Sturm im Gebälk: Christian Uetz im Literaturhaus!

Er riss ganz ordentlich am alten Gebälk! Ein Mann, der ganz wörtlich kein Blatt vor den Mund nimmt! Der seine Wortkunst dermassen verinnerlicht, dass er sie frei vorträgt. Wobei «Vortrag» dem, was er tut, bei weitem nicht gerecht wird. Christian Uetz ist, was er spricht und schreibt. Christian Uetz ist ein Ereignis – und zusammen mit dem Musiker Adrian Egli sowieso!

Christian Uetz musste eine ordentliche Weile warten. Vor ein paar Jahren spazierte ich mit ihm an den Walliser Hängen und er erzählte mir, er wäre als Thurgauer noch nie im Literaturhaus Thurgau Gast gewesen. Damals ahnte ich noch nicht, dass ich eines Tages die Ehre haben würde, die Geschicke eben dieses Hauses mitgehalten zu können. Aber nun war er da, Christian im Literaturhaus Thurgau, wo es ihn auch schon viel früher hätte hertragen sollen. Ist er doch nicht nur Thurgauer und einer der wenigen, die sich mit Ostschweizer Wurzeln im Literaturbetrieb etablieren konnten. Seine ersten Gedichte erschienen vor bald 30 Jahren in Beat Brechbühls hoch verdientem Waldgut Verlag. Beat Brechbühl muss gerochen haben, was im damals Dreissigjährigen steckte.

Heute ist Christian Uetz ein literarisches Urgestein, jemand, dem es beim Schreiben um viel mehr geht, als bloss eine Geschichte zu erzählen. Christian Uetz Gedichte, Essays und Romane sind Herausforderung, für viele Provokation, manchmal sogar Zumutung, sowohl inhaltlich wie sprachlich. Ganz sicher aber ist Christian Uetz ein Monolith in der deutschsprachigen Literatur, in der Literaturszene. Jemand, der mit seinem ganzen Sein Sprache und Leidenschaft ist und diese Leidenschaft mehr als wörtlich nimmt. Jemand, durch den sich Sprache manifestiert, der in Zungen redet und schreibt.

Auf eben jenem Spaziergang im Wallis, an einer Weggabelung unter einem Baum, performte Christian Uetz seinen verinnerlichten Text, auswendig und mit weit ausholenden Gesten. Während er zu Hochform auflief, kreuzte das Geschehen eine nichts ahnende Wandergruppe. Ich kann gut nachempfinden, was sich in den Köpfen jener Erstaunten abspielte, als sie den einen gegen den Himmel aufrufend sahen und eine ordentlich grosse Gruppe andächtig Lauschender.

Sein neuster Roman „Das nackte Wort“ ist vieles zugleich; die Findungsgeschichte eines Paars, ein existenzialistisches Tagebuch, ein philosophischer Trommelwirbel und der Versuch, dem Eros Sprache auf die Schliche zu kommen. Er will nicht schmeicheln, wahrscheinlich nicht einmal unterhalten. Aber ganz bestimmt will er Auseinandersetzung, so wie sein Schreiben Auseinandersetzung ist. Er will nicht unterhalten, weil auch sein Schreiben für ihn kein Unterhalten, kein netter Zeitvertreib, sondern bisweilen existenziell in seiner Auseinandersetzung ist.

«Ich war überwältigt von der Begeisterung, die «Das nackte Wort» im Bodmann-Haus auslöste und über die vielen persönlichsten Zusprüche danach! Ebenso hat mich das Zusammenspiel mit Adrian Emmanuel Egli, welches sich völlig aus dem Augenblick improvisierte, ekstatisch entfesselt. Dass die Befürchtung des Protagonisten Georg, die den Alltag lähmende Pandemie werde die Welt so depressiv und agressiv machen, dass sie nur Vorbote von neuen Weltkriegen sei, am Tag der russischen Invasion in die Ukraine wie stummmachende Prophetie klang, machte mir den Abend im Thurgauer Literaturhaus auch zu einem Schicksalstag der Geschichte, den ich doppelt nie vergessen werde.» Christian Uetz

Rezension von «Das nackte Wort» auf literaturblatt.ch

Christian Uetz und Arian Emanuel Egli am Samstag, 26. Februar in der Grabenhalle St. Gallen

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Christian Uetz «Das nackte Wort», Secession

Eine Geschichte fürs Nachttischchen? Nein, sie müssten, wenn sie das Bett mit jemandem teilen und zu erzählen beginnen, mit heftigen Diskussionen rechnen. Strandlektüre? Nein, ausser es stört sie nicht, wenn ihnen die Schamesröte im Liegestuhl in den Kopf steigt. Zur „Reanimation“ auf dem Sofa nach einem Arbeitstag? Ich weiss nicht. Vielleicht erschlägt sie das schmale Buch.

Soll man „Das nackte Wort“ überhaupt lesen? Auf jeden Fall! Wenn man sich selbst etwas zutraut. Wenn man sich nicht ungerne provozieren lässt. Wenn man bereit ist, bei der Lektüre etwas zu investieren – mehr als nur Lebenszeit. Wenn man die Uetz’schen Sprachkaskaden zu geniessen versteht. Erst recht dann, wenn man den Dichter schon einmal live erlebt hat und sich mit der Lektüre der Sound seiner Sprache im Kopf entfaltet. Und nicht zuletzt dann, wenn man im immer grösseren Meer von Büchern nach den Klippen sucht, die das Zeug haben, dass man Schlagseite bekommt. „Das nackte Wort“ ragt wie ein einsamer Monolith aus der Vielheit der Gegenwartsliteratur. Ja doch, Christian Uetz ist ein Polterer, ein Provokateur, aber niemals Schaumschläger oder blosser Selbstinszenierer. Christian Uetz ist es bitter ernst. Er lockt mich aus meiner gedanklichen und weltanschaulichen Komfortzone. Manchmal zerrt er mich förmlich. Er zwingt mich, mich mit meinem eigenen Dasein, meinen Vorstellungen, meinen festgefahrenen Meinungen auseinanderzusetzen. Er rüttelt nicht nur an mir, sondern an den Grundfesten einer Gesellschaftsordnung, die sich schwer tut, sich von Festgefahrenem zu befreien, obwohl leere Kirchen und Querdenkerdemonstrationern vorgaukeln, man sei auf dem Weg der Emanzipation.

Christian Uetz «Das nackte Wort», Secession, 2021, 159 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-96639-045-3

Georg Niemann ist verheiratet und Vater. Er pendelt zwischen Deutschland und der Schweiz, seiner Familie und seiner Arbeit. Seine Ehe ist das, was man eine offene Beziehung nennt. Beide haben an das Gegenüber nicht den Anspruch unbedingter Treue, beide bleiben offen, nicht nur in ausserehelichen Beziehungen, sondern auch im Bestreben, dem andern gegenüber damit offen und ehrlich zu sein. Corona und Lockdown stossen Georg aber in eine innere und äussere Auseinandersetzung mit sich selbst und den Gegebenheiten, die ihn bis in die Grundfesten erschüttern. „Das nackte Wort“ ist eine Art Tagebuch. Georg erzählt von seiner Liebe zu Liv, seiner Frau. Seiner Liebe zu Toa, einer jungen Studentin. Von seinen Dialogen, seinen Gesprächen, seinen Auseinandersetzungen. Von den Tagen, an denen er mit aller verfügbaren Unruhe nach Klarheit und Antworten sucht, denn Georg möchte dienen, sucht nach einer Herrin, die herrscht, sucht nach dem erotischen Kick, der uferlosen Leidenschaft, die das bedingungslose Dienen bei ihm auszulösen vermag. 

Da ist aber nicht nur die Suche nach der grenzenlosen Erregung im Zusammensein mit Liv oder Toa. Georg sucht nach mehr, nach dem Göttlichen im Wort, in der Sprache, nach dem Göttlichen in der unbegrenzten Liebe. Georg schreibt, spricht und argumentiert sich in einen Sprachrausch, weit ab von unbedachten Plaudereien, gedankenlosem Geschwätz, banalem Geschichten-erzählen. Was ich in Georgs Auseinandersetzungen mitlese, reibt  an mir, schleift, eckt an, verunsichert mich. Christian Uetz schreibt keine Wohlfühlprosa. Christian Uetz forscht sprachlich ebenso nach der Göttlichkeit der Sprache, wie nach der Göttlichkeit des Eros. „Das nackte Wort“ ist Prosa gewordene Auseinandersetzung in der von Christian Uetz hochphilosophischen Art (Art sehrwohl doppeldeutig gemeint!).

Dass Christian Uetz zusammen mit dem Musiker Adrian Emanuel Egli zum ersten Mal in „sein“ Literaturhaus eingeladen wird, ist höchste Zeit und tiefe Verneigung vor einem Mann, der sich mit ganzem Geist, ganzer Seele und ganzem Körper der Sprache verschrieben hat!

Christian Uetz, geboren 1963 in Egnach, ist ein philosophischer Poet und lebt in Zürich. Nach einer Ausbildung zum Lehrer studierte er Philosophie, Komparatistik und Altgriechisch an der Universität Zürich. 2010 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk. Seine Performanceauftritte sind legendär!  Nach «Nur Du, und nur Ich» (2011) und «Sunderwarumbe – Ein Schweizer Requiem» (2012), «Es passierte» (2015) ist «Das nackte Wort» neben vielen Gedichtbänden, den ersten erschienen beim Waldgut Verlag, sein vierter Roman.

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Januar – Mai 2022 steht!

Mit grosser Vorfreude präsentiere ich das neue Programm von Januar bis Mai 2022 im Literaturhaus Thurgau. Klar bleibt ein Vorbehalt, die leise Angst, dass uns wie im ersten Quartal 2021 ein Strich durch die Rechnung gemacht werden könnte. Aber wäre die Zuversicht nicht da, dann würden sich all die ProgrammmacherInnen nicht die Mühe machen, der Kultur einen Bühne zu bieten.

Das neue Programm bietet viel: Prosa und Lyrik, Musik und Installation, Ausstellung und Diskurs! Bleiben Sie uns auch in schwierigen Zeiten treu, treu dem schmucken Haus am Seerhein aber auch all den Kunstschaffenden, denen Orte wie das Literaturhaus Thurgau Lebensader ist!

Sämtliche Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Christian Uetz «Nur dieses Leben», Plattform Gegenzauber

… und das Jenseits in der Sprache

Die Pandemie zeigt um eine Dimension deutlicher, dass Glauben im gesellschaftlichen Diskurs und im politischen Handeln keine Relevanz hat. Das verneint hier nicht, dass Gott die Sprache der Seele sein kann, die es nicht gibt. Es sagt, dass der Tod allein das Leben bestimmt, aber nicht im erregenden Sinn, sondern so, dass aus ganz sachlichen Gründen die zwischenmenschliche Distanz und der Tod der Natürlichkeit dem Tod vorgezogen wird. Das mag und wird in einer säkularen Gesellschaft das Beste sein, aber es geht hier radikal um die Feststellung, dass das Nichtglaubenkönnen der Grund ist, dass es so ist. Wohl heisst es, für Christen sei jedes Leben heilig. Aber ebenso auch das Sterben. Denn wer von der ein jenseits-von-allem innewohnenden Sprache lebt, hält sich an die Gegenwart einer in Gedanken anderen Welt, die das Denken selber ist. Dieses relativiert das reale Leben und erfährt es als verlierbar ohne Verlust. Oder sogar mit Gewinn: Christus ist mein Leben, sterben mein Gewinn (Paulus). Da dieser Horizont politisch ausgeschlossen ist, muss das Überleben mehr zählen als die sinnliche Nähe und das gemeinsam atmende Gespräch. Das lässt sich daran sehen, dass sehr viele Menschen in Alters- und Pflegeheimen jahraus- und jahrein so bitterseelenalleingelassen werden und so freudlos die Tage verbringen müssen, dass sie am liebsten sterben wollen. Durch Corona aber wurden auch die Hundertjährigen zwangsisoliert, damit auf keinen Fall jemand stirbt oder auch noch andere ansteckt. Dass das Überleben ganz sachlich auch mehr zählen muss als die Würde, zeigt sich in der Art und Weise, wie mit Covid-19 Menschen auf der Intensivstation sterben, ohne Kontakt zu den Liebsten, zu Tode isoliert schon vor dem Tode, so dass die unantastbare Würde nur noch darin bestehen kann, unantastbar zu sein. Aber das Monströseste ist die wachsende Depression und die in ihr wiederum brütende Destruktion. Auch Depression kann als ein das Leben lähmender, todähnlicher Zustand bezeichnet werden. Dieser psychische Todeszustand muss so unweigerlich in Kauf genommen werden, dass die grosse Depression die noch viel grössere Destruktion an Gewalt schürt. Umgekehrt kann Glauben als Vertrauen die Angst nehmen und bei manchen die Abwehr- und Heilkräfte stärken, wenn es nicht die Angst nur verdrängende Realitätsflucht ist. Angst auf jeden Fall macht auch krank. Die Umkehr des Johannesprologs zu  Das Wort ist Gott aber heisst für die darin sich erhellende Inexistenz, das Leben von der Begeisterung ob der Unsterblichkeit der Sprache her zu verstehen, von der Verzückung ob der jede Sekunde Unglaublichkeit des Lebens her, von der Ekstase der Liebe her, vom Lachen, vom Übermut her, von dem durch die herzzerreissende Traurigkeit des Todes hindurch zu noch herzzerreissenderer Freude Erwachen her, Pathos hin oder her. Die nur als peinlich aussprechbare Haltung der Glaubenden bleibt, sich auch auf das Sterben zu freuen, darin nichts ihnen die elende Heiterkeit und die übermütige Schwermut nehmen kann, komme da an Angst und Bedrohung, an Pandemie und Panik, was da wolle. Das mag ein Glaubensheldentum sein, hat aber nichts mit faschistischem, volksgesundheitlichem, vaterländischem Heroismus zu tun, denn es schliesst alle Fremden und Minderheiten und Schwachen nicht aus, sondern herzlich ins Jenseitsverlies der Sprache mit ein. Ist umgekehrt Sterben nicht nur das Allerletzte, sondern auch das Allerletzte, und ist es in der Sprache nicht auch ein anderes Leben, zählt nur das eigene Leben und das der Anderen vielleicht schnell nichts mehr. Aber auch ohne das Sterben zu verklären ist auch nur eine Sekunde gelebt zu haben ein Wunder, und wenn von der völligen Unwahrscheinlichkeit ausgegangen wird, überhaupt zu leben, hängt ein erfülltes Leben weniger von der Länge des Lebens als von der Art der Gegenwart ab, so dass auch mit sechzig oder vierzig oder zwanzig zu sterben die Unglaublichkeit, gelebt zu haben, nicht widerlegt. Die durch die Säkularisierung unvermeidliche Verabsolutierung des Lebens bestätigt sich auch darin, dass das immer längere Leben der klarste Sinn und das erklärteste Ziel ist, so dass hundert Jahre alt zu werden schon fast als ein allen zustehendes und zu ermöglichendes Grundrecht angesehen werden kann. Zumindest macht die Coronakrise die so unfassbar hoch gestiegene Lebenserwartung in ebenso unfassbar grosser Selbstverständlichkeit deutlich, dass vielleicht auch ein Hundertjähriger bald nicht mehr sterben kann, ohne elend vor der Zeit gestorben zu sein. Jünger sterben, überhaupt sterben ist ein Skandal. Es ist nicht nur seit Camus der Skandal schlechthin, daran wiederum nur Gott schuldig sein könnte, wenn er wäre. Und dass gestorben und gelitten wird, genügt auch zum Gegenbeweis. Und spräche auch das Nichtsein nicht gegen den zusehends weiblichen Engel, und wäre das nichtseiende Licht auch eine Sie, die Herrin Sprache, und wäre diese Herrin auch alle Sprechenden selber, so wäre sie doch der Kapitalgrund, die Gottillusion als völlig jenseits zu erledigen. Aber achtzig Jahre alt zu werden ist nicht nur historisch, sondern in Hinsicht auf manche Weltregionen auch heute noch ein grosses Glück. Es als selbstverständlich zu erwarten, bleibt unserer Vergänglichkeit gegenüber auch in noch so hochmedizinischer Wohlstandswelt verblendet. Und doch können auch viele betagte Patienten von Covid-19 geheilt werden, bei der die Sterberate immer noch um ein Vielfaches geringer ist als die an Herzversagen oder Krebs. Hoffentlich wird hier erwidert: Wenn das Sterben an Krebs durch einen Lockdown verhindert werden könnte, würde man es auch tun. Und tatsächlich zeigt sich ja nun, dass durch die viel geringeren Feinstaubwerte in den grossen Städten weniger Menschen sterben. Warum also nicht ab sofort weltweit überhaupt das Fliegen und Autofahren für immer einstellen, weil die dadurch bessere Luft viele Todesfälle verhindert und zugleich die von Klimaschäden bedrohte Erde schützt? Aber es geht hier und erst recht beim aus Lebensliebe auch Sterbenwollen darum, dass eine solche Haltung im öffentlich ernstzunehmenden Diskurs nicht haltbar ist. Auch wenn das alltägliche Leben vielleicht über Jahre ausgehebelt bleibt, kann lebensschutzvernünftig nicht berücksichtigt werden, was Corona an psychischer Not bringt: den massenhaften Spontanitätstod, Umarmungstod, Nähetod, was sich für vom leibhaft Begegnen Lebende nicht digital ersetzen lässt, auch wenn es die Lösung der Zukunft ist. Es ist denkbar, dass die vorwiegend digitale Begegnung und das Physical Distancing für die biologische Sicherheit nicht nur vorübergehend, sondern in alle Zukunft zur vorgeschriebenen Lebensweise wird. Dass sich aber auch die Kinder nicht mehr unbekümmert nahekommen und nicht mehr übermütig miteinander spielen dürfen, ist als Gedanke fast nicht zu ertragen, nicht nur, weil Kinder das kaum einhalten können, sondern weil sie es auch nicht einhalten sollen um ihrer spontansten Nähe Willen. Habermass beunruhigt, dass auch Juristen den Lebensschutz zugunsten der Selbstbestimmung relativieren. Das Leben als Lebendigkeit ist anderseits nicht nur für die vom Wort Inbrünstigen auch ekstatische Leidenschaft, dazu auch Selbstverausgabung, sich Verschwenden, sich-aufs-Spiel-Setzen, lieber-Gefahr-als-Sicherheit und Lust des Wahnsinns gehören, welchen im Diskurs der Vernunft der vernünftige Grund fehlt. Allerdings hat auch das vernünftige Sterbenkönnenpathos nur das Jenseits in der Sprache, um verstehbar zu machen, dass es nicht sozialdarwinistisch und nicht volksheroisch und nicht lebensleichtsinnig gemeint ist, sondern ganz persönlich transzendent.

Christian Uetz, geboren 1963 in Egnach in der Schweiz, ist ein philosophischer Poet und lebt in Zürich. Nach einer Ausbildung zum Lehrer studierte er Philosophie, Komparatistik und Altgriechisch an der Universität Zürich. 2010 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk. Seine Performanceauftritte sind legendär! Nach «Nur Du, und nur Ich» (2011) und «Sunderwarumbe – Ein Schweizer Requiem» (2012) erschien 2018 mit «Es passierte» sein dritter Roman.

Beitragsbild © Mathias Bothor

Christian Uetz «Von mir ist nur der Gedanke», Plattform Gegenzauber

Ich habe kein Recht,
nicht Nietzsche zu sein, nicht
Kierkegaard, nicht Rilke. Auch ohne
Werke. Ich habe kein Recht, nicht wahnsinnig
zu sein, nicht zerspringend, nicht zerrissen. Auch
ohne Erfolg. Kein anderer ist schuld
am mich vom Anderen vom
Anderen abbringen lassen, wo
auch immer.

Von mir
ist nur der Gedanke, und der
ist nicht. Nicht da, nicht ich. Also bin ich nicht.
Nur du, und auch du nur mit allen gebrochen,
alle Zeit auf den toten Punkt gebracht, den schwarzloch
gerochenen. So sterngenau strahlt deines maßlos
ermordeten Morgens unvermoderbare
Mittagsverzückung aus den Lichtporen der
augenübersäten Nacht.

Ich trinke dich in mich
zurück. Ich sauf dich Tag und Nacht.
Und wiederum seufzst du mich in dich
hinaus. Du bist ja draußen in mir drin. Ich bin ja völlig
außer mir aus dir. Das macht ja den ununterscheidbaren
Unterschied zu meiner unverlassbaren Unentscheidbarkeit,
dass ich dich Lichttrunkene noch nicht, nicht und nicht mehr hell
sehe. Doch Himmel unserer höllischen Gottgleichheit, du uns in Funken
Getunkte, die du nicht bist, bist das
Werde, der du bist. Ich bin nicht
so. Du allein gibst mir das Unrecht, so
zu sein, wie ich bin. Und
so bin ich nicht.
Wenn es ist,
ist es immer, und es ist
nicht. Wenn du bist, bist du überall, und
du bist nicht. In dem Ich bin bist du, indem
ich bin nicht da. Und immer schlägst du unser
Du Nichtsein nieder. Da bin ich wieder, und kann mich
zum Büßen noch einmal entblößen. Bringt es das?
Nicht wirklich. Wirklich nichts als das ist
wirklich, worin wir allein uns begegnen,
im Unwirklichen von allem. Bringt
dich das näher?
Vollkommen.

Wo ich nicht
bin, bist du, wenn
ich weg will. Womit zeigst
du dich nicht? Mit der Zeit,
mit der abständigsten, durch
die abgestrittenste Lust, die
allmählich abseitigste, ab
schaumgeborenste.

 

secession Verlag

Der 1963 in Egnach am Bodensee geborene Christian Uetzist studierter Philosoph, und er glaubt an keine Wahrheit ausserhalb der Sprache. Ob im Gedicht oder in der Prosa: Sein Tanz an ihren Rändern ist immer auch ein Seiltanz über den Abgründen der Existenz. Und er gilt als Virtuose, wenn es um die Intensität der Sprache geht. Auswendig und in einem rasenden Tempo rezitiert er seine Texte bei Auftritten, dass einem Hören und Verstehen vergeht. Das ist gewollt. Einzig die Wortkraft zählt und die Suggestivkraft der Sätze,ckaum deren Inhalt. In seinem Gedichtband «Engel der Illusion» formuliert Uetz spielerisch und doch souverän Gedichte um gewichtige Themen: um die Präsenz des Anderen im Selbst, um Anwesenheit und Abwesenheit, um Negativität und Transzendenz. Mit seinen bildgewaltigen, selbstverlorenen und dabei tief nachdenklichen Gedichten sucht Christian Uetz in der Sprache nach der verborgenen Präsenz dieser Engel der Illusion, um ihr Scheinen erfahrbar zu machen. Was seine Texte so hervorbringen, sind Ekstasen der Begierde und die Trunkenheit der Vernunft. Es ist der Wahnsinn des Tages. Ihr Fluchtpunkt bleibt dabei stets eine mitreissende Affirmation des Lebens und der Sinnlichkeit, ein Lob der Sprache als derjenigen Kraft, welche die Illusion als Wahrheit, das Jenseits als Teil des Diesseits erkennbar macht.

Beitragsfoto © Internationales Literaturfestival Leukerbad

15. Frauenfelder Lyriktage – 80 Jahre Beat Brechbühl

Auf dem Programm der 15. Frauenfelder Lyriktage standen Lesungen, Gespräche mit John Burnside, Zsuzsanna Gahse, Jürg Halter, Anja Kampmann, Sepp Mall, Marina Skalova und Christian Uetz und eine Performance von und mit Nicole Bachmann. Einer der Höhepunkte war eine Laudatio von Dichterfürst zu Dichterfürst: Christian Uetz über Beat Brechbühl:

«Warum finden die Frauenfelder Lyriktage statt? Elke Bergmann, wunderbare Mitinitiantin, du wirst es mir verzeihen, wenn ich hier sage: wegen Beat Brechbühl. Aber das ist nicht die Frage. Warum findet in Frauenfeld ein Lyrikfestival und das von internationalem Rang statt? Es gibt nur ganz wenig reine und gar mehrtägige Lyrikfestivals im Deutschsprachigen Raum, und in der Schweiz neben dem als Stadt zwar grösseren aber als Lyrikfestival kleineren Basel nur dieses hier. Warum also? Weil es den lyrischen Fels Beat Brechbühl von Oppligen im Kanton Bern mit 21 Jahren für drei Jahre nach Egnach in den Thurgau verschlagen hat. Und weil es ihm da so gut gefallen hat, dass dieser Riesen-Findling 1987 hierher zurückgekehrt ist und in Frauenfeld das Grossartige realisiert hat. Das Grossartige seines Schreibens und seines Verlags und seit 1991 der Frauenfelder Lyriktage.

Angesichts seiner jüngsten Veröffentlichung Flügel der Sehnsucht, mit Gedichten seit seinen Anfängen, stellt sich Beat die Frage, ob man die Gedichte 57 Jahre nach Entstehen noch lesen kann. O ja, man kann, und wie man kann, und man kommt nicht zu Ende in Begeisterung. Denn Beat ist von Anfang an ein Wahnsinniger gegen den Pragmatismus und die Abgeklärtheit und die Stumpfheit der Welt, gegen die es nur die Gegenwelt gibt und gegen diesen Menschen nur den Gegenmenschen und gegen dieses Leben nur das Gegenleben. So heisst es in Temperatursturz von 1984: Es gibt nur Gegenwelten, Gegenmenschen, Gegenleben. Brechbühl ist ein Querulant aus Prinzip, ein Rebell als Lebenshaltung, ein Aufständischer aus Instinkt, ein Berserker gegen Kleinlichkeit und Grosskotzigkeit, gegen Kleinkariertheit und Grossunternehmen, ein Fürsprecher für alles Schräge, Komische, Unangepasste, zugleich ein deftiger Grübler und Melancholiker. Und nicht zuletzt ein derber Erotiker. Seine Romane Kneuss und Nora und der Kümmerer sind regelrecht durchsetzt von Sexakten und Nacktfeiern der freien Liebe. Aber zuerst und zuletzt ist ein heftiger Verachter von allen, deren Geist Geld heisst statt Leidenschaft für das nutzlose Andere. Und Leidenschaft ist überhaupt das wichtigste Wort in einer Würdigung von Beat. Er ist ein Unikum der Leidenschaft für die Poesie sowohl im eigenen Schaffen als auch in der Veröffentlichung von anderen in seinem Waldgut Verlag und im Atelier Bodoni. Und wie seine Gedichte sind auch die Bodoni-Blätter einzelne, rare, handgefertigte, handgepresste Gewächse der Schönheit. Brechbühls ganzes Leben ist Liebe der Poesie, und seine Gedichte sind immer eine Art Liebesgedichte, zumindest die Liebe der Gedichte und deren innigster und äusserster Intensität. 

Brechbühl hat wohl schon tausend Gedichte geschrieben und es werden immer mehr. Schon die Titel seiner Gedichtbände schlagen ein:
Traumhämmer
Temperatursturz
Der geschlagene Hund pisst an die Säulen des Tempels
Gesunde Predigt eines Dorfbewohners
Auf der Suche nach den Enden des Regenbogens
Spiele um Pan

Und viele mehr!

Aber auch seine Romane und seine Kinderbücher sind grossartig. Schnüff ist Kult. Und Kneuss in Kneuss und Quassel in Nora und der Kümmerer sind Hammercharakter und gleichen verdammt Beat Brechbühl selbst. Was ist der Hammer Brechbühl? Eben sein mutiger, den Arbeiter und den Nichtstuer preisender, hochsozialer Charakter, als Mensch wie im Werk. Und narrtürlich auch sein Humor, sein aberwitziger Schalk, und zuerst und zuletzt seine wilde Wut gegen alles Herzlose und Aufgeblasene und Dünkelhafte und Falsche.

Ich rezitiere Beat selbst aus dem Temperatursturz Seite 27:

Wenn doch alles so endgültig ist:
Die tausendjährigen Reiche,
die vergoldeten Exkremente der Diktatoren,
die gefängnismauerdicken Philosophien der Multis,
die schussbereiten Gewehre der Präsidenten,
die Unkenntnis oder die Not der Soldaten,
wenn doch alles so endgültig ist:
warum sterben die Gefolterten nicht immer an gebrochenem Herz,
warum geben viele Gefangene nicht auf,
warum benutzen wir Worte wie Psychopharmaka und Waffen,
warum bedeutet ein kranker Baum Hoffnung,
da – muss doch etwas sein,
angeboren, vererbt, es wächst wilder,
höher als die ganze Physik,
man hört es im Blut, es sprengt den Kopf,
es zerbricht Lügen und Horror,
irgendwann,
mit irgendwem,
irgendwo,
keiner weiss genau, was es ist,
es ist etwas wie Leben, wie Explosion.
Es ist jung, es ist grün.

(Dies Gedicht erschien 1984, als es noch kaum hellsehende Köpfe gab nicht nur für die militärische und heute auch digitale, sondern auch für die ökologische Selbstauslöschung der Menschheit.)

Und noch einmal Temperatursturz Seite 39:

Immer noch mild liegen die paar Hügel zwischen den Suchfingern der Bäche. Immer noch lau und begehrenswert wild reissen die Sommernächte an meiner unbestimmten Sehnsucht.
Immer noch pumpt mir mein Herz das Blut durch den Körper,
und immer noch helfen die Sonne mit und der Nebel und all deine Gerüche.

Immer noch bin ich in dieser Ecke Welt so frei, dass ich mir die Arbeit (zum Teil) und den täglichen Wahnsinn (zum Teil) selber einbrocken kann;
und ich wählte die Arbeit und den Wahnsinn.

In Die Bilder und ich erkennt sich Brechbühl im grossen Selbstbildnis Rembrands selbst. Seite 72:

Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten mit Erde geschrieben.
Mit schlechter Laune, Geldnöten, Frauen und Gläubigern.
Wahrscheinlich hätte er sich am liebsten als grosse Reise bezeichnet,
als Weltumsegler, ständigen Aufbegehrer und Handwerker.

Und in Spitzwegs Alchimist. Seite 71:

In seiner Glaskugel betete er zur Materie,
schlief er in Träumen ausserhalb aller Bereiche,
liebte die Neugierde bis zur Erschöpfung –
in seiner Glaskugel am Rande der Zeit.
Er wollte mehr wissen, als es zu wissen gibt.
Er wollte mehr leben, als es zu sterben gibt.
Er wollte mehr lieben, als es zu verlieren gibt –
Der Mann dessen Himmelreiche unsterblich sind.

Temperatursturz Seite 96:

Silence intim.
Ich höre eines deiner Haare
auf den Teppich fallen.

Wie Beats Liebe zum Wein und die herrliche Möglichkeit, mit ihm Nächte durchzutrinken, in trautem Gespräch, gibt es noch etwas anderes hochgradig Ausserordentliches, was Beat betrifft, etwas kolossal Monströses, welches hier selbstverständlich auch genannt werden muss: es ist sein unendlicher Redefluss! Jeder und jede, der und die mit Beat Brechbühl spricht und ihm zuhört, gerät irgendwann in Not und denkt: Wie kann ich diesen Redefluss unterbrechen? Wie steige ich aus Beats Sprachfluss wieder aus? Wie komme ich da wieder weg? Wann macht Beat plötzlich doch einen kleinen Punkt, ein Komma, eine Pause? Und jeder und jede weiss: Man muss sich irgendwann mit Gewalt losreissen, es lässt nicht von selbst enden, denn Brechbühls Redefluss ist buchstäblich unendlich!  Aber was sagt uns Beat damit? Die Sprache ist unendlich, und sie hat Vorrang für uns, wir leben mehr von der Sprache und vom Erzählen als von der Realität und sie ist uns realer als alle Realität. Im Sprechen sind wir Menschen Gott und es ist uns in der Sprache alles möglich. Darum können wir so selbstverständlich lügen das ganze Leben lang, und wir können uns in der Sprache Fantastischeres und Grässlicheres und Anderes vormachen, als das was ist, und in der Sprache ist dann auch alles fantastischer und grässlicher und anders, als es ist. Im Sprechen sind wir Gott, und weil ich Uetz bin, sage ich: und im Schweigen auch. Und ich sage es gleich noch einmal: Im Poetischen oft schönster Weise und im Politischen meist monströser Weise und im Alltäglichen unendlich quasselnder Weise sind wir im Sprechen Gott, in der Tat aber nicht, und würden wir über alles nur sprechen miteinander, wären wir zumindest in quatschender Hinsicht vielleicht im Paradies. Es heisst mit Recht Taten statt Worte, aber auch das ist vor allem ein Wort, und eines, welches meistens nur gesagt wird, und es ist sonderbarerweise umgekehrt genauso wahr: Worte statt Taten, denn wenn wir über all den Horror, den wir Menschen begehen, nur reden würden, statt ihn auch zu tun, würden er gar nicht geschehen. Hättet ihr doch über die entsetzlichen Taten nur gesprochen statt sie auch zu tun! So viel ist gewiss: dass wir miteinander und zueinander sprechen können und ein Gespräch sein können, ist noch immer das Unfassbarste an uns, dass wir über alles reden können das ganze Leben, von morgens bis abends, Tag und Nacht, das ist noch immer ein so selbstverständlich gewordenes Wunder, dass es permanent vergessen wird. Beat Brechbühl aber ist auch in seiner unerschöpflichen Erzählfülle ein Wunder der Poesie, welches das Leben ist, wenn es zu Wort kommt, im Grässlichen wie im Wunderbaren.

Wenn Beat erzählt, dann wird das Leben lebendiger und die Gegenwart leuchtender und die Vergangenheit gegenwärtiger und die Zukunft offener. Und wenn ich hier schon als Würdiger für Beat fungiere, möchte ich es zum Schluss auch an unserem persönlichen Anfang und an unserer ersten Begegnung aufzeigen. Denn du Beat bist ja auch mein Entdecker, und ganz egal, ob es an mir überhaupt etwas Entdeckungswürdiges zu entdecken gibt, habe ich dir masslos viel zu verdanken und es ist mir tausendmal eine Ehre, für dich eine Rede zu halten. Nach meiner eigenen Erinnerung betrat ich im Februar 1993 deinen Verlag hier im Eisenwerk und sagte zu dir: Ich möchte mir den Verlag anschauen, und wenn er mir gefällt, lasse ich mein Manuskript mit Gedichten hier. Drei Wochen später kam ich wieder, und da hattest du mich gleich begeistert empfangen und gesagt: die Gedichte seien toll oder so ähnlich. Du erzählst die Geschichte immer in etwa so: Da trat kurz vor Feierband einer in den Verlag und sagte: Ich bin gut, lies jetzt sofort meine Gedichte. Du habest diesen Aufdringling spöttisch darauf hingewiesen, dass du noch anderes zu tun habest, er könne die Gedichte ja dalassen. Eine Woche später sei der schon wiedergekommen und hätte gefragt, ob du es jetzt gelesen habest, denn er sei gut. Und nachdem du ihn wieder subito weggeschickt, hättest du zum damaligen Mitarbeiter Martin Stiefenhofer gesagt: ich muss da jetzt mal reinschauen, sonst steht dieser Verrückte alle paar Tage hier. Und da hättest du das Manuskript zu lesen begonnern und schon bald gerufen: Die sind ja wirklich gut, verdammt gut! Und das Tollste ist jetzt, dass meine Erinnerung heute auch vor mir selber gar keine Chance mehr hat, und ich sehe mich jetzt schon selber, wie ich in den Verlag trete und sage: Ich bin gut, und so wie du es erzählst, ist es nicht nur poetischer, sondern auch wahrer und erfüllt Novalis: Poesie ist das echt absolut Reelle: je poetischer, desto wahrer.

© Caroline Minjolle

Vielleicht aber hast du meine Luren damals auch nur verlegt, weil ich aus Egnach komme, wo du drei Jahre gelebt und gearbeitet hast zur Zeit meiner Geburt, in der Druckerei von Noldi Schwitter und als Redaktor für die Zeitschrift Clou, und wo du deinen ersten Gedichtband Spiele um Pan geschrieben und gedruckt hast und wo es dir so gut gefallen hat, dass du auch heute noch von der Zeit in Egnach schwärmst. Wir aber schwärmen hier von dir Beat, und wir danken dir für das poetische Glück, womit du uns beschenkst, hier, in Frauenfeld, im Eisenwerk, an den Frauenfelder Lyriktagen.»

40° Literatur am Festival Leukerbad, Rückblick 2/3

Am Literaturfestival Leukerbad zur Tradition geworden, lädt diese ihre Gäste seit Jahren zu Beginn des Festivals zu einer «Literarischen Wanderung» ein. Hoch über dem Rhonetal von Erschmatt bis Leuk ging die diesjährige Literaturwanderung, durch Geschichte, Geschichten und Gedichte, über Spuren der Zeit, unter der glühenden Sonne der Gegenwart.

Vom Sortengarten, an Findlingen so gross wie Häuser vorbei, begleitet vom «Carillon», umarmt und betört von den Satzsalven eines Dichters, über Ho Briggu in den Schatten einer Eiche, der Angst vor einem Eichhörnchen ausgesetzt, über Brenntjong, an riesigen, stählernen Ohren vorbei bis nach Guttet – ein heisses, literarisches Abenteuer!

Die in der Ukraine aufgewachsene Tanja Maljartschuk, die vor drei Jahren das letzte Mal mit ihrem Roman «Biographie eines zufälligen Wunders» in Leukerbad las und mich damit bezauberte und Christian Uetz, wortgewaltiger Performer, Lyriker und Erzähler vom Bodensee begleiteten eine mehr oder weniger hitzeresistente Schar Wortverliebter durch die Glut eines literarischen Sommertages. 

Tanja Maljartschuk und Christian Uetz bildeten ein kongeniales Begleitpaar. Die eine mit feinem Witz, grosser Beobachtungsgabe und Empathie – der andere mit grosse Geste, laut und raumgreifend, von der Sprache berauscht. Man geht und hört, man nimmt auf und reflektiert schweigend in sich hinein, gibt sich dem Rhythmus von Sprache und Schritt, spürt den Puls innen und aussen!

© Michael Schwarz

Tanja Maljartschuk, geboren 1983, ist in der Ukraine aufgewachsen, wo sie einige Jahre als Journalistin gearbeitet und schon mehrere Bücher publiziert hat. Sie schreibt regelmässig Kolumnen für die Deutsche Welle (Ukraine) und für Zeit Online. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Wien. 2018 hat sie mit ihrem ersten auf Deutsch geschriebenen Text den Bachmann-Preis gewonnen. In ihrem neusten Roman Blauwal der Erinnerung schreibt sie über den vergessenen ukrainischen Volkshelden Wjatscheslaw Lypynskyj, dessen Leben auf kunstvolle Weise mit dem der Ich-Erzählerin verknüpft wird: Sie sucht in dessen Vergangenheit nach Spuren, um besser mit ihrer eigenen Gegenwart zurechtzukommen. Lypynskyj befasste sich politisch und historisch mit der zwischen Polen und Russland zerrissenen Ukraine und forderte wie besessen ihre staatliche Unabhängigkeit. Ähnlich kränklich wie diese historische Figur und – wie er – auf der Suche nach Zugehörigkeit, folgt die Erzählerin diesem stolzen, kompromisslosen, hypochondrischen Mann, um durch die Erinnerung der sowjetischen Entwurzelung zu trotzen. Ein literarisch beeindruckender Roman, der zeigt, was es heisst, wenn die eigene Identität aus Angst, Gehorsamkeit und Vergessen besteht.
Die Frankfurter Rundschau über den Roman: «Das Tröstliche an diesem Buch ist seine Untröstlichkeit. Der Blauwal schliesst sein Maul und schwimmt weiter.»

© Literaturfestival Leukerbad

Der 1963 in Egnach am Bodensee geborene Christian Uetz ist studierter Philosoph, und er glaubt an keine Wahrheit ausserhalb der Sprache. Ob im Gedicht oder in der Prosa: Sein Tanz an ihren Rändern ist immer auch ein Seiltanz über den Abgründen der Existenz. Und er gilt als Virtuose, wenn es um die Intensität der Sprache geht. Auswendig und in einem rasenden Tempo rezitiert er seine Texte bei Auftritten, dass einem Hören und Verstehen vergeht. Das ist gewollt. Einzig die Wortkraft zählt und die Suggestivkraft der Sätze, kaum deren Inhalt. In seinem Gedichtband Engel der Illusionformuliert Uetz spielerisch und doch souverän Gedichte um gewichtige Themen: um die Präsenz des Anderen im Selbst, um Anwesenheit und Abwesenheit, um Negativität und Transzendenz. Mit seinen bildgewaltigen, selbstverlorenen und dabei tief nachdenklichen Gedichten sucht Christian Uetz in der Sprache nach der verborgenen Präsenz dieser Engel der Illusion, um ihr Scheinen erfahrbar zu machen. Was seine Texte so hervorbringen, sind Ekstasen der Begierde und die Trunkenheit der Vernunft. Es ist der Wahnsinn des Tages. Ihr Fluchtpunkt bleibt dabei stets eine mitreissende Affirmation des Lebens und der Sinnlichkeit, ein Lob der Sprache als derjenigen Kraft, welche die Illusion als Wahrheit, das Jenseits als Teil des Diesseits erkennbar macht.

Christian Uetz ist Gast an den 15. Frauenfelder Lyriktagen vom 13. – 15. September!

Rezension von Tanja Maljartschuks Erzählung «Überflutet» auf literaturblatt.ch

Fotos © Literaturfestival Leukerbad