Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck

Es wird auch an diesem Tag heiss in Berlin. Ruth Lember, angesehene Ethikprofessorin, auf dem Zenit ihres Berufslebens, läuft morgens ihre Runde. Bis ein Hund, ein Biss, ein Mann, ein Couvert sie aus der Bahn wirft. Was wie in Stein gemeisselt schien, zerbröselt. Ulrich Woelk schrieb mit „Mittsommertage“ einen Roman über unsere fiebrig aufgeladene Gegenwart.

Ruth ist in diesen Mittsommertagen durchaus in Festlaune. Da ist nicht nur ihre Berufung als Mitglied des Deutschen Ethikrats. Ben, ihr Mann gewinnt einen Architekturwettbewerb, der Türen und Tore öffnen soll und Jenny, seine Tochter, die er mit in die Ehe brachte, studiert Kommunikation und scheint dort angekommen zu sein, wo sie schon immer hinwollte. Durchaus Glück angesichts dessen, was in der Ukraine passiert, was man in der Pandemie durchzustehen hatte und was sich in der flimmernden Hitzeglocke über der Hauptstadt überdeutlich manifestiert. Ruth spürt genau, dass nichts so ist, wie es scheint, ob im Beruf oder ihrer Ehe, ob mit ihren Idealen oder der scheinbaren  Perfektion ihrer inszenierten Gegenwart.

Als sie in den noch frischen Morgenstunden auf ihrer Laufrunde dem Lietzensee entlang von einem nicht angeleinten Hund gebissen wird, kein schlimmer Biss, aber einer, der mehr als nur zwei kleine Wunden hinterlässt, scheint etwas förmlich angestochen zu sein. Ein jahrzehntelang ruhender Einschluss der Zeit, der sich wie ein aufgestochener Furunkel als Gift in ihrem Körper, ihrem Sein, ihrer Gegenwart verteilt. Was mit einem harmlos scheinenden Biss seinen Anfang nimmt, entzündet sich mehr und mehr, bricht auf, bis Ruth gezwungen ist, ihr Leben nicht bloss zu überdenken, sondern neu zu ordnen.

Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck, 2023, 284 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-406-80652-0

Den Biss des Hundes bekommt Ruth nach anfänglichem Zögern mit Hilfe von Antibiotika in den Griff. Aber als zuerst bei einer Vorlesung ein älterer Mann im Hörsaal sitzt, den sie nicht einordnen kann und dieser ihr wenig später noch einmal in einer Strassenbahn schräg gegenübersitzt und schlussendlich an der Tür ihres Büros an der Uni klopft und wie ein Geist aus einer vergessenen Vergangenheit auftaucht, schwant Ruth, dass sich etwas ausbreitet, das zu einem Gift werden kann. Denn Ruth spürt, dass ihr Leben eine Dynamik angenommen hat, der sie kaum mehr etwas entgegenhalten kann. Aus den Idealen der Vergangenheit ist satte Zufriedenheit geworden. Aus der Liebe mit Ben ein gut inszeniertes Nebeneinander ohne Leidenschaft und Zärtlichkeiten. Aus der Gegenwart einer 55jährigen erfolgreichen Professorin ein Leben in Zwängen und Mechanismen.

Der Mann, der in ihrem Büro auftaucht, ist Stav. Als Ruth jung war, auf der Suche nach Antworten, als man sich gegen Atomkraft und die Macht der Konzerne auflehnte und nach Wegen suchte, sich dem Unausweichlichen entgegenzustellen, war Stav nicht nur ihr geheimer Freund und Liebhaber, sondern Kampfgenosse. Er sei wieder augetaucht, weil er ihr übergeben wolle, was von jenem Kampf übrig-, zurückgeblieben sei, ein Umschlag mit Fotos, Plänen und Bekennerschreiben, den Spuren eines Geheimnisses, das Ruth eigentlich begraben geglaubt hatte, einem Geheimnis, von dem niemand wusste, auch Ben ihr Mann nicht.

Was Klimaaktivisten zur Strategie erklären, war Ruth damals Programm. Was ihrer Ziehtochter Jenny als Notwendigkeit erscheint und einer ganzen Generation den Atem raubt, schlummerte wie eine hart gewordene Pustel unter der gepuderten Gegenwart von Erfolg und aufgesetzter Zufriedenheit. Es ist heiss über der Stadt, fiebrig heiss. Was sich unter Ruths Haut in ihrem ganzen Körper ausbreitet, ist ein Gift, das sie zu Fall bringen droht, das alles mit sich in die Tiefe reisst. Ruth wird aus ihrem Gravitationfeld katapultiert.

Ulrich Woelk beschreibt, wie sich das Gift langsam entfaltet, wie es den Stein, auf dem Ruth ihre Gegenwart einrichtete und ihre Zukunft sieht, zerbröselt. Und Ulrich Woelk stellt Fragen. Was macht echtes Leben aus? Stellen wir uns dem, was die Zeit von uns fordert, was in der Vergangenheit tief unter den Schichten des Vergessens und Verdrängens modert? Sind wir ehrlich, uns selbst gegenüber und all jenen, von denen wir behaupten, sie zu lieben? Ist das, was wir an Rebellion in jungen Jahren durchleben wie der Biss eines Hundes, den man mit „Antibiotika“ behandeln kann? „Mittsommertage“ ist der Versuch einer Diagnose einer Gegenwart, die in Schieflage geraten ist, von Menschen, die sich nur allzu gerne täuschen lassen wollen.

Interview

In ihrem Roman ist es der Biss eines Hundes. Eigentlich nichts Spektakuläres. Aber mit anderem kombiniert wird der Biss zu einem Teil einer fatalen Kettenreaktion. Viele von uns erleben solche Situationen. Und einer, der wie ich Jahrzehnte joggte, mit Hunden sowieso. Situationen, die eine Lawine auslösen. Lawinen, die alles verändern. Das eine verschütten, anderes freilegen. War ein Hund die Initialzündung zu Ihrem Roman?
Die Ursprünge der Idee zu dem Roman liegen in den Vor-Corona-Jahren 2018 und 2019, als sich Greta Thunbergs Fridays for Future-Bewegung schnell zu einem weltweiten Phänomen entwickelte. Ich musste dabei an meine Studentenzeit denken. Ich hatte in Tübingen in den Achtzigern eine Kabarettgruppe, und „global warming“, wie es damals hiess, und das Ozonloch waren Themen. Dass gut dreissig Jahre später Schüler und Studenten für das Klima auf die Strasse gingen, hat mich beschäftigt. Da wirft die junge Generation der älteren etwas vor, was diese gar nicht anders gesehen hat – jedenfalls in jenen Kreisen, die man seinerzeit mit den Begriffen Alternativkultur oder Ökoszene etikettiert hat. Und aus diesem Widerspruch ist dann so peu á peu die Idee zu „Mittsommertage“ hervorgegangen. Die Szene mit dem Hund entspringt aber tatsächlich meinen Erfahrungen als Gelegenheitswalker. Und irgendwann dachte ich, dass sie ein hervorragender Einstieg in die Geschichte ist, die ich erzählen wollte.

Ruth und Ben zusammen mit seiner Tochter Jenny entsprechen so ziemlich dem „Durchschnittsbild“ einer erfolgreichen, westeuropäischen Familie. Beide haben Karriere gemacht, das Familiengefüge das „Resultat“ mehrerer Beziehungen, man wähnt sich auf der sicheren Seite – bis Ereignisse, die nicht zu steuern sind das doch so filigrane Gefüge mehr als nur ins Wanken bringen. Haben wir auf Sicherheit und Reibungslosigkeit getrimmte Bewohner der „ersten Welt» nicht längst die Bodenhaftung verloren, den Sinn für das „Risiko Leben“?
In der Vor-Coronazeit hätte man das sicher sehr uneingeschränkt behaupten können. Aber die Ereignisse seither – die Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine, die wirtschaftliche Unsicherheit – haben schon dazu beigetragen, bei vielen das Gefühl einer unberechenbaren Bedrohung durch äussere Umstände aufkommen zu lassen. Diese Themen bilden den Hintergrund der Romanhandlung im Sommer 2022. Das ist der Ausgangspunkt für Ruth, meine Protagonistin: Die Welt ist diffus instabiler geworden, und nur beim morgendlichen Joggen um den See „kann Ruth sich der Vorstellung hingeben, dass sich überhaupt nichts geändert hat“, wie es gleich zu Beginn heisst. Und in diesem vermeintlich letzten sicheren Refugium passiert dann der Hundebiss, der eine für Ruth so fatale Kette von Ereignissen in Gang setzt.

Ruth hat eine Vergangenheit, die sie für sich beerdigte, von der nicht einmal Ben etwas wusste. Sie schleppt einen Teil ihres Lebens herum, der unter Verschluss hätte bleiben sollen. Eine Vergangenheit im „radikalen Widerstand“.  Ist dieser Hundebiss letztlich nicht ein Glück? Er beisst etwas auf.
So kann man das rückblickend natürlich sehen. Aber immerhin kommt Ruth nach dem Biss durch einen anaphylaktischen Schock beinahe ums Leben. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sie mit der Verdrängung ihrer Vergangenheit recht gut, erfolgreich und glücklich leben – abgesehen vielleicht davon, was ja immer mal wieder an ihr nagt, dass sie kein eigenes leibliches Kind hat. Auch das ist eine Folge ihrer Vergangenheit und der Tatsache, dass sie Karriere als Philosophie-Professorin gemacht hat und zum Mitglied in den Deutschen Ethikrat berufen wird. Doch da sie sich mit der Tochter ihres Mannes sehr gut versteht, ist sie mit sich im Reinen. Jenny kommt mit Ruth in politischer Hinsicht sogar besser klar als mit ihrem Vater, der für Klimakleber und Gendersprache nicht besonders viel übrig hat. Dass dieses berufliche und familiäre Gefüge, in dem Ruth sich gut eingerichtet hat, am Ende einzustürzen droht – das ist für sie zunächst mal eine Katastrophe. Als Erzähler gewähre ich ihr am Schluss aber eine Art Lichtblick. In jedem Ende liegt ja auch ein Anfang, das stimmt. Doch ob von Ruths bisherigem Leben noch etwas zu retten ist, lasse ich bewusst offen.

Jenny ist jung und wie viele aus ihrer Generation sehr wohl aufgeschreckt durch die Klimaprotestaktionen in Städten und Ballungszentren. Ich glaube, sie spürt wie viele, dass es unmöglich sein kann, dass das Weltgeschehen ohne Kurswechsel an einer globalen Katastrophe vorbeischrammen kann. Warum traut sich Ruth nicht, ihren Panzer aus Sicherheit und Angst zu verlassen?
Es ist ja sehr menschlich, dass man versucht, an dem, was gut funktioniert hat, so lange wie möglich festzuhalten. Die Anzeichen, dass etwas nicht mehr stimmt, kommen für Ruth sehr schleichend. Sie spürt, dass ihrer Ehe allmählich der Schwung abhanden kommt. Als Jenny auszieht, ist das Leben mit Ben ungewohnt und nicht so frei, wie beide sich das vorgestellt haben. Es hat für sie als Paar nie eine Zeit ohne Jenny gegeben. Die äusseren Veränderungen stellen Ruths Leben aber nicht gleich auf den Kopf. Es gibt für sie einfach nicht den Punkt, alles radikal infrage zu stellen. Und dann kommt es in dieser Woche, von der ich erzähle, in wenigen Tagen zum Einsturz ihres Lebenssystems. Der Hundebiss ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Stav taucht auf. Der Mann aus der Vergangenheit. Eigentlich der perfekte Gegenentwurf zum Leben von Ruth und Ben. Selbst ich als Leser traute ihm zu Beginn alle möglichen bösen Absichten zu, weil er ausgerechnet in dem Moment, wo Ruth in den Fokus einer grossen Öffentlichkeit tritt, mit brisanten Zeugnissen aus der Vergangenheit auftaucht. War meine Lesereaktion eine von Ihnen „programmierte» Absicht
Als Autor war mir bewusst, dass Stav zu Beginn, da man seine Absichten noch nicht kennt, als ambivalente Person in Erscheinung tritt und sich damit ein Spannungsmoment verbindet. Es ist ein klassisches Motiv des Erzählens. „Der unheimliche Gast“ bei E.T.A. Hoffmann oder der Landbesitzer Pozzo in „Warten auf Godot“. Beim Lesen oder Zuschauen weiss man, diese Figuren bringen etwas in Bewegung – auch wenn diese Bewegung bei Beckett als einem Vertreter der Moderne komplett ins Leere läuft. Als Autor fühle ich mich dem Erzählen literarisch mehr verbunden als dem Formalen. Bestimmte Dinge werden immer unser Interesse wecken: Die Tür geht auf, und man fragt sich, wer hereinkommt? Da sieht man hin.

Sind wir eine Gesellschaft der Opportunisten geworden?
Ich denke, es hat zu allen Zeiten beides gegeben: Opportunismus und Überzeugungshandeln. Es ist sogar so, dass aus dem einen das andere hervorgehen kann. Die Umweltbewegung ist dafür auch ein Beispiel: Die Anfänge dieser Bewegung aus den Siebziger- und Achtzigerjahren waren eine von tiefen Überzeugungen getriebene Entwicklung. Mittlerweile – das jedenfalls ist mein Eindruck – sind eine Menge Opportunisten auf den Zug aufgesprungen. Es kostet nicht mehr viel, für Umwelt- und Klimapolitik einzutreten, es ist fast schon wohlfeil. Man hat den Eindruck, alle sind dafür, und trotzdem wird weiter Auto gefahren, ungebremst konsumiert und in den Urlaub geflogen. Das schürt Frustrationen, Ärger und Ängste.
Eines kann man aber sagen: Ruth ist sich dieser Problematik bewusst. Es ist ihr wichtig, ihre Handlungen und Überzeugungen immer wieder daraufhin zu überprüfen und zu hinterfragen, ob sie nicht auch längst einem opportunistischen Prinzip folgen. Dass sie sich immer wieder auch in Frage stellt, verbindet mich als Autor mit ihr. Am Ende gesteht sie sich ein, dass sie zu dem Stehen muss, was ihr widerfahren ist. Sie schiebt die Schuld nicht anderen in die Schuhe. Als Autor muss ich immer auch ein Teil meiner Figuren sein, ich muss sie in mir aufspüren können. Und das ist bei Ruth so.

Ulrich Woelk (1960) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er studierte Physik und Philosophie. Sein erster Roman «Freigang» erschien 1990. Zuletzt veröffentlichte er mit großem Erfolg den Roman «Der Sommer meiner Mutter«, der auf der Longlist des deutschen Buchpreises stand und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Für die Fertigstellung von «Für ein Leben» erhielt Ulrich Woelk den Alfred-Döblin-Preis.

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur», Plattform Gegenzauber

Ulrich Woelk «Nacht ohne Engel», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bettina Keller

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur», Plattform Gegenzauber

Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Planetenschreiber des Merkur zu werden. Ich wusste kaum etwas über diesen ziemlich abgelegenen Ort des Sonnensystems und hätte auch höflich abwinken können. Aber ich dachte, dass es vielleicht ganz gut wäre, ein halbes Jahr mit festen Bezügen auf der hiesigen Orbitalstation zuzubringen, um mit meinem Roman voranzukommen. Keine Ablenkung, nur die Konzentration auf das Wesentliche. Schreibtisch mit Aussicht auf das Universum. Und der Blick aus dem Panoramafenster meiner Planetenschreiberwohnung ist wirklich beeindruckend. Die Sonne schwebt riesengroß über der Sichel des Merkur. Aber spätestens nach einer Woche kennt man das natürlich und hat sich dran gewöhnt.

Die Station ist klein. Es gibt ein Café und zwei, drei Läden für die alltäglichen Dinge. Einmal in der Woche kommt ein Service-Techniker vorbei und sieht nach dem Rechten. Und jeden Monat dockt ein Versorgungsschiff von der Erde an und bringt alles Notwendige für die Besatzung und die Siedler unten auf dem Planeten. Bei denen hätte ich mich als Planetenschreiber auch einquartieren können, aber sie leben am Boden eines Kraters am nördlichen Merkurpol, der ganzjährig im Schatten liegt. Logisch – im Sonnenlicht herrschen schlappe zwei- bis vierhundert Grad oder noch mehr. Da zieht man sich lieber in den Schatten zurück, auch wenn es dort mit minus zweihundert Grad ziemlich frisch ist.

Ja, so ist das – auf dem Merkur ist es unerträglich heiß, es sei denn, es ist unerträglich kalt. Die Probleme habe ich hier oben nicht. Die Station ist immer bestens temperiert, da kann ich mich nicht beschweren. Nimmt man das beeindruckende Sonne-Merkur-Panorama hinzu, auf das ich von meinem Schreibtisch aus schaue, sollte es mit der Arbeit an meinem Roman also eigentlich gut vorangehen. Aber irgendwie bringe ich nichts Gescheites zu Papier, um diese uralte Redewendung zu benutzen.

Irgendetwas lähmt mich, und allmählich habe ich die Befürchtung, es könnte der Merkur selbst sein. Auf ihm zieht sich alles unsäglich in die Länge. Ein Merkurtag dauert, wie ich inzwischen herausgefunden habe, knapp 176 Erdentage. Klar, dass man da zu nichts kommt. Man denkt immer, ich habe ja noch genug Zeit bis zum Abend, also mache ich erstmal was anderes oder gar nichts. Und eigentlich gibt es in der Station ja auch mehr oder weniger nichts zu tun. Man muss nicht putzen oder lüften oder den Rasen mähen. Und man kann auch nicht vor die Tür gehen, um mal eben frische Luft zu schnappen. Ich denke immer, das mit dem Schreiben kommt schon noch. Du musst dich erstmal akklimatisieren. Und genaugenommen werden von einem Planetenschreiber ja auch keine Wunderdinge erwartet. Der Posten ist hauptsächlich eine Art Belohnung dafür, dass wir Autoren das Fähnchen der Literatur im Universum wacker hochhalten. Gelegentlich ein kleines Stimmungsbild – ein Bericht, wie es in den Preisstatuten heißt –, das reicht schon. Und ab und an soll man sich bei öffentlichen Anlässen blicken lassen. Aber da die Anzahl solcher Anlässe auf dem Merkur sehr überschaubar ist, fällt dieser zweite Punkt kaum ins Gewicht.

Um aber doch ein kleines bisschen am sozialen Merkurleben teilzunehmen, bin ich gestern mit dem Servicetechniker runter auf die Planetenoberfläche geflogen. Ich hatte die Idee, Kontakt mit der Forschungsstation aufzunehmen, die es dort unten seit den fünfziger Jahren gibt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was die Wissenschaftler da eigentlich machen und rauszufinden hoffen. Aber ich brauche Stoff für meinen ersten Bericht, da angesichts des Schneckentempos, mit dem die Sonne über den Merkurhimmel kriecht, mit astronomischen Beobachtungen oder kosmischen Naturbeschreibungen nicht allzu viele Seiten zu füllen sind.

Der Flug hinunter zur Planetenoberfläche war auch wirklich lohnenswert. Der Servicetechniker war nämlich, wie sich herausstellte, ein begeisterter und versierter Hobbypilot und ließ es sich nicht nehmen, mit mir eine Runde über die Nordhemisphäre zu drehen, um mir ein paar der spektakulärsten Landschaftsformationen aus der Nähe zu zeigen. Er ist ein überzeugter Merkurianer, der schon seit zwanzig Jahren hier lebt. Er erklärte mir mit lokalpatriotischem Stolz, dass sämtliche Krater des Merkur nach Künstlern, Musikern, Malern und Schriftstellern benannt seien, ob ich das schon gewusst hätte? Hatte ich nicht. Und ich wunderte mich darüber: ein Planet voller Kulturschaffender – wer hätte das gedacht! Das bedeutete ja sogar, dass ich als Schriftsteller im Prinzip die Chance hatte, zum Namensgeber für einen Merkurkrater zu werden – zumal als amtierender Planetenschreiber! Allerdings mussten die Taufpaten für die Krater seit fünfzig Jahren tot und künstlerisch einhellig anerkannt sein. Ich war mir nicht sicher, ob mir das je gelingen würde. Zu sterben war dabei nicht das Problem, aber vielleicht die künstlerische Reputation, dachte ich und hatte sofort Gewissensbisse, weil ich mit meinem Roman nicht vorankam.

Wir drehten eine Runde über Tschechow, Ibsen, Rilke und Hemmingway. Das waren ziemlich gewaltige Krater von knapp hundert bis zweihundert Kilometern Durchmesser. Die kleineren hatten nicht so prominente Namensgeber. Jedenfalls hatte ich noch nie etwas von dem chinesischen Maler Qi Baishi, der maltesischen Bildhauerin Maria de Dominici oder dem isländischen Dichter Snorri Sturluson gehört. Die hatten Krater im Zehn-Kilometer-Format ergattert. Es gab aber auch solche mit weniger als einem Kilometer Durchmesser oder auch nur hundert oder zehn Metern. Das beruhigte mich etwas. Für so einen Mikrokrater, dachte ich, würde es bei mir ja vielleicht doch reichen.

Zurück zum nördlichen Pol flogen wir zuerst entlang einer enormen Abbruchkante mit einem Höhenunterschied von zwei Kilometern und danach über Caloris Planitia, einer riesigen kreisrunden, von Gebirgswällen umgebenen Ebene. Dahinter begannen die etwas gemäßigteren nördlichen Breiten mit ihren Permaschattengebieten, in denen man herumlaufen kann, ohne dass es ist, als würde man auf glühenden Kohlen wandeln. Dort hatte man die Forschungsstation, die ich besuchen wollte, unter einem großen Dach aus Glaswaben errichtet. Sie lag am Rand von Merkur-City, einer kleineren Ansammlung ganz ähnlicher Habitate, die ein Hotel, Wohnhäuser und Geschäfte, eine Kirche und den Sitz irgendwelcher Lithium- und Rubidiumexportfirmen beherbergten. Der Ort stand hartnäckig in dem Ruf, die langweiligste Planetenmetropole des Sonnensystems zu sein.

Die Wissenschaftler freuten sich über meinen Besuch. Wahrscheinlich hofften sie, dass ich als Planetenschreiber ihre Arbeit gebührend würdigen würde. Sie hatten nämlich gerade, wie sie mir mit diesem typischen kindlichen Wissenschaftlerstolz mitteilten, eine sensationelle Entdeckung gemacht! Sie führten mich in ihr zentrales Labor, das allerdings einen etwas in die Jahre gekommenen, technisch rückständigen Eindruck machte. Man spürte, dass der Merkur als Forschungsstandort nicht gerade der Nabel der wissenschaftlichen Welt war. Allerdings hatte die Entdeckung, die mir die Forscher präsentierten, mit moderner Technik auch nicht besonders viel zu tun. Sie öffneten einen gekühlten Tresor, holten eine Spezialflasche mit einer klaren Flüssigkeit heraus und stellten sie ehrfürchtig auf den Tisch. Ich würde nie darauf kommen, was das sei, meinten sie.
„Wasser?“, überlegte ich. Das enttäuschte sie. Wahrscheinlich hatten sie angenommen, ich würde als Schriftsteller zuerst an irgendeine hochprozentige Innovation denken. Es war aber wirklich Wasser, wie sie schließlich einräumten, doch ist Wasser für Wissenschaftler natürlich nicht gleich Wasser. Dieses hier, meinten sie und machten eine längere Spannungspause, um mir Zeit zu geben, mich auf die nun kommende Sensation einzustellen, dieses hier sei das älteste Wasser des Sonnensystems!
So, so, dachte ich. Und nachdem sie ihre Bombe nun hatten platzen lassen, verrieten sie mir auch die zugehörigen Details: Sie hatten den Merkurboden systematisch angebohrt und in der Tiefe mit Ultraschallsonden nach Eis gesucht. In einem kleinen Permaschattenkrater mit dem seltsamen Namen Lady Gaga waren sie schließlich fündig geworden. Fünfzehn Meter unter der Oberfläche stießen sie auf einen Eisflöz und entnahmen ihm eine Probe. Deren chemische Analyse ergab für den Flöz ein Alter von sagenhaften vier Milliarden Jahren. Damit schlugen sie vergleichbare Eisablagerungen auf dem Mond oder Enceladus um ein paar hundert Millionen Jahre.
Dieses Wasser, gerieten meine Gastgeber ins Schwärmen, stammte aus der absoluten Frühzeit des Sonnensystems, gleichsam aus seiner Embryonalphase, als noch Abermilliarden von Staub-, Fels-, und Eisbrocken um die Sonne schwirrten und durch permanente Kollisionen zu den heutigen Planeten verklumpten.
Und nachdem sie mir das alles erklärt hatten, öffneten sie die Flasche und gossen mir ein Glas von dem uralten Wasser ein. Das vermutlich älteste Getränk, das ich vordem zu mir genommen hatte, war ein ziemlich schwerer Château-Mao, Jahrgang ’84, gewesen, den mein Großvater zu seinem Hundertsten entkorkt hatte. Ich überlegte eine Sekunde, ob vier Milliarden Jahre altes Wasser überhaupt noch genießbar war, aber die Wissenschaftler machten nicht den Eindruck, als wollten sie mich vergiften. Ich trank also artig das Glas aus und nickte. Das Wasser hatte geschmeckt wie – Wasser. Erstaunlich, dachte ich, woran Wissenschaftler so ihre Freude haben.

Auf dem Rückweg zum Landeplatz des Shuttles kam mir Pastor Hsien von den Solaren Unitariern entgegen. Offenbar hatte sich mein Ausflug nach Merkur-City inzwischen herumgesprochen. Hier passiert so wenig, dass sogar ein Schriftsteller Aufmerksamkeit erregt. Pastor Hsien sprach mich an und lud mich ein, am Wochenende zu einem Gottesdienst zu kommen. Mir war nicht wohl dabei, und ich gab zu, nicht allzu viel über die Solaren Unitarier und überhaupt über die verschiedenen Glaubensströmungen im Sonnensystem zu wissen.
Pastor Hsien nickte nachsichtig, er war ein sanftmütiger, freundlicher Mann – ganz alte chinesische Schule. Die Solaren Unitarier, erklärte er mir, kämpften gegen den religiösen Geozentrismus der meisten anderen Konfessionen und Religionen. Es wäre doch purer Zufall, meinte er, dass Jesus auf der Erde erschienen sei. Würde er heutzutage sein Erlösungswerk verrichten, könnte er dies im gesamten Sonnensystem tun. Die bescheidenen Verhältnisse hier auf dem Merkur würden ja viel besser zu dem ärmlichen Stall passen, in dem Jesus einst geboren worden sei, als die Paläste auf dem Mars oder die Ballonbordelle der Venus. Und schon gar nicht könne Gott gewollt haben, dass sich das gesamte Sonnensystem bei den christlichen Festtagen nach dem Rhythmus der Erde zu richten habe. Da ein Merkurjahr nur 88 Erdentage dauerte, könnte man hier also rund alle drei Monate Weihnachten feiern, was Pastor Hsien sehr schön fand. Der Gedanke wurde von den Vertretern der römisch-katholischen Kurie und den meisten protestantischen Strömungen aber regelmäßig als lächerlich abgetan, und das ärgerte Pastor Hsien. Bei Ostern wiederum stellte sich das Problem völlig anders dar. Das irdische Ostern fand stets am Wochenende nach dem ersten Frühlingsvollmond statt. Nun hatten aber weder Merkur noch Venus einen Mond, der Mars hingegen zwei, und bei den äußeren Planeten waren nicht diese selbst, sondern die Monde bewohnt, was die Situation für eine astronomische Berechnung des Osterdatums gleichsam auf den Kopf stellte. Und als wäre das alles nicht schon kompliziert genug (ich verstand es wirklich nicht), gab es ja noch die vielen bewohnten Kleinplaneten im Asteroiden- und dem fernen Kuipergürtel, die man bei der Suche nach ihrer religiösen Identität doch auch nicht allein lassen durfte, fand Pastor Hsien.
Es gab für ihn und die Solaren Unitarier also alle Hände voll zu tun, und ich versprach ihm, mal bei einem Gottesdienst vorbeizuschauen. Besonders beliebt, hatte ich gehört, waren seine gelegentlichen Orbitalgottesdienste, die er freischwebend in einer Umlaufbahn abhielt, um darauf aufmerksam zu machen, dass es in letzter Konsequenz ja nicht nur darum ging, die Planeten in ein religiöses Gesamtsystem zu integrieren, sondern auch den Weltraum, ja das Universum als Ganzes. Das war Pastor Hsiens Mission.

Zurück auf der Orbitalstation nahm ich erstmal ein langes Sonnenbad. Der Ausflug auf die Merkuroberfläche hatte mir gefallen, aber auf Dauer, das hatte ich auch gespürt, wäre ein Leben im Permaschatten dort unten nichts für mich. Vielleicht würden die Pläne für einen im Orbit stationierten Reflektor ja einmal umgesetzt und Merkur-City durch diesen wie von einer künstlichen Sonne beleuchtet. Die merkurianischen Parlamentsabgeordneten auf Europa forderten das immer mal wieder, aber ich konnte mir kaum vorstellen, dass die Mittel dafür von der ewig zerstrittenen Planetaren Union jemals bewilligt werden würden. Die Sache war einfach zu teuer und Merkur-City zu unbedeutend.

Ein paar Tage später dockte das Versorgungsschiff von der Erde an. Ich hatte es schon längere Zeit im Teleskop wie einen heller werdenden Stern auf die Station zukommen sehen und freute mich auf die Abwechslung. Es würde zwei oder drei Tage dauern, die gesamte Ladung zu löschen und auf die Planetenoberfläche zu transportieren. Die Besatzung würde das Café beleben, und vielleicht, so dachte ich, ergab sich ab und an ein nettes Gespräch bei einem Bier. Insbesondere stellte sich heraus, dass das Schiff eine Co-Pilotin hatte. Sie war Mitte dreißig und sah ziemlich gut aus, wie ich fand. Natürlich hatte ich keine Ahnung, ob sich Pilotinnen für Planetenschreiber interessieren, aber es sprach ja nichts dagegen, mein Glück bei ihr zu versuchen. Ich stellte mich ihr vor, sie hieß Sequoia. Dass es so etwas wie Planetenschreiber gab, hatte sie noch nie gehört, aber sie fand es ganz interessant.
„Und was schreiben Sie so?“, erkundigte sie sich.
„Hauptsächlich arbeite ich an einem Roman“, behauptete ich, obwohl ich in meinen ersten paar Wochen als Merkurschreiber mit diesem Projekt noch nicht eine einzige Seite weitergekommen war. „Aber eben auch über den Merkur. Was hier so läuft, meine ich, Frachtlieferungen zum Beispiel. Ist doch interessant. Und demnächst mache ich bei einem Orbitalgottesdienst mit. Ach ja, und neulich haben Wissenschaftler auf dem Merkur die ältesten Wasservorkommen des Sonnensystems entdeckt. Also wie Sie sehen, ist hier ne Menge los. Da kommt man aus dem Schreiben gar nicht raus.“
„Und der Roman, worum geht’s da?“
„Nichts Besonderes. Also ich meine, worum kann’s schon gehen heutzutage? Das Leben und so. Alles in allem bin ich da noch mehr in der Findungsphase. Ein Thema muss reifen. Und wenn man es dann hat, dann läuft es auf einmal wie am Schnürchen … Sie kommen sicher viel rum, nehme ich an.“
„Ja, schon“, sagte sie und erzählte mir, dass sie eine Zeit lang sogar auf der berühmten Neptunroute geflogen war, die aber auf Dauer nicht so spektakulär wäre, wie sich das die meisten wohl vorstellten. Klar, es gäbe da schon eine Menge zu sehen, den Asteroidengürtel, die Ringe des Saturns, den einen oder anderen Kometen, aber man sei eben auch Ewigkeiten unterwegs, und zwischen den einzelnen Highlights tue sich nun mal nicht viel. Und dann war man bei Frachtflügen ja auch immer nur kurz vor Ort und musste wegen des Kostendrucks nach dem Löschen der Ladung gleich wieder weiter.
„Das reicht dann gerade mal so eben für eine Stippvisite bei den Kryogeysiren auf Triton“, meinte sie, „und wenn man Pech hat, sind die ausgerechnet dann inaktiv und man verpasst einen Ausbruch.“
Den würde sie bei mir nicht verpassen, dachte ich spontan, aber ich war mir nicht sicher, ob ich bei ihr Chancen hatte und versuchen sollte, mit ihr anzubändeln. Je nachdem, was man von einer Beziehung erwartet, kann das Herumziehen ja Fluch und Segen sein. Ich hielt es aber für möglich, dass sie die Ungebundenheit mochte, sonst wäre sie vielleicht nicht Frachtpilotin geworden. Wir Kinder des Sonnensystems haben wegen der großen Entfernungen einen Lebensstil wiederbelebt, den es auf der Erde schon lange nicht mehr gibt: den des Vagabunden. Jedenfalls sah ich mich so, und vielleicht war sie es ja auch.
Ich hatte die Idee, sie mit den einzigen literarischen Arbeiten zu beeindrucken, die mir in meiner Zeit als Merkurschreiber bisher geglückt waren.
„Ich habe übrigens ein paar Merkurgedichte geschrieben“, sagte ich.
„Merkurgedichte?“
„Limericks, genauer gesagt. Ich bin an sich kein Lyriker, aber Limericks liegen mir. Die flutschen mir immer flott aus der Feder. Und der Merkur hat mich inspiriert. Wussten Sie, dass es dort unten entweder unerträglich heiß ist oder unerträglich kalt?“
Sie nickte neugierig, und ich ließ mich nicht lange bitten: „Erster Merkurlimerick:

War mal ein Mann in der flirrenden Wüste,
der wegen der irren Hitze düste,
auf den Merkur,
doch empfand er da nur,
die heftigsten Rückkehrgelüste.“

Sie lachte, was mich ermutigte, fortzufahren: „Zweiter Merkurlimerick:

Dachte ein Mann in der Arktis,
Ich bekomme hier, was ein Infarkt ist,
Auf dem Merkur werde ich älter,
doch war es da noch viel kälter,
so dass sein Raumschiff wieder am Nordpol geparkt ist.“

„Da kommt der Merkur ja nicht gerade gut weg“, meinte sie.
„Stimmt schon“, gab ich zu. „Dabei mag ich ihn inzwischen ganz gern.“
„Und? Gibt’s dazu auch einen Limerick.“
Ich hatte auf die Frage gehofft, zögerte aber einen Moment. Der Limerick war ein wenig heikel, doch dann nickte ich und fuhr fort: „Dritter Merkurlimerick:

Sehr kalt ist es im Permaschatten,
Doch gibt’s ja gute Wärmematten.
So kommt‘s, dass auch auf dem Merkur
Mit Blick auf die Sterne pur,
Die Pärchen sich gern begatten.“

„Na, dann …“, sagte sie.

Im Feldstecher ist ihr Frachtschiff nur noch ein kleiner heller Punkt. Ihre nächste Station ist der Mars. Da will sie zwei Wochen Urlaub machen und auf dem Olympus Mons rumkraxeln. Ich habe sie nicht gefragt, mit wem. Ich muss hier ja sowieso die Stellung halten. Ich fliege jetzt regelmäßig zur Oberfläche hinunter und spiele mit Pastor Hsien Schach. Er ist ein ausgefuchster Stratege, und ich verliere immer.
Sein Orbitalgottesdienst war ein echtes Erlebnis. Bei einem gleißenden Sonnenaufgang schwebten wir in unseren Raumanzügen über dem Merkur, und durch die Helmlautsprecher spielte Pastor Hsien nach seiner Predigt den Anfang von „Also sprach Zarathustra“. Er hat ein Händchen für dramatische Inszenierungen und besitzt sogar, wie man daran sieht, religiösen Humor. Aber ob ich Mitglied bei den Solaren Unitariern werden möchte, hat er mich noch nicht gefragt. Er ahnt wohl, dass ich bei aller Sympathie soweit nicht gehen würde.

Gestern habe ich bemerkt, dass die Sonne größer geworden ist. Es geschieht so wenig hier oben, dass es mir aufgefallen ist. Es kommt daher, habe ich mir erklären lassen, dass der Abstand zwischen Merkur und Sonne bei einem Umlauf stark schwankt. Ich notiere das, weil ich das Protokollieren solcher Merkurbesonderheiten inzwischen als meine Aufgabe ansehe. Manchmal, wenn auch nicht mehr sehr oft, denke ich noch an meinen Roman, den ich hier eigentlich hatte schreiben wollen. In der römischen Mythologie ist Merkur der Götterbote, und ich hatte irgendwie gehofft, auch mir würde hier eine wichtige Botschaft einfallen – es musste ja nicht gleich eine göttliche sein. Inzwischen finde ich es nicht mehr tragisch, dass ich diese Botschaft noch nicht gefunden habe und wohl auch nicht finden werde. Es ist auch so ganz schön, Planetenschreiber zu sein. Und in drei Wochen, was in Merkurzeit bedeutet: heute Abend, kommt das nächste Frachtschiff.

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, „Freigang“, erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt. Mit seinem Roman «Der Sommer meiner Mutter» steht Ulrich Woelk auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
«Planetenschreiber 1: Merkur» ist im Berliner Hybriden-Verlag als Künstleredition in einer sehr kleinen Auflage mit Zeichnungen von Hartmut Andryczuk erschienen. Wenn Sie neugierig sind, können Sie sich auf der Seite des Hybriden-Verlags umsehen. www.hybriden-verlag.de

literaturblatt.ch über «Der Sommer meiner Mutter» (2019)

literaturblatt.ch über «Nacht der Engel» (2017)

Autorenprotrait © Bettina Keller

Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Ulrich Woelk «Der Sommer meiner Mutter», C. H. Beck

Im Juli 1969 stecken die Amerikaner ihre Fahne in den staubigen Sand des Mondes. Die ganze Welt schaut zu. In jenem Sommer, «dem Sommer meiner Mutter» wird der Mond für den elfjährigen Tobias zum Sinnbild totaler Veränderung, denn in jener Nacht implodiert sein Weltbild, wird eine grosse Schuld geboren.

Im Sommer 1969 wankt Deutschland in den Nachbeben der Hippiezeit, der sexuellen Befreiung, mehr oder weniger unterschwelliger Rebellion und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. In diesem wirren Sommer findet der elfjährige Tobias in seinen neuen Nachbarn und der um ein Jahr älteren Rosa, jene erste Liebe, die sich unweigerlich und unauslöschlich ins Bewusstsein eines jeden brennt.

45 Jahre später ist aus Tobias ein Astrophysiker geworden, der an der Rosetta-Mission auf den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko mitarbeitet. Rosa und er hatten sich im Sommer 1969 gefunden und wieder verloren. So wie eine Sonde und ein Komet. Rosa wurde Schriftstellerin. Und der Zufall wollte es, dass Tobias eines Tages bei einer Lesung während der Frankfurter Buchmesse im Publikum der Schriftstellerin sitzt und schlussendlich mit der Bitte um eine Signatur vor ihr steht.

Tobias wäschst in einem beschaulichen Quartier auf, am Stadtrand von Köln. Sein Vater leitender Angestellter, seine Mutter Hausfrau. Zu Beginn des einen Sommers, als die Jeans in Köln landete, ziehen in das leer gewordene Haus gleich in der Nachbarschaft Herr und Frau Leinhard mit ihrer zwölfjährigen Tochter Rosa ein. Er Professor für Philosophie mit langen Haaren, sie Übersetzerin mit Batikhemd und Jeans. Leinhards sind Kommunisten, glauben an die baldige Befreiung des Kapitalismus und aller anderen Fesseln. Rosa trägt ihren Namen nach der Kämpferin Rosa Luxemburg. Tobias Vater glaubt an die Möglichkeiten der Technik und die Wirksamkeit von E605 im Kampf Läuse und anderes Ungeziefer im Garten. Und Tobias Mutter?

Während Apollo 11 sich anschickt den erdnahen Trabanten für die Menschheit zu annektieren, wird aus der Begegnung von Rosa und Tobias eine junge und unsichere Liebe. Rosa, neu in der Stadt und noch nicht sozialisiert, und der eigenbrötlerische Tobias hören zusammen die Schallplatten der Familie Leinhard; Doors, Bob Dylan, Janis Joplin. Eine ganz andere Welt als das, was in der ZDF-Hitparade über die Mattscheibe flimmert. Rosa wird zum Schlüssel in eine andere, fremde Welt. Auch in die Welt der Liebe, der Berührungen, der Entdeckungen eines Sommers, die seine Welt bisher in seinen Grundfesten erschüttert.

Die beiden Familien freunden sich aller Gegensätze zum Trotz an. Man lädt sich gegenseitig ein, besucht die Kirmes, die Mütter mit den Kindern gar eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Während sich die Eltern annähern, gibt es genügend Raum für Rosa und Tobias, dem nahe zu kommen, was Erwachsensein bedeutet; «Es» zu tun. Tobias, gleichermassen angezogen wie verunsichert, sieht die Welt mit andern Augen. Auch das fragile (Un-) Gleichgewicht seiner Eltern, die Fassaden der Erwachsenen. Er verliert mehrfach die Unschuld – und auch seine Familie.

«Der Sommer meiner Mutter» beginnt mit einem Paukenschlag – und der ganze Roman bebt weiter im Aneinandereiben von tektonischen Platten. Scheinbar leicht erzählt beschriebt der Roman die harte Landung auf dem Planet Erde, die historische Bruchkante zwischen dem biederen Nachkriegsdeutschland und dem Aufbrechen in neue Welten.

Ein Mailinterview mit Ulrich Woelk:

Ich erinnere mich gut, an die gestatteten und illegalen Stunden vor dem Fernseher, als sich Apollo 11 auf seine Mission zur Eroberung des Mondes machte. Damals war ich sieben. So wie zwei Jahre später die Niederlage von Muhammed Ali gegen Joe Frazier. So wie viele Erzählungen beginnen mit „Damals, als“. „The Eagle has landed“, meldete Armstrong am 20. Juli 1969. Aber in Tobias Familie riss ein unsichtbares Riff ein nicht wieder zu verschliessendes Loch im Rumpf seiner Familie. Trotzdem schildern sie nicht die Geschichte des Opfers. Aber die Geschichte von Schuld. Ist Schuld unheilbar?

Schuld bleibt. Man kann, wenn man schuldig geworden ist, nur auf Vergebung hoffen, denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Was meinen Roman angeht, muss man allerdings hinzufügen, dass sich mein Erzähler schuldig fühlt für etwas, wofür er nicht verantwortlich ist. Er ist ja noch viel zu jung, als die Dinge geschehen, die schließlich so traurig enden. Er ist elf, als sich seine Mutter das Leben nimmt, und dass er in diesem Drama eine so entscheidende Rolle spielt, das ist … ja, was ist es eigentlich? Zufall, Schicksal, ein unglückliches Zusammenspiel verschiedener Umstände? Ich will das gar nicht entscheiden. Als Autor ist es mein Ziel, meine Geschichten zu erzählen, aber nicht zu erklären. Das Leben erklärt uns ja auch nicht, warum dieses oder jenes geschieht. Wir müssen selbst dahinterkommen. 

„Die Menschen sagen nicht immer die Wahrheit“, mahnt Tobias Vater seinen Jungen. Ausgerechnet er, der seinen Jungen immer zur Wahrheit mahnt. „Der Sommer der Mutter“ ist der Roman einer Entzauberung. Ist Schreiben der Kampf um die Rückkehr der Verzauberung?

Nein, das denke ich nicht. Für das Schreiben – mein Schreiben – ist gerade die Erfahrung der Entzauberung fundamental. Aber ich fand es schön, für „Der Sommer meiner Mutter“ in die späten Sechzigerjahre und meine Jugend zurückzukehren. Das war beim Schreiben manchmal eigenartig. Man entwickelt bei einer so intensiven Beschäftigung mit einer Zeit automatisch eine Art von Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der einstigen Kindheit und Jugend. Der Unschuld. Dem Leben ohne Verantwortung. Da denkt man dann schon mal schnell, diese Zeit war unbeschwerter als unsere heutige Welt der Globalisierung mit ihren Flüchtlingsdramen, kulturellen Verwerfungen und terroristischen Bedrohungen. Aber das stimmt nicht. Die Sechziger Jahre waren die Zeit des kalten Krieges und der Angst vor einem neuen heissen oder atomaren Krieg. Damals hat man die politische Lage als genauso undurchschaubar und bedrohlich empfunden wie heute. Und dennoch bildet sich um diese Jahre beim Schreiben manchmal so eine gewisse Patina von temporaler Heimat. Aber wie gesagt: Als Autor weiss ich immer, dass die Rückkehr in dieses „Paradies“ unmöglich ist.

Der Roman beginnt mit dem Satz: „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ Tobias schreibt die Geschichte seiner Mutter mehr als 45 Jahre später, nachdem er seine erste grosse Liebe Anna wiedersieht. Der Roman ist keine Wiedergutmachung. Aber nebst vielen anderen Facetten auch die Geschichte einer Frau, die an der „Wahrheit“ zerbricht, nicht zuletzt an der Schonungslosigkeit ihres einzigen Kindes. Ist dieses Buch auch ein „Grabstein“?

Aber nein, für wen denn? Zunächst einmal: Es ist nicht autobiographisch. Eine Verbindung zu meiner eigenen Mutter ist aber, dass diese viel zu früh gestorben ist. Da war ich noch zu jung, mich zu fragen, wer ist meine Mutter eigentlich? Solche Fragen stellt man sich erst später, aber da lebte meine Mutter nicht mehr. Was ich sicher glaube, ist, dass sie Fähigkeiten und Begabungen hatte, die sie nie verwirklicht hat, und das ist es, was sie mit meiner Romanheldin verbindet. Einmal hat sie Noten aufs Klavier gestellt und angefangen Mozart zu spielen. Da war ich völlig verblüfft, das hatte sie noch nie getan. Ich wusste gar nicht, dass sie das konnte. Wie es aber wirklich in ihr aussah, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Da kommt dann die Fantasie des Schriftstellers ins Spiel. Als Autor interessieren mich diese Mütter der sechziger Jahre sehr. Sie haben ihre Jugend und Sozialisation in den Fünfzigern erlebt, einer äußerst prüden, konservativen und konfliktscheuen Zeit mit einem ganz engen Rollenverständnis. Für die gesellschaftlichen Veränderungen in den späten sechziger Jahren waren sie im Grunde schon zu alt und zu etabliert. Umso spannender ist es, wie sie damit umgegangen sind. Sie standen ja in einem Konflikt. Es ging bei dem Ruf nach Freiheit ganz zentral auch um die Emanzipation der Frauen, und dem hätten sich diese Mütter und Frauen ja eigentlich sofort anschließen müssen. Das ist aber keineswegs geschehen, weil das ihr bisheriges Leben infrage gestellt hätte. Wie sollten sie sich also verhalten, und was konnten sie wagen?

Liebe als ein Geheimnis mit mehr als sieben Siegeln. Ihr Buch ist vieles, auch eine ganz zarte Liebesgeschichte, bei der sie er meisterlich schaffen, an sprachlichen Untiefen vorbeizusegeln. Wird eine Liebe, wie sie damals sein konnte, heute erst recht entzaubert? 1969 war alles möglich. Heute schlägt die Endlichkeit mit aller Heftigkeit zurück.

Das ist eine sehr schwierige Frage. War denn 1969 in der Liebe wirklich alles möglich? Zum Beispiel erotisch? Die sechziger Jahre waren die Zeit der sogenannten sexuellen Revolution, also dem gesellschaftspolitischen Ruf nach einer freieren Moral. In der Praxis, soviel wissen wir inzwischen, hat das aber meistens nicht besonders gut funktioniert, aber gerade das macht es erzählerisch reizvoll. Der Punkt ist ja: Das, was die sexuelle Befreiung wollte, war grundsätzlich richtig, nur konnten es selbst deren Befürworter damals nicht so ohne weiteres leben. Unsere Einstellung zur Sexualität ist nunmal kein Schalter, den man per Knopfdruck von gehemmt auf frei umstellen kann. Das ist ja viel tiefer in der Persönlichkeit verankert.
So gesehen sind die freiesten Figuren in meinem Roman – und das ja durchaus auch erotisch – die beiden Kinder. Für sie ist die Liebe noch in jeder Hinsicht wirklich geheimnisvoll. Sie nähern sich ihr, ohne zu wissen, wohin sie das führt. Vielleicht setzt Liebe immer ein gewisse Mass an Unwissen voraus – das könnte sein. Und je älter man wird, umso schwieriger wird es, sich darauf einzulassen. Daran hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren wohl nicht so viel geändert. Der Unterschied ist aber, dass wir heute sehr frei darin sind, unterschiedliche Erfahrungen zu machen. Das ging in der engen Welt der Sechziger nicht. Und daran scheitert die Mutter des Erzählers.

Ist Schreiben, ein Roman, ein Gedicht nicht der Start einer Sonde in die Unendlichkeit des Seins?

Das auf jeden Fall. Ich habe gerade eine E-Mail aus Australien bekommen. Ein Deutscher hat dort auf einem Markt für gebrauchte Bücher zwischen all den englischen Thriller-Paperbacks ein Exemplar meines Buches „Sternenklar“ entdeckt und gekauft. Wenn Bücher reden könnten, würde es mich wirklich interessieren, wie das dahin gekommen ist. Auf jeden Fall hat es dem Käufer sehr gut gefallen, und er hat mir diese E-Mail geschrieben. Und es muss ja nicht gleich Australien sein. Im Moment bekomme ich viele – zum Glück sehr erfreuliche – Rückmeldungen von Lesern von „Der Sommer meiner Mutter“. Wie weit und wohin die „Sonde“ dieses Romans noch reisen wird, weiß ich nicht. Ich weiss nur, sie ist unterwegs, und das ist ein gutes Gefühl.

Autorenprotrait © Bettina Keller

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, «Freigang», erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.

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Rezension von «Nacht der Engel» von Ulrich Woelk auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ulrich Woelk «Nacht ohne Engel», dtv

Vincent fährt Taxi in Berlin. Eines Tages setzt sich eine Frau auf die Rückbank, von der er im Rückspiegel immer mehr der Überzeugung ist, sie zu kennen. Die Fahrt dauert, sie kommen ins Gespräch und plötzlich wird klar, dass es Jule ist, mit der er vor fünfundzwanzig Jahren eine Nacht verbracht hatte, jene eine Nacht vor dem Tag, der in seinem Leben alles veränderte.

Als die US- Regierung während des ersten Golfkriegs Kuwait überrannte und den Feldzug gegen Saddam Hussein führte, tobten in Berlin unter den Studenten andere Kriege. Seit den Siebzigern der Endloskrieg gegen das Establishment, die Biederkeit, Atomkraft… Man diskutierte, demonstrierte, trank aus den Weinkellern der Eltern und warf auch gerne mal eine Tablette ein. Eddy, Roger, Vincent und Jule, vier aus der Clique damals, die es nach dem Studium nicht nur geographisch in alle Wieder verschlagen hatte.

Ein Vierteljahrhundert später taucht eines der Gesichter wieder auf aus einer Vergangenheit, die für Vincent doppelt weit zurücklag, weil dazwischen ein Unfall, Koma und Rehabilitation liegen, eine Zäsur sein Leben abreissen liess. Und plötzlich lüftet sich der Schleier der Erinnerung mit diesem Gesicht und dieser Stimme auf der Rückbank Vincents Taxi. Vincent gibt sich zu erkennen, man trifft sich Stunden später wieder und mit einem Mal liegt ein Stück Geschichte vor ihm, das mit der Zeit ins Vergessen abgerutscht war.

Eine Vergangenheit, die wenig zu tun hat mit den Problemen seiner Gegenwart. Mit der Tochter Saskia, die studiert und ihn mit ihren Geldproblemen zu Extraschichten zwingt, einem gemeinsamen Sorgerecht, das längst zur Vincents Alleinaufgabe wurde, in einer Gegenwart, in der er sich eingerichtet hatte, auch mit seiner neuen Partnerin, mit der er nicht mehr Wohnung und Bett teilt, aber zur Erholung ganz gerne Zeit verbringt. Ein Leben gut eingebettet, ohne all zu viel Ambition, auf der sicheren Seite.

Mit Jule aus der Vergangenheit tauchen Bilder wieder auf, werden Geschichten präsent, Lebensentwürfe. Das exzessive Leben seines Freundes Eddy endete wie das seines gesanglichen Idols Freddy Mercury, dem aidskranken Frontmann der Kultband Queen. Roger setzte Fett an, krempelte den Familienbetrieb seines Vaters um und verlor sich. Jule, die nicht eigentlich zur Clique gehörte und damals, in jener Nacht und beim Umfall danach mehr zufällig nicht in ihrer Stadt Hamburg, sondern in Berlin war, studierte in den USA, heiratete und nahm  nun an Wirtschaftssymposien mit Kleid und hochhackigen Schuhen teil und Vincent hatte sich als selbstständiger Taxifahrer eingerichtet und seine Träume als Schriftsteller eigentlich begraben.

Jule und Vincent reffen sich wieder, zwei Menschen, die vor mehr als zwei Jahrzehnten eine Nacht vielleicht verbunden, ein Autounfall aber wieder aus der Spur geschleudert hatte. Zwei Lebensentwürfe, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, werden durch das Wiedersehen pulverisiert, zwingen zum Nachdenken, bringen Momente zurück ans Licht, die gelöscht schienen, obwohl sie noch immer in die Gegenwart wirken.

Damals las sie «Doktor Schiwago», studierte eigentlich in Hamburg und war nur in Berlin, weil es sich bei reichen Verwandten ein paar Tage ganz gut leben liess, nicht wegen der revolutionären Diskussionen und den Triaden auf das elitäre Gehabe der Politik und dem Spiessbürgertum, sondern weil da Wein, Drogen und Gesellschaft Freiräume versprachen. Und er, Vincent, stand da, wie vom Donner gerührt, spürte die Droge Faszination, die Wallungen des Verliebtseins. Was damals als leidenschaftlicher Entwurf begann, wurde schon am nächsten Tag durch einen Unfall zu Nichte gemacht.

«Pretending I’m doing well … I’m lonely but no one can tell.»

Ulrich Woelk erzählt von der Macht der Erinnerung, davon wie dünn die Schicht aus Sicherheit und zusammengesetzten Wahrheiten ist. Ein Buch, das von einer Zeit erzählt, als Jugend und Revolte untrennbar voneinander waren und sich ein Vater fragt, warum in der Jugend seiner Tochter jetzt davon so wenig geblieben ist. Ein Buch über das Erwachen und die Ernüchterung. Ulrich Woelk umschifft gekonnt alle Gefahren der Sentimentalität. Er besitzt den klaren Blick, erzählt unverblümt, dicht und mit bewundernswerter Leichtigkeit. Ein wunderbares Buch von einem Autor, von dem man unweigerlich noch viel mehr lesen will. Ich tus!

© Bettina Keller

Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt «Freigang» (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman «Die letzte Vorstellung» wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin.

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