Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat

In Zeiten, in denen das historische Bewusstsein mehr und mehr schwindet und man glaubt, im Internet die Wahrheit über Vergangenes zu finden, sind Autoren wie Daniel de Roulet wichtiger denn je. „Die rote Mütze“ (damals Symbol der Revolution) ist ein Stück Geschichte, das sowohl bei den Protagonisten wie beim Autor physisch ins Leben eingreift.

Mag sein, dass jede Form des literarischen Schreibens eine Art der Vergangenheitsbewältigung ist, selbst dann, wenn das Geschriebene in der Zukunft geschieht. Aber wir leben und erzählen, was wir an Geschichten und Geschichte mit uns herumtragen. Aber nicht alle, die schreiben, kann man als „politische“ oder gesellschaftspolitische AutorInnen bezeichnen. Ich begleite das Werk von Daniel de Roulet schon seit Jahrzehnten. Er ist nicht nur ein Urgestein der Schweizer Literaturszene, Daniel de Roulet ist ein Autor, dessen Geschichtsbewusstsein, sein gesellschaftpolitisches Bewusstsein stets Niederschlag in seinem Schreiben finden. Und trotzdem ist sein Schreiben weder belehrend noch von Mission durchsetzt. Aber sein Schreiben schärft das eigene Bewusstsein.

„Die rote Mütze“ ist in vielfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Roman. Zum einen beschreibt er Geschehnisse vor und nach der Französischen Revolution aus einer eigenen Betroffenheit. Daniel de Roulet muss feststellen, dass einer seiner Vorfahren in jener Zeit eine mehr als nur ungute Rolle spielte, der Roman wendet sich weniger den Ursachen hin als den Auswirkungen, Auswirkungen bis in die Gegenwart. Und nicht zuletzt überrascht der Roman formal.

Daniel de Roulet «Die rote Mütze», Limmat, 2024, aus dem Französischen von von Maria Hoffmann-Dartevelle, 168 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-066-9

Stellen sie sich vor, sie müssten feststellen, dass einer ihrer Vorfahren eine unrühmliche Rolle in der Vergangenheit spielte, vielleicht auch erst aus heutiger Sicht und obwohl man demjenigen ein Dankmal setzte. Denke man nur an all jene Namen, die erst heute im Zusammenhang mit Sklavenhandel gebracht werden.
Daniel de Roulet muss feststellen, dass auf einem goldgerahmten Stich, den er von seinem Vater erbte, ein Vorfahr mit Louis-XVI-Perücke abgebildet ist. Jacques-André Lullin de Châteauvieux war Besitzer eines Söldnerregiments, ein Menschenschinder, der einen Aufstand seiner Söldner wegen ausbleibenden Solds blutig niederschlagen liess. Aber weil Daniel de Roulet Daniel de Roulet ist, erzählt er in seinem Roman „Die rote Mütze“ nicht einfach die Geschichte jenes royalen Zöglings nach. Es geht auch nicht darum zu verstehen, wie Menschen damals funtionierten, die sich nicht vorstellen konnten, dem „gemeinen“ Volk ein Mitspracherecht oder gar die Demokrtie zuzugestehen. Daniel de Roulet erzählt von den Opfern, jenen Söldnern, die die Konsequenzen auch mit dem Leben bezahlen mussten oder nur mit viel Glück mit dem Leben davonkamen.

Samuel wächst in Genf auf, einer Stadt, die von Patrizierfamilien regiert wird und sich ganz der französischen Monarchie verpflichtet fühlt. Aber schon Samuels Vater akzeptiert die scheinbar göttliche Ordnung nicht mehr. Samuel gerät zwischen die Fronten, muss Genf verlassen, heuert als Söldner an, wird festgenommen, muss mitansehen, wie seine Kameraden gefoltert und erhängt werden und entkommt erst im letzten Moment dem sicheren Lagertod, um schlussendlich in einer Heldenparade von Festakt zu Festakt geschoben zu werden, um nach Jahren festzustellen, dass sich das Leben, das er einst mit so viel Hoffnung begonnen hatte, ein Trümmerfeld ist.

Beeindruckend an Daniel de Roulets Roman ist zum einen die Perspektive, aus der er erzählt, aber auch die Klarheit und Schlichtheit der Art seines Erzählens. Nichts ist aufgeblasen, aufgebauscht und ausgeschmückt. Daniel de Roulet vermeidet jede Form der Verklärung oder Entfremdung. Er hält sich an Fakten, lässt diese sprechen. Was sich auch formal niederschlägt, denn der Text ist im Flattersatz geschrieben (linksbündig), abgespeckt und schlank.

Ein wichtiger Einblick in ein Stück Geschichte, die sich immer und immer wiederholt!

Am 4. Februar feiert Daniel de Roulet seinen 80. Geburtstag. Herzliche Gratulation und eine tiefe Verneigung vor dem engagierten, vielfältigen und eigenständigen Werk des Schriftstellers!

Interview

Historische Romane haben ein grosses Publikum. „Die rote Mütze“ ist durchaus ein historischer Roman. Und doch unterscheidet er sich in vielem von den meisten dieses Genres. Was mich am meisten beeindruckt, ist die Tatsache, dass sie keine „Guten“ und Bösen“ konstruieren, die Handlung nicht emotionalisieren und aus einer ganz eigenen Perspektive erzählen. War die Form von Beginn weg klar?
Seit 1688, als die Krankheit die Schweizer Söldner traf – und nur sie – wird sie «Nostalgie» genannt (etymologisch, Die Krankheit der Rückkehr). Das war eine ansteckende Krankheit, die tödlich verlaufen konnte. 
Wenn ein Soldat eines Regimentes an ihr erkrankt war, musste man ihn nach Hause schicken, bevor er andere anstecken konnte. Ausserdem waren die Schweizer Söldner bekannt als sehr grausam im Kampf. Auf der einen Seite die Nostalgie (das Heimweh), auf der anderen Seite die Grausamkeit. Wie also diese Widersprüchlichkeit in Worte fassen? Der klassische, historische Roman vermeidet solche Widersprüche. Ich hatte verschiedene Arten ausprobiert und habe mich schlussendlich für eine Form entschieden, ähnlich wie eine Ballade, wie «Vreneli am Guggisberg». Keine Psychologie, ein objektiver Blick von aussen. Die unterbrochene Prosa entspricht, für mich, einer angelsächsichen Tradition in der die Poesie Geschichten erzählt. 

Ein politischer Autor. Stört Sie dieses Etikett? Man setzt Sie in eine Reihe mit Dürrenmatt, Frisch und Meienberg. Ist es nicht erstaunlich, dass es in der Schweizer Literaturszene nicht mehr politische AutorInnen gibt? 
Für mich ist es schwierig, dass ein Autor Stellung beziehen kann, ohne von den Gerüchten der aktuellen Zeit beeinflusst zu werden. Man kann die Literatur nicht produzieren wie Tomaten ohne Erde ‘hors-sol’.
Also ja, ich befinde mich im Jahrhundert, ich schliesse mich der Tradition deutschsprachiger Schweizer Autoren der Generation vor mir an. In der Westschweiz ist die Literatur oft intim und misstrauisch gegenüber der Politik. Für mich hat Literatur mit Aktivismus nichts zu tun. Ich schreibe keine Flugblätter, ich erzähle Geschichte und versuche diese in einen Kontext zu betten, der das literarische Feld überschreitet. Das heisst, es gibt auch engagierte Autorinnen und Autoren, die nicht den Anspruch erheben, Politik im klassischen Sinn zu betreiben, sondern die sich für Feminismus, Ökologie, etc. engagieren.

Sie waren lange Jahre Informatiker und betrieben das Schreiben neben Ihrem Brotberuf. Erst mit über 50 Jahren widmeten Sie sich ganz dem Schreiben. Wenn heute junge Menschen mit dem Traum der Schriftstellerei Ihr Schreiben intensivieren, sind das ganz andere Vorzeichen. Wie hat sich Ihr gelebter Berufsalltag auf Ihr Schreiben später ausgewirkt?
Ich habe bis 50 verdient, um es danach für die Literatur auszugeben. Mit 50 Jahren habe ich zu schreiben und zu veröffentlichen begonnen. Davor habe ich nur Bücher gelesen, die etwas mit meinem Beruf zu tun hatten, keine literarischen Werke, Romane usw. Die wissenschaftliche und die literarische Welt kehren sich den Rücken zu. Ich wollte die beiden Welten versöhnen, für meine alten Kollegen schreiben, aber das ist unmöglich, diese zwei Kulturen sind zu unterschiedlich. Themen die ich behandle, wie das des Atoms, bedürfen einer wissenschaftlichen Erläuterung. Es bietet sich nicht offensichtlich an, daraus einen Roman, Literatur zu machen. Aber ich habe es versucht. Der Vorteil für mich, der ich spät angefangen habe, war, dass ich nie das Syndrom der weissen, leeren Seite hatte. Es scheint als hätte ich einen unerschöpflichen Vorrat an inneren Bildern und erlebten Situationen. Der Nachteil des späten Beginnens ist, dass man nicht getragen wird von einer Generation von Autorinnen und Autoren, die die gleichen Anliegen haben und so den Mainstream der Literatur formen. 

Wenn man in der Schule die Geschehnisse um die Französische Revolution auswendig lernt, scheint Geschichte eine logische Folge verschiedener Kausalitäten. Genau das widerlegt „Die rote Mütze“. Und nicht zuletzt ist Geschichtsschreibung stets eine Frage der Perspektive. Gerade heute wird „Geschichtsschreibung“, auch jene der aktuellen Geschichte, immer mehr in Frage gestellt. Müssen wir akzeptieren, dass sich Historie und Objektivität auf ewig streiten?
Es gibt die offizielle Geschichtsschreibung, die von den Herrschenden geschrieben wird und den Figuren der Macht folgt. Darum kann die Geschichte erzählt werden wie ein Loblied der Macht, wie eine Erfolgsstory oder eine Mythologie. Für mich muss die Literatur die Geschichte von unten her erzählen, um sichtbar zu machen, wie das Individuum, der einzelne Mensch die Geschehnisse, welche ihm durch das Handeln der Mächtigen quasi aufgezwungen wurde, erlebt hat. Das Problem, das sich im Zusammenhang mit dem Söldnertum stellt, ist, dass das Leben der Offiziere und der Inhaber der Regimente wohl gut dokumentiert ist, über das Leben der einfachen Söldner aber keine Dokumente vorhanden sind. Die Literatur muss diese Leben wiederbeleben, sogar erfinden. Historiker können sich nicht mehr mit den grossen Schlachten begnügen oder mit dem Beitritt der Kantone zur Eidgenossenschaft nicht mehr zufrieden geben. Jedes noch so kleine Leben und seine persönliche Erzählung zählt, was die voreiligen Synthesen in Frage stellt. Die Literatur lässt den Leser, die Leserin eintauchen, mittels Empathie, in die Details einer persönlichen Geschichte, die eine Epoche mindestens ebenso erfahrbar und verständlich machen wie die Liste der Französischen Könige. 

„Die rote Mütze“ ist auch die Geschichte Vertriebener, Heimatloser. Etwas, was man sich als satter Schweizer nur schwer vor Augen halten kann, obwohl das Weltgeschehen millionenfach solche Geschichten schreibt; kleine Leute, die durch die Machtgier weniger mit dem Tod im Rücken durch die Zeit gehetzt werden. Sie rütteln und schütteln uns mit Ihrem Schreiben. Packt Sie nie der Zweifel?
Ich habe mich entschieden, die Schweiz von unten zu erzählen. So habe ich auch die Geschichte der Schweizer Söldner erzählt («Die rote Mütze»). Es gab deren zwei Millionen über die Jahrhunderte. Ein Viertel davon ist nie in die Heimat zurückgekehrt. Ich erzähle auch aus der Schweiz während des 19. Jahrhunderts, gezeichnet durch die erzwungene Auswanderung («Zehn unbekümmerte Anarchistinnen»). Ich erzählte die Atom-Saga («Die menschliche Simulation») und die Geschichte der Gründung des Kantons Jura («Staatsräson»). Oder dann die Geschichte meiner Generation während der Zeit des kalten Krieges («Ein Sonntag in den Bergen»). Jedes Mal frage ich mich, wofür das gut sein soll. Aber sobald meine Bücher publiziert sind, freue ich mich zu sehen, dass sie meine Mitbürger, auch ausserhalb eines gewissen, ausgesuchten literarischen Kreises, interessieren. 

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig.

Rezension von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Brief an meinen Vater» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Daniel de Roulet «Brief an meinen Vater», Limmat

„Lieber Vater
 Heute erfahre ich, dass Mutter beschlossen hat zu sterben. Obwohl du nicht mehr da bist, schreibe ich dir, um dir zu erzählen, wie alles abläuft. Ich habe mir vorgestellt, ihr würdet gemeinsam sterben, aber du bist vor sechs Jahren als Erster gegangen.“

In den letzten Tagen vor dem gewollten Tod seiner Mutter schreibt der Genfer Schriftsteller Daniel de Roulet seinem schon länger verstorbenen Vater einen Brief. Einen Abschiedsbrief an seine Mutter, die das Sterben selbst in die Hand genommen hat und mit Hilfe von Exit alles organisierte, ist nicht möglich, denn noch ist sie da, liegt in ihrem Bett. Aber einen Brief an den Vater, den reformierten Pfarrer, einen Brief an ein Gegenüber, das nah gleichzeitig fern und nah ist, dem das Zuhören eine Aufgabe war, der die Mutter, seine Ehefrau verstanden hätte, das kann und muss Daniel de Roulet, weil er schreibend lebt, schon 35 Jahre lang.

„Brief an meinen Vater“ ist ein schmales Büchlein, eingefasst in ein Hodler Panoramablick über den Genfersee und die Savoyer Alpen. So wie Hodler mit Farbe unsentimental ein Maximum an Ergriffenheit auszulösen vermag, so tut es auch Daniel de Roulet, ein Autor, dessen Bedeutung in der deutschsprachigen Schweiz lange nicht seiner grossartige Werke entspricht. Roulets Monolog, seine stumme Zwiesprache mit seinem toten Vater, der Autor als Atheist und sein Vater als Pfarrer, ist ein Protokoll der inneren Auseinandersetzung; mit der seiner Herkunft als Pfarrerssohn, seinem verlorenen Glauben, der demonstrierten Eigenständigkeit seiner Mutter gegenüber und jenem speziellen Moment, dem Tod, diesem kurzen Augenblick, der alles ändert. „Er ist eine offene oder geschlossene Tür, er muss das Eine oder Andere sein, er kann nicht ein Drittes sein.“ (Stendhal)

Daniel de Roulet «Brief an meinen Vater», Limmat, 2020, 80 Seiten, CHF 22.00, ISBN 978-3-03926-004-1

Die alte Frau, Daniel de Roulets Mutter weiss, dass sie mit 97 keine Zukunft mehr hat. Und weil sie ein Leben führte, dass Eigenständigkeit zur Maxime erklärte, will sie auch ihr Sterben nicht fremden Händen überlassen. Sie beschliesst, mit Exit den Freitod zu wählen. Daniel de Roulet begleitet seine Mutter in diesen letzten Tagen. Wenn er nicht an ihrer Seite ist, dann spaziert er oder schreibt. Die letzten Tage seiner Mutter lassen ihn zweifeln, zweifeln an vielem, vielleicht sogar an den Grundfesten seines Nichtglaubens. Er schreibt seinem Vater, einem Pfarrer, um gemeinsam mit dir meinen eigenen Zweifeln auf den Grund zu gehen.

Auch wenn das Buch Sentimentalität zu vermeiden versucht, sind es jene Momente, in denen Daniel de Roulet Erlebtes in seiner Familie beschreibt, die bei mir wenn nicht Sentimentalität so doch Betroffenheit auslösen. Wer seinen zweiten Elternteil verliert, wird zum Vollwaisen, ungeachtet seines Alters. Stellen wir uns darauf ein, Waisen zu werden, vorne zu stehen, ohne Deckung. Oder wenn Daniel de Roulet von dem einen Moment erzählt, bei dem der Autor zusammen mit seiner Schwester und der Mutter am Sterbebett des Vaters sassen und sich der Vater unter Aufbietung der letzten Kräfte noch einmal aufrichtete. „Mutter, Vater will dich küssen.“

So wie ich das engagierte Schreiben des Autors schätze, sein Werk über die Jahrzehnte begleite und mich immer wieder wundere, wie bescheiden das Echo seines Schreibens in der Deutschschweiz bleibt, so sehr mag ich auch dieses Buch, denn es beweist, mit welcher Konsequenz der Autor an sein Schreiben geht, selbst dann, wenn andere in ihrer Ergriffenheit abdriften würden.

Lesen Sie Daniel de Roulet!

© Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schriftsteller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet wurde. Für sein Lebenswerk erhielt er 2019 den Grand Prix de Littérature der Kantone Bern und Jura (CiLi). Daniel de Roulet lebt in Genf.

Maria Hoffmann-Dartevelle, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre u.a. als freiberufliche Übersetzerin tätig. 

Rezensionen von «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» und «Wenn die Nacht in Stücke fällt» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Daniel de Roulet „Zehn unbekümmerte Anarchistinnen“, Limmat

Ein Roman über zehn mutige Frauen, die sich vor mehr als 150 Jahren trauten, ihrer Sehnsucht nach einem autonomen Leben zu folgen. Die auf der Basis historischer Dokumente nacherzählte Geschichte einer Suche nach Glück, einem Leben ohne Hierarchie, sei sie von Männern in der Gesellschaft oder in der Kirche inszeniert.

Die Geschichte ist mehr als abenteuerlich. Aus heutiger Sicht fast unglaublich, wie viel Leidensdruck es auf der einen und Sehnsucht auf der andern Seite geben musste, dass junge Frauen eine Reise ins Ungewisse wagten. Eine Reise, bei der es meist nur dann ein Zurück gab, wenn man(n) reich zurückkehren konnte.

Daniel de Roulet, dessen Romane sehr oft eine starke politische Komponente mittragen, lässt Valentine Grimm erzählen, die letzte der zehn Frauen. Valentine ist alt. Ihr „Wir-Gefühl“, das sie in der Vergangenheit zuerst nach Patagonien, später auf eine „Robinson-Insel“, dann nach Tahiti und schlussendlich nach Buenos Aires führte, ist so gross, das Valentine selbst als letzte ihrer zehn in der „Wir-Form“ erzählt. Die Geschichte von Colette, Juliette, Émilie, Jeanne, Lison, Adèle, Germaine, Mathilde, Valentines ältere Schwester Blandine und Valentine selbst. Sie alle wuchsen in der Gegend um die jurassische Stadt St. Imier auf. Eine Stadt, in der damals die Uhrenindustrie erwachte, sonst aber unsichere Zeiten durchlebte, erst recht als im Jahr 1851 die Unzufriedenheit vieler gegen die Obrigkeit Waffengewalt provozierte, Unruhestifter gejagt wurden, Ortschaften wie St. Imier bevölkerungsmässig förmlich explodierten. Doch die Aufbruchstimmung setzte sich nicht bis in die Familien und Traditionen durch. Die Frauen trafen sich, lasen in Zeitschriften vom Paradies in Übersee und schmiedeten Pläne. Die beiden Ersten, Colette Colomb und Juliette Grosjean, wanderten jede mit einer Longine A20 als Kriegskasse aus. Sie wollten unbedingt fort, in der Hoffnung, dort ihre gegenseitige Liebe ausleben zu können. Doch wenige Monate nach ihrer Abreise erhielten die noch Zurückgebliebenen die Todesnachricht „erdrosselt“ und einen Koffer mit den Habseeligkeiten der beiden Verlorenen. Die beiden Longine A20 aber blieben verschwunden.

“Wir fassten die Emigration ins Auge, um uns ein neues Leben zu erfinden.“

Im Juni des Jahres 1873 machten sie sich auf, acht Frauen, Émelie schwanger, zur Südspitze Amerikas, an die Ufer der Magellanstrasse, jede eine Longine A20 als Talismann und Kriegskasse im Gepäck. In den Zwiebeln der Uhren liessen sie drei Geheimbuchstaben und eine Zahl von drei bis zehn eingravieren, denn die Eins und die Zwei gehörten den unglücklich Vorangegangenen. Im August 1873 besteigen sie in Brest die Fregatte La Virgine. Neben Passagieren und Besatzung sind auch fast 300 Strafgefangene an Bord, auch mutterlose Kinder, die ihre Väter begleiteten. Verurteilte Aufmüpfige, Abgeschobene, „Randale“. Schon auf dem Schiff beginnt der unablässige Kampf ums Überleben. Émelie und ihr auf dem Schiff Geborenes schaffen es nicht. Nur sieben steigen im chilenischen Punta Arenas aus. Ein Ort, der die sieben Frauen erst einmal mit Kälte und Nässe „empfängt“.

Die von Valentine Grimm erzählte Geschichte ihrer Truppe unerschrockener Frauen ist nicht nur eine Aneinanderkettung unglücklichen Leidens, Misserfolgs und ewigem Kampf. Die Sieben schaffen es, etablieren sich, leben ihr Leben und ihre Lieben, kriegen Kinder, gründen Geschäfte, leben vieles von dem, was in den engen Strukturen ihrer Heimat nie möglich gewesen wäre. Daniel de Roulet schrieb ein Denkmal all dieser Mutigen. Frauen, die nicht in erster Linie Politik machen wollten, aber in ihrer neuen Art des Zusammenlebens höchst politisch waren. Selbst die Art und Weise wie sie ihre Kinder erzogen, ist aus heutiger Sicht revolutionär. Daniel de Roulet schrieb mit diesem Roman über Frauen, die sich neu erfinden mussten, die herausgerissen waren aus scheinbar sozialer und gesellschaftlicher Sicherheit und in der Fremde, die nicht weniger frauenfeindlich war, nur als Gemeinschaft, als Kollektiv überleben konnten.

Ein beeindruckendes, ungeheuer spannendes, wichtiges Buch. Bei weitem nicht das erste Buch von Daniel de Roulet, das man gelesen haben sollte.


Daniel de Roulet, 1944 in Genf geboren, war Architekt und arbeitete als Informatiker. Seit 1997 gewann er als Schriftsteller, Autor zahlreicher Romane und Essays viele Preise, vor allem in Frankreich. Er lebt in Genf. Im Limmat Verlag ist ein Grossteil seiner Werke auf Deutsch erschienen.

Maria Hoffmann-Dartevelle, die Übersetzerin von „Zehn unbekümmerte Anarchistinnen“, 1957 in Bad Godesberg geboren, studierte Romanistik und Geschichte in Heidelberg und Paris. Seit Mitte der Achtzigerjahre ist sie u.a. als freiberufliche Übersetzerin französischer, schweizer, spanischer und südamerikanischer Autoren tätig.

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