René Frauchiger «Gespräche und Geschichten», Plattform Gegenzauber

Die Gabel

Er schneidet sein cordon bleu, sie stellt das Weinglas wieder auf den Tisch. «Weisst du, Mari, ich weiss eigentlich gar nicht mehr, wie du aussiehst», sagt er. «Ich sehe dich da und sehe dich auch nicht. Wenn ich auf deine Wangen sehe, denke ich immer nur, ich sehe wieder die gebleichten Küchenwände unserer ersten Wohnung im Schangnau, als ich Möbel ausgeliefert habe für den Steffen. Am Abend sind wir am Küchentisch gesessen und unter der Lampe hat alles dieselbe Farbe gehabt. Deine Wangen hatten den matten Schimmer, wie die Wand hinter dir. Und diesen Schimmer sehe ich jetzt noch auf deinen Wangen, da kann man nichts machen. Und deine Augen, das sind die Augen vom Sean. Das sind Kinderaugen für mich. Sie sagen mir immer, wie er hat Landschaftsmahler werden wollen und du stolz auf ihn gewesen bist und ich nur gemeint habe, dass man damit kein Geld verdiene, auch wenn er Talent habe, was ich nicht beurteilen könne. Dabei haben mich die Augen vom Sean zuerst an deine Augen erinnert und nun ist es umgekehrt. Und bei deiner Stirn ist der Huttwiler Wald, wo wir uns immer gestritten haben, das Moos an den Bäumen, wo du deine Stirn daraufgelegt hast und immer, wenn ich gedacht habe, dass du weinst und ich dir einen Arm um die Schultern gelegt habe, hast du zu wüten angefangen und mich beschimpft und auf deiner Stirn ist noch etwas Moos gewesen, was du nicht weggemacht hast. Und bei deinen Haaren sehe ich wieder die Scheiben meines Alten VWs, die innen sich beschlagen haben im Winter, als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben, weil deine Eltern mich dich nicht besuchen lassen wollten und wir uns draussen getroffen haben, auch im Winter und deine Haare sind über die Scheibe geglitten und feucht geworden und du hast dich geekelt vor dem feuchten Haar, dass ich dich nicht mehr habe berühren dürfen an dem Abend. Aber wenn ich deine Lippen ansehe, dann sehe ich auch meine Wohnung in Aarwangen, wo du nie gewesen bist, den Velourteppich der Wohnung, ich weiss nicht weshalb. Damals als wir uns getrennt haben für zwei Jahre und du mit diesem Basler zusammen warst. Da bin ich oft auf diesem Velourteppich geschlafen, weil mir das Bett zu leer gewesen ist und mein Gesicht ist am Morgen wund gewesen von diesem Teppich. Das kommt mir in den Sinn, wenn ich deine Lippen ansehen. So ist das: Bei den Wangen die Küchenwände in Schangnau und bei den Augen die Augen von Sean und bei der Stirn das Moos im Huttwiler Wald und bei den Haaren die feuchten Scheiben vom VW und bei den Lippen der Velourteppich. Eigentlich ist es nur dein Hals, an dem ich nichts sehe, als deinen Hals, den ich immer gern geküsst habe und der mir schon aufgefallen ist, als du mich nicht beachtet hast und ich neben dir gesessen bin und mich nicht getraut habe dich anzusprechen.»

Im Oltner Restaurant lächelt sie, streicht kurz über seinen Handrücken und nimmt wieder ihr Besteck auf. Sie bemerkt wie er erneut auf ihre Wangen sieht, auf ihre Stirn, ihre Augen, ihre Haare, auf ihren Hals, und sie schiebt ein Stück des cordon bleus an den Tellerrand, sticht mit der Gabel hinein. Sie mag kein cordon bleu und bestellt es immer nur, weil er es mag und sie ihm sagen kann, dass sie satt sei und ob er nicht den Rest noch möge. Sie nimmt mit dem Messer den heruntergelaufenen Käse auf und streicht ihn auf das Stück Fleisch an der Gabel.

 

Wunderschön

Matthias Hauser ist blind, doch seit seiner Kindheit fotografiert er jedes Ereignis, welches ihm wichtig scheint, lässt die Fotos entwickeln und klebt sie in ein Album. Bilder des ersten Schultags, der ersten Liebe, der Reise nach Marokko. Auch wenn er nicht sehen kann, meint Matthias Hauser, so sehe doch die Kamera für ihn und nichts ginge verloren. Trotzdem hat er seine Bilder noch keinem Menschen gezeigt, aus Angst, es könnte nicht das darauf sein, was er sich vorstellt. Als Matthias Lisa kennenlernt, sie sich verlieben und bald heiraten wollen, holt er an einem Abend ein erstes Mal sein Album hervor. Lange und schweigend blättert Lisa durch die Bilder, bis sie zu ihm sagt, sie seien wunderschön.

 

Kurz vor Olten

«Hey Peter, ja, ich bin’s … stör ich dich? Nein, ich bin im ZUG. … Gut … nein, kein Stress.»
Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Ein dicker Mann schläft mit offenem Mund.
«Hab vorhin auf dem Perron gewartet, und mir überlegt: wie lange ist es her, seit ich eigentlich mit jemandem geredet hab. Wirklich, also so richtig geredet … man spricht viel, wenn der Tag lang ist, aber nicht richtig … Was ich sagen wollte, Peter … In der letzten Zeit kommt es mir vor, als wär ich … wär ich allein. Ich weiss, das klingt komisch, wenn jemand wie ich das sagt. Ich habe ja nie Mühe auf Menschen zuzugehen, da kenn ich nichts, und bei meinem Beruf, da lernt man immer neue Leute kennen und in Langenthal kennt mich die halbe Stadt und … und die Vereine und die Projekte. Aber weisst du, Peter, ich … Ich fand das komisch, als ich mir das überlegt hab und ich hab mir gedacht: das müsse etwas Anderes sein, allein … das kannst du bei jemandem wie mir nicht sagen, nein, so etwas wie das Burn-out vom Lüthi, das … Aber es kommt mir vor, als versteht mich niemand. Als wüsste gar niemand, wer ich bin. Dann dachte ich, es seien die Frauen. Und wenn jemand bis vierzig keine gefunden hat, dann findet er keine. Dass es dieses Alleine-Sein ist. Die Bettkälte. Und ich gebe zu, dass es nicht leicht war, aber heute, wenn man sich an das Leben so gewöhnt hat, da will man auch nicht noch eine Frau. Ehrlich, da … Da gibt es die, die sind glücklich mit einer Frau und die, die sind unglücklich mit einer Frau. Und da gibt es die, die sind glücklich ohne Frau und die anderen sind unglücklich ohne Frau. Da gibt es immer beides. Aber wenn ich mich etwas frage, dann warum ich eigentlich keine Frau hab; wenn ich doch so gut mit den Leuten kann. Und es ist mir auch nie schwergefallen, eine Frau anzusprechen und ich hab mit so mancher etwas gehabt, ich hab sie gar nicht mehr gezählt. Das sage ich nicht zum Prahlen, Peter, du weisst das. Aber ich will dich gar nicht so lange aufhalten, und dich vollquatschen, Peter, nein, um was es … Aber es ist genau das. Das hab ich mich gefragt. Warum ist da trotzdem nie etwas Richtiges daraus geworden. Und ich denk mir auch, dass ich vielleicht schon eine spannende Person bin und viel erlebt habe und viel mache, aber wenn man mich kennt und wirklich kennt, dann ist es halt vorbei. Ich weiss nicht, ob ich jemand bin, mit dem man länger etwas zu tun haben will. Ich bin ein komischer Mensch, und rede viel und mache viel, und das macht mich auch interessant und deshalb kann ich auch gut mit Menschen. Aber das ist dann auch alles. Aber ja, Peter, ich muss aussteigen. War schön mit dir zu sprechen, hab das mal gebraucht. Sorry, jetzt, dass ich dich so vollgequatscht hab. Ist wahrscheinlich einfach eine Laune und morgen ist es wieder vorbei. Ja, man sieht sich. Du, am Donnerstag, dann ist ja die Opel-Messe in Burgdorf. So, ich muss. Tschüss, Peter, tschüss.»
Er steht auf. Ohne aufzulegen, schiebt er das Mobil-Telefon wieder in die Tasche. An der Türe wartet er mit drei Männern und einer Frau. Er hat Peter nicht angerufen.
Der Zug hält, er steigt aus. Als er sich umdreht, sieht er hinter den Fenstern die Passagiere des Regionalzuges nach Olten. Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Es war ein langer Tag.

 

Intensivkurs Französisch

Nachdem die Lehrerin nach der letzten Stunde des Französischkurses sie zu einem Kaffee eingeladen hat, kommen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam aus dem Restaurant. Michael Ledermann geht neben einer grossgewachsenen Frau, ohne etwas zu sagen. Er kennt ihren Namen nicht, nur den Nachnamen hat er während den Stunden erfahren. Sie heisst Madame Schleiermacher. Vorhin im Restaurant sprachen sie in einer kleinen Gruppe über Paris. Nun hat sich die Gruppe aufgelöst, einige gehen zu zweit, einige allein. Er neben ihr. Er mag Madame Schleiermacher, wenn auch nur wegen ihrer Art Kugelschreibern nervös auf dem Pult zu drehen. Gerne würde er das Gespräch fortführen, doch es fällt ihm nichts ein. Schade sei es, sei der Kurs bereits vorbei, könnte er sagen. Er hätte viel gelernt. Nett sei es von der Lehrerin, hätte sie sie alle zum Kaffee eingeladen, auch das könnte er sagen. Er sagt nichts. Es wäre zu offensichtlich, dass er nur ein Gespräch anfangen möchte. Er hört vorne die Lehrerin etwas erzählen, das er nur schwer versteht. Es geht um Tulpen. Thomas Ledermann sieht zurück. Er sieht das Restaurant. Die Fenstergläser glänzen in der Sonne. Eines der Fenster ist geöffnet. Sie wohnt in Zürich, hat sie erzählt. Er könnte sie fragen, ob sie von Zürich hierher pendle. Das könnte er. Doch ist zu viel Zeit vergangen. Wenn er sie jetzt etwas fragen würde, würde sie denken, er hätte sich die ganze Zeit überlegt, was er mit ihr sprechen könnte. Es wäre seltsam. 

 

Die Leber

Bereits als sie den ersten Bissen der Kalbsleber in den Mund schiebt, merkt sie, dass es ihr nicht schmeckt. Das Fleisch ist schwammig und beinahe sauer. Muriel Amstutz denkt an das Kalb, das man wegen dieser Leber geschlachtet hat, nicht nur geschlachtet, man hat es gehalten, aufgezogen, es hat wegen diesem Stück Fleisch gelebt, und nun schmeckt es ihr nicht, es ekelt sie sogar ab dieser sauren Art von Fleisch. Muriel Amstutz wird still. Es war der jungen Kuh so gegangen, wie ihr selbst. Alle die Erwartungen, die die Menschen an sie hatten – und es waren im Grunde wenige – konnte sie nicht erfüllen. Die Buchhändlerlehre hat sie abgebrochen, letzten Sommer ist ihre langjährige Beziehung auseinandergegangen. Am Ende ihrer Tage würde es wenig geben, was sie richtig gemacht hätte. Je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr versteht sie dieses Kalb. Und obwohl es ihr noch immer nicht schmeckt, ist sie froh, es bestellt zu haben.

 

Goethe (eine Novelle)

Nachdem der Basler Pharmakonzern Novartis Patrick Huber gekündigt hat, haust dieser jahrelang ausgesteuert erst in Muttenz dann in Pratteln und züchtet in der Küche aus dem Genmaterial eines Fingerknöchels den Klon des längst verstorbenen Weltliteraten Johann Wolfgang von Goethe heran. Huber übergibt den Goethe-Klon, den er im umgebauten Backofen bis zum Säuglingsstadium reifen liess, seiner Freundin Flavia Gut, damit sie das Geschöpf wie ihr eigenes Kind aufziehe.
Der Klon erhält den Namen Johann Wolfgang Gut.
Johann überspringt mehrere Klassen, beginnt mit fünfzehn Philosophie, Botanik, Mathematik, englische und deutsche Literatur, Chemie und Physik zu studieren. Seinen ersten Doktortitel erhält er noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Johann Wolfgang legt sich nicht auf ein Gebiet fest, seine Studien treiben ihn in alle Richtungen. In einem Zeitungsbericht wird er als letzter Universalgelehrter betitelt, bald fällt das Adjektiv: „olympisch.“
Ein brillanter Mensch jedoch auch ein umgänglicher Gesellschafter, ein ästhetischer Wanderer, ein engagierter Politiker und Redner, so sieht man ihn. Johann Wolfgang Gut ist der Mensch der Menschen.
An einem zweiten Dezember, Johann Wolfgang Gut ist vierundzwanzig Jahre alt, schlägt er die Einleitung zu Goethes Farbenlehre auf, die ein Freund ihm anempfohlen hat, obwohl er selbst sie für überholt hält. Er beginnt zu lesen. Johann Wolfgang erkennt in Goethe einen Seelenverwandten. Am nächsten Montag lässt er sich drei Biographien zukommen, eine Woche später kauft er Goethes Werke in hundertdreiundvierzig Bänden. Johann verlässt das Haus nicht mehr, wandert, politisiert, schreibt nicht mehr, Johann hält keine Reden, beantwortet keine Mails, keine Anrufe nimmt er entgegen. Johann Wolfgang Gut liest Goethe. 
Jahre vergehen, zusehends verarmt Johann; er zieht nach Pratteln in die Wohnung seines Paten und geheimen Schöpfers Patrick Huber, der mittlerweile eine Professur für Genetik erhalten hat. Johann Wolfgang schläft in der Küche, die überstellt ist von Goethe-Bänden und Kommentaren. Im Alter von zweiunddreissig Jahren stirbt der Goethe-Klon Johann Wolfgang Gut an einem Magengeschwür.
Während er am Küchenboden liegt, schmiegt sich eine Katze an seinen Kopf. „Gewiss weiss ich, Bützi“, sagt er keuchend zum Tier, „ich hätte mehr tun müssen als lesen. Aber jetzt … was mich jetzt plagt, ist nicht, das Neue, das ich nicht gesucht habe, die Taten, die ich nicht vollbracht habe, sondern die Seiten dort auf dem Pult, bei denen ich noch nicht weiss, was darin steht.“ Die Katze leckt ihre Tatzen.

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp, 2022, 113 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-906311-99-9

René Frauchiger, geboren 1981 in Madiswil, ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, sowie Gründer und Mitherausgeber vom Literaturmagazin «Das Narr» (seit 2011). Heute leitet René Frauchiger den Bereich Werkstätten des Aargauer Literaturhauses und lebt in Basel. Im September 2019 erschien sein erster Roman: «Riesen sind nur grosse Menschen» im homunculus-Verlag, 2022 folgte «Ameisen fällt das Sprechen schwer» bei Knapp. 

Webseite des Autors

Markus Kirchhofer «Das Planetenrührwerk», Plattform Gegenzauber

Jürg blickt stur durch die Windschutzscheibe. «Du bist sauer wie ein Naturjoghurt», sagte ich zu ihm, wenn er als Kind zornig war. Das brachte ihn noch mehr in Rage. Eigentlich habe ich einen guten Draht zu ihm. Einen immer besseren in den letzten Jahren. Obwohl wir uns nicht häufig sehen. Obwohl er was ganz anderes macht als ich. Obwohl er neun Jahre jünger ist als ich. Aber die werden gefühlt immer weniger. Jürg ist fast gleich alt wie Beatriz. Und ich fühle mich ebenso jung wie sie.

Wenigstens bleibt mir heute die Schaukäserei erspart. Früher gab’s keinen Familienausflug ins Voralpental ohne Schaukäserei. Im Restaurant vertilgten wir Vermicelles mit Meringues. Danach ging’s in den Shop, wo wir allerlei Käsesorten, Quark und Honig kauften. Neulich besuchte ich die Schaukäserei mit Beatriz’ Familie. Unter Anleitung stellten wir selber Frischkäse her. In Herzform, ganz nach dem Geschmack der Brasilianer. Am meisten beeindruckte sie aber der grosse Käsefertiger. Auch ich sehe sein glänzendes Kupfer, wenn ich an unsere Käserei denke.

Der Fertiger war rund und riesig. Darin ein weisser See. Vater erwärmte die Kuhmilch und brachte sie mit magischen Beigaben zum Eindicken: Labenzyme aus Kälbermägen und Milchsäurebakterien.

Dann bestückte Vater sein Planetenrührwerk. Er hängte Harfen daran und legte den Schalter um. Die Käseharfen begannen sich im Fertiger zu drehen und einander zu umkreisen. Zwei nebeneinander in der Mitte, die dritte aussen, dem Chromstahlring entlang. Die Harfen tanzten durch die eingedickte Milch, beschwingt und kraftvoll. Umeinander herum und durcheinander hindurch. Scheinbar chaotisch, aber ohne je zu kollidieren. Auf mysteriösen Umlaufbahnen, die ich zu ergründen suchte. Die Saiten zerschnitten die eingedickte Milch in immer kleinere, körnige Bruchstücke. «Je kleiner die Käsekörner, desto härter wird der Käse», belehrte mich Vater. Zum Rühren der Bruchmasse ersetzte Vater die Harfen durch Schaufeln. An den Fertigerrand montierte er Strombrecher. Unsichtbar am Grund wühlten die Schaufeln gegen die Schwerkraft der Käsemasse. Die Brecher bewirkten Querströmungen und körnige Wirbel. Vaters Planetenrührwerk bewegte Milchstrassensysteme. Am Fertiger beobachtete ich sie, hypnotisiert.

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MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch (2020)

Die Weltbevölkerung wächst, noch im 21. Jahrhundert werden mehr als zehn Milliarden Menschen die Erde bewohnen. Die Menschen brauchen mehr Platz, andere Lebewesen werden weggedrückt, täglich sterben Tierarten aus. Wie geht der Mensch, wie gehen Kunstschaffende mit dieser Konstellation um?

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MEHR UND WENIGER führt Medienkunst, Lyrik, Fakten zur Bevölkerungsentwicklung und zu ausgestorbenen Tierarten zusammen. Beim Starten der App befindet man sich in einer urbanen, futuristisch anmutenden Stadtlandschaft, die permanent neu generiert wird. Mit dem eigenen Handy oder Tablet als Flugsteuerung bewegt man sich spielerisch durch eine Metropole aus Bild, Text und Architektur – fliegen durch ein dreidimensionales Buch. 
Nähere Infos zur App und Gratis-Download auf Android-Geräte unter MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch – Marc Lee
Konzept: Markus Kirchhofer und Marc Lee, Realisierung: Marc Lee (CH),Gedichte (50 Haiku) von Markus Kirchhofer. Übersetzungen: Erin Palombi (US) ins Englische, Valentin Decoppet (CH) ins Französische, Sound: Shervin Saremi (IR),VR Entwicklung: Antonio Zea (PY), Florian Faion (DE) und Marc Lee (CH)

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Drei der Gedichte von Markus Kirchhofer:

der kiesweg ums haus
ist meine stratosphäre
my home is my earth

 

über den rücken
der eidechse aus beton
fahren lastwagen

 

verhüllt unterwegs
in frachtcontainern und tanks
früchte der erde

 

Markus Kirchhofer «Das Palnetenrührwerk», Knapp, Illustrationen Maurizio Pinarello, 2022, 89 Seiten, CHF 24.80, ISBN 978-3-906311-97-5

Markus Kirchhofer, geboren 1963, lebt mit seiner Frau in Oberkulm/AG. Seit 2013 ist er freier Autor, zuvor war er Lehrer und Erwachsenenbildner. In den letzten zwei Jahren erarbeitete er die App «MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch» (mit Medienkünstler Marc Lee, 2020), eine Graphic Novel (mit Zeichner Reto Gloor, 2021), ein Musiktheater (mit Musiker Christoph Baumann, Videodesigner Kevin Graber und Regisseur Nils Torpus, 2021) und den Roman «Das Planetenrührwerk» (2022). Markus Kirchhofers literarische Arbeit wurde mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet, zuletzt von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.

Webseite des Autors

Rebekka Salm «Die Dinge beim Namen», Knapp

Ein Dorf im Irgendwo; ein paar Häuser, eine Selbstbedienungstankstelle, ein Laden, eine Schule, ein Wirtshaus, eine Metzgerei, eine leere Kirche. Ein Roman von einem, der heimlich schreibt, einem pensionierten Polizisten, einem Etablissement, vielen toten Käfern und Geheimnissen, die wohlweisslich unter dem Teppich der Normalität bleiben sollen, auch wenn man sie dorthin prügeln muss. „Die Dinge beim Namen“ redet mit viel Liebe Tacheles. Das Romandebüt von Rebekka Salm ist eine Perle!

Es gibt Bücher, die unterhalten. Es gibt aber auch Bücher, die offenbaren. Es gibt Bücher, die mir gefallen. Es gibt aber auch Bücher, die mir mehr als nur gefallen, die mich beeindrucken, die bei mir eine Welle der Bewunderung auslösen, mich rauschig machen, mir die Kraft der Literatur beweisen, jene schöpferische Kraft, die vom Kunstwerk, dem Buch, auf mich, den Leser, herüberschwappen. Das sind jene Bücher, die man nach der Lektüre nicht so einfach ins Bücherregal schieben will, denen man für eine Weile ein samtig rotes Kissen und einen Scheinwerfer gönnt. 

«Gewohnheit macht Liebe. Und Liebe macht Gewohnheit.»

„Die Dinge beim Namen“ von Rebekka Salm ist so ein Buch. Ein Dorfroman, von denen in den letzten Jahren inflationär viele erschienen sind. Aber einer, der es in sich hat. Der das Dorf und all seine Mechanismen vorführt und entlarvt, dieses scheinbar feine Geflecht, das sich wie ein klebriges Gespinn um die Füsse der Bewohner wickelt und unausweichlich stolpern lässt. Kein prosperierendes Dorf, auch wenn es eine Neubausiedlung gibt. Aber dort wohnen bloss Leute, die morgens in ihren klimatisierten Autos aus der geheizten Tiefgarage an ihre klimatisierten Arbeitsplätze fahren. „Die Dinge beim Namen“ ist ein Roman über die Alteingesessenen, die schon immer da waren, in der Dorfschule als MitschülerInnen, später als Jugendliche hinter der Turnhalle, dann hineingerutscht in Ehe und Familie und drin geblieben, bis Bitterkeit, Ernüchterung und Frustration Ventile suchen, bei denen es ganz ordentlich zur Sache geht. Ausbrüche, die dazugehören, von denen man weiss, über die man schweigt, die man toleriert, weil sie erst möglich machen, dass die dampfende Kacke keinen Krater reisst.

«Ich glaube, Träume sind aus Geschichten. Und wir alle sind aus Geschichten gemacht.»

Rebekka Salm «Die Dinge beim Namen», Knapp, 2022, 182 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-907334-00-3

Wann alles begonnen hat, weiss niemand. Vielleicht an jenem Sommerabend vor ein paar Jahrzehnten. Beim Unterhaltungsabend des Musikvereins. Im Halbdunkel beim Eingang zum Gerätespeicher der Turnhalle. Ein junger Mann küsst eine Frau. Sie liebt ihn nicht und er liebt sie nicht. Aber wenn er will, soll sie wollen. Vielleicht beginnt die Geschichte aber erst viel später, als Vollenweider, der damals zusah und den Mut nicht fand einzuschreiten, die Geschichte aufschreibt. Alles aufschreibt, in ein grosses Kuvert packt und die Seiten an einen Verlag schickt, in der Hoffnung, daraus werde mehr als bloss eine Geschichte. Aber wahrscheinlich begann die Geschichte schon viel früher, ist jener Moment bei der Turnhalle nur das Kippen einer der vielen Dominosteine, die in diesem Dorf dauernd fallen, wie in Zeitlupe und doch unaufhaltsam, wie ein Naturgesetz. Vollenweider schreibt schon immer, seit er schreiben kann. Über den Selbstmord seines Bruders, die unglückliche Liebe zu Sandra, den frühen Tod seiner Mutter und die Schläge seines Vaters. Auch dann noch, als man ihm im Dunkeln mitten auf der Dorfstrasse zusammenschlägt. Denn jenes Mädchen, jene junge Frau, war Sandra, seine Liebe.

«Die grössten Reichtümer aber, die der Mensch besitzen kann, sind Geld und Geschichten. Beides bedeutet Macht.»

Aber „Die Dinge beim Namen“ ist mehr als die Geschichte von Vollenweider und seiner Geschichte. Da ist Freddy, der nach dem Tod seiner Eltern allein in seinem Haus lebt. Er sammelt Käfer. Weiss alles über Käfer. Kauft sich zwischendurch auch einmal ein seltenes Exemplar, spiesst sie nach seinen Ausflügen auf Nadeln und lässt sie sterben. Bis sie beschriftet und in Ordnung gebracht Teil seiner Sammlung sind. Niemand nimmt Freddy ernst. Oder Chantal, die am Dorfrand, in der Rosenegg, wo weit und breit keine Rosen blühen, zwischen Sägerei und Selbstbedienungstankstelle, den Männern von nah und fern das bietet, was ihnen in den Schlafzimmern zuhause verwehrt bleibt. Nicht nur Sex, eine unkomplizierte Nummer. Sex ist meist nur das schnelle Vorspiel dessen, was Chantals Kunden viel wichtiger zu sein scheint; Mann will reden, Mann will ein Stück Illusion, ein Stück heile Welt.

«Das war er wieder, der Schmerz, der sich seit Jahrzehnten durch Beats Brust frass wie der Holzwurm durchs Gebälk seines Schlafzimmers.»

In Rebekka Salms packendem und faszinierenden Romandebüt blickt man durch zwölf Augenpaare auf das, was unter der Dorfoberfläche brodelt, seit Jahrzehnten, einmal mehr, einmal weniger. Rebekka Salms klug erzählter Roman, dieses feinmaschige Netz aus Geschichten und Charakteren, verblüfft durch seinen Witz, seine kraftvolle Sprache und den gleichwohl grossen Respekt vor dem Personal. So sehr sie alle gefangen sind von den ehernen Gesetzen einer trügerischen Dorfidylle, so sehr sind sie Opfer ihrer selbst, der Unfähigkeit auszubrechen, sich dem scheinbar Unausweichlichen entgegenzustellen. Rebekka Salm erzählt, als würde eine Billardkugel eine nächste in Bewegung bringen, die Ordnung in diesem Wimmelbild auf den Kopf stellen. Und nicht zuletzt sind die Farben ihres Erzählens derart intensiv, das ich kaum glauben kann, dass dies ein Debüt sein soll. Und dann sind da noch diese Sätze. Extrahiert man sie aus ihrem Kontext, werden sie zu Perlen, die man bei zu unachtsamen, zu schnellem Lesen allzu leicht übersieht. Sätze, die funkeln, die das Licht brechen, vielfarbig werden!

© Rebekka Salm

Interview

Ich spüre deine Lust, deine Freude, deinen Witz, deinen Schalk. Natürlich weiss ich, wie viel Knochenarbeit, wie viel Energie und Zeit es braucht, bis ein Buch zur Lektüre bereitliegt. Wie schaffst du es, derart viel Esprit in ein Buch zu packen, mich glauben zu lassen, das Schreiben ginge so flockig leicht wie die Lektüre deines Romans?
Was bin ich froh, dass die Lektüre des Romans nicht ein ähnlicher «Chnorz» ist, wie es der Schreibprozess zeitweise war.
Am Anfang fällt mir das Schreiben meist leicht. Ich habe Bilder im Kopf. Figuren gehen, humpeln oder schlurfen durch meine Gedanken. Die Sonntagshosen der Männer haben Bügelfalten. Einer raucht Pfeife. Kannst du den Tabak riechen? Ich bringe zu Papier, was ich vor meinem inneren Auge sehe. Das geht ganz leicht. Dann lege ich den Stift beiseite und lese durch, was da steht auf dem Papier. Jetzt scheinen mir die Bilder, die ich in Worte gefasst habe, unpräzise, platt und wenig originell. Ich formuliere also um, ersetze Verben durch treffendere Verben, streiche Adjektive. Das ist die Phase, in der ich zweifle, an mir und am Text. Wenn ich aber durchhalte, nur lange genug schreibe, umformuliere und streiche, erreiche ich mit etwas Glück irgendwann den Punkt, an dem mir das Geschriebene gefällt. Der «Chnorz» löst sich auf. Die Bilder auf dem Papier stimmen nun mit den Bildern in meinem Kopf überein.

Neben all der Fabulierkunst, die Vielfarbigkeit, den Abgründen und Wahrheiten erzählt dein Roman von den Fallgruben des Lebens, den Fesseln, denen man scheinbar nicht entkommen kann, den ehernen Gesetzen, die Leben dominieren. Ist dein Schreiben dein Messer gegen Fesseln?
Nein, das Schreiben ist mir kein Messer. Das Schreiben ist mir eher ein Reissbrett, auf dem ich die Fesseln und Fallgruben des Lebens präzise aufzeichnen und vermessen kann.
Das bringt sie nicht zum Verschwinden, leider. Aber dadurch, dass ich nun ihre genaue Lage, Grösse und Beschaffenheit kenne, verlieren sie ihre diffuse Bedrohlichkeit. Und damit lässt es sich leben.

Ich bin sicher, dass du bei 99% aller LeserInnen mit einer deiner Figuren etwas anklingen lässt, was betroffen macht, das mir als Leser Wiedererkennung schenkt. Du erzählst, was alle kennen und doch scheint es entlarvend. Spiegelst du?
Meine Figuren sind keine Helden. Im Gegenteil. Allesamt sind es Menschen, die gegen alltägliche Widrigkeiten kämpfen, die ihr Glück suchen, die sich irren und die fehlen, die mutlos und beschämt sind. Und ich vermute, all das steckt in jedem von uns drin. In mir auf jeden Fall.

Das Modell Ehe wird ebenso in Frage gestellt wie „Liebe“, „Dorfgemeinschaft“ oder sogar „Freundschaft“. Du demontierst mit Lust und Wonne. Ich weiss sehr gut, dass man Idyllen nachjagt. Bücher, Filme, Musik und Bilder sind voll davon. Warum halten wir uns dermassen fest an ihnen?
Warum halten wir uns dermassen fest an Idyllen? Vermutlich weil sie genau das sind: idyllisch. Perfekte, sorgen- und schmerzfreie Zustände.
Wir sitzen mit einem kühlen Glas Weisswein auf dem Balkon, das Raclette brutzelt im Pfännchen, die oder der Liebste ist bei uns, wir streiten uns nicht und im Abendlicht sehen wir die Schönheit des anderen, wie wir sie schon lange nicht mehr gesehen haben. Das Telefon schweigt. Die Steuern sind bezahlt. Der Hosenbund kneift nicht. Die Liste ist beliebig erweiterbar. In diesen Momenten scheint das Leben schwerelos. Wer würde diesen Momenten nicht nachjagen wollen?
Dass das Leben kein Ponyhof ist, wissen wir alle. Vielleicht halten wir Idyllen in Bücher, Filmen und Musik fest, um uns stets vergewissern zu können, dass es sie tatsächlich gibt, dass sie wiederkommen, irgendwann.

© Rebekka Salm

Du liebst dein Personal, das spüre ich. Ich liebe es auch, alle irgendwie. Meistens werden nicht unsere Ecken und Kanten geliebt, sondern die mit Bedacht gepflegten glatten Flächen. Anpassung ist alles. Und doch ist da doch der Wunsch nach Originalität, auch in den Leben deiner ProtagonistInnen.
Meine Figuren möchten dazugehören. Zu einer Dorfgemeinschaft. Ausserhalb dieser Dorfgemeinschaft sind sie einsam und alleine. Und wer sind sie denn überhaupt, wenn niemand da ist, der sie sieht, der mit ihnen redet? Um dazuzugehören sind sie bereit, ihre Ecken und Kanten zu verbergen. Sind sie dann aber drin, in der Dorfgemeinschaft, kann es passieren, dass keiner sie wahrnimmt, weil sie ohne Ecken und Kanten niemand sind, den es wahrzunehmen lohnt. Dann, vielleicht, zeigen sie sich. Und wenn sie Pech haben, dann ist das, was da zum Vorschein kommt, zu viel fürs Dorf. So versuchen sie stets die Balance zu halten zwischen ihrem Wunsch nach einem «Wir» und ihrem eckigen und kantigen «Ich». Ich vermute Mal, damit unterscheiden sich meine Figuren gar nicht so sehr von dir und mir, oder?

Rufen jetzt deine ehemaligen Nachbarn an?
Bis jetzt zum Glück nicht. Wenn ich aber die Wahl habe, zwischen ehemaligen Nachbarn, die anrufen, um mir zu sagen, dass sie enttäuscht darüber sind, wie ich das Dorf dargestellt habe und den anderen, die so beleidigt sind, dass sie nicht mehr mit mir reden – dann sind mir die Ersteren tausend Mal lieber.

Rebekka Salm, geboren 1979, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Frederike Asael

David Weber «Schwarzlicht», Knapp

Der Schweizer Autor David Weber legt seinen dritten Roman «Im Schwarzlicht» vor, in dem es um Abgründe in der Kunst und der Liebe geht. Der Philosoph Spinoza spielt darin eine wichtige Rolle. Der Autor erklärt die Hintergründe dazu.

«Malen ist befreiender.»
von Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Im ersten Roman «Kral» dreht sich eine Liebesgeschichte um die Raumplanung Schweiz, im «Reduit» zerbröselt ein Beziehungsgeflecht an einem Geschäftsmodell mit Überlebensbunkern und im Roman «Im Schwarzlicht» betreten Sie die Welt der Raubkunst umrankt mit einer zerstörerischen Liebe. Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was ist denn als erstes da, die Kulisse einer Liebe oder der gesellschaftliche Aspekt?

David Weber: Im Falle dieses Romans war beides gleichzeitig da. Andys zerstörerische Liebe und der zerstörerische Sog eines Kunstwerks, dem Ludmilla verfällt.

Das klingt nach einem persönlichen Moment als initialem Auslöser…

Richtig. Es begann mit einem Zufall, ähnlich wie ihn Andy Heim, der Hauptprotagonist, erlebt. In einem menschenleeren Atelier traf ich auf ein Bild, das mich faszinierte. Davor lag ein Ausstellungskatalog mit dem Porträt einer Frau. Ich nahm an, dass es die Künstlerin sein müsse. Diese zwei Dinge haben eine Gedankenspirale ausgelöst. Am nächsten Tag wusste ich, dass ich über eine verrückte Liebe und ein magisches Gemälde schreiben würde.

«Im Schwarzlicht» beginnt mit einem Prolog à la James Bond mit einer Auktion die mit Kopfschütteln über den gebotenen Betrag endet. Wann beginnen Sie mit der Dramaturgie, wenn die Geschichte schon steht, oder…?

Der Roman hat Züge eines Thrillers. Da muss der Plot stimmen, der kann nicht erst während des Schreibens entstehen. Aber ich lasse mich immer wieder überraschen. Anfang und Schluss des Buches waren so nicht geplant. Die Story würde auch ohne funktionieren, aber das Ende wäre zu abschließend gewesen. Jetzt verweist der Prolog auf den Schluss, so entsteht eine Art Bilderrahmen, zwischen dem sich die Geschichte entfaltet.

Die Figur Andy Heim verliert sich, das eigene familiäre Leben zerstörend, in das Charisma der Künstlerin Ludmila Borodin. Wird zum Geliebten, deren Muse ja Sklave. Ein gendergerechter Umkehrschub als Hommage der weiblichen Musen in der Kunstgeschichte?

David Weber «Im Schwarzlicht», Knapp Verlag, 2021, 390 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-76-0

So habe ich das nicht gesehen, aber man kann selbstverständlich aus der Besonderheit, dass Andy zum männlichen Aktmodell wurde, diesen Schluss ziehen. Tatsächlich sind es vor allem weibliche Musen, die Geschichte geschrieben haben. Vermutlich, weil die Kunstgeschichte bis Ende des 20. Jahrhunderts von Männern dominiert wurde. Mir ging es darum, Ludmilla als starke, skrupellose Persönlichkeit zu zeigen, die sich nimmt, auf was sie Lust hat. Insofern sind die üblichen Geschlechterrollen vertauscht.

Was ganz anderes, Sie rhythmisieren Ihren Erzählstil, in dem Sie bei Dialogen auf Anführungs- und Schlusszeichen verzichten und auch den Umbruch des Layouts entsprechend so gestalten, dass pro Zeile manchmal nur ein Wort steht. Wie kam es dazu?

Es hat mit Abstraktion und Rhythmus zu tun. Der Fluss wird besser und der Text beginnt zu atmen. Der Satzbau ist natürlich auch ein Mittel, um Spannung zu erzeugen.

Interessant sind die gewählten Namen Ihrer Figuren. Die Künstlerin, die mit ihrer Verführungskunst und krimineller Energie zur Falle der Hauptfigur wird, heißt Ludmilla Borodin. Die russische Geschichte ist voll mit diesem Namen, von Komponisten, Banker über Fußballer oder Revolutionären.

Ich habe den Namen beim russischen Komponisten Alexander Borodin geliehen. Der Name musste klingen und zweifelsfrei russisch tönen. Dafür gibt es eine Bewandtnis, die erst gegen Ende der Geschichte aufgelöst wird.

Auch in diesem Roman spielen Sie das Spiel zwischen kleinbürgerlicher Provinz und große weite Welt, wie Toggenburg und Russland, was einen leichten ironischen Unterton erklingen lässt. Absicht?

Es sind die Gegensätze, die Spannung erzeugen. Wie das Glarner Hinterland und Nizza, beides Stationen von Andys Odyssee. Andy und Ludmilla sind gegensätzliche Persönlichkeiten, auch die Welten, in denen sich die beiden Hauprotagonisten bewegen, könnten nicht unterschiedlicher sein.

Durch diese ganze Geschichte führt der berühmte rote Faden durch den Philosophen Spinoza (1632 – 1677), was ein Grund mit für die Lektüre Ihres Romans spricht. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu diesem Denker beschreiben?

Ich habe mich erst mit Spinoza befasst, als ich für die Figur Andy Heim ein Thema für seine Masterarbeit suchte. Es musste ein Philosoph sein, der ihn überforderte. Mit Spinoza wollte er sich etwas beweisen, aber die «Ethik» verweigerte sich ihm. Erst als er sich dem zweiten bis fünften Teil dieses epochalen Werks zuwandte, erschlossen sich ihm die Lehrsätze. Die Lehre über die Affekte wurde völlig unerwartet zu einem Spiegel seiner Gefühle.

Mit anderen Worten, Sie haben sich mit dem Philosophen zu beschäftigen begonnen, als Sie wussten, dass Ihre Romanfigur über ein Werk Spinozas eine Masterarbeit schreiben wollte?

Kann man so sagen. Für den Roman musste ich mich mit diesem sperrigen Denker auseinandersetzen. Ich habe Philosophiestudenten und einen Philosophen interviewt und wurde tatsächlich gefragt, ob ich eine Masterarbeit über Spinoza schreiben würde.

Ohne zu viel zu verraten, darf erwähnt werden, dass in Ihrem Roman die malende Kunst nicht nur den Kunsthandel antreibt, sondern einen therapeutischen Effekt ausübt. Wie sehen Sie das mit dem Schreiben?

Ich denke, Schreiben eignet sich nicht in dem Mass wie Malen als therapeutisches Medium. Natürlich gibt es Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihr Ego mit Schreiben therapieren, aber dann ist die Peinlichkeit nicht weit. Beim bildnerischen Gestalten kann man sich mehr von der eigenen Person lösen. Insofern wirkt Malen befreiender.

Inspirationen generieren neue Objekte. Wie ist es in der Literatur? Bei der Lektüre erinnert man sich an den Roman «Athena» von John Banville, in dem sich ein Gutachter ebenfalls in eine Frau verliebt und sich deshalb im Kunstraub verheddert. Wie wichtig ist für Sie literarische Inspiration?

Natürlich gibt es die literarische Inspiration, ich lese viel, aber John Banville kenne ich nicht. Ich werde «Athena» nachholen. Ansporn, einen Thriller zu schreiben, war «Ruhelos» von William Boyd. Im Hinterkopf war das Werk vorhanden, als ich erste Skizzen zu «Im Schwarzlicht» entwarf. Thematisch ist es völlig anders gelagert, aber die Hauptrolle spielt ebenfalls eine starke Frau. 

«Nichts ist da, aus dessen Natur nicht eine Wirkung erfolgte» laut Spinoza. Welche Wirkung würden Sie sich für Ihre Leserinnen und Leser wünschen?

In erster Linie sollen sie sich gut unterhalten, sie sollen überrascht werden, das Buch verschlingen. Erste Feedbacks zeigen, dass Leserinnen und Leser Anteil an Andy Schicksal nehmen, das ist natürlich erfreulich.

Die Lektüre kann Boden locker machen…

Es gibt auch einige Geschichten in der Geschichte, die neugierig machen und Lust auf mehr wecken. Im Mittelpunkt des Romans steht ein Gemälde, eine Ikone der Kunstgeschichte. Die Legenden, die sich um dieses Mysterium ranken, kann der Leser gerne weiterverfolgen.

David Weber wurde 1952 in Zug geboren, studierte Architektur und befasst sich seit seiner Jugend mit Musik und Literatur. Er lebt und schreibt in Zug und Caccior (Bergell, Graubünden). Im Schwarzlicht ist sein dritter Roman. Bereits erschienen sind Kral (2018) und Reduit (2019).