Urs Mannhart mit Rapacitanium und einer Kuh im Literaturhaus Thurgau

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in eine Erzählgegenwart, in der mit Extremen dramatisiert werden muss, um mit den Extremen der Gegenwart die Gegenwärtigen zu rütteln. Urs Mannhart zu Gast im Literaturhaus Thurgau!

Als ich Urs Mannhart am Bahnhof Tägerwilen/Gottlieben abholte, erklärte er, er fühle sich gar nicht richtig „ausgestiegen“, irgendwie „durch den Wind“, denn eben habe er das zweiseitige Interview mit ihm in der NZZ gelesen. Er habe wohl damit gerechtet, habe man ihm doch den Text zum Gegenlesen zugesandt. Aber es sei doch irgendwie unwirklich, für ein Buch an dem er ein paar Monate mit aller verfügbaren Intensität geschrieben habe, nun derart viel und prominente Aufmerksamkeit zu erfahren. An seinem Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ habe er mehrere Jahre geschrieben, ein mehrfaches an Energie investiert und die Resonanz lasse sich nicht vergleichen.

So waren beide Bücher des Autors auf dem Tisch, auch wenn er nur das eine mitgenommen hatte; sein Roman über einen Mann, der sich an den Fronten seines alltäglichen Kampfes verliert, dem die Erde buchstäblich unter den Füssen wegbricht und das Essay über Lentille, eine Kuh im Stall jenes jurassischen Kleinbauern, bei dem er zwei Tage in der Woche zweimal 10 Stunden arbeitet. So unterschiedlich die beiden Bücher in ihrer Erzählweise und Schauplätzen sind, das eine in der Welt eines teslafahrenden Kravattenträgers, das andere in einer, die nach Stall und Tieren riecht, so zeugen beide von der unbändigen Lust eines Schriftstellers, sich ganz in eine Welt hinein zu begeben. „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ passt in die Schublade von Ökoromanen, ist aber ebenso Gesellschaftskritik wie das Essay „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“. Beides sind Bücher, die mich zur Selbstreflexion zwingen ohne jemals einen moralischen Zeigefinger zu schütteln. Beides sind Bücher, die sanft darauf hinweisen, dass wir uns in einer Zeitenwende befinden, dass es naiv ist, weiterhin mit der Überzeugung zu leben, alles sei möglich.

Pascal Gschwind, der Protagonist aus dem Roman, ein Mann der eigentlich alles hat, eine neue Stelle in einem erfolgreichen Rohstoffkonzern, ein sattes Salär, eine Villa am Thunersee, das teuerste Teslamodell in der Garage und bald auch ein neues Boot, ein bisschen grösser als jenes seines Nachbarn, eine attraktive Frau, die sich mit Yoga verwirklicht und einen Sohn, der bislang stets tat, was man von ihm erhoffte, muss feststellen, dass sich die Erde nicht in jene Richtung dreht, die stets der Sonne zugewandt ist. Alles wankt. Das Beben erschüttert nicht nur ihn, sondern alles, was ihn ausmacht. 

Urs Mannhart, der an gleich zwei Veranstaltungen im Literaturhaus Thurgau mit seinem Schreiben im Zentrum stand, verstand es, in seiner ehrlichen und unmittelbaren Art, die BesucherInnen in seinen Bann zu ziehen. Zuerst im Format „Literatur am Tisch“, in einer kleinen Runde, die alle seinen Roman bereits gelesen hatten, die sich in einer Auseinandersetzung mit dem Buch bis in die Feinheiten seines Schreibens vorwagten. Und danach in einer klassischen Lesung im Scheinwerferlicht, vor einem Publikum, das dem Autor in äusserster Konzentration hinein in seine Geschichte folgte.

„Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“
„Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“

Beitragsbilder © Philipp Frei