart?
Das Landwirten hält mich in meist angenehmer Weise davon ab, nur am Schreibtisch zu sitzen. Und es politisiert mich, es erhellt meine Sicht auf das Ökologische. Wer selber wertvolle Lebensmittel herstellt, bekommt einen anderen Bezug zum Essen. Betrete ich einen Supermarkt, bekomme ich sogleich schlechte Laune. Die immer noch weiter fortschreitende Industrialisierung beim Anbau von Pflanzen und bei der Haltung von Tieren ist grauenerregend. — Jetzt bin ich freilich eingeschüchtert, weil Du eingangs die ‹Glückseligen in irgendwelchen Anschauungen› erwähnt hast. Aber als Biolandwirt habe ich tatsächlich eine politische Haltung, und für eine ökologische, tiergerechte und sozialverträgliche Landwirtschaft gibt es meiner Meinung nach eindrückliche Argumente, die sich fern aller Emotionen verankern lassen. Dass ich mich derzeit auf einem kleinen, tierhaltenden, ökologisch wirtschaftenden Hof in der Nähe von La Chaux-de-Fonds engagiere, heisst offenbar, dass ich tatsächlich noch nicht ganz hoffnungslos geworden bin. Vielleicht werde ich künftig vermehrt über Landwirtschaftliches schreiben?

Urs Mannhart, geboren 1975, lebt als Schriftsteller, Reporter und Landwirt in der Schweiz. Er hat Zivildienst geleistet bei Raubwildbiologen und Drogenkranken, hat ein Studium der Germanistik abgebrochen, ist lange Jahre für die Genossenschaft Velokurier Bern gefahren, war engagiert als Nachtwächter in einem Asylzentrum und absolvierte auf Demeter-Betrieben die Ausbildung zum Bio-Landwirt. Für sein literarisches Werk erhielt er eine Reihe von Preisen, darunter 2017 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Im selben Jahr war er zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb eingeladen; sein Text stand auf der Shortlist.

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Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau 

Am «Ort der Erquickung» mit Zora del Bouno

Weil das Literaturhaus im vergangenen Frühling gezwungen war, wegen Corona Veranstaltungen zu verschieben oder gar abzusagen, wurden zwei jener Lesungen ins Kunstmuseum in der Kartause Ittingen verlegt. Ein Glücksfall für die Schriftstellerin Zora del Buono und ihren Roman «Die Marschallin» und ein gutes Zeichen in die Zukunft!

Für einmal hatte der Zwang, sich wegen der Auswirkungen der Pandemie etwas einfallen zu lassen, auch eine gute Seite. Was mit den ersten zwei Veranstaltungen in einer Kooperation von Kunstmuseum und Literaturhaus Thurgau begonnen hat, zeigt alle Vorzeichen, dass daraus eine fruchtbare Zusammenarbeit der beiden Institutionen werden kann. Zum ersten Mal gastierte «Literatur am Tisch» weder im Wohnzimmer des Intendanten des Literaturhauses noch im Bodmanhaus in Gottlieben selbst, sondern in einem der schönsten Räume, den das Kloster Ittingen zu einem Juwel im Thurtal macht.

Einst war es der repräsentative Speisesaal der Kaurtause, in dem allerdings nur an Sonntagen gespeist wurde. Und weil der Orden der Kartäuser ein eremitischer Orden ist, der sich ganz der Kontemplation und damit dem Schweigen verschreibt, wurde auch an den sonntäglichen Mittagessen geschwiegen, einzig begleitet durch geistliches Vorlesen in Latein. In jenem Raum an der Schmalseite unter dem Kruzifix sass für einmal nicht ein:e Prior:in, sondern die Schriftstellerin Zora del Buono. Um 18 Uhr nicht für eine Lesung in gewohntem Rahmen, sondern mit 11 Gästen zusammen zu Speis und Trank und einer äusserst angeregten Diskussion über ihren aktuellen Roman «Die Marschallin«. 

Im Anschluss daran las die Schriftstellerin im Museumskeller, in jenem Teil, in dem das «Adlerflügelfahrrad mit aufgesetztem Drachendeck», ein Kunstwerk von Gustav Mesmer auf einer hölzernen Rampe steht, als wolle es in den Himmel abheben. Was auf der Rampe im Moment erstarrte, passierte dafür umso mehr auf der Bühne mit der Geschichte um die Grossmutter der Autorin, der Geschichte eines ganzen Jahrhunderts, einer «Unglücksfamilie», einer Familie mit fünf Toten durch «höhere Gewalt», der Geschichte einer aristokratischen Kommunistin. Literatur hob ab!

Zora del Buonos Lesung im Museumskeller, moderiert von Cornelia Mechler

«Kartause Ittingen: Nie zuvor da gewesen (schlimme Bildungslücke), dafür gestern gleich im Doppelpack. Erst Literatur am (wunderbar gedeckten) Tisch mit köstlichem Käse und klostereigenem Wein. Danach die Lesung im Weinkeller (ohne Wein). Die Marschallin selig hätte es gefreut, in so stilvollem Ambiente präsentiert zu werden. Ich habe mich gefreut, von Gallus und Cornelia so munter durch den Abend begleitet zu werden; der Hund hat sich gefreut, von Gallus ausgeführt zu werden (der Weinkeller behagte dem Tier nicht); kurz gesagt: Freude allerseits. Grazie mille.» Zora del Buono

Am 28. Oktober geht im Museumskeller des Kunstmuseums die kleine Reihe aussergewöhnlicher Lesungen weiter. Dann liest Dragica Rajćić Holzner aus ihrem Roman «Liebe um Liebe«. Informationen zu dieser Lesung finden Sie auf der Webseite des Literaturhauses.

Mit Martina Clavadetscher am Tisch

«Martina Clavadetscher zählt zu den originellsten und wagemutigsten Stimmen ihrer Generation», schreibt Manfred Papst in der NZZ am Sonntag. Mit Sicherheit. Und nicht erst seit ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams». Dass die Schriftstellerin einem ausgesuchten Kreis von Leser:innen so viel Nähe zuliess, war ein ganz besonderer Genuss.

«Literatur am Tisch» soll nicht nur für die Leser:innen zu einer besonderen Begegnung werden, sondern auch für die eingeladenen Schriftsteller:innen. Weil alle Gäste das Buch gelesen haben, weil man im kleinen Kreis darüber spricht und das Buch, den Roman deshalb ganz besonders genau und aufmerksam las, vielleicht sogar mehrmals, werden Gespräche über den Inhalt, über Leseeindrücke, Gewichtungen, die Sprache zu ganz besonderen Gesprächen, vertiefen sich immer weiter und erreichen Schichten, die bei Lesungen der üblichen Art nie erreicht werden können.

«Was für ein zauberhafter Abend mit zauberhaften Menschen: das Essen, der Wein, das spannende Gespräch zu meinem Buch, interessant, inspirierend, wir haben die Zeit vergessen und fast den Zug verpasst – danke für dieses «Literatur am Tisch»; genau so soll es sein! Herzlich M. Clavadetscher»

Aber auch die Autor:innen schwärmen nach solchen Veranstaltungen. Sie erfahren Wirkung, erleben direkt, was die Lesenden bewegt, befremdet, welche Fragen sie sich stellen, was sie beeindruckt oder verunsichert. Dass Martina Clavadetscher mit ihrem Roman viel mehr als blosse Unterhaltung liefern will, wird einem schon nach wenigen Seiten in ihrem Roman klar. «Die Erfindung des Ungehorsams» zwingt Leser:innen, sich ganz hineinzugeben. Und wer sich dann auf eine Begegnung mit der Autorin, auf eine Veranstaltung wie «Literatur am Tisch» einlässt, wird mit Perspektiven und Einsichten belohnt, die sonst verborgen bleiben.

© Janine Schranz

«Ihre natürliche, unkomplizierte, authentische Art hat mich gleich von Beginn weg begeistert. So ehrlich und spontan und auf Augenhöhe mit ihr über ihr Werk zu plaudern, hat mir sehr gut gefallen.  
Dank dem engagierten Austausch in unserer tollen und aufmerksamen Runde, durfte ich wieder viele neue Facetten in diesem Roman entdecken.» T. Hanselmann

«Es war ein sehr schöner Abend mit einer sehr klugen und ebenso sympathischen Martina Clavadetscher. Einmal mehr habe ich erfahren, wie bereichernd es ist, sich an eurem Tisch auszutauschen. Wunderbar auch, dass sich alle trauen ihre Leseerfahrungen mitzuteilen und dass die Autorin interessiert ist an den Feedbacks.» E. Berger

«Ein anspruchvolles Buch, das fasziniert, verwirrt und sprachlich begeistert! Martina Clavadetscher schaffte es auf eine sehr sympatische Weise auf unsere Fragen einzugehen, Hintergrundinformationen zu geben, unseren Gedankengängen zu folgen und sich darüber zu freuen! Dass sie zum Schluss eine meiner Lieblingsstellen vorlas, freute mich sehr!» D. Lötscher

«Zusammen mit der erfolgreichen Autorin, Martina Clavadetscher, durften wir bei Speis und Trank einen geselligen, lehrreichen Abend bei Gallus und Irmgard erleben. Bei den interessanten Ausführungen der Autorin und der Diskussion mit meinen Kolleginnen und Kollegen vom Lesekreis wurde mir wieder einmal mehr bewusst, wie wertvoll solche Begegnungen sind. Sie tragen wesentlich zum besseren, vertieften Verständnis des Gelesenen bei. «Die Erfindung des Ungehorsams» von Martina Clavadetscher wurde so von verschiedenen Seiten her beleuchtet und wohl jedem von uns nähergebracht. Ich danke der Autorin und den Gastgebern, Gallus und Irmgard, herzlich für den bereichernden literarischen Abend.» C. Blumer

«Das gelesene Buch hat sich mir – im hautnahen Austausch mit der Autorin – noch einmal ganz anders erschlossen. Was für ein Glück für jede Leserin und jeden Leser, mit einer Autor:in direkt ins Gespräch kommen zu können.» M. Sachweh

Das nächste «Literatur am Tisch» findet am 29. Juli, um 18 Uhr mit der Schriftstellerin Zora del Buono in der Kartause Ittingen statt. Die Anzahl der Gäste ist limitiert, damit ein Gespräch, bei dem man sich einbringen kann, auch wirklich stattfinden kann. Im Anschluss an «Literatur am Tisch» liest Zora del Buono um 20 Uhr aus ihrem Roman «Die Marschallin» im Museumskeller oder bei schönem Wetter im Klostergarten.

Anmeldung zu «Literatur am Tisch» mit Zora del Buono hier.

Beitragsbilder © Janine Schranz

Einlandung zu «Literatur am Tisch» mit Martina Clavadetscher und ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams»

Am 7. Juli lädt Literaturport Amriswil zu «Literatur am Tisch» ein. Ein ganz besonderes Format mit einer ganz besonderen Autorin.

Hitze, Regen, beissender Gestank. Iris tigert in Manhattan durch ihr Penthouse und wartet voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty, die ihr wieder ein wenig Leben einhaucht. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler, bevor sie sich abends bei Filmklassikern in ihre Einsamkeit zurückzieht. Und im alten, düsteren Europa folgt Ada ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen, das Ungeheuerliche stets im Kopf.

Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort – nach dem Kern der Dinge. Und sie alle sind, ohne es zu ahnen, miteinander verbunden.

Alle Teilnehmenden sollten das Buch gelesen haben. Das Treffen beginnt um 19 Uhr und dauert in der Regel bis 21 Uhr. Für 50 CHF bekommen Sie einen Abend in Literatur eingetaucht, Speis und Trank und eine unvergessliche Erinnerung!

Eine Anmeldung ist unerlässlich, die Platzzahl sehr beschränkt! info@literaturblatt.ch

Literatur am Tisch bei Gallus und Irmgard Frei-Tomic – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus. Für zwei, drei Stunden. Eine wunderbare Leichtigkeit, die man gerade als Autor selten empfindet.
Ich wünsche Gallus und Irmgard, dass Sie noch lange die Kraft haben, Menschen auf diese Art und Weise das Gefühl vom Fliegen zu ermöglichen!“ Andreas Neeser

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag

Vielleicht ist es die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine, der perfekten Hilfskraft, des perfekten, bedürnislosen Dienens. Ganz sicher ist er der Reiz des Machbaren, Erschaffer:in zu werden. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Ein Roman, der den menschlichen Code zu knacken versucht, jenes Geheimnis, das uns zu Menschen macht.

Schon in ihrem letzten Roman „Knochenlieder“ spielte Martina Clavadetscher derart gekonnt und verblüffend mit ihrer Sprache, ihrem Sound, ihrer Konstruktion, ihrem ganz eigenen Instrumentarium, dass sie für mehr als „nur“ den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die grosse Schwester ihres letzten Romans. Formal ähnlich gestaltet (im Flatter- nicht im Blocksatz), manchmal fast an Lyrik erinnernd, über weite Strecken geschrieben, als wäre die Autorin monologisierend auf einer schwarzen Bühne im Scheinwerferlicht, das Szenario in den Köpfen der Zuhörer:innen aufsteigen lassend. „Die Erfindung des Ungehorsams“ geht aber noch einen Schritt weiter, steht „Knochenlieder“ in nichts nach, überflügelt ihn.

„Ihr Leben verläuft nach Plan.“

Martina Clavadetscher will nicht einfach eine spannende Geschichte erzählen. Sie erzeugt während des Lesens das Bewusstsein, wie schmal der Grat zwischen Realität und Künstlichkeit ist, wie nah wir uns in unserer Gegenwart einer bedrohlich werdenden Zukunft nähern, wohin uns unsere Fantasielosigkeit gepaart mit Profitdenken führen kann, wie klein der Unterschied ist zwischen Menschlichkeit und Automatismus. Dabei rankt sich ihre Sprache in Sphären, die in der deutschsprachigen Literatur nur selten anzutreffen sind. Ihre Sprache, ihr Erzählen ist alles andere als künstlich und schafft einen erstaunlichen Kontrast zum fast blutleeren Geschehen in der Geschichte.

„Gesetzmässigkeiten tarnen sich bloss mit Willkür, damit das Logische nach aussen unlogisch wirkt.“

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag, 2021, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-293-00565-5

Iris lebt irgendwo in Manhattan in einem Penthouse. Sie erwartet Gäste, wartet mit Ungeduld. Es wird eine kleine Party sein, wie immer und jedes Mal, mit Godwin und Wollstone, zwei älteren Damen. Iris hat den Part der Erzählenden, während die Gäste lauschen. Iris erzählt aus dem Leben von Ada, Ada Lovelace, die es wirklich gab, die vor mehr als 200 Jahren in England lebte und die Tochter jenes berühmt, berüchtigten englische Dichters Lord Byron (1788–1824) war, den sie aber nie kennen lernte. Von ihrer gestrengen Mutter (im Buch Übermutter) erbte sie das überdurchschnittliche Geschick mit Zahlen, das sie schon in jungen Jahren mit dem Mathematiker Charles Babbage zusammen brachte, der eine Differenzmaschine entwickelte, etwas, das sich als Vorläufer der heutigen Computer entpuppte. Ada, einst ein kränkliches Kind, von der Mutter überbehütet, um es aus dem langen Schatten ihres unseligen Vaters zu zerren, entwickelte mit Charles Babbage die Idee einer Maschine, die weit mehr kann, als jene Spielmaschinen, mit denen man damals ein Publikum zu faszinieren vermochte.

In „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die Geschichte eingebetet in jene der „Halbschwester“ Ling, die an einem andern Irgendwo irgendwann Arbeiterin in einer Produktionsstätte für Sexpuppen ist, alle identisch konzipiert nach dem Vorbild einer Schauspielerin, einer Fanny Lee, die die Hauptdarstellerin eines Film ist, den Ling längst zu ihrem Lebensbegleiter gemacht hat, den sie immer wieder in ihren dämmrigen Feierabenden sieht, nach Tagen, die zwischen Fabrik und Wohnsilo immer gleich aussehen. Lings Arbeit in der Fabrik ist es, die Körper nach dem Guss nach Silikonresten zu untersuchen, bevor sie noch ohne Kopf an einen Haken gehängt werden, um in einer nächsten Halle mit dem Haupt versehen zu werden, einem Modul, das interaktiv auf einen zukünftigen Besitzer regieren soll.

„Ling, das Programm hat gelernt zu lügen.“

Ling ist einsam. Bis sie einen der kopflosen Körper mit nach Hause nimmt, bis sie Jon B., einen der Wachmänner der Sexpuppenfabrik bei sich zuhause einlässt, bis der Wunsch nach Gemeinschaft aus den Treffen in Lings Wohnung Konspiration werden lassen und ein Wagnis daraus entstehen soll.

Martina Clavadetscher verwebt die verschachtelten Erzählstränge aber so, dass ich als Leser nie den Überblick verliere, gewisse Details und Feinheiten aber doch nur bei ganz genauer Lektüre zum Vorschein kommen. So wie etwa das Detail, dass hinter den Namen Godwin und Wollstone die Mutter der Schriftstellerin Mary Shelley, der Schöpferin Frankensteins, Mary Wollstonecraft-Godwin verbirgt. Frankenstein, ein Diener, ein Geschöpf aus der Hand eines Menschen, abgekoppelt von einer natürlichen Ordnung.

„Das Unzähmbare lebt. Es keimt. Und bringt etwas ganz Eigenständiges hervor.“

Martina Clavadetscher gelang mit ihrem Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ Erstaunliches und Verblüffendes! Der Roman bietet genau das, was sich Leser:innen wünschen, die mehr als nur unterhalten werden wollen. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist vielschichtig, vieldeutig und poetisch zugleich!

© Ingo Höhn

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin, Dramatikerin und Radio-Kolumnistin. Ihr Prosadebüt «Sammler» erschien 2014. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Theaterstück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war im selben Jahr für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für «Knochenlieder» erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung und wurde 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Rezension und Interview zu «Knochenlieder» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Ingo Höhn