Evelina Jecker Lambreva zu Gast in Amriswil

Evelina Jecker Lambreva las bei uns im Wohnzimmer vor einem gespannten Publikum aus ihrem Roman «Mein Name ist Marcello». Überraschungsgast an dieser Lesung war Bernhard Borovansky, ihr Verleger aus Wien, der seit 2008 zusammen mit seiner Frau Konstanze Borovansky die Geschicke des Braumüller Verlags bestimmt.

«Mein Name ist Marcello»: In Mailand stellt eine berühmte Schweizer Schriftstellerin ihren neuen Kriminalroman vor. Während der Veranstaltung steht ein Mann aus dem Publikum auf und behauptet, die Schriftstellerin habe seine Biografie gestohlen und seine persönliche Geschichte erzählt. In dem darauf folgenden Skandal droht er mit einer Klage, besucht immer wieder Veranstaltungen, stalkt sie und will herausfinden, warum sie das getan hat. Die Schriftstellerin kann sich das alles nicht erklären, sie kennt den Mann nicht, lässt sich aber auf ein Gespräch mit ihm ein. Die beiden gehen eine Liaison ein und verlieben sich sogar ineinander. Durch die Nähe kommen sie der Wahrheit immer mehr auf die Spur und entdecken Unglaubliches. Eine dicht erzählte Geschichte mit einem erstaunlichen und nicht erwarteten Ende.

„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.

Verleger Bernhard Borovansky, Evelina Jecker Lambreva und Veranstalter Gallus Frei

«Schreiben» ist die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Mit den Worten C.G. Jungs: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.

Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.

«Es war eine unvergessliche Hauslesung bei Gallus und Irmgard Frei-Tomic, an der ich meinen neuen Roman „Mein Name ist Marcello“ vorstellen durfte. In familiärer Atmosphäre, unter den stummen Blicken hunderter von Büchern, zweier Gitarren und eines Klaviers hörte mir ein sehr interessiertes und engagiertes Lesepublikum zu. Aufschlussreiche Fragen, tiefgreifende Gedanken und leidenschaftliche Liebe zur Literatur begleiteten durch den Abend.
Ganz herzlichen Dank an alle, die zu diesem gelungenen Anlass beigetragen haben! Für mich ist er zu einem der Höhepunkte des Jahres geworden.» Evelina Jecke Lambreva

mehr zu den Büchern von Evelina Jecker Lambreva

Beitragsbilder © Suscka Kottonau

mit Evelina Jecker Lambreva und «Mein Name ist Marcello», Braumüller

Bei vielen Leserinnen und Lesern scheint die Frage, ob ein Buch ein Stück abgebildeter Realität sei, eine wahre Geschichte, oder reine Fiktion, ein Spiel mit Realem, so zentral wie nie zuvor. Evelina Jecker Lambreva treibt eben diese Spiegelungen zwischen Realem und Fiktionalem bis auf die Spitze – erfrischend und mit tiefgründigem Scharfsinn.

Fabiana Bianchi ist eine angesagte Krimiautorin. Ihre Bücher scheinen ein nach Crime hungerndes Publikum längst von selbst zu finden. Wo sie auftritt, füllt sie Säle, ihre Bücher verkaufen sich sensationell. Sie geniesst ihren Erfolg, ist sich ihrer Wirkung auch auf der Bühne sicher, geniesst die Zuwendungen ihrer Fans. Aber bei der Präsentation ihres neusten Romans meldet sich während der Lesung ein Mann in der ersten Reihe und behauptet, sie habe die Geschichte im Buch gestohlen, das sei seine Geschichte und er sei nie gefragt worden, ob sie so einfach Gegenstand eines Buches werden dürfe; die Geschichte einer zerrütteten Familie, eines Verbrechens. Und als er ihr beim Signieren mit einem Prozess droht und sie auch auf den darauf folgenden Lesungen in den Metropolen Europas verfolgt, wird aus dem Vorwurf, den Drohungen ein Alp, der Fabiana Bianchi bis ins Mark erschüttert. Fabiana weiss nicht, wie ihr geschieht.

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99200-362-4

Eine sehr plausible Situation, gibt es doch im Literaturbetrieb immer wieder solch wirre und unkontrollierbare Situationen, die nicht nur ein Buch verhindern, sondern Schreibenden ihre Existenz rauben können. Aber während der Lektüre wird sehr schnell klar, dass es Evelina Jecker Lambreva nicht in erster Linie darum geht, wie Literatur mit Realem umzugehen hat. Sie erzählt auch die Geschichte von Paolo Privoli, eines erfolgreichen Kunsthändlers, der es mit Geschick und Glück von ganz unten bis nach ganz oben geschafft hatte. Er, der sich auch für Literatur interessiert, ein leidenschaftlicher Leser der Kriminalromane von Fabiana Bianchi ist, sitzt in seiner Stadt in der ersten Reihe und muss feststellen, dass die Frau, die er nur aus Büchern kennt, seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, von der niemand, höchstens seine engsten Vertrauten wissen sollten. Die Geschichte eines Mannes, der als Kind seinen kleineren Bruder durch seine unstillbare Lust nach Macht ins Unglück treibt. Von einer Mutter, die nicht zu lieben vermag, einem Vater, der sich in seiner Verzweiflung umbringt und einem Grossvater, der zum Tyrannen wird. Eine Vergangenheit, eine Geschichte, die er nicht nur durch fünf Jahre Gefängnis hinter sich lassen wollte.

Fabiana Bianchi kann sich die Vorwürfe des Mannes nicht erklären und sämtliche Versicherungen, die Geschichte sei ganz und gar ihrer Fantasie entsprungen, perlen an dem aufgeschreckten Mann ab. Im Laufe des Romans entwickelt sich eine Art Duell. Dort die Frau, die sich an den Alp in ihrer Kindheit zurückgedrängt fühlt, dort der Mann, der glaubte, sein Leben in absolute Kontrolle getaucht zu haben und feststellen muss, dass ein Buch sein ganz eigenes Trauma offenbart.

Aber dabei bleibt es nicht. Evelina Jecker Lambrevas Roman zwischen Krimi und Verwirrspiel, zwischen Familiengeschichte und Vergangenheitsbewältigung stellt zwei Menschen einander gegenüber, die sich beide auf ihre Weise mit ihrer Kindheit, den dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen. Bin ich der, den ich mit Akribie selbst inszeniere oder doch nicht durch die Poren meiner Fassade das, was ich nie zu verdauen in der Lage war? Evelina Jecker Lambrevas Wissen um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins macht das Spiegellabyrinth, durch das ich mich als Leser winde, verständlich. Unser Innenleben ist verschachtelt, voller dunkler Sackgassen und tückischer Geheimnisse.

„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.

(bis ca. 21 Uhr), Eintritt inkl. Konsumation 35 CHF, zwingend Anmeldungen bis 10. August unter info@literaturblatt.ch oder 076 448 36 69 (Platzzahl beschränkt!)

Interview

„In each of us there is another whom we do not know…“, ein Zitat von C. G. Jung, ist Deinem Roman vorangestellt. Wären wir uns dessen mehr bewusst, wäre das Verständnis für die Schattenseiten anderer wohl viel grösser. Du bist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und damit prädestiniert, den Spalt hinter Fassaden zu finden. Ist das Schreiben auch ein Ventil?
Ein Ventil? Mein Beruf hat mich zwar schon immer zum Schreiben inspiriert, mit den Themen, die sich aus den Gesprächen mit meinen Patientinnen und Patienten ergeben, aber das Schreiben als Ventil habe ich noch nie gebraucht. Ich wüsste auch nicht, wozu ich ein Ventil bräuchte. Viel mehr dient mir das Schreiben für die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Für mich habe ich sogar die Worte von C.G. Jung so perephrasiert: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.

Fabiana Bianchi ist eine überaus erfolgreiche Krimiautorin. Derer gibt es viele, man denke an Donna Leon oder Charlotte Link. Autorinnen, die Buch an Buch veröffentlichen, Bestseller an Bestseller reihen und mehr als gut von ihrem Schreiben leben können. Doch eigentlich die Ausnahme, denn die meisten AutorInnen leben mehr schlecht als recht von ihrer Schriftstellerei. Aber wie jede Person, die sich im Focus einer breiten Aufmerksamkeit bewegt, hat diese Popularität auch seinen Preis. Verkauft eine erfolgreiche Künstlerin, ein erfolgreicher Künstler mit seinem Ruhm nicht auch ein Stück seines Lebens?
Natürlich tut er/sie das. Vermarktung der Intimität ist heutzutage hoch im Trend. Für mich ist es jedoch unklar, wie bewusst ein Künstler/eine Künstlerin so was macht. Ich glaube kaum, dass es viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die ganz gezielt ihr Leben für Geld an das Lesepublikum verkaufen. Vielleicht ist es bei einigen eher ein Bedürfnis, das eigene Leben in die Welt hinauszuschreien, hinauszuweinen, auszukotzen, mitzuteilen? Man kann dieses Bedürfnis aber auch diskret verschlüsselt und eingepackt in Figuren, Metaphern oder Allegorien ausleben, derart, dass nur der Künstler/die Künstlerin weiss, dass es sich um sein/ihr Leben handelt. Somit wird auch der finanzielle Profit eines Verkaufs fern vom Bewusstsein gehalten.

Naviglio Grande, Milano @ Evelina Jecker Lambreva

In den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Lebens ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seinem Schreiben die Wirklichkeit eines fremden Menschen trifft, nicht so verschwindend wie man glaubt. Du als Schriftstellerin hoffst doch auch, dass Leserinnen und Leser sich in Deinen Geschichten gespiegelt sehen oder sogar wiedererkennen. Ist das nicht genau die Resonanz, die man als Schreibende erhofft?
Schriftsteller/Schriftstellerin sein, ist ein einsames Schicksal, so denke ich. Wenn ich schreibe, denke ich nie an die potentiellen Leserinnen und Leser, nicht an Rezensentinnen und Rezensenten, nicht an die Medien. Ich bin allein in der Auseinandesetzung mit meinen Gedanken, Stimmungen, Atmosphären, Heldinnen und Helden. Die Lesenden müssen sich nicht unbedingt in meinen Geschichten wiedererkennen oder sich darin gespiegelt sehen. Von mir aus können meine Figuren auch befremdend, schrecklich, sogar abstossend auf das Lesepublikum wirken. Das würde mich gar nicht stören, wenn es so wäre. Viel wichtiger ist es mir, dass ich durch meine Figuren die Leserschaft zu neuen Gedankenanstössen anregen kann. So hoffe ich auf eine Resonanz zu den Lebensthemen, die ich in meinen Werken durch meine Heldinnen und Helden behandle. Dies aber erst, wenn das Buch veröffentlicht ist, nicht während des Schreibens.

Beide Protagonisten kommen aus Familien, die ihnen nicht geben konnten, was man jedem Kind wünscht. Beide tragen einen Alp mit sich herum. Ich bin Sohn und Vater und weiss sehr genau, wie tief die Schluchten sein können, an denen man sich als Mutter oder Vater vorbeihangelt. Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von den Auswirkungen dieser Untiefen. Und auf der anderen Seite die Literatur; Bücher, die sich in den Untiefen tummeln, Bücher, die bewusst machen. Du schreibst Deine Bücher ja auch nicht zur blossen Unterhaltung und Zerstreuung. Wo liegt das Urmotiv dieses Romans? Wie kamst Du zu dieser Idee?
Beziehungen zwischen Eltern und Kinder haben einen zentralen Platz in all meinen Werken. Vielleicht hängt das mit meinem Beruf als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin zusammen, denn bei mir gehen Medizin und Literatur Hand in Hand. Das Urmotiv meines Romans kam von einem Mord, den ich als Falldarstellung an einem Studentenunterricht präsentiert habe. Während ich den Studentinnen und Studenten den Fall schilderte, lief plötzlich im Hintergrund der ganze Romanplot in meinem Kopf ab, wie in einem Film. Mehr dazu möchte ich nicht sagen, da ich nicht in eine Situation der Arztgeheimnisverletzung geraten möchte.

Das Städtchen mit dem Namen einer Heiligen in Ligurien @ Evelina Jecker Lambreva

In Deinem Roman geht es viel um Macht. Paolo Privoli kompensiert die Machtlosigkeit, die ihn als Kind ins Abseits drängte mit der Sehnsucht, Macht auszuüben. Macht ist ein grosser Antrieb, der in Politik und Wirtschaft aber allzuoft, hauptsächlich von Männern, zu Katastrophen führt. Geniessen die Schriftstellerin die „Macht“ über ihre Leserschaft?
Ich habe nicht das Bewusstsein, Macht in irgendeiner Form auf die Leserschaft auszuüben. Wenn ich über Macht schreibe, dann ist das, weil mich Macht interessiert, insofern sie fast immer als unbewusster Kompensationsversuch von in der Kindheit erlebter Ohnmacht auftritt. Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. Ihr literarisches Schaffen in deutscher Sprache begründete sie mit dem Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie den Erzählbänden «Unerwartet» und «Bulgarischer Reigen». Bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) «Nicht mehr» (2016) «Entscheidung» (2019) und «Im Namen des Kindes» (2022)

Beitragsbild © Alexander Jecker

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller

Bei vielen Leserinnen und Lesern scheint die Frage, ob ein Buch ein Stück abgebildeter Realität sei, eine wahre Geschichte, oder reine Fiktion, ein Spiel mit Realem, so zentral wie nie zuvor. Evelina Jecker Lambreva treibt eben diese Spiegelungen zwischen Realem und Fiktionalem bis auf die Spitze – erfrischend und mit tiefgründigem Scharfsinn.

Fabiana Bianchi ist eine angesagte Krimiautorin. Ihre Bücher scheinen ein nach Crime hungerndes Publikum längst von selbst zu finden. Wo sie auftritt, füllt sie Säle, ihre Bücher verkaufen sich sensationell. Sie geniesst ihren Erfolg, ist sich ihrer Wirkung auch auf der Bühne sicher, geniesst die Zuwendungen ihrer Fans. Aber bei der Präsentation ihres neusten Romans meldet sich während der Lesung ein Mann in der ersten Reihe und behauptet, sie habe die Geschichte im Buch gestohlen, das sei seine Geschichte und er sei nie gefragt worden, ob sie so einfach Gegenstand eines Buches werden dürfe; die Geschichte einer zerrütteten Familie, eines Verbrechens. Und als er ihr beim Signieren mit einem Prozess droht und sie auch auf den darauf folgenden Lesungen in den Metropolen Europas verfolgt, wird aus dem Vorwurf, den Drohungen ein Alp, der Fabiana Bianchi bis ins Mark erschüttert. Fabiana weiss nicht, wie ihr geschieht.

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99200-362-4

Eine sehr plausible Situation, gibt es doch im Literaturbetrieb immer wieder solch wirre und unkontrollierbare Situationen, die nicht nur ein Buch verhindern, sondern Schreibenden ihre Existenz rauben können. Aber während der Lektüre wird sehr schnell klar, dass es Evelina Jecker Lambreva nicht in erster Linie darum geht, wie Literatur mit Realem umzugehen hat. Sie erzählt auch die Geschichte von Paolo Privoli, eines erfolgreichen Kunsthändlers, der es mit Geschick und Glück von ganz unten bis nach ganz oben geschafft hatte. Er, der sich auch für Literatur interessiert, ein leidenschaftlicher Leser der Kriminalromane von Fabiana Bianchi ist, sitzt in seiner Stadt in der ersten Reihe und muss feststellen, dass die Frau, die er nur aus Büchern kennt, seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, von der niemand, höchstens seine engsten Vertrauten wissen sollten. Die Geschichte eines Mannes, der als Kind seinen kleineren Bruder durch seine unstillbare Lust nach Macht ins Unglück treibt. Von einer Mutter, die nicht zu lieben vermag, einem Vater, der sich in seiner Verzweiflung umbringt und einem Grossvater, der zum Tyrannen wird. Eine Vergangenheit, eine Geschichte, die er nicht nur durch fünf Jahre Gefängnis hinter sich lassen wollte.

Fabiana Bianchi kann sich die Vorwürfe des Mannes nicht erklären und sämtliche Versicherungen, die Geschichte sei ganz und gar ihrer Fantasie entsprungen, perlen an dem aufgeschreckten Mann ab. Im Laufe des Romans entwickelt sich eine Art Duell. Dort die Frau, die sich an den Alp in ihrer Kindheit zurückgedrängt fühlt, dort der Mann, der glaubte, sein Leben in absolute Kontrolle getaucht zu haben und feststellen muss, dass ein Buch sein ganz eigenes Trauma offenbart.

Aber dabei bleibt es nicht. Evelina Jecker Lambrevas Roman zwischen Krimi und Verwirrspiel, zwischen Familiengeschichte und Vergangenheitsbewältigung stellt zwei Menschen einander gegenüber, die sich beide auf ihre Weise mit ihrer Kindheit, den dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen. Bin ich der, den ich mit Akribie selbst inszeniere oder doch nicht durch die Poren meiner Fassade das, was ich nie zu verdauen in der Lage war? Evelina Jecker Lambrevas Wissen um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins macht das Spiegellabyrinth, durch das ich mich als Leser winde, verständlich. Unser Innenleben ist verschachtelt, voller dunkler Sackgassen und tückischer Geheimnisse.

„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.

Interview

 „In each of us there is another whom we do not know…“, ein Zitat von C. G. Jung, ist Deinem Roman vorangestellt. Wären wir uns dessen mehr bewusst, wäre das Verständnis für die Schattenseiten anderer wohl viel grösser. Du bist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und damit prädestiniert, den Spalt hinter Fassaden zu finden. Ist das Schreiben auch ein Ventil?
Ein Ventil? Mein Beruf hat mich zwar schon immer zum Schreiben inspiriert, mit den Themen, die sich aus den Gesprächen mit meinen Patientinnen und Patienten ergeben, aber das Schreiben als Ventil habe ich noch nie gebraucht. Ich wüsste auch nicht, wozu ich ein Ventil bräuchte. Viel mehr dient mir das Schreiben für die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Für mich habe ich sogar die Worte von C.G. Jung so perephrasiert: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.

Fabiana Bianchi ist eine überaus erfolgreiche Krimiautorin. Derer gibt es viele, man denke an Donna Leon oder Charlotte Link. Autorinnen, die Buch an Buch veröffentlichen, Bestseller an Bestseller reihen und mehr als gut von ihrem Schreiben leben können. Doch eigentlich die Ausnahme, denn die meisten AutorInnen leben mehr schlecht als recht von ihrer Schriftstellerei. Aber wie jede Person, die sich im Focus einer breiten Aufmerksamkeit bewegt, hat diese Popularität auch seinen Preis. Verkauft eine erfolgreiche Künstlerin, ein erfolgreicher Künstler mit seinem Ruhm nicht auch ein Stück seines Lebens?
Natürlich tut er/sie das. Vermarktung der Intimität ist heutzutage hoch im Trend. Für mich ist es jedoch unklar, wie bewusst ein Künstler/eine Künstlerin so was macht. Ich glaube kaum, dass es viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die ganz gezielt ihr Leben für Geld an das Lesepublikum verkaufen. Vielleicht ist es bei einigen eher ein Bedürfnis, das eigene Leben in die Welt hinauszuschreien, hinauszuweinen, auszukotzen, mitzuteilen? Man kann dieses Bedürfnis aber auch diskret verschlüsselt und eingepackt in Figuren, Metaphern oder Allegorien ausleben, derart, dass nur der Künstler/die Künstlerin weiss, dass es sich um sein/ihr Leben handelt. Somit wird auch der finanzielle Profit eines Verkaufs fern vom Bewusstsein gehalten.

Naviglio Grande, Milano @ Evelina Jecker Lambreva

In den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Lebens ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seinem Schreiben die Wirklichkeit eines fremden Menschen trifft, nicht so verschwindend wie man glaubt. Du als Schriftstellerin hoffst doch auch, dass Leserinnen und Leser sich in Deinen Geschichten gespiegelt sehen oder sogar wiedererkennen. Ist das nicht genau die Resonanz, die man als Schreibende erhofft?
Schriftsteller/Schriftstellerin sein, ist ein einsames Schicksal, so denke ich. Wenn ich schreibe, denke ich nie an die potentiellen Leserinnen und Leser, nicht an Rezensentinnen und Rezensenten, nicht an die Medien. Ich bin allein in der Auseinandesetzung mit meinen Gedanken, Stimmungen, Atmosphären, Heldinnen und Helden. Die Lesenden müssen sich nicht unbedingt in meinen Geschichten wiedererkennen oder sich darin gespiegelt sehen. Von mir aus können meine Figuren auch befremdend, schrecklich, sogar abstossend auf das Lesepublikum wirken. Das würde mich gar nicht stören, wenn es so wäre. Viel wichtiger ist es mir, dass ich durch meine Figuren die Leserschaft zu neuen Gedankenanstössen anregen kann. So hoffe ich auf eine Resonanz zu den Lebensthemen, die ich in meinen Werken durch meine Heldinnen und Helden behandle. Dies aber erst, wenn das Buch veröffentlicht ist, nicht während des Schreibens.

Beide Protagonisten kommen aus Familien, die ihnen nicht geben konnten, was man jedem Kind wünscht. Beide tragen einen Alp mit sich herum. Ich bin Sohn und Vater und weiss sehr genau, wie tief die Schluchten sein können, an denen man sich als Mutter oder Vater vorbeihangelt. Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von den Auswirkungen dieser Untiefen. Und auf der anderen Seite die Literatur; Bücher, die sich in den Untiefen tummeln, Bücher, die bewusst machen. Du schreibst Deine Bücher ja auch nicht zur blossen Unterhaltung und Zerstreuung. Wo liegt das Urmotiv dieses Romans? Wie kamst Du zu dieser Idee?
Beziehungen zwischen Eltern und Kinder haben einen zentralen Platz in all meinen Werken. Vielleicht hängt das mit meinem Beruf als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin zusammen, denn bei mir gehen Medizin und Literatur Hand in Hand. Das Urmotiv meines Romans kam von einem Mord, den ich als Falldarstellung an einem Studentenunterricht präsentiert habe. Während ich den Studentinnen und Studenten den Fall schilderte, lief plötzlich im Hintergrund der ganze Romanplot in meinem Kopf ab, wie in einem Film. Mehr dazu möchte ich nicht sagen, da ich nicht in eine Situation der Arztgeheimnisverletzung geraten möchte.

Das Städtchen mit dem Namen einer Heiligen in Ligurien @ Evelina Jecker Lambreva

In Deinem Roman geht es viel um Macht. Paolo Privoli kompensiert die Machtlosigkeit, die ihn als Kind ins Abseits drängte mit der Sehnsucht, Macht auszuüben. Macht ist ein grosser Antrieb, der in Politik und Wirtschaft aber allzuoft, hauptsächlich von Männern, zu Katastrophen führt. Geniessen die Schriftstellerin die „Macht“ über ihre Leserschaft?
Ich habe nicht das Bewusstsein, Macht in irgendeiner Form auf die Leserschaft auszuüben. Wenn ich über Macht schreibe, dann ist das, weil mich Macht interessiert, insofern sie fast immer als unbewusster Kompensationsversuch von in der Kindheit erlebter Ohnmacht auftritt. Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. Ihr literarisches Schaffen in deutscher Sprache begründete sie mit dem Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie den Erzählbänden «Unerwartet» und «Bulgarischer Reigen». Bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) «Nicht mehr» (2016) «Entscheidung» (2019) und «Im Namen des Kindes» (2022)

Beitragsbild © Alexander Jecker

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller

Dass sich Kinderwunsch und Kindeswohl mehr als nur streiten können, wie zerstörerisch Kräfte freigesetzt werden und alles auf eine nicht abwendbare Katastrophe hinausläuft, davon erzählt Evelina Jecker Lambrevas aktueller Roman „Im Namen des Kindes“.

Die Welt tut, als wäre die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind gottgegeben. Ebenso heuchlerisch ist die Selbstverständlichkeit, Kinder müssten ihre Eltern lieben. Dass das Familiengeflecht filigran ist, wie sehr Fallgruben, Untiefen und ein labyrinthischer Unterbau jene kleinste Zelle der Gesellschaft zu einem immerwährenden Mysterium werden lassen, lehrt uns nicht nur die Psychologie. Die griechische Sagenwelt ist voller innerfamiliärer Grausamkeiten. Der Begriff Familie suggeriert Geborgenheit, Liebe, Heimat. Die Liste der Begriffe, die sich mit Familie kombinieren lassen, ist ebenso lange wie die Möglichkeiten des Entgleisens, die sich hinter wohlgehüteten Fassaden ereignen können.

Evelina Jecker Lambreva erzählt in ihrem Roman „Im Namen des Kindes“ von einer solchen Katastrophe, einer sich durch ein ganzes Leben hinziehende, nicht enden wollende Katastrophe. Davon, dass Kinderwunsch und Familienträume nicht unweigerlich in jenes Idyll resultieren, dass an sonnigen Sonntagen allerorten präsentiert wird. Davon, dass aus trautem Familienideal auch ein Gefängnis werden kann, Einzelhaft ohne Fluchtmöglichkeit, ein Martyrium ohne Ende.

Evelina Jecker Lambreva „Im Namen des Kindes“, Braumüller, 2022, 280 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-99200-327-3

Eine junge Frau verschwindet. Polizei und Therapeutinnen sind sich nicht sicher, ob die Frau nur untergetaucht ist oder sich gar etwas angetan hat. Maya, ehemalige Sozialarbeiterin und Mitarbeiterin einer Opferberatungsstelle kennt die junge Frau, sass ihr mehrmals gegenüber, gewann das Vertrauen der jungen Frau, die zwar nicht von Angesicht zu Angesicht aus den Tiefen ihres Lebens berichtete, aber in langen Briefen. Von einer narzistischen Mutter, der sie schon als kleines Kind nichts recht machen konnte, von immerwährenden Streitereien zwischen Mutter und Vater, von Gewalt und schrecklichen Drohungen, von Ängsten und Verunsicherungen. Vom Tod ihres Vaters und der absoluten und absurden Konzentration einer Mutter auf ihr einziges Kind. Einer tiefen Hassliebe beider und der Unmöglichkeit, selbst mit der Volljährigkeit der Tochter durch Distanz einen Riegel vorzuschieben.

Rebecca haut ab, taucht unter, besucht die einzige Frau, von der sie als Kind jene Liebe bekam, die man hätte Mutterliebe nennen können – Herminija. Sie nimmt den Zug über Mannheim bis nach Amsterdam.
In der gleichen Zeit geistern zwei Schreckensmeldungen durch die mediale Tagesaktualität: Zwei Ärzte sterben unerklärlich, der eine unter einem Zug, der andere durch Messerstiche.

Was der Polizei erst nach und nach klar wird, wird auch mir als Leser erst langsam klar, auch wenn man sich beim erneuten Lesen des Buches die Augen reibt, weil man sich bei der Lektüre nie von der schlimmst möglichen Variante leiten lässt.

„Im Namen des Kindes“ hätte ein Krimi werden können, ist er aber nicht. Evelina Jecker Lambreva schrieb als noch immer praktizierende Psychiaterin und Psychotherapeutin auch keine literarisches Fallbeispiel einer problematischen Tochter-Mutter-Beziehung und ihrer katastrophalen Auswirkungen. „Im Namen des Kindes“ ist Auseinandersetzung! Nicht jedes Leben ist automatisch ein Geschenk. Die Medizin kümmert sich mit künstlicher Befruchtung um potenzielles Mutter- und Familienglück. Ob jenes vermeintliche Glück automatisch das Glück jenes Kindes ist – davon erzählt dieser Roman. Davon, wie chancenlos jeder Ausbruchsversuch aus einem krankhaft besitzergreifenden Muttergriff sein kann. Wie bodenlos jenes Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Evelina Jecker Lambreva schildert das Leiden von der ersten Seite weg. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass es nur die Flucht nach innen geben kann. Eine Flucht, für die Rebecca einen hohen Preis bezahlen muss, eine Flucht, bei der es keine Rettung geben kann. „Im Namen des Kindes“ ist deshalb nichts für zart Besaitete, weil man den Roman nicht als Krimi gut unterhalten weglegen kann. „Im Namen des Kindes“ ist viel mehr.

Interview

Gegenwärtig setzen wir uns in allerlei Diskursen heftig mit Rollenbildern auseinander. Auch in der Familie gibt es Rollenbilder, die sich über Jahrhunderte in unserem Bewusstsein oder auch Unterbewusstsein eingraviert haben. Die fürsorgliche, liebende Mutter, das folgsame, dankbare Kind. Wäre dieses Rollenbild nicht beinahe genetisch verankert, würden doch nicht Heerscharen von jungen Menschen noch immer ins Abenteuer Familie starten!
Inzwischen verändert sich das Rollenverständnis der Frau bei den Frauen selbst und in der Gesellschaft zunehmend. Ich beobachte diesen Prozess der Veränderung seit 15-20 Jahren. Heute gibt es immer mehr Frauen, die offen dazu stehen, dass sie keinen oder nur einen schwach ausgebildeten Kinderwunsch haben, und zwar derart, dass sie sich ein Leben auch ohne Mutter zu sein vorstellen können. Sie verbinden ihr Frau-Sein nicht mehr zwangsläufig mit einem Mutter-Sein. Es gibt auch viele junge Paare, die sich aus verschiedenen Gründen freiwillig gegen einen Kinderwunsch entscheiden. Zwar ist der gesellschaftliche Druck der Rollenerwartungen auf Frauen noch immer hoch, in entsprechend traditionellen Rollenbildern zu leben, aber immer mehr junge Frauen entziehen sich diesem Druck. Wenn sich zwei Menschen heute entscheiden, eine Familie zu gründen, machen sie es immer häufiger aus Überzeugung, und nicht um familiäre und/oder gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen.

Ein Dürrenmatt-Zitat im Vorsatz zu Deinem Roman heisst „Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat.“ Dürrenmatts Kriminalromane beschreiben genau dies, eben genau im Gegensatz zu all den Tatortfolgen, die einem eine stets sauber aufgeräumte Geschichte präsentieren. Rebecca, die junge Frau in deinem Roman, übt Selbstjustiz. Gerechtigkeit ist keine Norm. Ist Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches?
Gerechtigkeit ist zwar keine Norm, aber sie hat Bezug zu moralischen und ethischen Verhaltensnormen. Das Problem, das ich sehe, ist, dass in der narzisstischen Wunscherfüllungs-Gesellschaft der Postmoderne die Individualnorm, das heisst die Norm des Einzelnen (oder die Norm von kleinen Gruppen) zunehmend das Verhalten in der Gesellschaft prägt und immer mehr Platz einnimmt. Ich befürchte, dass inzwischen je länger je mehr die Vielfalt individueller Normen und individueller Wertmassstäbe, die Vielfalt der Auffassungen von Gerechtigkeit bestimmt. Somit öffnet sich natürlich auch die Tür für mehr Selbstjustiz. Ob in diesem Sinn Gerechtigkeit die Befriedigung eines Wunsches ist, bleibt für mich völlig offen.

In einer kurzen Korrespondenz hast Du verraten, dass Du Dich sechs Jahre mit diesem Buch auseinandergesetzt hast, dass es unsäglich viele Fassungen davon geben musste, bis Du die finale gefunden hast. Was hat Dich bewogen, nicht einfach den Bettel hinzuschmeissen?
Im Verlauf der jahrelangen Arbeit am Text habe ich Rebecca und Maya viel zu sehr liebgewonnen, um sie aufgeben zu wollen. Im Schreibprozess habe ich die beiden immer besser kennengelernt und immer mehr in sie hineingehorcht. Rebecca und Maya wollten unbedingt, dass ihre Geschichten vor einer Leserschaft in Erscheinung treten. So war das.

Rebecca ist in einem Gefängnis eingesperrt, aus dem kein Weg führt, schon gar nicht jener über die Justiz. Kliniken, Spitäler, Praxen sind voller Menschen, die sich nur schwer oder gar nicht befreien können. Sind PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen GefangenenwärterInnen?
Das ist doch das Ziel einer jeden Psychotherapie: dass es dem betroffenen Menschen mit therapeutischer Hilfe gelingt, sich innerlich und äusserlich weitgehend zu befreien – von den Dämonen der Vergangenheit, von der inneren Gefangenschaft in sich selbst, von selbstdestruktiven Gedanken und Handlungen, von verinnerlichten Elternbildern, die einem im Weg stehen, die man aber trotzdem nicht gehen lassen kann, von Ängsten, die das Individuum daran hindern, sich weiter zu entwickeln und als gleichwertiger Mensch, zusammen mit den anderen Menschen im Leben fortzuschreiten. In diesem Sinn hat die hilfeleistende Aufgabe von PsychiaterInnen und PsychotherapeutInnen nichts mit GefangenenwärterInnen zu tun. Selbst dann, wenn eine Fürsorgerische Unterbringung nötig wird, wird diese zum Schutz des Patienten vor sich selbst oder zum Schutz von Drittpersonen ausgeführt. Und diese Unterbringung dauert nur so lange, bis keine Gefahr für das eigene Leben des Betroffenen oder für das Leben anderer mehr droht. Aber auch in solchen extremen Situationen ist der leidende Mensch nicht einer psychiatrischen Institution hilflos ausgeliefert. Er kann sich auf rechtlichem Weg gegen die Fürsorgerische Unterbringung wehren.

Rebeccas Mutter ist eine Narzisstin. So wie sie die Familie terrorisiert, terrorisieren auch all die Narzissten auf der grossen Bühne der Weltpolitik das Gros all jener, die ihnen ausgeliefert sind, die sich nicht wehren können. Warum ist Rebecca ihrer Mutter gegenüber wie gelähmt? Warum schaffen es Narzissten, durch Propaganda ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten?
Oft kann die bewusste oder unbewusste Ambivalenz, die wir unseren Eltern gegenüber empfinden, sehr lähmend sein. Je stärker diese Ambivalenz ist, desto lähmender wirkt sie sich auf die Beziehung zu den Eltern aus, insbesondere auf die Beziehung zu diesem Elternteil, von dem man für sein unmittelbares Überleben abhängig ist. So ist es auch bei Rebecca, die ihre Mutter nicht nur hasst, sondern auch liebt. Dazu kommt, dass NarzisstInnen oft sehr charmant sind, eine starke Anziehungskraft besitzen, und ihren Charme geschickt und manipulativ zu ihren Vorteilen zu nützen wissen.

Auf der grossen Bühne der Weltpolitik schaffen es grandiose Narzissten nicht nur durch Propaganda, «ganze Völker stramm brav und willenlos zu schalten». Das Zusammenspiel zwischen einem narzisstischen Landesführer und dem Volk, das er regiert, ist viel komplexer. Landesführer mit grandiosem Narzissmus sind oft eine hervorragende Projektionsfläche für kindliche Wünsche nach Schutz, Sicherheit, Versorgung und Ordnung. Solche regressiven Wünsche flackern bei Erwachsenen wieder auf, wenn diese mit einer hochkomplexen, verwirrenden und widersprüchlichen Realität überfordert sind. Man sehnt sich dann nach strengen, konsequenten Elternfiguren, die wissen, wo es lang geht und die einen durchs Leben führen können. Natürlich ist man ihnen gegenüber auch ambivalent, vor allem, wenn sie grausam, sadistisch und erbarmungslos sind, aber man verzeiht ihnen alles, denn auch die schlimmsten Eltern sind besser als gar keine, wenn es ums Überleben geht. Gewalttätige Machthaber können genauso geliebt und gehasst sein wie gewalttätige Eltern auch. Dieses Muster ist häufig bei Völkern zu treffen, die Jahrhunderte lang in Unfreiheit, Unterdrückung, Angst und masochistischer Unterwerfung gelebt haben. In solchen meistens vom Patriarchat total vereinnahmten Gesellschaften werden unter diesen Umständen grandios narzisstische Landesführer zu einer Art projektiven elterlichen (vor allem väterlichen) Autoritätsfiguren, die sowohl protektiv als auch repressiv, gleichzeitig haltbietend und sanktionierend agieren. Denen unterwerfen sich dann gehorsam ganze Völker, indem die Menschen zu den narzisstischen Machthabern mit der gleichen lähmenden Ambivalenz aufschauen, die sie aus ihrer Kindheit kennen.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014), «Nicht mehr» (2016) und «Entscheidung» (2020).

Lyrik von Evelina Jecker Lambreva aus ihrem Band «Niemandes Spiegel, Chora Verlag 2015

Beitragsbild © privat

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Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

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