Christian Torkler «Der Platz an der Sonne», Klett-Cotta

«Der Platz an der Sonne» ist ein wahrhaft verrücktes Epos. Christian Torkler dreht in seinem ersten Roman die Geschichte und setzt damit der Gegenwart jenen Spiegel vor, der einem verstehen lässt. Ein Mann stopert durch eine Welt, die nach dem 3. Weltkrieg auf dem europäischen Kontinent nicht zur Ruhe kam, durch Ereignisse, die die ganze Welt verkehren.

Josua Brenner landet nach einer unendlichen Odyssee in einem Abschiebehaftgefängnis in Dar es Salaam/Ostafrika. Er muss zurück in sein kaputtes Heimatland, die Neue Preussische Republik. Ein Gefängnispfarrer schenkt ihm Hefte, in die er seine Geschichte schreibt. Die Geschichte eines Mann, der in einem Berlin aufwuchs, das sich nie von den Zerstörungen des 2. Weltkrieg erholte, zwischen Trümmern und Hoffnungslosigkeit. Brenner erzählt von seiner Kindheit, den Freundschaften, dem Willen, sein Glück zu finden, der Suche nach Arbeit und dem lange erkämpften Erfolg, der ihm Arbeit, eine Bar und eine Familie schenkt.
Aber Brenners Glück währt nicht lange. Kaum der Bürokratie und Korruption in der maroden Republik entwunden, verfängt er sich in Schutzgelderpressung, mafiösen Strukturen und strauchelt, nachdem ihm das Unglück die Familie entreisst. Brenner ist am Boden. Sein Freund Roller ist schon lange weg. Ab auf der Suche nach dem Glück im Süden. Brenner trägt eine Postkarte von Roller mit sich herum, eine Karte von Matema, jenem magischen Ort auf dem afrikanischen Kontinent, wo Milch und Honig fliesst. «Ich habs geschafft!», schrieb Roller.

Brenner macht sich auf den Weg, einen langen Weg. Durch ein Deutschland, das in weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen in viele kleiner Einzelstaaten zerfiel, in denen Willkür herrscht, die Menschen den Glauben an die Politik schon lange verloren haben, Clans sich am wenigen schamlos bereichern. Er schliesst Freundschaften mit Schicksalsgenossen, hungert, friert, wird eingesperrt, geprügelt und gefoltert, landet in den Fängen skrupelloser, geldgieriger Blutsauger und findet sich irgendwann auf einem hochseeuntauglichen Boot, das ihn und seine Leidensgenossen, Männer, Frauen und Kinder auf die andere Seite des Meeres bringen soll, in die Wiege des Glücks, den Ort der einzigen Hoffnung, nach Karibu Matema, wo Roller sein Freund es geschafft hat.

Brenner schreibt aus der Rückblende, mit den Worten einer einfachen Mannes. Christian Torkler schreibt, als hätte ihm Brenner an einem Tisch diktiert. Die Sprache ist hart, hölzern, mehr «gesprochen» als geschildert. Brenner erzählt seine Geschichte trocken, aus der Sicht eines Mannes, der es gewohnt ist einzustecken, der die unbändige Kraft mit sich trägt, immer wieder aufzustehen.

Ein Mailinterview mit Christian Torkler:

Wie viel Schmerz verursachte das Schreiben ihres Romans?
Schmerz klingt vielleicht etwas zu dramatisch, aber ja, eine Reihe von Passagen haben mich beim Schreiben schon recht mitgenommen. Und auch wenn ich sie später noch einmal gelesen habe, hat mich das jedes Mal auf’s Neue berührt. 

In Afrika wütet der 3. Weltkrieg schon lange; ein Krieg der Armut, des nicht enden wollenden Kolonialismus, der Korruption und Gier. Kein Wunder machen sich bei all der Hoffnungslosigkeit Tausende auf den Weg, im reichen Norden, auf der andern Seite des Meeres, ihr Glück zu suchen. Einen Roman lang haben sie das wirtschaftlich Magnetfeld umgepolt. Gibt einem das als Westeuropäer mehr Legitimation, seiner Empathie freien Lauf zu lassen?
Vieles von dem, was ich beschreibe, geschieht ja tatsächlich so, und zwar jeden Tag – es geschieht eben nur nicht uns! Indem ich das grundsätzlich ändere, rückt uns dieses Geschehen vielleicht näher, das ist zumindest ein Anliegen des Romans. Dazu kommt, daß wir in unserem Umgang mit der Flüchtlingsproblematik ja schnell zu Verallgemeinerung neigen. Deshalb habe ich den Text ganz bewußt und ausschließlich aus der Perspektive eines Einzelnen geschrieben, denn jeder, der sich auf den langen Weg nach Europa macht, hat seine eigene Biographie. So, wie ich meine eigene Biographie habe und jeder Leser.

© Annette Hauschild / Ostkreuz

Joshua Brenner verliert immer wieder alles; seine Familie, seine Freunde, seine Frau, sein Kind, den Glauben, dass da irgendwo ein Platz für ihn ist, der auf ihn wartet. Schlussendlich ist er sich das und der Einzige, das bleibt. Ist das eine der Quintessenzen aus der Gegenwart, dass in einer Zeit, in der uns der Glaube an „Höheres» genommen ist, sich selbst Beziehungen scheinbar digital messen lassen, nichts mehr geblieben ist, als das Gegenüber im Spiegel?
Ehrlich gesagt, gehört diese Frage eigentlich nicht zu denen, die ich im Roman thematisieren wollte. Aber gerade deshalb finde ich sie sehr interessant, demonstriert sie doch die bemerkenswerte Fähigkeit von Literatur, mehr sein zu können, als der Autor beabsichtigt hat. Davon abgesehen denke ich, daß es auf diese Frage keine einfache Antwort gibt. Ein Beispiel: ich gehe ins Café und dort sitzt eine Gruppe von Menschen zusammen, die sich nicht mehr miteinander unterhalten, weil jeder für sich mit seinem Smartphone beschäftigt ist. Doch worin besteht diese Beschäftigung in der Regel? Im Pflegen von «social networks»! Diese Netzwerke funktionieren ganz wesentlich über Zustimmung oder Ignoranz der anderen Teilnehmer, frei nach Sartre: die Hölle (oder der Himmel) sind immer die anderen. So spielen sich also zwei Phänomene zeitgleich ab: eine seltsame Form von Vereinzelung und eine starke Abhängigkeit von Followern und Friends. Was man im Café nicht so alles erleben kann ;-).

Der Titel Ihres Romans erinnerte mich an die gleichnamige Deutsch Fernsehlotterie „Ein Platz an der Sonne“, die ein halbes Jahrhundert Geld zur „Förderung sozialer Massnahmen“ sammelte. Joshua Brenners Odyssee durch ein kaputtes Europa Richtung paradiesisches Afrika ist auch eine Lotterie mit maximalem Einsatz. Liegt das Glück wirklich am Ende eines Weges?
Tatsächlich spielt der Titel des Romans auch auf diese Lotterie an. Die hat übrigens ihre Ursprünge in der Zeit der Berlin-Blockade 1948, die ja auch für meinen Roman von wesentlicher Bedeutung ist. Damals wurden Kinder aus dem eingeschlossenen West-Berlin nach Westdeutschland geflogen, um ihnen dort für einige Wochen einen erholsamen «Platz an der Sonne» zu bieten. Außerdem spielt der Romantitel auf eine Formulierung Bernhard von Bülows an, die zum Inbegriff deutschen Kolonialstrebens wurde. Auch er sah in Afrika «einen Platz an der Sonne» – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen.
Was nun das Glück angeht, so hat Josua Brenner ja zunächst alles versucht, um es in seiner Heimat zu finden. Erst als das fehlschlägt, und zwar in jeder Beziehung, macht er sich auf den Weg. Und ja, für ihn liegt das Glück tatsächlich am Ende des Weges, das ist zumindest seine große Hoffnung. Wir, die wir Kreuzfahren oder Urlaubsreisen unternehmen, können ja entspannt sagen, der Weg ist das Ziel. Josua Brenner hat diesen Luxus nicht, für ihn ist das Ziel das Ziel.

Sie leben zeitweise in Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Ein Land und eine Stadt, das von der Geschichte arg in die Mangel genommen wurde, zuerst im Indochina-Krieg und dann unter der Herrschaft der Roten Khmer. Sowohl in Deutschland wie in Kambodscha könnte sich die Frage aufdrängen, was mit der Geschichte eines Landes, eines Kontinents passiert wäre, wäre dies oder jenes nicht geschehen. Das allein kann die Motivation hinter ihrem Roman nicht gewesen sein – oder doch?
Nein, die Motivation, diesen Roman zu schreiben hat verschiedene Facetten. Dazu gehört, daß ich einige Jahre in Tansania gelebt habe. Diese Perspektive hat meinen Blick dafür geschärft, daß wir in einer Welt leben, in der wenige viel und viele nur sehr wenig haben, was sicherlich eine der Ursachen für die Flüchtlingsströme ist, wie wir sie heute erleben. In diesem Zusammenhang will ich anmerken, daß ich den Roman schon vor 2015 fertiggestellt habe, also bevor das Thema eine breite Öffentlichkeit erreicht hat. Aber ich hatte seinerzeit einfach das Gefühl, da kommt noch etwas auf uns zu … und das hat mich beschäftigt. Aber ja, ich wollte auch die Frage stellen, was wäre wenn? Ich denke, wir unterstellen der Geschichte häufig eine Folgerichtigkeit, die es so wohl niemals gegeben hat. Es hätte immer auch anders kommen können, und das spiele ich in einer Variante durch. Dabei liegt mein Augenmerk aber nicht auf der Weltgeschichte, sondern auf dem Einzelnen. Und der Einzelne kann sich die Welt nicht aussuchen, in die er geboren wird. Die Umstände können günstig sein – oder auch nicht, aber das verdankt sich niemand selbst. Ich finde, das sollte uns gelegentlich etwas bescheidener machen und auch in unser Urteil einfließen über diejenigen, die weniger Glück hatten als wir.

Christian Torkler, geboren 1971 in Greifswald, wuchs im Pfarrhaus auf. Das und die unerschöpflichen Erzählungen der ostpreußischen Verwandten haben ihn früh geprägt. Er hat in Berlin Theologie, Philosophie und Kulturwissenschaften studiert. Von 2002 bis 2009 hat er in Dar es Salaam, Tansania, gelebt und von dort aus den Kontinent bereist. Seit einigen Jahren lebt und schreibt er in Berlin und Phnom Penh, Kambodscha. «Der Platz an der Sonne» ist sein erster Roman.

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Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

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Daniel Goetsch „Fünfers Schatten“, Klett-Cotta

Daniel Goetsch schrieb mit „Fünfers Schatten“ einen kunstvoll konstruierten und sprachlich meisterhaften Roman über einen Mann, der mit seiner Geschichte ins Uferlose abdriftet, seiner eigenen Geschichte abhanden kommt. Ein beeindruckendes Buch mit ungewohnten Horizonten. Literatur, die einem etwas abverlangt und zutraut.

Maxim Diehl, ein erfolgreicher Theaterautor, setzt sich auf eine Insel vor der französischen Mittelmeerküste ab. In eine kleine Pension, nicht weit von dem Haus, in dem der Vielschreiber Georges Simenon Romane am Fliessband in seine Remington tippte. Aber Maxim Diehl ist aus dem Tritt geraten, möchte schrieben, findet aber seine Stimme nicht. Die Urangst jedes Autors. Erst recht in Hörweite eines Hauses, aus dem das Tippen noch immer, für Maxim Diehl als Drohung, den Takt angibt.

In der Pension ist er der einzige Gast, bedrängt von der Besitzerin, die bei jedem auftauchenden Schreiberling hofft, ihre Geschichte und die ihres Mannes unterzubringen. Diehl flieht vor der Pensionsbesitzerin und den leeren Seiten seiner Notizbücher. Auf diesen Spaziergängen begegnet er einem alten Amerikaner, der vor seinem Hotel alleine Cognac trinkt. Jack Quintin beginnt zögerlich seine Geschichte zu erzählen, als er auf Seiten der Alliierten gegen Ende des Krieges nach Deutschland kam. In einer Spezialeinheit hatten sie die Aufgabe, für die führungslose Verwaltung im besiegten Deutschland fähiges Personal zu rekrutieren, das während der Nazizeit nicht brauner Gesinnung unterlag. Während er sich in Interviews einen Reim auf die verdunkelten Lebenslinien der Überlebenden zu machen versucht, verliebt er sich gegen die Weisung der Besetzer in die junge, hübsche Tochter eines Kandidaten.

Diehl erliegt der Geschichte des Amerikaners. Er, der eigentlich einen Roman über seine eigene Geschichte schreiben wollte, nicht zuletzt über die wilden 70er Jahre in Zürich rund um die Globuskrawalle oder die von der Öffentlichkeit vergessene Selbstverbrennung der jungen Silvia Zimmermann im Winter 1980, mitten in Zürich. Revolte und Aufbruch. Statt dessen erliegt er der Geschichte des Amerikaners, beginnt wie besessen aufzuschreiben, was ihm der Amerikaner erzählt. Eine Geschichte, die den auf die Insel Entflohenen noch einmal von seinem eigenen Leben wegträgt. Ein Leben, das aus der Distanz, auf seinen Spaziergängen, im Wanken zwischen medikamentös unterstützter Euphorie und tiefen Abstürzen immer mehr in Schieflage gerät.

Und als Diehls schon längst geschiedene Frau zusammen mit dem gemeinsamen Sohn ihren Besuch auf der Insel ankündigt, droht sich zur Flucht eine unabwendbare Konfrontation zu gesellen. Eine mit einem auseinandergebrochenen Leben, einem autistischen Sohn, der nie zu seinem eigenen Sohn geworden war, einer nicht wahrgenommenen Pflicht, einer ungewollten Vaterschaft. Und unter allem, zwischen allem und hinter allem die Erinnerungen an Viv, der einzigen Liebe, die aber nie wurde, was sie hätte sein können, sein sollen.

Die Geschichte Jack Quentins, eine Geschichte in den Ruinen Deutschlands verknüpft sich mit einem unwirklichen Sog mit seiner eigenen, der Geschichte Maxim Diehls. Ein Sog, der sich auf den Leser überträgt. Geheimnisse, deren Erklärung man unbedingt entgegenlesen will.

Daniel Goetsch erzählt zeitlich auf mehreren Ebenen, ebenso wie in seinen Erzählpositionen. So nah einem die verschiedenen Perspektiven erscheinen, so weit weg geraten sie aus jeweils anderer Perspektive. Es entstehen Vexierbilder, Kippbilder.

„Fünfers Schatten“, ein kluger Roman, ein Buch über Biographien, Lebensentwürfe und den Versuch ihrer Realisation. Diehl wird von seiner Geschichte weggespült, in die Unendlichkeit der Bedeutungslosigkeit. Das, was uns dereinst allen blüht, man aber geflissentlich verdrängt und vergisst, solange man sich im Zentrum des Universums glaubt.

Hochgradig gute Schweizer Literatur mit dem Zeug für das grosse Buch! Daniel Götsch liest morgen Freitag, am 20.April, im Kosmos Buchsalon in Zürich.

Daniel Goetsch geboren 1968 in Zürich, lebt als freier Autor in Berlin. Er verfasste mehrere Romane, darunter »Herz aus Sand« und »Ben Kader«, sowie Dramen und Hörspiele. Für »Ein Niemand « erhielt er das HALMA-Stipendium des europäischen Netzwerks literarischer Zentren.

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Titelfoto: Sandra Kottonau