Enzo Pelli «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa», Gedichte Italienisch und Deutsch, Limmat

Manchmal taucht ein Name unvermittelt und überraschend aus der Weite der Namenlosen auf. Man ist überrascht und reibt sich die Augen (und Ohren). Aber manchmal, wie bei Enzo Pelli, steckt grosse Genugtuung darin, wenn der Name endlich den Glanz bekommt, der ihm zusteht!

Ich traf Enzo Pelli und seine Frau diesen Sommer. Ich fasste Mut und fragte während eines Ferienaufenthalts im Tessin, ob er Zeit für ein Treffen habe, trafen wir uns doch zum bisher einzigen Mal vor etlichen Jahren in einer kleinen Buchhandlung in Hitzkirch anlässlich eines Literaturfestivals. Da damals noch keine seiner Gedichte in Deutsch erhältlich waren, freute ich mich umso mehr, als er mir vor ein paar Jahren eine kleine Auswahl seiner Gedichte in Italienisch und von Christoph Färber ins Deutsche übersetzt für die «Plattform Gegenzauber» zur Veröffentlichung freigab.

Enzo Pelli gehört in eine lange Reihe grosser Tessiner Dichter. Giovanni und Giorgio Orelli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla, Elena Spoerl-Vögtli oder Pietro De Marchi, um nur einige zu nennen. Ganz zu schweigen von all den grossen Namen, die im Tessin in den vergangenen hundert Jahren eine Oase für ihre Kunst fanden. Als ob das Tessin der Lyrik einen ganz besonderen Boden bieten würde!
Dass nun endlich unter dem Titel «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa» eine Auswahl Enzo Pellis Gedichte erscheint, ist höchst erfreulich und höchste Zeit:

Plötzlicher Schatten

Plötzlicher Schatten
über Fluss und Stein.
Ich zögere, bleibe
kurz stehen, erhebe
den Blick; nur
eine vorüberziehende Wolke.

So wie der plötzliche Schatten nur eine vorüberziehende Wolke ist, so sind die Momente, aus denen Enzo Pelli seine Gedichte schafft, jene Momente, die einem bewusst machen, dass mehr ist, als bloss das, was man dauernd erwartet. Enzo Pellis Schatten ist kein dunkler Schatten, sondern das Vorüberhaschen eines Moments, der eine Tür sein könnte. Enzo Pelli streift kurz und reisst mir die Augen auf. Genau das, was Lyrik wie keine andere Kunstform kann, wenn man sich auf sie einlässt.

Enzo Pelli «Plötzlicher Schatten / Ombra improvvisa», Gedichte Italienisch und Deutsch, übersetzt von Christoph Ferber, Limmat, 2022, 180 Seiten, CHF 38.00, ISBN 978-3-03926-033-1

Enzo Pelli veröffentlichte erst spät erste Gedichtbände, lange nach seiner Pensionierung. Was nicht heisst, dass er mit Lyrik erst im „Ruhestand“ begonnen hätte. Umso erfreulicher, wenn es einmal mehr dem Limmat Verlag gelungen ist, eine Stimme einer anderen Landessprache ins Scheinwerferlicht zu bringen. (Unermesslich, was der Limmat Verlag in den vergangenen Jahrzehnten an literarischer Entwicklungsarbeit geleistet hat. Gäbe es einen Preis für die Lesbarkeit vielsprachiger Kostbarkeiten der Schweiz, dann müsste dieser Preis an den Limmat Verlag verliehen werden! Ich verneige mich.) 

Enzo Pellis Gedichte sind keine Kopfgeburten, auch wenn ich jede erdenkliche intellektuelle Sorgfalt spüre. Als ob Enzo Pelli durch sein kompositorisches Geschick Emotionen aus all seinen Sinnen durch den Bauch aufs Papier bringt. So wie der Dichter für das Signieren meines mitgebrachten Buches für kurze Zeit ins Nebenzimmer entschwindet, um mit ganzer Konzentration und Hingabe nicht nur die richtigen Wörter zu finden, sondern diesen auch noch die richtige Form, den ästhetischen Schwung gibt, so wird es mit seinem dichterischen Schaffen sein. Ich spüre grenzenlose Sorgfalt, liebenden Respekt, eine Stimme, die sehend macht.

Neben seiner Dichtkunst malt Enzo Pelli in seinem Atelier in Lugano. Kalligraphie, der gestalterischen Umsetzung von Schrift, Form und Farbe. Selbstverständlich ist auch diese Kunstform, die Enzo Pelli immer wieder in Ausstellungen präsentieren konnte, Auseinandersetzung mit Sprache, Rhythmen, Ausdrucksform. Nicht verwunderlich, dass es dann irgendwann die Sprache selbst war, das Gedicht.

Pfad, Fels

Pfad, Fels,
knirschender Schritt,
Wart, im Gestein:
Pfeift’s da nicht? Moos.
Atem, Wind
Zeit.

Man würde an den Momenten vorbeigehen. Aber ein Dichter wie Enzo Pelli ist sich der Einmaligkeit eines Moments bewusst, dem Fingerzeig, dem Hinweis, den man in der Eile übersehen würde. Er gibt mir den Moment zurück, eine zweite Chance. Pellis Gedichte sind Einladungen.

Für den Freund von damals

Im gossen Nichts
findest du die Fragmente,
die Worte, die Erinnerungen,
die du vorzeitig
verloren hast:
Endlich im Frieden,
zwischen Gestirnen,
wo alles schweigt.

Viele seiner Gedichte sind Erinnerungen an Menschen, Freundschaften, Begegnungen. Eindrücklich die Bilder, die Enzo Pelli von seiner Mutter in seine Gedichte einbringt, einer Frau, die in den 40er Jahren von Frankreich ins Tessin kam. Sie verbringt die Stunden, indem sie vor sich eindöst / und ferne Gedanken verfolgt. Bilder von unsäglicher Zartheit und Liebe. Die Mutter, alt, wartend auf die Leere, die sie erwartet.

Enzo Pelli wandelt das Banale in lichte Poesie. Nichts an seinen Gedichten ist Effekt, nichts übersteigert, alles durchdrungen von Ehrlichkeit, nicht nur den Menschen auch den Dingen gegenüber.
Seine Gedichte entziehen sich nicht durch Abstraktion, Umwege und Verschlüsselungen. Alles in seiner Lyrik orientiert sich am Bild. Enzo Pelli zeichnet klar, licht, auch dann, wenn seine Themen schwer sind, wenn man den Schmerz spürt.

Ich gönne Enzo Pelli, dass seine Gedichte, die er mit vollkommener Geste …. auf dieses dünne Blatt zeichnen kann, die LeserInnen findet, die der Dichter verdient!

Ombra improvvisa

Ombra improvvisa
sul fiume sui sassi.
Esito, sospendo il passo,
levo lo sguardo: solo
una nube che passa.

Enzo Pelli, 1948 in Lugano geboren, war lange Zeit Kulturredakteur beim Tessiner Fernsehen. 2014 veröffentlicht er seinen ersten Lyrikband, dem drei weitere folgen. Der letzte: «Il tempo breve» (2020). Er ist auch als Maler, Grafiker und Kalligraf tätig.

Webseite des Autors

Christoph Ferber, geboren 1954. Aufgewachsen in Sachseln, Obwalden. Studium der Slawistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Lausanne, Zürich und Venedig. Dort Promotion mit einer Arbeit zum russischen Symbolismus. Tätigkeit als freier Übersetzer. Wohnt auf Sizilien. 2014 Auszeichnung mit dem Spezialpreis Übersetzung des Schweizerischen Bundesamts für Kultur, 2016 dem Paul Scheerbart-Preis.

Enzo Pelli „Stalla in rovina“ auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Matteo Fieni