Lea Frei, «Schnellporträts» von den Solothurner Literaturtagen

Es sind Skizzen, schnelle Zeichnungen, die die junge Illustratorin Lea Frei an verschiedenen Literaturevents des laufenden Jahres von aktuellen Autorinnen und Autoren festhielt. Eine Auswahl davon wird erstmals an der 1. Amriswiler Kulturnacht vom 22. September im Buchladen Brigitta Häderli gezeigt.

Zeichnungen wollen nicht dokumentieren. Im Unterschied zu einer Fotografie halten sie keinen Moment fest. Sie sind das Resultat einer Zeitspanne des Beobachtens. Eine Zeichnung bildet durchaus ab, aber viel mehr als eine Fotografie. Sie reduziert ebenso, wie sie die Betrachtungsweise des Zeichnenden, der Zeichnenden wiedergibt. Zeichnungen sind festgehaltene Begegnungen. Wer sich schon einmal in der Position des Porträtierten befand weiss, wie nahe einem die Zeichnerin kommt, nur schon weil sie schaut, wie sonst niemand schaut.

Besuchen Sie die 1. Amriswiler Kulturnacht am 22. September – und schauen Sie im Buchladen Häderli vorbei, an der Freiestrasse 3! Ein Besuch lohnt sich in vielerlei Hinsicht! (Die Zeichnungen sind käuflich!)

 

Solothurner Literaturtage mit Lea Frei, Illustratorin

Drei Tage zusammen mit Lea Frei an den 40. Solothurner Literaturtagen. Lea Frei studiert „Illustration“ an der Hochschule für Gestaltung in Luzern. Was dereinst als gemeinsames Projekt einmal eine Ausstellung werden soll, hier ein paar Kostproben.

Auf dem Bild unten David Signer und Anja Kampmann bei einer anregenden Diskussion zum Thema „Die Stimme der Verlierer“. Mit den beiden „Gezeichneten“ sassen jene zusammen, die auf dem Titelfoto zu sehen sind.

Wer neugierig auf mehr geworden ist – besuchen Sie literaturblatt.ch erneut!

„Ein Maximum an Bedeutung, aber ein Minimum an Form“

Zwei Höhepunkte an den 40. Literaturtagen in Solothurn waren aus meiner Sicht die 81jährige Anna Felder, die den Schweizer Grand Prix Literatur 2018 erhielt und die noch ganz junge Judith Keller, die mit ihrer ersten Geschichtensammlung «Die Fragwürdigen» längst nicht nur mein Herz rührt und meine Seele erquickt.

Anna Felder, die Tessinerin, die in Aarau lebt, hat nicht nur immer noch ein helles, offenes Gesicht. Sie besitzt ein helles, offenes Bewusstsein, ist eine stille und äusserst feinfühlige Beobachterin, die die Kostbarkeiten des Moments in literarische Bilder zu fassen vermag. Kleinsttragödien, die immer ein Spiegel von Grossem sind, Schöpferin von Texten, die allein durch den Klang der Assoziation eine Richtung geben können. Geschichten, die in Fragmenten aus der Stille steigen, die durchaus das Potenzial zu vielen hundert Seiten hätten. Anna Felder spürt der Kraft der Möglichkeiten nach, spielt mit der Imagination, nimmt sich dem Kleinen, Zarten an.
Wichtiger als Handlung ist ihr die Situation, alles, was aus der Vergangenheit in den einen Moment hineinwirkt. Ihre Geschichten im schmalen Band „Circolare“ sind Momentaufnahmen, langsam gewachsen, auch im Schreiben. Sie schreibt zuhause zu Beginn stets von Hand mit dem Blick in den Garten des Nachbarn. Ihr Papierkorb steht neben dem Stuhl, nicht nur um Sätze wegzuwerfen, sondern auch um nach ihnen zu suchen, wenn das Weggeworfene doch das Richtige war. Worte sind Schlüssel zu unendlich vielen Geschichten, einer Fülle an Leben. Momente, die mit Leben aufgeladen sind. Sie schreibt Geschichten, um Fragen ihres Lebens zu beantworten, im Wissen darum, dass stets neue Fragen entstehen, Fragen nie wirklich beantwortet sind.
Und ganz besonders erwähnenswert ist, dass die Geschichten in „Circolare“ äusserst sorgfältig übersetzt sind, nicht von ihrem Klang, ihrer Melodie einbüssen durch die Übersetzungen von Ruth Gantert, Maja Pflug, Barbara Sauser und Clà Riatsch. So sehr sich Anna Felder für die Kehrseiten der Menschen interessiert, so sehr bemüht sich Anna Felder um die Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks. Grosse Literatur einer ganz bescheidenen, aber grossen Dichterin.

In der Kürze und Prägnanz mit einander verwandt und doch weit weg von Anna Felder sind die Geschichten der jungen Judith Keller. Einer Frau, die auf der Bühne ihre Geschichten aus einem rot gefütterten Hut fischt, zieht die aus einem Zauberhut, wägt ab, „wirft“ sie den Zuschauern zu, tief in den dunkeln Raum, einzelne Sätze wie Aufforderungen an das Publikum. Geschichten, die ins Lachen branden, ein Lachen, das bleibt, noch lange nachhallt. Judith Keller scheint in einem unendlichen Reservoir an Geschichten wühlen zu können. Ganz im Gegensatz zu Anna Felder sind es aber nicht unbedingt Beobachtungen an den Menschen, sondern an der Sprache, an Redewendungen, die ihr entgegenspringen, zum Beispiel bei der Lektüre der Zeitung, abstrakte Bezeichnungen, unbeabsichtigte Metaphern, schräge Momente in absoluter Normalität. Geschichten, die feststellen und im Moment ihrer Feststellung kippen. Judith Keller nimmt den Blick von aussen, auch jenen von Tieren, sei es auch nur eine Taube. Der Humor ihres Erzählers liegt nicht in der Pointe, sondern im Grad der Wiedererkennung des Lesers, der Zuhörerin.
Judith Keller ist eine Zauberin. Sie zaubert Geschichten her, so leicht, als wäre es keine Anstrengung, sie zu schreiben, ihnen nachzugehen, als wären sie immer zufällig da, bei ihr, wo sich die Geschichten materialisieren. Die Geschichten passieren sie. Sie, die im schwarzen Kleid mit weissen Tupfen, den roten, samtigen Schuhen und den roten mit einem schwarzen Band über dem Kopf zusammengebundenen Haaren auf der Bühne zaubert. Judith Keller, eine Gschichtenmagierin – bezaubernd!

Die Solothurner Literaturtage waren auch in ihrer 40. Ausgabe ein strahlendes Ereignis. Organisiert von Beseelten, die es schafften, jenen Geist des Aufbruchs in die Gegenwart hinüberzuführen. Die Solothurner Literaturtage sind weit mehr als eine Leistungsschau. Für drei Tage wird die kleine Stadt an der Aare zu einer grossen Stadt der lebendigen Literatur.

«Ich bin masslos enttäuscht» – eine Einschätzung

Bei der Lesung der Grande Dame der Holländischen Literatur Margret de Moor sassen eine Mutter mit ihrer Tochter in der Reihe vor mir, beide mit Brillen im Haar, die Junge mit schulterfreier, weisser Bluse. «Ich bin masslos enttäuscht. Ich habe geschrieben und angerufen. Aber alle hatten sie eine Ausrede. Ich bin enttäuscht von meiner Generation.»

Ich konnte mich ihrer lautstarken Entrüstung nicht entziehen. Die Lesung würde gleich beginnen. Sie, die junge Frau vor mir, wetterte weiter in Richtung ihrer Mutter. «Hast du gesehen, wer hier ist und wer hier fehlt? Meine Generation. Jene, die dauernd hausieren, was sie alles gelesen haben. Ich bin enttäuscht.» Nicht viel hätte gefehlt, und ich hätte mich eingemischt, hätte der Enttäuschung der jungen Frau beigepflichtet. Nicht um sie zu beschwichtigen, sondern um Öl ins Feuer zu giessen.

Die junge Frau hat recht. Auch wenn die Organisatorinnen und Organisatoren der 40. Solothurner Literaturtage nicht einmal in den Windeln waren, als das Festival vor 40 Jahren ins Leben gerufen wurde, sind die Besucher und Besucherinnen durchschnittlich deutlich im Rentenalter; durchaus frisch und jung geblieben, beweglich und offen. Aber ganz offensichtlich die aussterbende Generation derer, die sich von der Literatur aus der Komfortzone locken lassen. Keine Generation las so viel wie die junge heute. Aber es scheint nicht zu reichen für die Geheimnisse der Literatur.

Dabei sind sie da, die Stimmen, die Aktualität mit Literatur verbinden. Auch in den frischen Stimmen der Schweizer Literatur. Zwei Beispiele:

Alice Grünfelder, einst Buchhändlerin, dann Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin und China, arbeitete lange beim Unionsverlag Zürich als Herausgebende der «Türkischen Bibliothek». Ihre Leidenschaft ist Asien. Eine Leidenschaft, die sie einen ersten Roman schreiben liess – «Die Wüstengängerin».
Anfang der 90er Jahre reist die Studentin Roxana  entlang der Seidenstrasse, um unbekannte buddhistische Höhlenmalereien zu erforschen als Beweis dafür, dass die Region dort nicht «immer» islamisch war. Zwanzig Jahr später reist Linda wegen eines Entwicklungsprojekts ebenfalls nach Xinjiang und stösst dabei auf die Spuren Roxanas.
So sehr das Schicksal der Uiguren aus dem Bewusstsein des Westens gefallen ist, so leidenschaftlich verpackt die Autorin die letzten zwanzig Jahre Geschichte eines Volkes, das vergessen von der Weltöffentlichkeit um seine Rechte kämpft. Das Gebiet der Uiguren war über Jahrhunderte immer wieder Durchgangsland, sowohl wirtschaftlich wie militärisch. Die chinesischen Repressalien heute und in den vergangenen Jahrzehnten sind strategisch. Die Gegend muss «ruhig» bleiben, um all die geopolitischen Absichten Chinas durchzusetzen.
Alice Grünfelders Auftritt im schmucken Stadttheater Solothurns hat Eindruck gemacht. Nicht nur weil das orange Vorsatzpapier ihres Romans, das textile Buchzeichen, ihr pelziger Fingerring und die orange Hose mit chinesisch anmutenden Stickereien Ton in Ton zueinander passten. Eine Wüstengängerin erzählt von «der Wüstengängerin», eine leidenschaftliche Frau von einer leidenschaftlichen Frau. Ein Roman, der eine politische Dimension beinhaltet, ohne zu belehren, der nicht nur dokumentieren will, ebenso unterhalten. Ein Roman, der fasziniert und mehrfach erstaunt.

Auch bei der 1979 geborenen Regula Portillo ist das Stadttheater proppenvoll. Ob Heimspiel, weil sie im Kanton Solothurn aufwuchs oder angelockt vom Mut einer jungen Frau, die ein Stück Geschichte Lateinamerikas aus der Sicht von Schweizern erzählt, bleibe dahingestellt.
Eine Parallelerzählung von Eltern und Töchtern, von einem zehnmonatigen Aufenthalt eines Ehepaars in Nicaragua während der Revolution, den Kämpfen zwischen Sandinisten und von den USA unterstützten Contras. Und den Töchtern, die nach dem Tod der Eltern das Haus räumen und erst da entdecken, dass die Eltern in ihrer verschwiegenen Vergangenheit ganz andere Leben führten. Sie entdecken die Hinterlassenschaft zweier Brigadisten aus der Schweiz, eines Paars, das in einer ganz anderen Welt an den Umständen von Revolution und Zerrissenheit zu zerbrechen drohte.
Viva Nicaragua! Viva la Revolución! Eine Mission voller Enthusiasmus, die an der Wirklichkeit zu scheitern drohte. Eine zehnmonatige Reise der Eltern in den 90ern in ein Land, in dem Umsturz, Revolution und neue Ideen das erreichen sollten, was in vieler Hinsicht nicht einmal im Heimatland zu erreichen war.
«Warum verschwand Jahrzehnte später das, was zuvor eine ganze Generation beschäftigte?», war eine der Motivationen der jungen Autorin Regula Portillo. 800 Schweizerinnen und Schweizer zogen damals nach Nicaragua, in der Absicht, sich an historischen Prozessen zu beteiligen. Eine Revolution, die in Lateinamerika stattfand, aber in den Herzen eingeschlossen in viele Länder zurückgetragen wurde, eingehüllt von Enttäuschung und Kränkung.
Nicht einfach ein Roman über die Revolution in Nicaragua! Wie weit dürfen wir uns in die Geschicke eines «fremden» Landes einmischen? Was nehmen Eltern mit dem Sterben mit ins Grab? Wo bleiben all die Geschichten, die unwiderruflich dem Vergessen drohen? Auch ein Roman über die Rolle der Frau, über ein Paar, das sich aussetzt, das Scheitern, über den Tod.

Ich bin nicht enttäuscht. Aber im Grunde genauso ratlos wie die junge Frau im Landhaussaal in der Reihe vor mir. Während Solothurn unter der Vorsommersonne voll mit jungen Menschen ist, die am Ufer der Aare ihre Seele baumeln lassen, bleiben die «Alten» unter sich. Und wenn die Solothurner Literaturtage dereinst auch das Pensionsalter erreichen sollten, bleibt die Frage existenziell, wie die jungen Generationen von Literatur erfolgreich infiziert werden sollen.

Titelbild: Alice Grünfelder und Moderatorin Bernadette Conrad

Mara Meier „Die roten Sandalen“

Licht schimmert unter der Tür durch. Die Stimmen dahinter sind so leise, dass Nina nicht verstehen kann, was geredet wird. Die Grossmutter spricht mit Tante Lisa. Die meinen, ich schlafe und geben sich Mühe, mich nicht zu wecken, sagt sich Nina.

Am nächsten Morgen kommt Tante Lisa ins Zimmer und zieht Nina die Bettdecke weg. Auf, du kleiner Faulpelz! ruft sie. Die Sonne scheint, komm, wir gehen in den Zoo!

Nina zieht das rote Kleid an, das die Mutter für sie genäht hat. Es ist ihr zu kurz, aber Tante Lisa sagt, es stehe ihr gut. Das Kleid war in dem Koffer, den die Tante für sie gepackt hatte, und mit dem sie einen Tag vor den Herbstferien auf einmal vor der Tür zu Ninas Schulzimmer stand. Sie sind dann mit dem Zug zur Grossmutter gefahren, Nina und Tante Lisa, eine Überraschung, hat die Tante gesagt. Darum hatte sie Ninas Koffer schon gepackt, mit dem roten Kleid darin. Aber die Sandalen hatte sie vergessen. Am nächsten Tag hat sie ihr welche gekauft, glänzend rote, damit sie zum Kleid passen, das die Mutter genäht hat.

Komm schon, ruft Tante Lisa und zieht Nina vom Küchentisch weg, bevor sie ihre Milch ausgetrunken hat. Tante Lisa rennt mit Nina zum Bus. Im Zoo kauft die Tante für Nina einen roten Plüschfrosch, und auf dem Heimweg einen roten Luftballon für Nina. Rot ist Ninas Lieblingsfarbe.

Die Mutter mag Rot auch sehr gern. Doch Blau gefällt ihr noch besser, das weiss Nina. Die Mutter schreibt immer mit blauer Tinte. Königsblau, sagt sie dazu. Nina denkt, dass vielleicht eine Postkarte von der Mutter im Briefkasten liegt, wenn sie vom Zoo nach Hause kommt. Mit dem Meer drauf, oder mit Bergen. Doch sie mag die Grossmutter nicht danach fragen. Die Grossmutter sieht nicht aus, als könnte man sie irgend etwas fragen. Und Tante Lisa ist schon weg.

Einmal war Nina mit Tante Lisa im Park. Sie haben die Enten im Teich mit trockenem Brot gefüttert, und Nina hat gesagt, dass sie mit der Mutter immer die Schwäne am Fluss füttern gehe. Und dann hat sie die Tante gefragt, wo die Mutter sei, wann sie wiederkomme. Tante Lisa hat ihr erklärt, dass die Mutter in die Ferien gefahren sei, das könne Nina doch sicher begreifen, sie sei ja schon ein grosses Mädchen. Eine Mutter brauche auch einmal Erholung.

Nina hat genickt und gedacht, dass Mutter in letzter Zeit immer müde war und gar nicht mehr fröhlich. Nicht wie im Frühling, als sie das rote Kleid für sie genäht und dazu gesungen hat.

Aber warum hatte die Mutter keine Zeit mehr, ihr zu sagen, dass sie fortgeht, keine Zeit, ihr noch einen Kuss zu geben? Sie hat sich nicht getraut, die Tante zu fragen. Vielleicht ist Mutters Zug ganz plötzlich gefahren, oder sie musste schnell zum Flughafen, um den Flieger nicht zu verpassen.

Die Grossmutter hat Fischstäbchen mit Salzkartoffeln und Spinat gekocht. Sie schaut zu, wie Nina isst. Nina zerdrückt die Kartoffeln mit der Gabel zu Brei. Den Spinat isst sie ganz schnell, damit die Grossmutter mit ihr zufrieden ist. Dann muss Nina in den Hinterhof, mit den anderen Kindern spielen. Nina kennt die Kinder nicht, und die spielen nicht mit ihr. Nina geht um den Hof herum und zählt ihre Schritte. Als sie bei dreihundert zweiundfünfzig ist, stellt ihr der grosse, dicke Junge ein Bein, und Nina fällt hin und schürft sich das linke Knie auf.

Die Grossmutter legt ganz schnell das Telefon auf, als Nina in die Wohnung kommt. Sie führt Nina ins Badezimmer. Nina muss sich auf dem Badewannenrand setzen, während die Grossmutter eine rote Schachtel mit Erste-Hilfe-Sachen aus dem Schrank nimmt. Die Grossmutter reibt mit einem Wattebausch eine braune Flüssigkeit auf Ninas Knie. Nina beisst die Zähne zusammen. Dann kommt ein Heftpflaster auf die Schürfung. Die Grossmutter räumt die rote Schachtel in den Schrank.

Als Tante Lisa zurückkommt, schaut sie die Grossmutter fragend an. Die schüttelt ein klein wenig den Kopf. Wahrscheinlich meinen sie, dass ich das nicht sehe, denkt Nina. Sie glauben, dass ich nicht höre, dass sie abends leise miteinander reden. Sie wissen nicht, dass ich das Licht sehe, welches nachts unter der Tür durchschimmert.

Beim Frühstück sagt die Grossmutter, dass Ninas Schulferien bald um sind. Nina denkt darüber nach, ob die Mutter dann endlich zurück ist, wenn sie wieder zur Schule muss, aber sie traut sich nicht, die Grossmutter zu fragen. Die Grossmutter sieht nicht aus, als ob man sie irgend etwas fragen könnte.

Die Grossmutter schickt Nina schon am Morgen in den Hof zum Spielen. Der grosse, dicke Junge ist nicht da. Nina geht rings um den Hof herum und zählt ihre Schritte, immer wieder ringsherum. Wenn sie bis siebenhundert siebenundsiebzig kommt mit Zählen, wird die Mutter heute anrufen. Oder es wird eine Postkarte von ihr im Briefkasten liegen, mit königsblauer Tinte geschrieben, mit dem Meer drauf, oder mit Bergen.

Das aufgeschürfte Knie mit dem dicken Pflaster stört Nina beim Gehen, und so ist sie erst bei vierhundert siebenundzwanzig, als die Grossmutter zum Mittagessen ruft. Es gibt Spiralnudeln mit Hackfleisch und Apfelmus dazu. Die Grossmutter sagt, dass Ninas Mutter das besonders gerne gegessen habe, als sie ein kleines Mädchen war. Dann muss sie plötzlich ins Bad und kommt lange nicht wieder. Nina hört Wasser rauschen. Sie schmuggelt das Hackfleisch von ihrem Teller zurück in die Auflaufform, die noch auf dem Tisch steht. Die Grossmutter sagt nichts, als sie zurückkommt.

Unterdessen hat sich der Himmel verdunkelt; es hat zu regnen begonnen. Im fahlen Licht wirkt das Esszimmer grau. Die Grossmutter sieht müde aus. Sie will einen Mittagsschlaf halten. Nina soll in ihrem Zimmer lesen oder auch ein wenig schlafen.

Nina legt sich aufs Bett. Der Regen trommelt gegen das Fenster. Der rote Ballon, den die Tante nach dem Besuch im Zoo für Nina gekauft hat, hat schon fast alle Luft verloren. Schlapp hängt er neben dem roten Kleid an der Kastentür. Die Sandalen stehen am Boden, der rote Lack ist zerkratzt. Kein Wunder bei all den Runden, die Nina mit diesen Sandalen schon gedreht hat, immer um den Hof herum, laut ihre Schritte zählend.

Nina schläft ein. Als sie erwacht, ist es Abend geworden. Ein wenig Licht schimmert unter der Tür durch. Die Stimmen dahinter sind so leise, dass Nina nicht verstehen kann, was geredet wird. Sie setzt sich auf, zieht die roten Sandalen an und geht zur Tür. Sie macht die Tür auf. Die Erwachsenen verstummen. Was ist los, sagt Nina. Ich will endlich wissen, was los ist.

Mara Meier, 1959 in Zürich geboren, Kindheit und Jugend in der Ostschweiz, wanderte als junge Frau nach Chile aus und arbeitete dort zehn Jahre als Botanikerin und in Kulturprojekten der indigenen Mapuche. Der Name ihres Blogs «kintun» stammt aus der Sprache der Mapuche und bedeutet «(an)sehen / suchen». Seit ihrer Rückkehr in die Schweiz ist sie beruflich in Bibliotheken tätig, beschäftigt sich dabei hauptsächlich mit Alten Drucken (15.-18. Jh.). Mara Meier zeichnet Pflanzen und Landschaften, gestaltet Figuren, schreibt Sachtexte, Glossen und Kurzgeschichten. 2018 Gewinnerin des OpenNet Schreibwettbewerb der Solothurner Literaturtage.

Judith Keller „Die Fragwürdigen“, Der gesunde Menschenversand

In ihrer ersten Buchveröffentlichung zeigt die junge Schweizerin ein ganz besonderes Geschick, die Perspektive des Sehens zu verändern. Wenn man den Geschichten der jungen Judith Keller eines nicht vorwerfen kann, dann ist es Geschwätzigkeit. Judith Kellers Geschichten sind Konzentrate, Sprachkunstwerke, die gleichermassen überraschen wie bezaubern. Eine literarische Entdeckung!

Zusammen mit den Autorinnen und Autoren Franz Hohler, Judith Keller, Thomas Flahaut, Alexandre Hmine und Jessica Zuan eröffneten die 40. Literaturtage in Solothurn ihr Jubiläumswochenende. Das literarische Schwergewicht Franz Hohler zusammen mit vier jungen Schreibenden aus den vier Sprachregionen der Schweiz.

Judith Keller nimmt das Wort beim Wort, nimmt es wörtlich. So wie sich andere der Metapher verschreiben, spürt sie dem Wort nach. Eine Handvoll ihrer Geschichten beginnt mit «Eine weit hergeholte Frau…». Meist tragen die Menschen in ihren Kurz- und Kürzestgeschichten Namen, ganz gewöhnliche, vielleicht etwas altmodische, im Kontrast zu ihrer Erzählweise, oder ausgefallene wie Nepomuk. Judith Keller wirft einen Blick in fremdes Leben, gibt dem Leben einen Namen oder lässt es bleiben, wenn der Moment mehr zählt als die Person, um die sich die Sätze schlaufen. Kurze Geschichten, in die man einsteigt und ganz unverhofft wieder aussteigen muss. Geschichten die auftun und nichts klären. Aber mit aller Deutlichkeit bewusst machen, dass selbst der schnelle Blick, diese eine Schlaufe um ein Leben, alles andere als einfach und einfältig ist. Es spiegelt sich Leben mehrfach in einem einzigen Satz. Es fächert sich auf. Manchmal nur als sprachlicher Schnappschuss, ein ander Mal als Bildfolge, aus Zusammenhängen sprachlich extrahiert, um sie mit dem Leben von Leserinnen und Lesern in neue Konstellationen zu bringen.

Keine Papiere
Esperance ist vor ein paar Jahren in einem Boot übers Meer geflohen. Sie ist nicht ertrunken. Aber jetzt lebt sie untergetaucht.

Judith Keller gibt dem Normalen intensive Farben, dem Farbigen Klarheit, auch wenn nicht die Deutung im Zentrum steht, sondern die Ahnung dem Genuss genügt. Sie schreibt kühn und so gar nicht in der Tradition der «Geschichtenerzähler» mit Mahnfinger und moralischer Motivation. Vielleicht bilden Franz Hohler und Judith Keller bei der Eröffnungsfeier der 40. Literaturtage in Solothurn mit Absicht ein «Erzählerpaar» der Gegensätze. Nicht nur, was ihr Alter betrifft. Der schon zu Lebzeiten zur Erzählerlegende gewordene Franz Hohler und die junge Judith Keller, die sich nur schwer in eine Schublade einordnen lässt.

Scheu
Amalia kennt den Vorwurf, sie sei arbeitsscheu. Es liegt ihr aber daran festzuhalten, dass die Arbeit ebenfalls scheu sei. Die Arbeit komme entweder gar nicht oder nur zögerlich auf sie zu, um dann gleich wieder zu verschwinden.

Mag sei, dass auch Judith Kellers Geschichten zuweilen einen moralischen Hintergrund besitzen. Aber diesen bette ich als Leser selbst unter den Text. Judith Keller setzt nichts vor, mahnt nicht, spiegelt nicht einmal mit Metaphern. Ihre Sprachkunst liegt in der Reduktion auf die Worte selbst, den Satz, der bezaubert, die Melodie, die mich betört. Judith Keller gibt dem Wort zurück, was Fakenews entwenden.

Judith Keller schreibt ganz in der Tradition Grosser, nicht zuletzt Mani Matters. Eindeutig, zweideutig, vieldeutig. So wie der grosse Berner Troubadour erzählt Judith Keller eindeutig und weckt vieles. Ich staune. Ich blicke mit den Geschichten Judith Kellers durch ein Kaleidoskop der Sprache, werde von Vieldeutigkeit überrascht und mit Sprachkunst überzeugt.
Franz Hohler und Judith Keller sind so etwas wie die Exponenten einer Kunst, die an den beiden ihre Vielfalt zeigt, wie viel sie miteinander verbindet und wie weit sie sich voneinander unterscheiden, wie viel sie verbergen und offenbaren, wie sehr sie schmeicheln und sich zieren.

Krieg
Er erklärt ihnen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er erklärt innen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er versucht es noch einmal. Sie verstehen ihn nicht. Weil er den Krieg nicht erklären kann, muss er zurück in den Krieg. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Im Flugzeug ist gerade noch ein Platz frei.

Unbedingt lesen und entdecken!

Ein kleines Interview mit Judith Keller:

Sie erzählen Geschichten in einer ganz eigenen Art und Weise. Es sind nicht einfach Erinnerungen, Episoden, „Geschichten, die das Leben schrieb“. Viele Ihrer Geschichten lesen sich wie „Negative“ (Fotografie), die den Blick auf eine Situation verändern, mein Auge, meine Wahrnehmung verunsichern. Wie werden Ihre Geschichten zu so kraftvollen Miniaturen?
Ich glaube, ich versuche, da aufzuhören, wo etwas anderes, vielleicht ein Denkvorgang, beginnt.

Sie nehmen das Wort beim Wort. Es liegt viel mehr Gewicht auf der Bedeutung eines einzelnen Wortes als auf dem Transport eines Geschehens. Sind sie eine Wörtersammlerin?
Ja, ich notiere mir oft Redewendungen, die ich höre oder in der Zeitung lese und über die ich nachdenken muss.

Der Umstand, das „Die Fragwürdigen“ beim Verlag „Der gesunde Menschenversand“ herauskommt, erscheint fast logisch. Da treffen sich zwei! Kein anderer Verlag hätte besser zu Ihren Texten gepasst. Ihre erste Erzählung „Was ist das letzte Haus“ erschien als E-Book beim überaus renommierten Verlag Matthes & Seitz Berlin. Öffnen sich die Türen so leicht?
Nein, ich habe viele Absagen bekommen für die kurzen Texte bei anderen Verlagen. Ich hatte sie auch schon vor ein paar Jahren dem gesunden Menschenversand geschickt, aber damals gab es einfach keinen Platz für neue Autorinnen und Autoren. Ich bin darum auch sehr froh, dass es jetzt geklappt hat, gerade bei diesem Verlag.

Ihre Geschichten liessen mich zuweilen stolpern, öffneten sich oft erst beim zweiten Lesen. Sie schreiben alles andere als Nabelschauen, scheinen stets für ein Publikum zu schreiben. Ihre Geschichten brauchen das Gegenüber. Testen Sie die Wirkung Ihrer Texte?
Ja, ich lasse sie oft ein paar Tage oder Wochen liegen und lese sie dann noch einmal wie eine fremde Leserin. Da spüre ich dann, ob es funktioniert oder nicht. Und dann gebe ich sie natürlich auch anderen zu lesen. Aber es kann schon auch vorkommen, dass ich nicht mehr weiss, ob es nur bei mir oder auch bei anderen funktioniert.

Dass Sie an der Seite von Franz Hohler, einem der Grossen der CH-Literatur die 40. Solothurner Literaturtage eröffnen, ist von der Festivalleitung her mit Sicherheit ein klares Signal, nicht nur für die Mehrsprachigkeit unseres Landes, die Vielfalt, sondern für die Qualität ihres Schreibens – und für mich keine Überraschung. Trifft sich dort auf der Bühne Tradition und Aufbruch?
Da kann ich leider zu wenig darüber sagen, weil ich die Texte der anderen nicht kenne. Ich glaube aber, dass sie genau so etwas wollen.

1985 in Lachen, am Zürichsee geboren, lebt Judith Keller in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung «Wo ist das letzte Haus?» bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem «New German Fiction» Preis ausgezeichnet.

(Ich danke dem Verlag «Der gesunde Menschenversand» für die Erlaubnis, aus Judith Kellers Buch «Die Fragwürdigen» drei Geschichten einfügen zu dürfen.)

Titelfoto: Sandra Kottonau

Hansjörg Schneider „Kind der Aare“, Diogenes

Ein Unikat der CH-Literatur feierte im März seinen 80.! Zu seinem Geburtstag macht er seinen Leser*innen und mir seine Autobiografie „Kind der Aare“ zum Geschenk. Zum ersten Mal begegnete ich Schneiders Werk, als man 1981 (Ich war 19!) den Fernseher ausschaltete, als bei der Ausstrahlung des Theaterstücks „Sennentuntschi“ nacktes Fleisch und rohe Lust unübersehbar wurden. Ich ging zu Bett, meine Lust auf Hansjörg Schneider aber war geweckt! 

In seiner unaufgeregt erzählten Autobiografie schreibt der mit seinen Hunkeler-Krimis zur Krimi-Ikone gewordene Schriftsteller und Dramatiker von seiner Kindheit und Jugend in der sanften Landschaft der Aare bis zu seinen Grosserfolgen mit der Figur Hunkeler, die mit dem 2015 verstorbenen Schauspieler Mathias Gnädinger zu einer Identifikationsfigur wurde.

„Ich habe geschrieben, was ich schreiben wollte.“

Warum sich 340 Seiten antun, wenn seine Prosa und Theaterstücke mitreissend und entlarvend sind und keiner Erklärung bedürfen? Hansjörg Schneiders Leben als mittlerweile längst etablierter Schriftsteller verlief alles andere als geradlinig. Wer den Autor schon einmal getroffen hat oder gar mit ihm zu tun hatte, ahnt, wie wenig sich dieser um Konventionen und Schein schert. Hansjörg Schneiders Auftreten ist direkt, eigenwillig, durchaus schüchtern und manchmal gut schweizerisch hölzern. Seien es die obligaten Bauernhemden ohne Kragen oder Schuhe mit Klettverschluss, träfe Sprüche oder die kantigen Figuren, die er mit seinen Geschichten lebendig werden lässt. So wenig, wie sich Hansjörg Schneider um Künstlichkeit bemüht, so sehr ist sein Schreiben Resultat genauer Beobachtung und erfrischender Bodenhaftung. Und noch viel mehr!

“Ich bin stets ohne Sauerstoff getaucht. Ich brauche kein Hilfsmittel ausser der Brille, ich war mir Fisch genug.“

Hansjörg Schneider ist ein Mann des Wassers. Vielleicht ist mir deshalb keines seiner Werke so sehr in Erinnerung geblieben und eingeritzt wie der Roman „Das Wasserzeichen“. Die Geschichte von Moses Binswanger, der mit einer kiemenartigen Öffnung zur Welt kommt und sich immer wieder wässern muss. Die Geschichte eines schwierigen Lebens unter Menschen, vor denen sich Moses immer mehr zurückziehen muss. Erst recht, als die Liebe die Frauen mit ihm ins Wasser zieht.

So wie der Autor aus dem Land der Aare kommt, jenem Fluss, der bei  Zusammentreffen mit dem Rhein seinen Namen verliert, obwohl sie meist mehr Wasser mit sich führt als ihr „Bruder“, so ist sein Schreiben und seine Herkunft mit dem Wasser verbunden, seien es die „Wasserzeichen“ in meinem Lieblingsroman oder die am Rhein spielenden Hunkeler-Krimis.

In seiner mit Witz und Schalk geschriebenen Autobiografie erzählt Hansjörg Schneider nicht nur von seinem Werdegang, sondern auch von den kleinen und grossen Demütigungen eines Schreibenden, der in keine Schublade passt, sich nicht in die Reihe der Intellektuellen einschleichen will und Theater schreibt, die sich keiner Modeströmung unterwerfen. Dass er damals mit seinem Theaterstück „Sennentuntschi“ einen Mehrfachskandal auslöste, zuerst im Theater und später im Fernsehen, ist nicht das Ergebnis eines wirklichen Skandalstücks, sondern der allgemeinen Prüderie.

Hansjörg Schneider, der früh seine Mutter verlor und sich einer übermächtigen Vaterfigur zu stellen hatte, der mit seiner Frau seine grosse Liebe fand und sie durch Krankheit und Tod wieder verlieren musste, erzählt aus seinem Leben, breitet nicht aus, wühlt nicht in Wunden, auch wenn der Zorn zuweilen aufblitzt. „Kind der Aare“ ist eine Hommage an eine verschwundene Welt. Das Schicksal aller, die alt werden und dabei nichts von ihrem scharfen Blick einbüssen. Bei der Lektüre fast schwarz-weiss, mit viel Bakelit und Stimmen und Bildern, die auch zu meinen Erinnerungen gehören. Hansjörg Schneider schlägt an und es schwingt mit.

Hansjörg Schneider liest anlässlich der 40. Ausgabe der Solothurner Litereraturtag an der Aare, seinem Fluss. Das Literaturfest findet vom 11. bis 13. Mai statt.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete nach dem Studium der Germanistik und einer Dissertation unter anderem als Lehrer, als Journalist und am Theater. Mit seinen Theaterstücken war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine ›Hunkeler‹-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel und im Schwarzwald.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Michael Hugentobler „Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte“, dtv

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert „verabschiedet“ sich Hans Roth aus dem schweizerischen Schöndorn, um 1898 als Louis de Montesanto in London weltberühmt zu werden mit seiner sensationellen Lebensgeschichte. Michael Hugentobler zeichnet aber nicht einfach die Lebenssituationen eines Sonderlings nach. Er stellt Fragen, die nicht nur der Literatur gestellt werden, sondern dem Leben, der „Wahrheit“.

1898 tauchte in London ein Mann auf, der dort eine absurde und bizarre Geschichte erzählte, wie er dreißig Jahre lang unter Aborigines in Australien gelebt habe. Sein Reisebericht wurde unter dem Titel ›Adventures of Louis de Rougement‹ sogar zum Bestseller. Michael Hugentobler schreibt in einem Interview, wie er den Mann sofort ins Herz schloss. «Nicht weil er ein Lügner war, lügen kann jeder, aber nicht jeder kann mit so viel Phantasie lügen.»

In seinem Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erfindet Michael Hugentobler die Geschichten von Louis, der sich in seinem Roman «de Montesanto» nennt, neu. Die verrückte Lebensgeschichte eines kleinwüchsigen Wallisers, der in seiner Heimat nichts zustande bringt, zuerst bei einem Pfarrer Asyl erhält und dort «die Kunst, Wörter zu schreiben und sie zu lesen» zu lieben beginnt. Damals noch Hans Roth reist der junge Mann aber bald weiter, treibt sich während Jahren durch Dörfer, mal als Erntehelfer, Sattler, Tischlergehilfe oder Kartoffelschäler in einem Keller. Von vielen ge-hänselt treibt es ihn immer weiter, bis er in den Dienst der Schauspielerin Emma Campbell tritt, die ihn mit nach Paris nimmt, bis Hans unter dem Triumpfbogen die «Erleuchtung» kommt und er sich zu Louis de Montesanto macht.

Louis wird Butler eines Schweizer Bankiers und später Bediensteter von Sir William Stevenson, einem britischen Gouverneur auf einer Reise nach Australien. Aber dort wächst die Gewissheit, er würde so sein Leben damit verbringen, anderen zu dienen. Dies sei eine Form der Sklaverei, auch wenn sie bequem sei und ihn sättigte. Es treibt ihn weiter, zusammen mit seinem Colt Dragoon. Louis der Montesanto wird glückloser Kapitän auf einem Perlenfischerboot, strandet und verliert sich an der Küste Australiens, wo er von Aborigines «aufgenommen» wird und Jahre bei ihnen verbringt. Louis wird Vater zweier Kinder, verlässt die Ureinwohner genauso wie seine Familie, seine Kinder und landet irgendwann ausgezehrt und mit wilden Abenteuergeschichten in der Londoner High society, die nur darauf wartet, bis erkaltete Sensationen durch neue ersetzt werden.

Im zweiten Teil des Buches macht sich die Tochter Old Lady Long auf die Suche nach dem Grab ihres Vaters Louis de Montesanto, trifft ihren Bruder in einem mit Efeu überwachsenen Haus. Eine Suche nach einer Familie.
Und viele Jahre später ein Schweizer Journalist, aber nicht wie Old Lady Long mit einem Plan, sondern einem «unbestimmten Gefühl folgend».

Louis de Montesantos einziger Besitz, sein einziges Kapital, sind seine Geschichten, die er mit Phantasie aufzublasen weiss. Während 1898 die London Times titelt: Die Sensation des ausgehenden Jahrhunderts – 30 Jahre unter Wilden!, macht sich Louis auf den Weg vor die ehrwürdige Royal Geographical Society, um vor ihr zu sprechen und seine zum Bestseller gewordene Lebensgeschichte den Fragen der Wissenschaft auszusetzen. Es kommt zum Eklat und Louis verschwindet in der Bedeutungslosigkeit. So sehr ihm eine ganze Welt zu huldigen scheint, so tief ist der Fall zurück in die Armut.

«Louis» oder Der Ritt auf der Schildkröte» ist eine Ikarus-Geschichte. Beispielhaft für viele, die sich im Laufe der Geschichte zu nahe an die verschiedensten Sonnen wagten, um gnadenlos abzustürzen. Über eine Gesellschaft, die wie heute nach Sensationen lechzt, nach ihr geifert. Beim Erwachen aber spuckt man jene aus, demütigt sie ebenso, wie man sie fliegen liess. Dabei erzählte Louis eigentlich nur Geschichten, genau jene, die die Gesellschaft hören will.

Mein Interview mit Michael Hugentobler:

In Gesprächen um die Qualität einer Romans muss ich immer wieder eine Lanze brechen, dafür, was die Literatur darf. Sie darf erfinden. «Lüge» wird zum
Programm. Ausgerechnet in der Literatur traut man dem Buch nicht, wenn es an Glaubwürdigkeit zu verlieren scheint. So wie bei einem Film «nach einer wahren Begebenheit» suggeriert wird, dort bilde man die Wahrheit ab, prüft man Literatur wie Zeitungen nach ihrem Wahrheitsgehalt. Ihr Protagonist scheitert daran genauso wie Beispiele aus der Gegenwart. Brechen Sie eine Lanze?
Ich entschied mich bei Louis bewusst gegen die Reportage, die sich an die Wahrheit hält – und für den Roman, der Erfindung zulässt. Was mich an Louis fasziniert, ist seine feuerwerksartige Phantasie, und dafür ist die Fiktion die spannendere Form. In einer Reportage hätte das platt gewirkt, im Roman aber wird das Explosive spürbar. Ich verstehe natürlich, wenn sich Leser fragen, was nun wahr sei und was Erfindung – aber meiner Ansicht nach ist diese Frage irrelevant, denn ein Roman ist ein Kunstwerk und hat sich nicht an der Wahrheit zu messen. Ich habe Louis’ ohnehin schon erfundenen Namen nochmals neu erfunden, um genau das zu suggerieren.

Da zieht einer aus, aus der Enge der Schweiz, aus der Vor- und Fremdbestimmung hinaus ins Abenteuer. In ihrem Roman wird Louis de Montesanto auch zu einem Prediger der Bescheidenheit, gegen den Besitz, gegen Geld und Ballast, zu einem, dem schlussendlich niemand mehr zuhört. Wie weit ist ihnen «Verzicht» angesichts dessen, was uns in den Medien vor Augen geführt wird, Herzenssache?
Louis wird zwischen diesen zwei Polen hin und her gerissen: zwischen der Armut auf der einen Seite und dem Prunk auf der anderen Seite – bis es ihn schier zerreisst. Dass er Bescheidenheit predigt, zeigt sein Mass an Freiheit auf. Er ist ein unglaublich freier Mensch, der tut, was sich die meisten von uns nicht trauen würden: Den Namen ablegen etwa. Oder die eigenen Charaktereigenschaften ablegen und die Charaktereigenschaften des Gegenübers annehmen. Ich habe eine sehr ambivalente Beziehung zu Louis, gewisse Seiten an ihm kann ich nicht ausstehen. Andere bewundere ich sehr, zum Beispiel den an Askese grenzenden Verzicht – aber ich persönlich bin nicht so.

Ihr Roman ist eine «Ikarus-Geschichte». Wehe dem, der sich zu nahe an die Sonne wagt. So hoch hinaus, so tief der Fall. Und trotzdem lechzt die Gesellschaft heute genauso wie die Londoner Gesellschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert nach Sensationen, nach Menschen, die es wagen, Menschen, die ausbrechen, Menschen, die Sensationen verkörpern. Eigentlich wird Hans Roth alias Louis de Montesanto abgestraft für seinen Mut, seine Phantasie und seine Kompromisslosigkeit. Braucht die Gesellschaft nicht einfach doch nur die Bestätigung, dass Bravheit und Rechtschaffenheit das Mass aller Dinge sind?
Natürlich werden die Braven und Biederen immer die Frechen und Mutigen bewundern, sie beim Versagen aber gnadenlos abstrafen. Anders könnte die Gesellschaft wohl nicht funktionieren, sonst würde dieses fragile Gebilde zusammenbrechen. Seltsamerweise aber bleiben über die Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg hauptsächlich jene in Erinnerung, die einst ausbrachen und Gefahr liefen, sich lächerlich zu machen. Odysseus zum Beispiel, oder Gilgamesch. Vielleicht braucht es diese Reibung, damit Funken sprühen und die Menschheit weiterbestehen kann.

Sie waren selbst lange Zeit in den verschiedensten Gegenden der Welt unterwegs. Ein Reisender mit Stift und Papier. Ist es heute nicht viel schwieriger zu reisen? Auf der einen Seite unendlich viel bequemer, aber fast nicht mehr wirklich hautnah, sich wirklich vom Bekannten entfernend?
Während den 13 Jahren, die ich unterwegs verbrachte, gab es einen ungeheueren technologischen Fortschritt. Auf meiner ersten Reise rief ich alle paar Wochen nach Hause an, aber danach hatte ich keinerlei Kontakt mehr zur Schweiz oder zu Europa. Ich stieg in einen Nachtbus und hatte keine Ahnung, wie es dort aussieht, wo ich an nächsten Morgen aussteigen werde. Ich kam als komplett Fremder in einer fremden Umgebung an – ein Gefühl, das ich über alles lieben lernte. Auf einer der nächsten Reisen richtete ich mir eine E-Mail-Adresse ein, und darauf kamen Tripadvisor, Google Earth, Facebook, noch im kleinsten Kaff konnte man ein Hotel mehrere Tage im Voraus reservieren und virtuell durch die Strassen der Ortschaft gehen. Ich urteile nicht darüber, welche Form des Reisens nun besser oder schlechter ist. Aber ich bin froh, dass ich nicht im 19. Jahrhundert unterwegs war. Allein das Fehlen von Penicillin hätte mich wohl sehr früh das Leben gekostet.

In einem Interview erzählen Sie, dass sie eigentlich die Lebensgeschichte ihrer Tante Mary zu einem Roman verarbeiten wollten. Waren Sie auf ihren Reisen auf den Spuren ihrer Tante? Wird aus der Absicht nun doch noch ein Buch? Oder warten Sie neben ihrer journalistischen Arbeit erst mal ab, bis jemand die Filmrechte kauft?
Mary ist ein Stoff, den ich seit vielen Jahren mit mir herumtrage und dem ich auch das eine oder andere Mal hinterher reiste. Ich würde die Geschichte lieber heute schreiben als morgen, aber die richtige Stimme habe ich leider noch nicht gefunden. Niemand kann wissen, was weiter mit Mary passiert.

Vielen Dank für das Interview! (Die Illustrationen stammen aus dem 1899 erschienen Buch «The Adventures of Louis de Rougement As Told by Himself», mit freundlicher Genehmigung des Verlags dtv)

Michael Hugentobler liest an den 40. Literaturtagen in Solothurn aus seinem fulminanten Erstling, der mehr als nur nacherzählt. Michael Hugentoblers Roman sprüht vor Fabulierlust, zeichnet mit satten Farben und entlarvt eine Gesellschaft, die wie heute nach Sensationen giert.

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. ›Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte‹ ist sein erster Roman.

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Titelfoto: Louis de Rougement: Der Mann, durch den diese Geschichte inspiriert wurde.

David Signer „Dead End“, lector books

David Signer schont mich nicht. Jede seiner acht Erzählungen ist ein Sinkflug in unbekannte Tiefen. Entgleisungen, die nicht aufzuhalten sind. Derart authentisch geschrieben, dass nie die Frage auftaucht, ob es möglich wäre. Der Erzählband „Dead End“ ist eine literarische Achterbahn, mit erstaunlichem Zug geschrieben, sprachlicher Hochgenuss, wahrhaft mitreissend!

Wenn im Frühling die Liste der Eingeladenen zu den Solothurner Literaturtagen erscheint, liest als erstes die blanke Neugier, welche Namen einem im vergangenen Lesejahr entgangen sind. (Und jedes Jahr auch die Überraschung darüber, dass erwartete Namen ausbleiben.) Bei David Signers gewichtigem Erzählband „Dead End“ gelang die Leseüberraschung total. Da schreibt eine unverbrauchte Stimme mit Leidenschaft und grossem Können. Da bricht eine untypische Schweizer Stimme ins Grossräumige auf, auch wenn sich Schauplätze im Bekannten verorten lassen. Da versteht es einer, mit einer ungeheuren Sogwirkung Extremsituationen zu beschreiben, die sich wie Alpträume anfühlen.

Christian Hartmann erhält einen Brief von einer Anwaltskanzlei aus Spanien. Man bittet ihn nach Valencia, um dort sein Erbe anzutreten. Eine Kassette, über deren Inhalt man keine Angaben machen könne, die man aber persönlich abzuholen habe gegen eine Kaution in fünfstelliger Höhe. Christian Hartmann ist mit Recht vorsichtig. Weiss er doch, wie gerne sich mit der Sehnsucht und Gier des Menschen krumme Geschäfte machen lassen. Mit aller Vorsicht und Skepsis nimmt er Kontakt auf und fliegt dann doch nach Spanien, immer mit dem sicheren Gefühl, das Heft sicher in der Hand zu haben, die Zügel jederzeit herumreissen zu können, sich nicht einwickeln zu lassen. Aber ich als Leser ahne es, leide mit bis zum bitteren Ende.

Mirko und Fred fahren nach Berlin. Sie wollen abtauchen in eine lange Kette angesagter Clubs, allen voran das Berghain, ein mächtiger Koloss mitten in Berlin, abtauchen mit Hilfe von Ecstasy und Koks, tief in die Unterwelt des Menschen, vorbei an Figuren und Fratzen, die an eine Geisterbahn erinnern. So tief und so plausibel, dass man sich beim Lesen die Augen reibt, erst recht ein Landei wie ich. Fred auf der Suche nach einem Mädchen – eine Geschichte, eine Stimme, die es so, wie sie in seiner Erinnerung feixt, hineinzieht in diese krasse Welt der Extreme.

Arthur, der vierzigjährige Soziologe, eine Mischung aus ewigem Student und Yuppie, nie wirklich in der universitären Hierarchie durchgestartet, in seiner Beziehung und seinem Beruf dauernd auf der Kippe zwischen Genügen und Ungenügen, verfängt sich in den Wirren von Widersprüchen. Ein anonymer Anruf denunziert ihn bei seiner Frau, er habe eine Freundin, treffe sich mit ihr, belüge sie. In seinen hilflosen Versuchen der Rechtfertigung verheddert er sich immer mehr und immer tiefer, bis sich die Schlingen so fest zusammenziehen, dass der Fall unweigerlich, unaufhaltsam, unvermeidlich wird.

David Signer bewegt sich in seinen Erzählungen dort, wo niemand hingeraten will. In einer Sprache, die mich überrascht und überzeugt. In einer Leichtigkeit, die mich mehr an angelsächsische Literatur erinnert, als an sonst mehr nach innen gerichtete deutsche Literatur. Erfrischend, vielversprechend!

Und wenn man sich akustisch noch mehr in die Geschichten vertiefen will, bietet der Salis Verlag auf deiner Webseite den entsprechenden Soundtrack!

David Signer liest an den 40. Literaturtagen in Solothurn vom 11. bis 13. Mai. Ich freue mich sehr auf diesen Auftritt. Literatur mit Sound und Groove!

David Signer, geboren 1964, ist promovierter Ethnologe. Er ist Autor des zum Standardwerk gewordenen Buches „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“ über die Auswirkungen der Hexerei auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Der Bild- und Textband „Grüezi – Seltsames aus dem Heidiland“, in Zusammenarbeit mit Andri Pol, erschien 2006, seine Romane „Keine Chance in Mori“ und „Die nackten Inseln“ 2007 und 2010 bei Salis. David Signer ist Afrika-Korrespondent der NZZ und lebt in Dakar.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Das 41. Literaturblatt ist fertig!

Rechtzeitig zu den 40. Literaturtagen in Solothurn erscheint das 41. Literaturblatt im Literaturwonnemonat Mai. Unter den vier Buchempfehlungen sind auch zwei Erstlinge aus der Schweizer Literatur. Zwei junge Autoren, für die es sich alleine schon lohnt, auch dieses Jahr wieder an der Aare der Literatur zu huldigen.

Ein guter Blog ist okay. Und in der Masse dieser, gibt es auch einige, deren Empfehlungen man trauen kann. Aber nichts geht über die „analogen“ Literaturblätter. Sie sind mehr als verschriftlichte Empfehlungen, mehr als ein hübsches Blatt Papier. Sie sind Versinnbildlichung der Liebe zum guten Buch. Sie sind ein Statement für die Schrift, die Sprache, die Gestaltung.

Vier Bücher der Extraklasse. Drei Autorinnen und ein Autor, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Vier Rezensionen, die neugierig machen sollen. Ein Literaturblatt, das an gute Literatur erinnert: LESEN!

Lea Frei, Illustratorin, und meine Wenigkeit werden diesmal zu zweit an den Solothurner Literaturtagen dabeisein. Beide mit spitzem Stift. Lea Frei zeichnend, ich schreibend für literaturblatt.ch.
Vielleicht machen wir zwei mit unserer Aktion nicht nur auf uns aufmerksam, sondern auf unsere Leidenschaft. Vielleicht gewinnen wir neue Abonnenten fürs Literaturblatt. Denn Bücher brauchen Leserinnen und Leser, Autorinnen und Autoren Multiplikatoren, die auf ihre Bücher aufmerksam machen.

Das war das 40. Literaturblatt:

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Webseite von Lea Frei