«Tiny Furniture» Ein haptischer Gegenentwurf – Ausstellung im Literaturhaus Thurgau

Literatur kennt keine Grenzen, ihre Ausdrucksformen schon gar nicht. Die Konstanzerin Christine Zureich beweist, wie sehr Sprache in Dinge eindringen kann, wie unmittelbar sie berühren kann. Die Vernissage zu «Tiny Furniture – Lyrikobjekte für eine schrumpfende Welt»; ein Rausch für die Sinne!

Das gab es schon lange nicht mehr! Ein voller Saal, Gesichter, die man lesen kann, wenigstes etwas von der einstmaligen Unbeschwertheit zurück. Aber da war noch mehr. Wann sind Kinder im Publikum einer Lyriklesung? Wann gibt es den «Jöö-Effekt» sogar bei einer Kunstausstellung?
An diesem Abend im Literaturhaus Thurgau rührte die Ausstellung und die Lesung der Dichtirin, Schriftstellerin, Künstlerin Christine Zureich ein volles Haus in all seinen Sinnen. Da sah man BesucherInnen, die die filigranen Puppenmöbelchen andächtig in den Händen drehten, andere, die an den Vitrinen hängen blieben, forschten, sinnierten, sich wegtragen liessen und wieder andere, denen das Gezeigte das schiere Glück ins Gesicht schrieb.
Da war aber auch eine Künstlerin, die aus einer Lockdownnot eine Leidenschaft entwickelte, deren Tun weit mehr ist beseelt ist vom Wunsch, hinter die Dinge zu sehen, hinter einzelne Wörter, hinter den Gedanken und den inneren Dialog mit Gegenständen, die mehr als Geschichten erzählen.

«Alte Puppenstubenmöbel, teils handgefertigt, überwiegend aus Holz. Alle haben eine Patina, weisen kleine Brüche auf, Risse, Beschädigungen, sichtbare Reparaturen. Neben ihrer Geschichte transportieren sie jetzt auch Worte. Fundstücke aus Altpapier, neu zusammengesetzt und aufgeleimt. Poetische Kommentare in eine Möbelschau geschmuggelt, nicht wie bei Homer im Bauch des Artefakts, sondern auf dessen Hülle.»

©Torben Nudig

Die Objekte sind Zeugen, haben ein Leben hinter sich, Kinder, Menschen, denen die Objekte ans Herz wuchsen. Sie tragen eine Geschichte, Geschichten mit sich. Christine Zureich hört hin, lässt sich flüstern. Genauso wie sie dem Geheimnis einzelner Wörter zu lauschen weiss. Christine Zureichs Kunst ist voller Behutsamkeit, voller Hingabe, voller Zartheit.

«Selbstbefragung: Versteckt sich hinter der Beschäftigung mit diesen fremden Stücken der geheime Wunsch nach einem anderen Leben, einer bürgerlicheren Herkunft? Oder ist das Puppenküchen-Psychologie?»

© Torben Nudig

Ich erinnere mich mit den Puppenstubenmöbeln an meine Kindheit. Es gab ein Nachbarmädchen, deren Vater ihr ein Puppenhaus gebaut hatte, eines mit Küche und Lichtern, Treppen und Türen. In meiner Erinnerung war ich oft bei ihr, spielte aber nicht mit den Puppen, sondern räumte aus und richtete ein, immer wieder. Gebrauchsgegenstände in ihrer Verkleinerung, Verniedlichung, kombiniert mit Lyrik, die nichts mit Verniedlichung, nicht einmal mit Gebrauch am Hut hat. Eigentlich auch hier die Vereinigung von Gegensätzen. Christine Zureichs Lyrikobjekte untergraben die Wahrnehmung!

«Wie mutig von dir, lieber Gallus, auf das Experiment einzusteigen (und das auch noch mit Enthusiasmus!), mich mit meiner vermöbelten Lyrik das Literaturhaus einrichten zu lassen. Du hast damit (und natürlich mit deiner lebendigen Moderation) den Rahmen gesetzt für einen der funkelndsten Abenden seit langem. Aus meiner Sicht, jedenfalls. Danke!» Christine Zureich

Auch wenn es nicht gelingen konnte, die Buchveröffentlichung rechtzeitig auf den Büchertisch zu bekommen, freue ich mich nun umso mehr auf das Buch «Tiny Forniture. Lyrikobjekte für eine schrumpfende Welt«, heraugegeben vom Axel Dielmann Verlag.

Wer die Ausstellung im Literaturhaus besuchen will: Bis am 27. März bleibt die Gelegenheit dazu; entweder an den Veranstaltungen im Literaturhaus oder an den Sonntagen, an denen sie Künstlerin vor Ort ist: am 27. Februar, 6., 13. und 27. März 2022, jeweils 15.00 –17.00 Uhr!

Thurgauer Tagblatt vom 23. Februar 2022

Christine Zureich «Tiny Furniture – Lyrikobjekte für eine schrumpfende Welt»

Eigentlich schreibt Christine Zureich seriös. Also Texte auf Papier mit Stift und Papier oder Tastatur. In der Lockdown-Zeit aber wurde die Arbeit an ihrem aktuellen Romanmanuskript jäh ausgebremst, als über Monate ihr Schreibplatz Homeoffice, Homeschool, Homealles für die ganze Familie wurde. 3 Personen, 2 Türen, offener Grundriss. 

Spaziergänge durch Konstanz wurden zu wichtigen kleinen Fluchten für die Autorin. Auf einer ihrer Runden fand sie in einem „zu verschenken“-Karton eine Stoß Zeitschriften, die sie mitnahm. Zu Hause begann sie, statt darin zu lesen, das Altpapier auseinander zu schneiden, zu neuen Aussagen zusammenzufügen. Eine Methode, mit der auch die Dadaisten vor über 100 Jahren schon spielten, oder auch Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. 

Neu an Zureichs Zugang ist die dritte Dimension: Sie bringt die Worte nicht auf Papier, sondern auf vintage Puppenmöbelchen auf. Das erste Objekt hatte sie dabei schon 2015 collagiert, als Hausaufgabe für einen Online-Kurs eines Art-Colleges. Einem leeren Bücherschrank klebte sie damals einzelne Worte auf, um die Lücken zu benennen. Aber erst mit dem Altpapierfund in der merkwürdigen Zeit holte die Möbelchen-Kiste wieder hervor, das Projekt Tiny Furniture nahm seinen Lauf. 

Entstanden ist mehr als eine neue Form der Lyrikinszenierung. Die sorgfältig ausgesuchten Möbelchen (inzwischen hat Zureich etliche Konvolute zum ursprünglichen hinzu erstanden) gehören untrennbar zu Gesamtaussage des Objekts. Sie erlauben verschiedene Lesarten, Betrachtungsweisen und laden auch weniger lyrikaffine Menschen zum Spiel mit Worten ein. Tiny Furniture verkörpern dabei auf kongeniale Weise Zureichs (K)Lebensphilosophie: Spamt das Leben sich mit Altpapier zu, mach Lyrik draus.

 

I bet you’d rather
polish the
edge of the rainbow
now
Ich habe das Opernglas in die Tasche gesteckt.

1. Trojanische Pferdchen
Alte Puppenstubenmöbel, teils handgefertigt, überwiegend aus Holz. Alle haben eine Patina, weisen kleine Brüche auf, Risse, Beschädigungen, sichtbare Reparaturen. Neben ihrer Geschichte transportieren sie jetzt auch Worte. Fundstücke aus Altpapier, neu zusammengesetzt und aufgeleimt. Poetische Kommentare in eine Möbelschau geschmuggelt, nicht wie bei Homer im Bauch des Artefakts sondern auf dessen Hülle.

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Tatü
das Heidenröslein vildros (eg. Hedros).
der Knab’, Knabe gosse.

Tata
Mit unterschiedlich verkörperten Ideen, die Welt zu verändern.

2. Schöner Fragen
Sprechen Möbel? Muss man sie immer verstehen? Lassen sich mit Lyrik innere Räume einrichten?

*****

 

unübersehbar Schaden
Aber im Moment ist es Liebe
utväg der Ausweg
Leseübung.

3. Kintsugi
Das Verfahren, mit dem in Japan zerbrochene Keramik gekittet wird. Nicht unauffällig, versteckt, sondern mit Gold. Wie der Faden, der dieses Buch am Rücken zusammenhält. Auf den Möbeln: Papier-Kintsugi, Wort-Kitt.

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Ort, an dem wir miteinander reden können
Von der Schönheit im Beschädigten
It will be a good year
42:a lektionen
en handling

4. Risse
Leonard Cohen, der singt: There is a crack in everything. That‘s how the light gets in. Brüche, Risse, Beschädigungen überall, nicht nur an Tiny Furniture. Auch an uns. Vielleicht sind sie die Grundlage von Schönheit, Zartheit?

Mit ihren Tiny Furniture präsentiert die in Konstanz lebende Autorin Christine Zureich ein absolut ungewöhnliches Format: Lyrik, die in den Raum spricht, 3D-Gedichte. Aus Zeitschriften ausgeschnittene Worte und alte Puppenmöbel werden zusammengefügt zu poetischen Hybriden irgendwo zwischen Gedicht und Skulptur, selbstvergessenem Wort-Spiel und kompositorischer Strenge. Einen ersten Prototypen schuf Zureich bereits 2015, jedoch erst als mit der Pandemie die Welt zum Stillstand kam, holte sie die Spielzeugkiste wieder aus dem Keller und begann Lyrik in großem Maßstab zu vermöbeln… Zureichs Tiny Furniture passen mit ihrer Brüchigkeit und Verletzlichkeit sehr gut in diese Zeit, setzen ihr dabei zugleich auch etwas entgegen: eine Aufforderung zur bedingungslosen Verspieltheit. 

Zeitgleich mit der Vernissage im Bodmanhaus erscheint im axel dielmann-Verlag, Frankfurt, ein Gedichtband mit dem gleichen Titel. 

Christine Zureich, in Suffern, New York, geboren, studierte Soziologie, Amerikanistik und VWL in Tübingen, Uppsala und Frankfurt Main, wo sie im Anschluss als Übersetzerin und Museumspädagogin arbeitete. Heute lebt sie als freie Autorin und Dozentin in Konstanz am Bodensee. Im Februar 2018 debütierte sie mit ihrem Roman «Garten, Baby!» bei Ullstein fünf, Berlin. 2019 veröffentlichte sie mit «Whisperblower» (Kollaboration mit Veronika Fischer) bei Drei Masken, München, ein Bühnenstück zum Cum Ex Steuerskandal. Für ihr Manuskript «Ellens Song» war sie 2019 für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und 2020 für den Hans im Glück-Preis der Stadt Limburg nominiert. Im gleichen Jahr war sie mit der Kurzgeschichte «nahlandig» Preisträgerin des Schwäbischen Literaturpreises.

Webseite der Autorin

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Januar – Mai 2022 steht!

Mit grosser Vorfreude präsentiere ich das neue Programm von Januar bis Mai 2022 im Literaturhaus Thurgau. Klar bleibt ein Vorbehalt, die leise Angst, dass uns wie im ersten Quartal 2021 ein Strich durch die Rechnung gemacht werden könnte. Aber wäre die Zuversicht nicht da, dann würden sich all die ProgrammmacherInnen nicht die Mühe machen, der Kultur einen Bühne zu bieten.

Das neue Programm bietet viel: Prosa und Lyrik, Musik und Installation, Ausstellung und Diskurs! Bleiben Sie uns auch in schwierigen Zeiten treu, treu dem schmucken Haus am Seerhein aber auch all den Kunstschaffenden, denen Orte wie das Literaturhaus Thurgau Lebensader ist!

Sämtliche Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau