Daniel de Roulet «Brief an meinen Vater», Limmat

„Lieber Vater
 Heute erfahre ich, dass Mutter beschlossen hat zu sterben. Obwohl du nicht mehr da bist, schreibe ich dir, um dir zu erzählen, wie alles abläuft. Ich habe mir vorgestellt, ihr würdet gemeinsam sterben, aber du bist vor sechs Jahren als Erster gegangen.“

In den letzten Tagen vor dem gewollten Tod seiner Mutter schreibt der Genfer Schriftsteller Daniel de Roulet seinem schon länger verstorbenen Vater einen Brief. Einen Abschiedsbrief an seine Mutter, die das Sterben selbst in die Hand genommen hat und mit Hilfe von Exit alles organisierte, ist nicht möglich, denn noch ist sie da, liegt in ihrem Bett. Aber einen Brief an den Vater, den reformierten Pfarrer, einen Brief an ein Gegenüber, das nah gleichzeitig fern und nah ist, dem das Zuhören eine Aufgabe war, der die Mutter, seine Ehefrau verstanden hätte, das kann und muss Daniel de Roulet, weil er schreibend lebt, schon 35 Jahre lang.

„Brief an meinen Vater“ ist ein schmales Büchlein, eingefasst in ein Hodler Panoramablick über den Genfersee und die Savoyer Alpen. So wie Hodler mit Farbe unsentimental ein Maximum an Ergriffenheit auszulösen vermag, so tut es auch Daniel de Roulet, ein Autor, dessen Bedeutung in der deutschsprachigen Schweiz lange nicht seiner grossartige Werke entspricht. Roulets Monolog, seine stumme Zwiesprache mit seinem toten Vater, der Autor als Atheist und sein Vater als Pfarrer, ist ein Protokoll der inneren Auseinandersetzung; mit der seiner Herkunft als Pfarrerssohn, seinem verlorenen Glauben, der demonstrierten Eigenständigkeit seiner Mutter gegenüber und jenem speziellen Moment, dem Tod, diesem kurzen Augenblick, der alles ändert. „Er ist eine offene oder geschlossene Tür, er muss das Eine oder Andere sein, er kann nicht ein Drittes sein.“ (Stendhal)

Daniel de Roulet «Brief an meinen Vater», Limmat, 2020, 80 Seiten, CHF 22.00, ISBN 978-3-03926-004-1

Die alte Frau, Daniel de Roulets Mutter weiss, dass sie mit 97 keine Zukunft mehr hat. Und weil sie ein Leben führte, dass Eigenständigkeit zur Maxime erklärte, will sie auch ihr Sterben nicht fremden Händen überlassen. Sie beschliesst, mit Exit den Freitod zu wählen. Daniel de Roulet begleitet seine Mutter in diesen letzten Tagen. Wenn er nicht an ihrer Seite ist, dann spaziert er oder schreibt. Die letzten Tage seiner Mutter lassen ihn zweifeln, zweifeln an vielem, vielleicht sogar an den Grundfesten seines Nichtglaubens. Er schreibt seinem Vater, einem Pfarrer, um gemeinsam mit dir meinen eigenen Zweifeln auf den Grund zu gehen.

Auch wenn das Buch Sentimentalität zu vermeiden versucht, sind es jene Momente, in denen Daniel de Roulet Erlebtes in seiner Familie beschreibt, die bei mir wenn nicht Sentimentalität so doch Betroffenheit auslösen. Wer seinen zweiten Elternteil verliert, wird zum Vollwaisen, ungeachtet seines Alters. Stellen wir uns darauf ein, Waisen zu werden, vorne zu stehen, ohne Deckung. Oder wenn Daniel de Roulet von dem einen Moment erzählt, bei dem der Autor zusammen mit seiner Schwester und der Mutter am Sterbebett des Vaters sassen und sich der Vater unter Aufbietung der letzten Kräfte noch einmal aufrichtete. „Mutter, Vater will dich küssen.“

So wie ich das engagierte Schreiben des Autors schätze, sein Werk über die Jahrzehnte begleite und mich immer wieder wundere, wie bescheiden das Echo seines Schreibens in der Deutschschweiz bleibt, so sehr mag ich auch dieses Buch, denn es beweist, mit welcher Konsequenz der Autor an sein Schreiben geht, selbst dann, wenn andere in ihrer Ergriffenheit abdriften würden.

Lesen Sie Daniel de Roulet!

© Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig. 

Rezensionen von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» und «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

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