«Ich liebe dich nicht, weil ich dich liebe.» Buchpremière mit Peter Stamm

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften. Danke für den schönen Abend.» Peter Stamm

Zum ersten Mal seit eineinhalb Jahren ein unmaskiertes Publikum! Ein voller Saal, bis auf den letzten Platz besetzt. Zusammen mit Peter Stamm auf dem kleinen Podest zu sitzen, um an diesem Abend die Schweizer Buchtaufe seines neuen Romans zu zelebrieren, war eine doppelte Feierstunde, Freude im Quadrat! Als wäre die Situation aus der Zeit gefallen, ein Fenster aufgegangen in eine Zeit, die man vergessen glaubte.

„Das Archiv der Gefühle“ ist neben vielen Erzählungen, Theaterstücken und Hörspielen, sein 8. Roman. Ein Roman, der wie immer mit wenig Spektakel, dafür umso mehr Interpretationsspielraum spielt. Ein Roman, der unweigerlich Fragen stellt, zur Reflexion zwingt. Peter Stamm beweist darin einmal mehr sein Feingefühl für intensive Moment-, Landschafts-, Situations- und Inweltbeschreibungen.

Dass man in Zeiten wie diesen den Tritt im Leben verlieren kann, wird immer offensichtlicher. Und dabei wäre Corona nur einer der Gründe, den Boden unter den Füssen zu verlieren. Peter Stamms Protagonist verliert viel; seinen Beruf, seine Frau, seine Welt. Ein Aussenseiter, ein Aussteiger, ein Abgedrängter. Er hortet im Keller seines Hauses in Rollregalen das ehemalige Recherchearchiv einer Tageszeitung. Jenes Material, dass vor Zeiten des Internets, vor Google und Wikipedia ein Ort für Nachforschungen war. Von einem ganzen Team betreut, am Schluss nur noch von ihm, bis man es ganz auflösen wollte. Für ihn der Ort, an dem Ordnung in die Welt gebracht werden kann, zumindest als Gegenpol zur Welt der Gefühle, die wohl auch irgendwie archiviert wird, sich aber jeder Ordnung entziehen. 

Franziska war zu Schulzeiten seine Freundin. Wahrscheinlich sogar mehr. Nur reichte es nie zu klaren Worten und eindeutigen Zeichen. Nun sind die beiden alt geworden. Er in seinem Keller, sie in ihrem Garten. Beide allein. Beide mit der Ahnung, etwas versäumt zu haben. Während er erzählt, aus seinem Leben in einer still gewordenen Gegenwart und seinen Erinnerungen, die immer lauter werden, erscheint Franziska immer offensiver in seiner Gedankenwelt, beginnt sich beinah zu materialisieren.

«Ich wollte nicht zu den verlorenen Männern gehören, denen man von weitem ansieht, dass sie nicht mehr gebraucht werden…“ Trotzdem wurde er ein solcher, obwohl er sich doch eigentlich gegen Veränderungen auflehnt. Selbst im Haus, das er von seiner Mutter übernimmt, ändert er nur, was unvermeidbar ist. 

«Das Archiv der Gefühle» ist ein behutsam erzählter, melancholisch gefärbter Roman, der grosse Fragen ohne grosse Gesten stellt (…) ein Juwel.» Rainer Moritz, NZZ

Im anschliessenden Gespräch zusammen mit dem Publikum meinte Peter Stamm, Liebesgeschichten seien in seinen Romanen nicht zu vermeiden. Er brauche sie, weil sie Räume öffnen, Menschen öffnen, weil sie Zustände offenbaren, an denen er interessiert sei!
Seine Nähe zum Publikum offenbarte sich auch in den vielen kleinen Gesprächen im Anschluss an die Lesung, Begegnungen, die den Abend unvergesslich werden liessen.

Beitragsbild © Brigitte Conrad / Literaturhaus Thurgau

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer

In Kellern lässt sich vieles lagern, verbergen, vergessen. Aber für eine ganz besondere Sorte Mensch kann ein Keller zu einem Lebensraum, einem Lebensspeicher werden, in dem sie horten, schichten, stapeln und selbst in einem scheinbaren Chaos zu ordnen versuchen.

„Das Archiv der Gefühle“ ist ein Roman der Entmaterialisierung, denn was bleibt, ist weder bedrucktes, noch beschriebenes Papier, selbst in der kurzen Einheit eines Lebens. Das einzige, was bleibt, ist der Nachhall von Gefühlen, etwas, das sich weder schichten, stapeln, noch horten lässt. Der Nachhall ist flüchtig.

Man hat den Icherzähler entlassen, nachdem er über Jahrzehnte verantwortlich war über das Recherchearchiv einer grossen Tageszeitung. Einst war er Vorgesetzter einer ganzen Equipe in den Kellerräumen des Unternehmens. Irgendwann war er übrig geblieben, der Letzte, den man entlassen musste. Und weil es in der digitalisierten Gegenwart weder Verwendung für ein Archiv, noch für die Rollregale gibt, liess man das Ganze, nachdem er seinen eigenen Keller im ehemaligen Wohnhaus seiner Mutter geräumt hatte, für wenig Geld und gegen vertraglich abgesicherte Nutzungsbestimmungen in sein Heim abtransportieren. Nicht der letzte Grund, warum ihn seine Frau Anita irgendwann aufgab und verliess.

„Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgesetzten Platz…“

Seither spielt sich das Leben des Einzelgängers in den Mauern seines Hauses ab. Was sich nicht durch die wenigen Spaziergänge erledigen lässt, ordert er per Internet. Die Tagesabläufe blieben immer gleich, die Arbeitsstunden am Morgen, das karge Mal zu Mittag, die Arbeitsstunden am Nachmittag, das Buch am Abend.

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-10-397402-7

Aber so sehr er Hüter seines Archivs ist, Hüter gegen das Vergessen, ein Manischer, der immer wieder neue Dossiers anlegt, beseelt davon, Ordnung in sein Leben zu bringen, wird er bedrängt von seinen Gefühlen, den Erinnerungen, der Ahnung, sein Leben verwirkt, vergeudet zu haben. Damals, noch in der Schule, war Franziska seine Freundin. Eine Freundin, in die er verliebt war, die seine Liebe nie verlor, auch als sie sich aus den Augen verloren und sein Leben den Anschein machte, in geordneten Bahnen zu verlaufen. Aber eine Liebe, der er sich nie offenbarte, die immer in der Schwebe blieb, auch als man sich später immer wieder einmal traf und das eine oder andere Mal geschwisterlich in Hotels ein günstiges Zimmer teilte.

Und als in der Gegenwart das Virus das Leben zeitweise zum Erliegen bringt, er seine Spaziergänge aus den Tiefen seines Archivs wieder länger werden lässt, wird auch Franziska immer mehr zu einer Begleiterin seiner Tage, manchmal so real, dass ihr Abbild beinah greifbar wird. Sollte er noch einmal Kontakt aufnehmen? Nach 40 Jahren?

Peter Stamms schrulliger Einzelgänger wendet sich immer mehr ab von jener Welt, die er zu schützen glaubte, immer mehr zu, jenem Gefühl noch eine letzte Chance haben zu müssen, seinem Leben einen Sinn zu geben. Ich mag ihn. Eigentlich hat er alles richtig gemacht und doch droht er, alles zu verlieren. Der Eigenwillige hat etwas von einem Künstler, einem Kämpfer, der sich nicht um ein Publikum schert.

Aus Franziska wurde Fabienne, ein Name, der sich auf der Bühne als Sängerin besser verkaufen liess. Aber auch ihr Leben ist aus der Spur geraten, vielleicht schon viel länger, als die Berichte in den Medien erahnen liessen. Durch einen ehemaligen Kollegen bringt er den Wohnort seiner ehemaligen Freundin in Erfahrung. Und während sich ihr Abbild immer mehr materialisiert, beginnt sich der Mann von der tonnenschweren Last seines Archivs zu entfernen.

Peters Stamms Sprache ist glasklar, seine Geschichte beinahe schlicht. Es ist das, was er mit seinem Erzählen in mir als Leser auslöst. Was machen Erinnerungen mit mir? Welches Bild von mir und der Welt trage ich in mir? Lebe ich das Leben, dem ich zugesprochen bin? Habe ich die Chancen genutzt, die sich mit stellten? Ist Ordnung alles oder letztlich das, was uns vom Leben trennt? Ergeben wir uns dem Konjunktiv unseres Lebens? Peter Stamms Protagonist lässt sich auf ein imaginäres Gegenüber ein. Dann jeweils kippt die Zeit. Peter Stamms Roman wird einmal mehr polarisieren. Erst recht, weil er so unspektakulär ist. Trotzdem, oder eben darum – ein starkes Buch!

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

Webseite des Autors

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Peter Stamm «Wenn es dunkel wird», S. Fischer, Erzählungen

Es hätte nur ganz wenig gebraucht und ich hätte den neuen Erzählband Peter Stamms nicht zur Hand genommen. Aber dann schnappte ich ihn mir doch, begann im Zug zu lesen und wäre schon beim ersten Eintauchen in Peter Stamms literarischen Tauchgang durch die Dunkelheit fast an meinem Ziel vorbeigefahren.

In seiner letzten Erzählung „Schiffbruch“ sitzt ein in den Bankrott geratener Spekulant in seiner Dolder-Suite hoch über Zürich in seinen Bademantel gehüllt. Die Tür zu seiner Suite ist verrammelt, das Abenteuer konnte beginnen. Robinson hatte es zwanzig Jahre durchgehalten.
In allen Erzählungen erkennt man das stamm’sche Erzählmuster all jener Männer und Frauen, die an die Ränder ihrer Existenz geraten. Die einen springen, andere verharren. Eine Polizistin, die sich nach der Trennung von ihrem Lebenspartner in die Berge versetzen lässt, um sich auf der Suche nach ihrer „Verdoppelung“ einer Art Spiegelung in den Bergen beinahe zu verlieren. Oder Adrian, arbeitslos geworden, verliert sich in einer Parallelexistenz. Oder der Ehemann, den seine Frau mit seinen Kindern, ungeduldig und wütend geworden auf dem Weg in den Winterurlaub an einer Raststätte im Nirgendwo stehen lässt.

Peter Stamm «Wenn es dunkel wird», Erzählungen, S. Fischer, 2020, 192 Seiten CHF 29.90, ISBN 978-3-10-002226-4

Peter Stamm erzählt von Kippmomenten, in denen sattes, in fixen Bahnen geschientes Leben aus den Fugen gerät oder zumindest zu entgleisen droht. Und Peter Stamm überrascht, wie plottorientiert er zu schreiben versteht, mich als Leser in Katastrophenfantasien hineinmanövriert, die mir selbst offenbaren, wie empfänglich ich für die schlechten Varianten des Lebens bin. Peter Stamm führt mich ganz nah an jene Momente, an denen sich das Leben öffnet, wenn auch nur in Spiegelungen. Es brechen die Grenzen des eigenen Seins auf, Grenzen werden transparent, Abgründe offenbar.

In der ersten seiner Erzählungen mit dem Titel „Nahtigal“ duckt sich ein junger Mann krank gemeldet während Tagen mit einer Maske in seiner Tasche vor einer Bankfiliale herum. Tun oder nicht. Jetzt oder nie. „Es ging darum, sein Leben in die Hand zu nehmen, um die Freiheit, selbst zu bestimmen, was geschah“. Peter Stamms Erzählungen kreisen immer wieder um diesen einen Moment, von dem wir wissen, dass er überall lauert, dass wir ihn meist nicht wahrhaben wollen, um uns selbst vor möglichen Konsequenzen zu schützen.

Vielleicht spiegeln sich in Peter Stamms neuem Erzählband „Wenn es dunkel wird“ aber auch Veränderungen seines Schreibens selbst. Denn wenn man ihm in diesen Erzählungen eines nicht nachsagen kann, dann ist es Unterkühlung. In seinem Buch werde ich als Leser ganz nah an den heissen Kern des Lebens geführt, dort hin, wo sich die Banalität des Alltags mit der drohenden Katastrophe zu reiben beginnt. Peter Stamms Erzählungen sind nicht einfach Kurzfutter fürs Nachttischchen, sondern tiefe Einblicke mit dem Brennglas eines feinen Beobachters.

Peter Stamm, (geboren 1963) aufgewachsen in Weinfelden im Kanton Thurgau. Nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Studium der Anglistik, Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Seit 1990 freier Autor und Journalist. Peter Stamm schrieb Reportagen und Satiren unter anderen für die Neue Zürcher Zeitung, den Nebelspalter und das Magazin des Tages-Anzeigers. Längere Auslandaufenthalte, u.a. in Paris, New York und Berlin. Lebt mit seiner Familie in Winterthur.
Peter Stamm schrieb zahlreiche Hörspiele und Theaterstücke. 1998 erschien sein erster Roman «Agnes». Seither sind vier Erzählsammlungen und fünf weitere Romane erschienen, zuletzt 2016 «Weit über das Land». Werke von Peter Stamm wurden in 37 Sprachen übersetzt. Lesereisen in viele Länder, unter anderem nach China, Mexiko, Russland, in die arabischen Emirate, nach Kolumbien und in den Iran.

Webseite des Autors

Rezension «Marcia aus Vermont» auf literaturblatt.ch

Rezension «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Anita Affentranger

20 Jahre Bodmanhaus Gottlieben: Literaturhaus Thurgau

Das Bodmanhaus in Gottlieben, die Stiftung, das Literaturhaus Thurgau feiern «20 Jahre Literaturhaus»! Nach Zürich und Basel war Gottlieben das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Was damals mit Sicherheit Mut brauchte, ist heute Institution und ein Ort mit besonderer Strahlkraft!

„Härzlichi Gratulazio dum Bodmaahüs va Gottliäbu, dum künftigu Literaturhüs vam Kantoo Thurgau. Ja, hei wär du Biächär witärhi Sorg, will was weeri iischi Läbu ooni Biächär: Woll wiän äs zärtrikkts Gornischo ooni Ragglett. Heit sus güät! Tschau zämu!“
Rolf Hermann, Schriftsteller

Zu einem Jubiläum gehören neben einem Fest GratulantInnen. So versammelt sich in diesem Bericht ein ganzer Chor von unterschiedlichsten Stimmen, die genau wissen, wie wichtig ein Literaturhaus als Kultur- und Identivikationsort ist:

«Ich habe auf meinen Lesereisen viele Literaturhäuser kennengelernt, mondäne wie in München oder Frankfurt, moderne wie in Basel oder Innsbruck, kleine, gemütliche wie in Kiel oder Oldenburg, Häuser, die Treffpunkte für die Literaturszene waren wie in Stockholm oder Istanbul, aber das Bodmanhaus hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Nicht nur als ein Haus des Lesens, sondern auch als eines des Schreibens. Immer wieder habe ich mich hier eingemietet und an meinen Texten gearbeitet, an diesem stillen und doch nicht abgelegenen Ort, der Literatur nicht nur ausstellt, sondern auch ihre Entstehung ermöglicht. Und was Schöneres kann ein Literaturhaus tun.»
Peter Stamm, Schriftsteller 

„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben geworden und gewesen in den letzten zwei Dekaden: für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Ein Gruss. Ein Dank. Eine Gratulation. Für engagiertes Wirken im Zeichen von Buch und Schrift, von Schreiben.
Die Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben war immer beides.
Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.
Das wurde im Bodmanhaus gelebt – 20 Jahre, mit Engagement von vielen Einzelnen (ihre Namen mögen bleiben und genannt werden), mit jener Leidenschaft, die das Besondere schafft, mit jener Menschlichkeit der Begegnung, die bewegt und in Erinnerung bleibt.
All das möge aufgehoben sein im neuen Literaturhaus Thurgau, ein Ort von Geheimnis und Ankunft, von Begegnung und Gespräch, von erfüllten Augenblicken in denen die Zeit stillsteht: gestundet in der Ahnung von Zuhause-sein, das wir nach Novalis immer suchen, von Heimat vielleicht.“
Urs Faes, Schriftsteller

In der Schweiz existieren heute sechs Literaturhäuser, wenn auch nicht alle in der gleichen «Qualität», mit der gleichen Veranstaltungsdichte oder ähnlicher Tradition: 
das Literaturhaus Zürich, seit 1999, von einer grossen Bank ebenso grosszügig unterstützt, mit über 100 Veranstaltungen pro Jahr mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein,
seit 2000 das Literaturhaus Basel mit ähnlich hoher Veranstaltungsdichte, mitgetragen von einer grossen Stiftung, die auch das Literaturfestival BuchBasel und die Vergabe des Schweizer Buchpreises mitfinanziert,
das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg, das seit 2004 mit einem äusserst kompetenten Team neben Veranstaltungen grossen AutorInnen einen dreimonatigen Schreibplatz im Haus bietet
und das Literaturhaus Zentralschweiz in Stans, 2014 eröffnet, gut vernetzt und mit einem überraschungsreichen Programm überzeugend.
Seit letztem Jahr wächst auch in St. Gallen das Literaturhaus und Bibliothek Wyborada, auch wenn das Pflänzchen noch jung ist.

„In einer Zeit, in der das Lesen sich dramatisch wandelt, braucht die Literatur mehr denn je ihre Lagerfeuer. Zu diesen gehören die Literaturhäuser. In ihrem Widerschein beginnen Texte erst richtig zu glimmen. Ein ganz besonderes Feuer, weil nicht in der urbanen Mitte angefacht, trägt neuerdings den Namen «Literaturhaus Thurgau». An der Kreuzung der zwei Übergänge Seerhein und deutsch-schweizerische Grenze befindet es sich in einer ganz anderen Mitte, die unsere Aufmerksamkeit genauso verdient wie der Trubel der Metropolen. Ich gratuliere dem Bodmanhaus und allen, die zu seinem Erhalt beigetragen haben, für die letzten 20 Jahre und wünsche dem Literaturhaus Thurgau eine erquickliche Zukunft.“
Jens Steiner, Schweizer Buchpreisträger 2013 und Stipendiat 2020 im Literaturhaus Thurgau

Und das Literaturhaus Thurgau?
Es hiess 20 Jahre lang «Bodmanhaus Literaturhaus Gottlieben» und darf stolz sein, in diesen 20 Jahren vielen, die im deutschen Sprachraum literarisch Rang und Name haben, eine Bühne für ihr Schaffen geboten zu haben. Wenn ich die Namen auf der langen Listen lese, schmerzen mich noch jetzt all jene, die ich aus was für Gründen auch immer versäumt und verpasst habe. Aber es sind auch «kleine Namen», Namen, die es wert sind, entdeckt zu werden, die allzu leicht von den grossen verdrängt werden. Namen, denen sich das Literaturhaus Thurgau ebenso verpflichtet fühlte und fühlt.

„Es ist ein grosser Tag, wenn man zwanzig wird. Man ist kein Teenie mehr, aber man muss auch noch nicht erwachsen sein. Man ist noch übermütig, aber man weiss doch schon zu schätzen, was vorhergehende Generationen geleistet haben. Die Welt steht einem offen, ist aber grosszügig genug, noch keine allzu hohen Anforderungen an einem zu stellen. 
In diesem Sinn wünsche ich dem Literaturhaus Thurgau, dass es auf immer zwanzig bleiben kann! Möge die Neugierde auf Literatur nie abflachen, weder auf Seiten des Publikums noch auf Seiten der Macherinnen und Macher, und mögen die Förderstellen grosszügig bleiben, ohne einengende Forderungen zu stellen. Die Literatinnen und Literaten werden es zu schätzen wissen – die jungen Übermütigen genauso wie die reifen Erfahrenen. 
Auf die nächsten zwanzig Jugendjahre in diesem gediegenen, ehrwürdigen Haus.“
Tabea Steiner, Schriftstellerin

„Das Literaturhaus Thurgau ist ein magisches Haus an einem magischen Ort. Müsste ich es einer literarischen Strömung zuordnen, zählte ich es zum magischen Realismus. Zum Geburtstag wünsche ich dem Literaturhaus ein langes, frohes Leben!“
Pedro Lenz, Schriftsteller

Aber warum mit einem Mal «Literaturhaus Thurgau»?
Nicht nur weil ein Haus zuweilen einen neuen Anstrich braucht. Auch nicht, weil das kleine feine Literaturhaus am Seerhein mit einer Tradition brechen, sich schon gar nicht von der Stiftung Bodman distanzieren will, die seit 20 Jahren alles daran setzt, dass dieses Haus gedeiht und sich weiter entwickelt.

«Ganz herzliche Grüsse von ganz im Osten nach ganz im Norden. Die Grenzregionen sind ja gern die Orte, an denen es brodelt, wo es kratzt und sich reibt und sich Feuer an der Kollision von scheinbar Unverträglichem entzündet, aus dessen Asche dann die schönste Kunst in ihrer ganzen Jungfräulichkeit und Ungeschütztheit entsteht. Ihr seid ein Ort, an den man immer mit Freuden wiederkehrt, belebt und betreut von herzlichen Menschen, und ich zweifle nicht daran, dass es euch noch weitere zwanzig und vierzig und zweihundert Jahre geben wird. Einen herzlichen Toast auf Bodmans Literaturhaus.»
Tim Krohn, Schriftsteller

Das Literaturhaus Thurgau hat allen Grund, sich mit Selbstbewusstsein in die Reihe der grossen Häuser zu hieven, auch wenn die dörflich, schmucke Kulisse eine ganz andere ist als in Zürich, Basel oder St. Gallen. Dafür aber werden die Gäste nachweislich um ein Vielfaches mehr verzückt, ihre Auftritte für sie unvergesslich.

„So wie das schöne Bodmanhaus ist auch die wertvolle Literatur: Nicht an der grossen Strasse gelegen, sondern eher fern des Rummels, letzten Endes aber doch erreichbar. Sie ist immer da, wo sich Grenzen aufheben und wir, mit der nötigen Musse, dem Näherkommen, was die Welt zusammenhält. 
Ich möchte mich feierlich in die Reihe der Gratulantinnen und Gratulanten stellen und diesem wunderbaren Literaturhaus, seinen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie allen seinen treuen Besucherinnen und Besuchern meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken. Möge das Literaturhaus noch viele schöne Jahre seine Stellung als literarisches Leuchtfeuer am Bodensee bewahren!“
 
Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Es müsste eine ganze Gegend, der Kanton selbst dieses Selbstbewusstsein entwickeln, diesen Stolz darüber, eine Perle zu besitzen, einen schlicht glänzenden Schatz, einen Ort, an dem Kunst lebendig wird, Literatur seinen Atem holt. Und für dieses Selbstbewusstsein braucht es den Namen «Literaturhaus Thurgau», gekoppelt mit der Hoffnung, dass dieses Haus an Ausstrahlung zunimmt und es nicht mehr passiert, dass durchaus Literaturbegeisterte den Namen dieses Hauses nicht einzuordnen wissen.

«Falls Literatur tatsächlich mit Poesie zu tun hat – Gottlieben i s t ein poetischer Ort. Nicht in erste Linie der Literatur wegen. Sondern von Natur aus. Des Rheins wegen, dieses kleinen Stücks sogenannten Seerheins wegen, das glücklicherweise, neben der Thur, auch noch zum Thurgau gehört. Max Frisch hat zwar nicht dieses Stück Seerhein im Sinn, sondern den Rhein bei Basel, vom Münster aus gesehen, wenn er in seinem kurz nach Kriegsende entstandenen Tagebuch, im März 1946 schreibt: 
„… der Rhein, wie er in silbernem Bogen hinauszieht, die Brücken, die Schlote im Dunst, die beglückende Ahnung von flandrischem Himmel –

Wie klein unser Land ist.
Unsere Sehnsucht nach Welt, unser Verlangen nach grossen und flachen Horizonten, nach Masten und Molen, nach Gras auf den Dünen, nach spiegelnden Grachten, nach Wolken über dem offenen Meer; unser Verlangen nach Wasser, das uns verbindet mit allen Küsten dieser Erde; unser Heimweh nach der Fremde…»
Ein nicht gleiches, aber vergleichbares Heimweh kann man verspüren, wenn man an einem schönen Sommerabend auf der Terrasse des Waaghauses sitzt und über das spiegelnde Stück Seerhein, den glänzenden Untersee hinweg die Erhebungen des Hegaus, das hügelige Land von Baden-Württemberg sieht, von dem man weiss, dass es nicht sehr weit entfernt, aber doch jedenfalls nicht mehr in der Schweiz liegt. In einem Jenseits, das im Sonnenuntergangslicht sich verbündet mit einem Verlangen in uns, das vielleicht Frischs „Heimweh nach der Fremde“ entspricht. Wobei wir nicht an fremde Länder dabei denken, sondern ein ganz und gar unpolitisches – eben poetisches Verlangen in uns erwacht nach jener schönen Fremde, jener Anderswelt, Gegenwelt, die auch die Literatur verkörpert. Ohne die wir – auch in Zeiten von Corona – nicht leben wollen, sollen und können. 
Aus diesem Grund ist das nun seit zwanzig Jahren bestehende Literaturhaus in Gottlieben vielleicht das poetischste der Schweiz. Ich danke dem alten Bodmanhaus für manche schöne Einladung und dem neuen Literaturhaus Thurgau wünsche ich viel – poetisches – Glück!»

Elisabeth Binder, Schriftstellerin und Verlegerin

Nebst vielen Zentren für bildende Kunst, Museen, Theatern, Kinos und einem Mekka für den modernen Tanz, spielen im Kanton Thurgau zwei Zentren der Literatur; die Kantonsbibliothek in Frauenfeld und das Literaturhaus Thurgau. Schon allein die Tatsache, dass das eine in der Hauptstadt wirkt und das andere, auf dem Land, an der Peripherie, dort wo sich der Kanton seinem Nachbarland hin öffnet, ist perfekte Synchronisation; Kantonsbibliothek Thurgau und Literaturhaus Thurgau. Wenn daraus eine noch intensivere Partnerschaft erwächst, ist das nur wünschenswert.

„Im ersten Moment erinnere ich mich an das Bett, auf dem ich etwas von Blanchot lese, draussen eiskalter Winter 2015, ich schreibe bei Goethe ab: «Es wird immer kälter, man mag gar nicht von dem Ofen weg», laufe durch das Dorf am frühen Abend. Dann fallen mir die Hunde im Erdgeschoss ein, riesige, zuverlässige Wächter, das Fahrrad, das ich einem Lehrling abkaufe, um damit nach Konstanz zu fahren, zu meiner Linken der stille, glänzende See. Schliesslich Emanuel von Bodmans unheimliche Kammer, überhaupt die Räume und Flure, nächtliche Lichter, wie von Geisterhand angezündet. Viel Glück zum Geburtstag, liebes Bodmanhaus!“
Dorothee Elmiger, Schriftstellerin

So feiert die Bodman-Stiftung am 20. Juni, ganz bescheiden aber mit berechtigtem Stolz. Was im Haus am Dorfplatz in Gottlieben alles passierte, wer dort in diesen zwei Jahrzehnten auftrat, das darf sich mehr als sehen lassen. Das Bodman-Haus, das nach dem Dichter Freiherr Emanuel von Bodman (1874–1946) benannt ist, lebt mehr den je. Der Dichter lebte von 1920 bis zu seinem Tod in diesem Haus. Auf Initiative der 1996 gegründeten thurgauischen Bodman-Stiftung wurde es fachgerecht restauriert und als Haus des Buches und der Literatur wieder mit Leben gefüllt.

„…In Zürich wie auch in Gottlieben durfte ich immer wieder mit Veranstaltungen – zweimal sogar mit Theaterstücken! –  zu Gast sein, und gegenüber den zwei anderen Häusern, die auf lange Zeit hinaus von den gleichen Personen geleitet wurden, fand ich es in Gottlieben schon deshalb spannend, weil immer wieder andere Persönlichkeiten die Leitung übernehmen und dem Programm wieder eine neue Richtung geben. So erinnere ich mich mit Dankbarkeit an das Wirken von Hans Rudolf Frey, aber auch an jenes von Stephan Keller, und auch bei Marianne Sax, die dank ihrem Background als Buchhändlerin und ihrer Tätigkeit als Jurorin in Deutschland eine ganze Reihe Korophäen an den Bodensee locken konnte, durfte ich ab und zu mitmachen. Nun freue ich mich sehr auf das Wirken des Amriswiler Literaturvermittlers Gallus Frei Tomic, von dem ich u.a. in «Saiten» immer wieder Spannendes gelesen habe. Es ist wunderbar, dass der Kanton Thurgau an diesem schönen Ort am Bodensee ein Literaturhaus besitzt, um das ihn viele grössere Orte in der Schweiz beneiden und dem eine erfolgreiche Zukunft mit immer wieder neuen inspirierten Leitungspersönlichkeiten und einem begeisterungsfähigen Publikum zu wünschen ist.“
Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Heute ist das Bodman-Haus wieder eine Stätte der Kultur, der Begegnung und des Austauschs, was es bereits zu Lebzeiten Bodmans war, als es in Gottlieben eine Künstlerkolonie gab. Das Bodman-Haus beherbergt Stipendiaten, bemüht sich um ein hochkarätiges literarisches Programm und bereichert im Erdgeschoss mit einer Handbuchbinderei, in der sich Sandra Merten weit über Buchdeckel hinaus um das Kulturgut bemüht.

„Das Bodmanhaus fällt mir immer wieder durch sein abwechslungsreiches und interessantes Programm auf. Ohne gutes Knowhow und viel Herzblut wäre das nicht möglich. Immer wieder staue ich darüber, wen die engagierten LeiterInnen und Programmverantwortlichen alles ins kleine Gottlieben locken. Dass diese Begegnungen schon seit 20 Jahren gelingen, ist in der Tat ein Grund zum Feiern. Ich gratuliere herzlich und wünsche dem zukünftigen Literaturhaus Thurgau weiterhin viel Erfolg!“
Katrin Eckert, Leiterin Literaturhaus Basel, das im April 20 Jahre alt geworden ist

Ich gratuliere dem Stiftungsrat, all den treuen Besucherinnen und Besuchern, den Geldgebern und den bisherigen Programmmachern. Ganz besonders bedanke ich mich bei der Stiftungssekretärin Brigitte Conrad, die sich mit Ruhe, Umsicht und grösstem Engagement seit Jahr und Tag um Literatur, Haus und Gäste bemüht. Eine Kraft, die unschätzbare Arbeit leistet!

«Landschaften wie die, in der sich das Bodmanhaus befindet, hat man früher ‹gesegnete› genannt, weil das Zusammenwirken der Naturgegebenheiten und der 2000jährigen Kultivierung der Natur etwas hat entstehen lassen, das man nur als Schönheit bezeichnen kann. Und deshalb ist mir, wenn ich dort zu Gast war, auch immer eine wichtige und oft vergessene Aufgabe der Literatur wieder bewußt geworden: die Schaffung von Schönheit in und mittels der Sprache. Denn auch Schönheit kreieren zu wollen, ist eine Gesinnung, und vielleicht von allen Gesinnungen, die dem Schriftsteller abverlangt werden, nicht die Unwichtigste.»
Michael Kleeberg, Schriftsteller

Anfang Juli wird das neue Programm von August bis Oktober 2020 bekannt gegeben!

Literaturhaus Thurgau

Handbuchbinderei Merten

„Ich wünsche dem schönen Bodman-Haus in Gottlieben ein stetes weiteres Aufblühen, Wachsen, Erstarken und Ausstrahlen – immer mit dem Wissen darum, dass das Wachsen an sich für ein Kulturhaus immer auch viele Aspekte des Erfolgs mit sich bringt, die wenig mit Kunst zu tun haben und mit dieser auch in Konflikt kommen können. Wachstum, mehr Aktivitäten von Jahr zu Jahr, dieser Dynamik entgeht beinahe kein Kulturort und kein Literaturhaus – umso mehr braucht es heutzutage die Reflexion darüber, was Kulturförderung, was Literaturförderung soll und warum und für wen. Den Hausverantwortlichen, den Programmverantwortlichen wünsche ich deshalb viel Weisheit, Einsicht und Weitsicht bei ihren Entscheidungen, viel Mut zur Eigenständigkeit und Gelassenheit angesichts der Erwartungen von Geldgebern, politischen Entscheidungsträgern, Partnern, Autor/innen und Publikum – und viele Portionen Extrahumor und überbordenden Enthusiasmus. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Literaturbegeisterten, die wiederkehrenden Besucherinnen und Besucher, die treuen Seelen werden es euch danken. Letztlich sind es nicht die Zahlen, weder die der Besucher noch die der Einnahmen oder die einer Veranstaltungsstatistik, um die sich alles drehen sollte, sondern diese Sternschnuppenmomente in einem Gespräch über einen Text, eine unerwartete, erhellende Perspektive, der Widerhall von Worten, Ideen, Sprachklängen an den Wänden eines Ortes, dieses tiefe Leuchten in den Augen.“
Bettina Spoerri, Schriftstellerin und Leiterin Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Peter Stamm «Marcia aus Vermont. Eine Weihnachtsgeschichte», S. Fischer

«I have opened the door
In sign of surrender. The house is filling with cold.
Why will you stay out there? I am ready to answer.
The doors are open. Why will you not come in?»

Zeilen eines Gedichts, das der Erzähler in einem antiquarisch erstandenen Büchlein im kleinen Ort in Vermont findet. Ein paar Zeilen, Einladung und Abschreckung zugleich. Erinnerungen sind Türen. Und hinter manchen Türen verstecken sich Geschichten zu Erinnerungen, die durch die Zeit zu Fiktion werden. Erinnerungen sind immer erfunden. Gesehen und erfühlt durch ganz eigene Wahrnehmung, geformt und verändert bis zur Unkenntlichkeit.
Und mit einem Mal, einem Moment, in dem der Lichtschein einer fernen Erinnerung ins Bewusstsein scheint, machen sich Türen auf zu Zeiten, die in der Vergangenheit vergessen schienen. Türen, die einladen, die im Ungewissen lassen, ob es gut ist, die Tür ganz zu öffnen und einzutreten.

Peter war schon einmal in den Staaten, vor dreissig Jahren, damals noch ein unbekannter Künstler auf der Suche nach einem Weg, einem Ziel. Damals begegnete er durch Zufall auf den Strassen New Yorks einer jungen Frau, Marcia, der er für eine Zigarette Feuer gab, deren Hand er berührte, die ihn mit dieser Berührung in ein anderes Dasein zog, eine Wohnung, ein Bett, in Beziehungen, Freundschaften. Die Tage um Weihnachten bis Neujahr ziehen den jungen Mann in einen Strudel von Geschehnissen, die so intensiv sind wie sie abrupt enden. Erst drei Jahrzehnte später, wieder an Weihnachten, will Peter, mittlerweile gestandener Künstler, wissen, was aus dem geworden ist, was mit einem Mal wieder aufblitzt. Er lässt sich in eine Künstlerresidenz einladen, von der er weiss, dass sie von Marcias reichem Vater initiiert wurde, verbringt Tage im Schnee in Vermont, eingeschlossen von einem Blizzard, zusammen mit einem Bildband, in dem er Fotos von sich und Marcia findet und einem Text ganz am Schluss des Buches mit dem einen Satz «Ein Kind ward uns geboren». Peter wartet auf die Begegnung, auf Klärung, wird krank und sieht im Fieber seine Träume Fiktion und Realität ineinander verlaufen.

Eine Weihnachtsgeschichte, die die alte Frage «Was wäre wenn?» stellt. Fragen, die sich stellen, wenn die Zeit stehen bleibt, wenn man dick eingeschneit ist, wenn sich Fieberträume mit der Gegenwart queren. Ist das, was ich an Erinnerungen mit mir herumtrage, was das Fundament meines Denkens ausmacht, bloss eine sirrende Spiegelung? Eine Täuschung? Verblendung? Ist da sogar ein Kind aufgewachsen, von dem er nichts wusste.
So sehr die Reise damals, vor mehr als dreissig Jahren, ein Befreiungsschlag gegen ein altes klebriges Leben war, so sehr holt Peter in seiner eingerahmten Gegenwart ein Leben ein, dass er so nicht geführt hatte.

Peter Stamms 80seitige Weihnachtsgeschichte ist auch eine Erleuchtungsgeschichte, auch wenn das Licht an ihm vorbeizieht. «Ein Kind ward uns geboren», dieser Satz in jenem Buch, in dem Peter Fotos von sich und Marcia fand, sind wie ein Blitzstrahl in ein Leben, dass während den Tagen in Vermont, über dreissig Jahre nach den Tagen mit Marcia, zu einem Wendepunkt werden könnte, so wie Weihnachtsgeschichten fast immer Wendepunktgeschichten sind.

© Gaby Gerster

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Weit über das Land» und «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» sowie unter dem Titel «Die Vertreibung aus dem Paradies» seine Bamberger Poetikvorlesungen. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

Rezension von «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Interview mit Peter Stamm, dem Schweizer Buchpreisträger 2018 #SchweizerBuchpreis19/5

Über die Jahre ist Peter Stamm ganz leise ins literarische Bewusstsein der Schweiz gerutscht, mit jedem Buch ein bisschen tiefer. Schon im ersten Buchpreisjahr 2008 war Peter Stamm mit «Wir fliegen» Nominierter, 2011 mit «Seerücken». 2013 war der Thurgauer gar nominiert für den Man Booker International Prize. Und im vergangenen Jahr war es endlich soweit, eine fast schon logische Konsequenz: Peter Stamm erhält für «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» den Schweizer Buchpreis 2018.

© Lea Frei

Einmal traf ich Peter Stamm an der Fährenanlegestelle in Romanshorn. Damals begleitete er die Dichterin Daniela Danz auf einem Stück ihrer Reise von ihrem Wohnort im Bundesland Thüringen nach Bern zu einer Lesung. Peter Stamm, der Spaziergänger zusammen mit der sprachgewaltigen Dichterin. Wir sassen zu dritt in einem IC Richtung Zürich, sprachen über das Schreiben und Reisen, so wie Schreiben immer eine Reise ist. Als Begleiter des Schweizer Buchpreises 2019 stellte ich dem Preisträger des letzten Jahres ein paar Fragen.

„Mein Krönchen abgeben, keine Supermärkte mehr einweihen und bei keinem Schwingfesten mehr den Muni überreichen“, schriebst du mir, als ich dich um Antworten auf meine Fragen bat, ein Jahr nach der Preisübergabe.
Gibt einem ein solcher Preis eine neue Position? So etwas wie eine Instanz? Oder bleibt bloss eine hübsche Urkunde irgendwo zwischen Schreibtisch und Haustüre? Bleibt etwas?

Die Idee des Preises war ja von Anfang an, den Verkauf von Büchern zu fördern, nicht, die Autorinnen und Autoren unsterblich zu machen. Die Literatur ist viel schnellebiger als man denkt. Der Bestseller von heute kann in zwanzig Jahren völlig vergessen sein und in fünfzig ist er es mit grösster Wahrscheinlichkeit. Oder auch nicht. Aber wenn er nicht vergessen ist, dann wohl nicht wegen Preisen, die er oder sie gekriegt hat. Selbst die Liste der Preisträgerinnen und Preisträger des Nobelpreises besteht zum grössten Teil aus vergessenen Namen. Und die meisten der nichtvergessenen Autorinnen und Autoren haben den Nobelpreis nie gekriegt. Was bleibt sind einige Bücher. Ich habe übrigens keine meiner Urkunden aufgehängt, das wäre mir zu peinlich.

Die Verleihung des Schweizer Buchpreises soll ein Medienspektakel sein. Das Radio berichtet live und im Theater Basel stehen an diesem Sonntag morgen Fernsehkameras vom SRF. Aber ein richtiges Spektakel wird der Preis vor allem in seinem Nachgang; wenn Medien kommentieren, wenn in grossen Tageszeitungen seitenfüllende Vorhaltungen publiziert werden und man wie jedes Jahr bestätigt wird, dass es wie mit jedem Wettbewerb ist; Jemand gewinnt und viele verlieren. Dabei sollte der Literaturbetrieb gewinnen. Tut er es?

Er kriegt Aufmerksamkeit und darum geht es doch. Wir wollen auch mal ein bisschen Glamour. Schreiben und Lesen sind stille Geschäfte. Politiker gehen an Sportereignisse, allenfalls noch an die Art Basel oder ein Filmfestival, ganz bestimmt nicht zu Lesungen. Ich habe in meiner ganzen Karriere erst einmal einem Bundesrat die Hand geschüttelt und das war, als er ein Buch schrieb und ich ihn moderiert habe.

Und doch sind sie wichtig, diese Preise. Nebst Publicity fliesst Geld, das AutorInnen mehr oder weniger unabhängig macht, zumindest eine gewisse Zeit, Dinge ermöglicht, die sonst nicht umsetzbar sind.

Das stimmt schon, so ein Preis kann eine Entlastung sein. Man darf nie vergessen, dass die meisten Autorinnen und Autoren grosse Mühe haben, von ihrem Schreiben zu Leben. Die Leistung, die die Literatur für das Land erbringt, wird nicht abgegolten. Die Schweiz brüstet sich gerne mit ihren grossen Autorinnen und Autoren, aber sie tut praktisch nichts für sie. Im Gegenteil: siebzig Jahre nach unserem Tod werden wir quasi enteignet, indem man unser Erbe, also unsere Urheberrechte als Allgemeingut erklärt. Und Mäzene gibt es meines Wissens auch keine mehr. Ein Literaturpreis ist eine gute Sache, aber er ändert nichts am grundsätzlichen Problem, dass man vom Schreiben kaum leben kann. Ich beklage mich nicht, ich lebe gut vom Schreiben, aber ich sehe einfach, wie viele das nicht können und sich noch nicht einmal beklagen.

Der Fernsehliteraturkritiker Denis Scheck nannte dich vor nicht langer Zeit einen „Ausnahmeautor“, einer der für seine Kunst des Weglassens ebenso gelobt werde, wie dafür, was am Schluss auf dem Papier steht. Was ich an deinen Büchern so schätze, ist aber auch das, womit sie mich nach der Lektüre zurücklassen; vielen offenen Fragen, eine Spur Ratlosigkeit und die Gewissheit, dass man Leben nicht „aufschreiben“ kann. Wird das auch in den Reaktionen deiner Leserinnen und Leser gespiegelt?

erscheint im Oktober bei S. Fischer

Ja, schon. Aber wenn ich dann mit den Leuten rede und ihnen erkläre, weshalb es keine „Lösungen“ geben darf in meinen Texten, verstehen sie das eigentlich immer. Natürlich gibt es auch Leute, die mit meinen Büchern nichts anfangen können, auch damit habe ich kein Problem. Ich kann ja auch mit ganz vielen Büchern nichts anfangen und das heisst nicht, dass sie schlecht sind. Sie sind einfach nicht für mich geschrieben.

Du bist ein Spaziergänger. Ein Spaziergänger, der der Enge der Schreibklause entflieht, dem Lärm seiner Umgebung? Ein Spaziergänger, der sich so in die Gänge bringt? Ein Spaziergänger in der Tradition Robert Walsers?

Ich würde mich nie mit Rober Walser vergleichen wollen. Spaziergänger gibt es viele, aber Robert Walser gab es nur einen. Beim Spazieren kann ich einfach besser denken als beim sitzen. Das ist natürlich auch ein bisschen mühsam, vor allem, wenn es regnet. Ich bin einfach gerne an der frischen Luft, ich hätte wohl auch Briefträger oder Gärtner werden können. Nur schreiben kann ich dummerweise fast nur in geschlossenen Räumen. Also ist es ein ewiges Hin und Her. Rausgehen um nachzudenken, reingehen um es aufzuschreiben.

In Weinfelden aufgewachsen begann deine berufliche Karriere als kaufmännischer Angestellter und Buchhalter. Was ist davon geblieben?

Ich mache heute noch meine Buchhaltung selbst. Nur bei der Steuererklärung habe ich Hilfe. Ich bin mich gewöhnt, genau zu arbeiten. Ein Buchhalter kann nicht „fünfe grad sein lassen“. Ich weiss noch, wie mein Lehrmeister mir beibrachte, dass auch ein Fehler von nur fünf Rappen gefunden werden muss. Ich hätte liebend gerne die fünf Rappen bezahlt, aber ich musste den Fehler stundenlang suchen.

Mit Preisen wie dem Schweizer Buchpreis sollen Bücher und ihren Autorinnen und Autoren grösstmögliche Aufmerksamkeit im In- und Ausland erreichen. Hättest du die Möglichkeit, eine Autorin oder einen Autor für einmal ganz ins Rampenlicht zu stellen, um sie oder ihn auf ein wohl verdientes Podest zu heben, sie dem Vergessen oder Übersehen zu entreissen, wer wäre es?

Es gibt ganz viele, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, aber wenn ich jetzt einen Namen nenne, dann unterstelle ich der Person Misserfolg und das wäre nicht sehr freundlich. Ganz generell bekommt aber die Lyrik viel zu wenig Aufmerksamkeit, ähnlich wie die zeitgenössische Musik, die fast eine Sekte ist und kaum gehört wird im Lärm der Greatest Hits der Klassik, die rauf und runter gespielt werden. Um aber doch noch einen Namen zu nennen: ich glaube, Hartmut Lange hätte mehr Aufmerksamkeit verdient. Er ist ein stiller Autor, aber er schreibt wunderbare Bücher.

Rezension «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» auf literaturblatt.ch

Beitragsillustration © Lea Frei

Mein Highlight an der BuchBasel 2018

Warum nach Basel an das Internationale Literaturfestival? Wegen der Preisverleihung? Nein. Wegen der internationalen Gäste? Schon eher, bemüht sich die Festivalleitung doch sehr, aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen eine Bühne zu geben, sei es mit Diskussionsrunden oder Schreibenden, die sich engagiert mit Konflikten, möglichen Antworten und deren Auseinandersetzung stellen. Aber ein Grund; Jedes Jahr Überraschungen und Entdeckungen.

Peter Stamm ist neu gekührter Buchpreisträger mit seinem Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» (Rezension vom 1. April 2018 auf literaturblatt.ch). Das ist gut so – und keine Überraschung. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wird bleiben und nicht einfach im Meer der Neuerscheinungen langsam verschwinden. Dereinst wird dieses Buch in Schulen gelesen werden wie man es mit «Agnes» tut, Peter Stamms vor genau 20 Jahren erschienen erstem Roman. Man wird ihn lesen, weil die beiden Bücher miteinander korrespondieren, das eine irgendwie zum andern gehört.

Das alleine ist aber kein Grund, das Buch zum besten deutsch geschriebenen Werk 2018 zu erklären, zumal die Konkurrenz in diesem Jahr sehr gut und ebenfalls preiswürdig gewesen wäre. «Ein vielschichtiger Doppelgänger-Roman, in dem sich zwei Künstlerpaare ineinander spiegeln. Im Innersten dreht sich das Buch um die wirklichkeitsstiftende Kraft des Erzählens – und funktioniert zugleich so spannend wie ein Kriminalroman. Wir sind die Geschichten, die wir uns erzählen. Peter Stamm führt uns in ein virtuos konstruiertes Labyrinth, in dem wir uns glücklich verlieren», heisst es in der Begründung der Jury.

In Peter Stamms Roman geht es um existenzielle Fragen, wie immer in seinen Romanen. Auch in seinem letzten Roman „Weit über das Land“, in dem ein Familienvater scheinbar plötzlich aus seinem Leben abtaucht. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ kreuzen sich Realitäten. Die eine löscht die andere. Peter Stamm heizt dort ein, wo man meint, sicher zu sein. Er reisst auf, wie sich sonst kaum mehr jemand traut zu erzählen: von Vielbödigkeit, von den trüben Rändern der Wirklichkeit. Von dem, was die Erinnerung mit der scheinbaren Wahrheit macht. Peter Stamm tut dies in so unaufgeregter Art und Weise, dass es mich wundert, wie tief mich der schmale Roman ins Grübeln stösst.

Doch in meinem Bücherkoffer, den ich im Zug von Basel mit nach Hause schleppte, wartete ein ganz besonderer Schatz darauf gelesen zu werden. Als ich auf den Büchertischen im Volkshaus Basel stöberte, fiel mein Blick auf einen grauen Schuber mit fünf verschiedenen Büchern, bei denen man erst es sich erst auf den zweiten Blick bestätigte, dass sie vom selben Autor geschrieben wurden. Fünf Bücher, eine Enzyklopädie, eine Erzählung, ein Notizheft, eine Audiotranskription und ein Comic (jener gezeichnet von Raffaela Schöbitz). «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» (Suhrkamp) heisst das Panoptikum, das Konvolut an Texten, Illustrationen, Berichten, Zeichnungen. 1000 Seiten, von denen der Autor Philipp Weiss meint, es gäbe keinen Anfang, an dem man mit der Lektüre beginnen müsse, weder eine chronologische, oder sonst logische Linie, der man folgen müsse. «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist eine literarische Welt, in die man abtauchen kann, die übersprudelt von Ideen, Querverweisen, sprachlicher Vielfalt, Überraschungen und optischem Genuss.

Manchmal zwingt mich einer meiner erwachsenen Söhne, wenn er in meiner Gegenwart am Computer spielt, versuchsweise auch zum Spieler zu werden. Eines dieser neuen Spiele heisst «red dead redemption II», eine Westernwelt im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert. Ein Spiel, von dem mein Sohn sagt, man können jederzeit irgendwo einsteigen und spielen, ob man nun einer Spur folge oder sich von der Lust leiten liesse.
Genauso scheint «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» zu funktionieren. Eine in Wort und Bild gezeichnete Welt zwischen Frankreich und Japan, zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert, von der 17jährigen Paulette, die 1871 den Aufstand der Pariser Kommune erlebt, ausbrechen will, einen Japaner heiratet, ein Kind von ihm bekommt und nach einer Wanderung über 130 Jahre im «ewigen» Eis eines französischen Gletschers eingeschlossen liegt. Von der Klimaforscherin Chantal, einer Urenkelin von Paulette, die ins aufgetaute Gesicht Paulettes schaut und sich auf die Suche nach Spuren macht und von Jona, dem von Chantal verlassenen Künstler, der sich auf die Suche nach Chantal macht und in Japan ein Land findet, das nicht nur von Tsunami und Erdbeben erschüttert wird.

«Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist eine Reise, eine 1000 Seite lange Reise, auf die ich mich freue, von deren Erlebnissen ich mit Sicherheit noch berichten werde, weil Philipp Weiss zusammen mit der Künstlerin Raffaela Schöbitz etwas schuf, was einmalig, extravagant, kühn und intelligent ist!

Buchtrailer

Philipp Weiss, geboren 1982 in Wien, studierte Germanistik und Philosophie. Er schreibt Prosa und Theaterstücke, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. 2009 nahm er mit seinem Text «Blätterliebe» am Ingeborg-Bachmann-Preis teil. 2011 gewann er mit seinem Stück «Allerwelt» das Hans-Gratzer-Stipendium; das Stück wurde am Schauspielhaus Wien uraufgeführt, wo er in der Spielzeit 2013/14 Hausautor war. «Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne» gewann 2015 den Preis der Theatertage Lyon und erschien auf Französisch in den Éditions Théâtrales (Montreuil). «Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen» ist sein Romandebüt.
Webseite des Autors

Raffaela Schöbitz, geboren 1987 in Korneuburg, hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien sowie Filmwissenschaft und Kunstgeschichte in Berlin studiert. Sie arbeitet als freischaffende Autorin, Dramatikerin und Illustratorin, u. a. für Revolver. Zeitschrift für Film und Deadline. Das Filmmagazin, und ist Teil des nicht.THEATER-Ensembles. Ihre Theaterstücke, «Zugvögel» (2014) und «Im Mutterbauch war’s früher besser» (2015), werden vom Kaiser Bühnenverlag vertreten. Daneben hat sie Kinderbücher verfasst, u. a. «Knollnase» und «Roboter haben’s auch nicht leicht», deren Illustrationen ebenfalls aus ihrer Feder stammen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem DIXI Kinderliteraturpreis für Illustration (2015) und mit Stipendien des BKA Kunst und Kultur (2016 & 2017). 2017 war sie Stipendiatin der Peter Suhrkamp Stiftung. Ihre Bilder sind oft Mixed-Media-Collagen, ansonsten arbeitet sie häufig mit Tusche, Wasserfarben, Kohle und Buntstiften.
Webseite der Künstlerin

Peter Stamm «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S. Fischer

Manche Begegnungen sind schicksalshaft. Selbst wenn daraus kein andauerndes Beieinander wird, wenn gemeinsame Zeit längst zerronnen ist. Aber es bleibt das Bild, der Eindruck, unauslöschlich in die Erinnerung eingegraben.

Man stelle sich vor: Irgendwann begegnet man irgendwo einem Menschen, der sich in kaum etwas von dem unterscheidet, was man einst selbst war. Man erkennt sich in jemandem, fühlt sich von der Zeit, der Vergangenheit eingeholt. Man stelle sich vor, man komme mit diesem überraschenden Gegenüber ins Gespräch, Leben würden sich kreuzen, Gegenwart mit Vergangenheit, um festzustellen, dass sich die eigene Geschichte zu löschen beginnt, während man sich immer tiefer in die Geschichte des Gegenübers verstrickt.

Peter Stamms neuer Roman, nimmt etwas von dem wieder auf, was sein erster Roman „Agnes“ zu erzählen begonnen hatte. In „Agnes“ fordert eine junge Frau ihren Geliebten, einen Schriftsteller auf, ihre Geschichte, ihre gemeinsame Geschichte zu schreiben, die Geschichte ihrer Liebe. Mehr noch; Geschichte im Erzählen vorwegzunehmen. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ fügt Peter Stamm jenem Drängen aus seinem ersten Roman noch weitere Schichten hinzu.
Christoph lernt die viel jüngere Magdalena kennen, muss ihr ihre Geschichte erzählen, die vor vielen Jahren damit begann, dass er eine Frau kennenlernte, die ihr in fast allem gleiche, die er aber aus den Augen verloren habe. Magdalena wundert sich über einen älteren Mann, der ihr eine Geschichte erzählen will, die sich immer deutlicher mit der gegenwärtigen Geschichte mit ihrem Freund zu decken scheint. Christoph hatte damals, als er Magdalena verlor und mit ihr eine gemeinsame Zukunft, endlich den Stoff für seinen Roman gefunden. Den einzigen, den er je geschrieben hatte und der mit zunehmender Zeit immer mehr zur Ahnung werden sollte. So wie ihm Magdalena entglitt, tat es auch das Schreiben, selbst als er sich mit allem Elan auf die Suche nach Inspiration machte, für Jahre weg aus seinem gewohnten Umfeld zog, sich unsichtbar machte. Um im anderen Leben festzustellen, dass man nicht vorkommt, nicht einmal mehr seine eigenen Spuren, erst recht nicht das Buch, das man einst geschrieben und verkauft hatte, sichtbar bleiben.

In Peter Stamms neuem Roman geht es um existenzielle Fragen, wie immer in seinen Romanen. Auch in seinem letzten Roman „Weit über das Land“, in dem ein Familienvater scheinbar plötzlich aus seinem Leben abtaucht. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ kreuzen sich Realitäten. Die eine löscht die andere. Peter Stamm heizt dort ein, wo man meint, sicher zu sein. Er reisst auf, wie sich sonst kaum mehr jemand traut zu erzählen: von Vielbödigkeit, von den trüben Rändern der Wirklichkeit. Von dem, was die Erinnerung mit der scheinbaren Wahrheit macht. Peter Stamm tut dies in so unaufgeregter Art und Weise, dass es mich wundert, wie tief mich der schmale Roman ins Grübeln stösst.

Peter Stamm verrät, wie sehr er sich Sicherheit für sein Schreiben wünscht. Man fragt sich zwar; Glaube ich, was ich lese? Nie aber; Weiss ich, was ich lese? Ein Roman, der das Zeug zur Verunsicherung hat. Ein Roman, der Fragen stellt, die ich für mich schon lange beantwortet zu haben glaubte. Ein Roman, der konzentriert erzählt, nie abschweift, beinahe sachlich erzählt. Peter Stamm kocht nicht Altes auf. Dafür spritzt er mit heissem Wasser!

Foto: Gaby Gerster

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Nacht ist der Tag» und «Weit über das Land» sowie unter dem Titel «Die Vertreibung aus dem Paradies» seine Bamberger Poetikvorlesungen.

Webseite des Autors

Peter Stamm „Agnes“, Film (2016) und Buch, Arche (1998)

Diesen Monat erscheint Peter Stamms neuster Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“. Grund genug, seinen ersten Roman, der bei Erscheinen seines neuen vor 20 Jahren Kritiker und Leser ins Staunen versetzte, „Agnes“ noch einmal zu lesen. Damals war „Agnes“ eine literarische Überraschung. Heute ist „Agnes“ Schullektüre, so etwas wie ein Klassiker. Und der Film vom Regisseur Johannes Schmid?

Agnes ist Physikstudentin in Dallas. Sie schreibt an einer Dissertation über die «Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallen». In der gleichen Bibliothek der Universität recherchiert ein doppelt so alter Mann über amerikanische Luxuseisenbahnen. Eine Auftragsarbeit. Die beiden kommen sich schnell näher. Als Agnes erfährt, dass er sich einst auch mit Prosa versuchte, fordert ihn Agnes auf, eine Geschichte über sie zu schreiben. Mehr aus Gefälligkeit, vielleicht auch um Agnes Eindruck zu machen, beginnt er wirklich zu schreiben. Über Agnes, über sie beide, über das Aufkeimen einer Beziehung. Aber beide bleiben einander ein Geheimnis. Agnes bleibt fahrig, von Stimmungen getrieben, er ist mehr verunsichert als verliebt, angezogen von der Abenteuerlust eines kühlen Entdeckers. Eines Tages öffnet er mit Agnes Schlüssel ihre Wohnung, bleibt eine Weile, beginnt zu schreiben, kramt in den Sachen, sieht den einzigen Schmuck an der Wand, ein Poster mit einer Figur des Künstlers Kokoschka mit dem  Titel «Mörder, Hoffnung der Frauen», die Karte eines Freundes und in einer Schublade Tabletten. Während die Geschichte um Agnes auf Papier immer weiter gesponnen wird, er Idylle spriessen lässt, wird die Beziehung der beiden immer gereizter. Erst recht, als Agnes ihm erklärt, sie sei schwanger. Erst recht, als er darauf nicht mit Freude reagiert. Während sie enttäuscht und zornig seine Wohnung verlässt, sie, die schon von ihrer eigenen Familie abgeschnitten lebt, bleibt er, paralysiert, perplex. Er schreibt weiter, in verschiedenen Varianten. So, dass es für den Leser nie ganz klar ist, auf welche Seite die Geschichte nun wirklich kippt.

Der erste Satz im Roman ist: Agnes ist tot. Eigentlich gibt es keinen Zweifel. Und doch gelingt es Buch und Film, ein eigentliches Vexierbild entstehen zu lassen. Film und Buch schaffen es, viel mehr nicht zu erzählen und nur anzudeuten, als es bis in die Feinheiten auszumalen. Peter Stamm deutet vieles nur an, lässt mehr Leerstellen, Lücken, genug Raum für Mutmassungen und Interpretationen. Vielleicht liegt genau hier der Grund, dass der Erstling von Peter Stamm zur Mittelschul- und Hochschullektüre im In- und Ausland gehört.

«Agnes» erzählt von der Einsamkeit der Menschen. Da sind zwei, die lieben und doch nicht zueinander finden. Da sind zwei, die in einer Grossstadt  leben, aber weitgehend isoliert sind. Alles scheint sich nur um die Individuen zu drehen. Es bleibt spürbar kalt. Nicht nur weil Agnes nachts in den Schnee hinausgeht und sich entkleidet. Ein unterkühltes Erzählen, dass man Peter Stamm auch in seinen folgenden Büchern nachsagt.

Buch und Film lohnen sich auf jeden Fall. Ich mag es, wenn ich mit einer ordentlichen Portion Ratlosigkeit zurückgelassen werde. Warum sollen Geschichten alles erklären, alles zu deuten versuchen. Das Leben lässt genauso Lücken, Unerklärliches, Unfertiges, bloss Begonnenes.

Ich bin gespannt auf den neuen Roman von Reter Stamm!

Eine Inhaltsangabe des neuen Romans, der im kommenden Februar erscheinen soll: Christoph verabredet sich in Stockholm mit der viel jüngeren Lena. Er erzählt ihr, dass er vor 20 Jahren eine Frau geliebt habe, die ihr ähnlich, ja, die ihr gleich war. Er kennt das Leben, das sie führt, und weiß, was ihr bevorsteht. So beginnt ein beispiel­los wahrhaftiges Spiel der Vergangenheit mit der Gegenwart, aus dem keiner unbe­schadet herausgehen wird.
Können wir unserem Schicksal entgehen oder müssen wir uns abfinden mit der sanf­ten Gleichgültigkeit der Welt? Peter Stamm erzählt auf kleinstem Raum eine andere Geschichte der unerklär­lichen Nähe, die einen von dem trennt, der man früher war. (aus der Vorschau des Verlags)

160 Seiten, bei S. Fischer, ab 22. Februar im Buchhandel, am 21. Februar Buchtaufe im Kaufleuten Zürich, Moderation Jennifer Khakshouri

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt ›Agnes‹ 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane ›Nacht ist der Tag‹ und ›Weit über das Land‹ sowie unter dem Titel ›Die Vertreibung aus dem Paradies‹ seine Bamberger Poetikvorlesungen.

Grossen Namen, z. B. Judith Hermann an den 1. Weinfelder Buchtagen 2017

Zuerst war da die Zusage der Schriftstellerin Judith Hermann. Diese machte Mut und es wurden daraus die 1. Weinfelder Buchtage 2017. Katharina Alder, Organisatorin und leidenschaftliche Buchhändlerin in Weinfelden, machte das eine schon klar: «Die 1. Weinfelder Buchtage werden nicht die letzten sein!»

Für Katharina Alder sind Bücher mehr als eine Verpflichtung. Erst recht in einer Welt, die sich immer mehr vom Fremden distanzieren, am liebsten mit hohen Mauern abschotten will. Wer liest, muss neugierig sein, auch auf das Fremde. Für Katharina Alder sind Bücher ein Teil ihrer grossen Leidenschaft, die sich nicht nur in ihrer Buchhandlung Klappentext mitten in Weinfelden zeigt. Sie will sie hinaustragen, zusammen mit einem Team, zusammen mit Autorinnen und Autoren wie dem Urweinfelder Peter Stamm und den weit gereisten Judith Hermann, Takis Würger, Lukas Hartmann, Christoph Poschenrieder, Tim Krohn und anderen.

Judith Hermann reiste mit dem Zug von Berlin nach Weinfelden, weil auf dem Berliner Flughafen das Bodenpersonal streikte. Damit wurde die Reise länger als geplant, beinahe episch. Aber sie war da, hinter einem kleinen Tisch im Rampenlicht, im edlen Rathaussaal zu Weinfelden und machte schon einmal klar, nur lesen wolle sie nicht, es müsse ein Gespräch sein. Nur schon weil es Geschichten sind, die man nicht einfach hintereinander vorlesen kann. Zu allem entschlossen, selbst in der tiefsten Provinz, die sich dann aber erstaunlich aufmerksam, engagiert und präzise gab, als Judith Hermann nach der ersten Geschichte den Blick ins Publikum richtete und auf Fragen wartete.

Judith Hermann erzählte vom Schreiben, wie das Private ins Schreiben versenkt wird. Wie sie beim Schreiben von Erzählungen oft nicht weiss, wo genau ihr Schreiben hinführt. Und selbst wenn die Geschichten geschrieben und veröffentlicht sind, bleibt ein Rest Geheimnis, die Unsicherheit selbst bei ihr, wo genau der Kern einer Erzählung ist. Geschichten führen die Autorin. Die Figuren selbst sind es, die die Geschichten zum Leben bringen und damit viel Geheimnis zurücklassen. Sie bereite sich auf das Schreiben vor wie auf eine Expedition. Der schönste Moment des Schreibens aber sei der Schwebezustand, während dem man als Schreibende ganz allein mit dem dem Text ist, der Geschichte und den Personen ganz nah. Erzählungen wissen nichts mehr als ihre Leser, würden dem Leser viel mehr überlassen als ein Roman, der in der Regel abgeschlossen ist. Judith Hermann lässt den Leser gerne allein, weil sie weiss, dass nur ein übrig gebliebenes Rätsel den Leser zum Mitdenken zwingen kann.

Schriftsteller sind beneidenswert. Wer sonst kann alte Bekannte einfach so zu sich zurückholen? Wer kann Menschen, seien sie nun real oder fiktiv, so nah wie ein Schriftsteller kommen? Wer kann Erinnerungen so lustvoll erfinden? Wer kann wie ein Schriftsteller ungelöst Heikles, Rätselhaftes mit Schreiben bannen, ohne verstehen zu müssen, was genau passiert?

Judith Hermann zwang zum Nachdenken. Und das verdanke ich den mutigen Organisatoren der 1. Weinfelder Buchtage!

Webseite der Buchhandlung Klappentext in Weinfelden