Raphaela Edelbauer «Das flüssige Land», Klett-Cotta

Einer nicht mehr ganz jungen Physikerin wird telefonisch mitgeteilt, ihre Eltern seien bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Zwar nicht durch den Unfall selbst, wie der Beamte mitteilt, aber gleichzeitig und im Moment des Unfalls. Ein Telefonat, das Ruth aus ihrem Leben kippt. Raphaela Edelbauer beschreibt aber in der Folge nicht einfach die Suche nach Ursachen, ihrer Herkunft, sondern das Absinken aus der Zeit, die Reise dorthin, wo die Wunde klafft.

Ruth lebt in Wien und unterrichtet. Die Mitteilung, dass ihre Eltern, zu denen der Kontakt in den letzten Jahren gelitten hatte, ums Leben kamen, reisst sie aus ihrer diffusen, von Medikamenten zusammengehaltenen Mitte. Unter dem Vorwand, am Herkunftsort Gross-Einland, dem Ort der Kindheit ihrer Eltern, das Begräbnis zu organisieren, entflieht Ruth und gerät abseits aller Strassen und Verbindungen zur Welt in eine Stadt, die auf keiner Karte und in keinem Register verzeichnet ist. 

In Gross-Einland, einem mittelalterlich erscheinenden Städtchen, von einem Schloss und deren Gräfin überragt und kontrolliert, abgeschnitten von Verkehrswegen nach aussen, ohne Internet, bewohnt von Menschen, die ganz eigenen Gesetzmässigkeiten zu folgen scheinen, bleibt Ruth hängen. Viel länger, als die paar Tage, die sie rechnete, um eine Überführung ihrer Eltern zu organisieren. Sie, die sich im Ausnahmezustand befindet, trifft auf ein ganzes Städtchen, das sich im Ausnahmezustand befindet. Denn im Untergrund, direkt unter den Häusern der Stadt, befindet sich ein unüberschaubares System aus Höhlen und Stollen, über die Jahrhunderte vergrössert und erweitert, vom Erzabbau bis zur unterirdischen Fabrikationsanlage im 2. Weltkrieg genutzt, als Tor zu Sagen und Mythen gleichsam verwendet wie zum stillen Ort der Entsorgung. Aber die Stadt über dem „Loch“ droht durch Auswaschungen und Einbrüche ein- und abzusinken. Der Kirchturm neigt sich, Strassen brechen auf, Plätze werden unpassierbar und Menschen verschwinden in den Öffnungen.

Ruth, die durch Schäden an ihrem Auto, gezwungen ist, den Aufenthalt auszuweiten, bleibt, mietet sich im „Kürbis“ ein und erfährt mehr und mehr, dass nicht nur die Uhren in der Ortschaft anders ticken. Man verschliesst sich der drohenden Gefahr, zeigt sich wenig kooperativ bei Ruths Nachforschungen über ihre Eltern und huldigt gehorsam der Frau im Schloss, die sich Gräfin nennt, die alles und jede(n) in der Stadt kontrolliert und über alles Bescheid weiss, auch sehr bald von Dingen, die Ruth selbst betreffen. Aus Tagen werden Wochen, aus Wochen werden Monate.

Auch die Gräfin merkt, dass Ruth nur dann zu kontrollieren ist, wenn sie sie zu ihrer Vertrauten macht, sie mit der Rettung des Städtchens beauftragt, der Entwicklung eines Füllstoffes, der das Absinken der Ortschaft aufhalten soll, der Mithilfe eines touristischen Grossanlasses, bei dem diese Rettung gross aufgezogen gefeiert werden soll. Ruth, die zu den Innereien des Städtchens Zugang erhält, einen Sonderstatus geniesst und sich immer mehr in den unsichtbaren Schichten des Städtchens verliert, nicht zuletzt in das Verschwinden mehr als tausend KZ-Häftlingen, die in den letzten Wirrungen der NS-Zeit beseitigt werden sollten und unerklärbar verschwanden, sackt immer tiefer ab. Ins Loch in ihr, ins Loch der Geschichte, ins Loch unter dem Städtchen, ins Loch der Zeit.

„Das flüssige Land“ ist durchsetzt mit wissenschaftlichen Passagen zum Phänomen „Zeit“, Legenden von jenen, die im Loch verschwanden und Wochen später wieder auftauchten, Archivtexten aus den unendlichen Regalen in den Tiefen des Schlosses. Was sich zu Beginn des Romans wie die Fluchtgeschichte einer Frau, die mit einem Mal ihre Eltern verliert, liest, fächert sich zu einem Panorama auf mit ganz eigenwilliger Perspektive. Es ist die Stadt, eine Stadt im Off der Zeit, aus der Zeit gefallen, mit einem Panoptikum an Archetypen, die sie bewohnen. Ruth, die Frau, die nach Erklärungen sucht, eine Frau, die nicht weiss, wie ihr geschieht.

Aber „Das flüssige Land“ liest sich wie eine einzig grosse Metapher über eine Gesellschaft, die sich allen Rissen, Abgründen und schwarzen Löchern verschliesst, nicht wissen will, sich sogar vor der Ahnung abwendet und statt dessen lieber eine grosse, letzte Party feiert, bei der die Stadt paralysiert und erblindet auf ihre Errettung hofft, eine Gesellschaft in einem Loop, einem immerwährenden Karussell.

Virtuos geschrieben, auch wenn viele Fragen unbeantwortet bleiben. So wie im Leben selbst. Ein Buch für die Shortlist des Österreichischen Buchpreises 2019!

Ein Interview mit Raphaela Edelbauer:

Zwischen 2013 und 2015 gab es eine amerikanische TV-Serie mit dem Titel „Under the Dome“. Eine Kleinstadt, die unter einer riesigen, unsichtbaren Kuppel vom Rest der Welt abgeschlossen ist. „Gross-Einland“ ist es auch, nur ist die Abschottung gewachsen, die Stadt ein Eiland im Fluss der Zeit. Ruth rutscht in diesen geschlossenen Kosmos und findet eine scheinbar glückliche Gesellschaft, die direkt über dem Abgrund lebt. Geben diese Bilder nicht genau das wider, was momentan geschieht? Sei es politisch, gesellschaftlich oder in Sachen Klima?

Ich habe bewusst nach einer Metapher gesucht, die mehrere dieser Aspekte vereinigt: Eine bedrohliche Leerstelle – etwas, das dadurch gefährlich wird, dass es nichts ist, also eine Aussparung des Wissens, das Schwarz der Geschichte. Zweitens natürlich eine Wiederspiegelung des fast komödiantischen Wegsehens der ganzen Gesellschaft, obwohl dieses Loch in der eigenen Existenz immer dominanter wird – obwohl es mit unendlich viel Mühe behaftet ist, es zu ignorieren. Das ist natürlich eine Metapher für Österreich: Links und rechts quellen die Verbrechen, die Nazivergangenheiten, die Wehrsportübungen und Ibizaskandale hervor, und man wirft einfach immer weiter frohen Mutes geklöppelte Tischdeckerln, Punschkrapfenglasuren oder Lippizanerquadrillen drüber. 

Was sich in ihrem Roman zu Beginn ganz konventionell wie die Geschichte einer aus dem Alltag katapultierten Frau gebärdet, entpuppt sich schnell als Reise aus der Zeit, hinein in eine fast puppenstubenartige Welt einer allmächtigen Gräfin in einem Schloss hoch über der Stadt. Wie kam es zu dieser Kulisse?
Unter allem droht das Loch, auch unter der Geschichte, von der niemand mehr Konsequenzen ziehen will, die man lieber im Verborgenen belassen will. Scheut sich der Mensch der logischen Konsequenz? Spielen in ihrem Roman Erfahrungen mit eigener Heimat? 

Zunächst einmal zum Loch: Tatsächlich gibt es unter meiner Heimatgemeinde, der Hinterbrühl (einer Vorstadt von Wien) eine solche Aushöhlung, in die die ganze Stadt abrutscht. Tatsächlich haben sich in zugehörigem Bergwerk, heute als „Seegrotte“ (http://www.seegrotte.at) touristenbekannt, war im Jahre 44/45 von 2000 in Schichten arbeitenden Zwangsarbeitern einer KZ-Außenstelle für das Zusammenschrauben von Flugzeugen verwendet worden. Tatsächlich starben sie nahezu alle – die meisten auf einem Todesmarsch nach Mauthausen, andere durch die im Buch geschilderten Benzininjektionen. Es gibt also für diesen Part der Geschichte ein recht eindeutiges Vorbild.

Ich habe aber einen Wolpertinger aus mehreren österreichischen Städten zusammengebaut, um den stellvertretenden Charakter herzustellen, der ein literarisches Werk meines Erachtens nach auszeichnet. So flossen Attnang Puchheim, Melk und natürlich die berüchtigte Lassnitz-Grube mit ein, deren Bilder um die Welt gingen. Zuletzt wollte ich eine Commedia-dell-arte der österreichischen Gesellschaft in diese mumifizierte Gemeinde setzen, in der sich die letzten 300 Jahre in den Menschen ebenso sedimentiert haben, wie die Gesteine des Bergwerks – und beides muss am Ende natürlich in sich zusammenfallen. 

Aus der Frau, die nach Antworten sucht und sich entschlossen auf den Weg macht, wird eine Sesshafte, eine, die ausgerechnet im zeitlosen Raum glaubt, endlich angekommen zu sein. Aber es ist auch der Ort, in dem sie sich derart mit Zeug zudeckt, dass sie aus den Augen verliert, was sie einst wollte, seien es die Antworten zu Fragen, die den rätselhaften Tod ihrer Eltern betreffen oder den Endspurt ihrer Habilitation. Wovor fürchten Sie sich?

Auf der einen Seite natürlich vor der Identitätslosigkeit, die mit dem Riss in ihrer Familiengeschichte beginnt: beide Eltern sterben, der Anschluss zur Frage, woher sie kommt, ist jäh abgeschnitten. Es wäre aber keine literarische Herangehensweise an das Thema, wenn sich dieser Riss nicht bald als Gesellschaftsphänomen artikulieren würde. Bald entdeckt sie in sich – was ich übrigens immer häufiger auch bei jungen Menschen sehe – eine geradezu konservative Hinwendung zum ländlichen Zugehörigkeitsgedanken. Natürlich ist das die Sehnsucht der in Deutschland und Österreich lebenden Midtwens: Einen unschuldigen, naiven Zugang zum verlorenen Paradies der heimatlichen Landschaft. Nur leider geht das nicht: Unsere Großeltern haben nämlich sechs Millionen Menschen vergast, gefoltert und erschossen und sie dann in dieser wunderschönen Alpenlandschaft unterirdisch verstaut. Das zu realisieren und es mit der eigenen Herkunft gewissermaßen zu synchronisieren ist eine in der Geschichte unitäre Situation, die furchteinflößend ist, das stimmt. 

Die Rettung der Stadt liegt in einer Mischung, einer von Ruth entwickelten Flüssigkeit, die sich verfestigt, die glauben macht, den Ort retten zu können. Die Rettung wird aber auch alles Leben vernichten. Welche Mischung rettet uns vor den Abgründen der Löcher, auf denen unsre Existenz ruht?

Eben keine. Es gibt Unversöhnliches in der Geschichte, das man eben nicht mit einem „es wird schon wieder“ hinbekommt. Die Landschaft und Natur – wobei das natürlich auch als irgendeine ursprüngliche Konfiguration des Kosmos bezeichnet werden kann – wurde unendlich oft vergewaltigt, missbraucht und gleichzeitig hypostasiert als idyllische Urheimat. Und wenn diese Landschaft das Grauen wieder herausbricht wie unter einem gewaltigen Ermetikum, oder einen verschlingt, dann vertraut man eben mit der gleichen Naivität, mit der man gerade noch die grünen Wiesen angebetet hat, auf die Heilsversprechen der Technik. Das ist ja ebenso kein Widerspruch in Österreich: dass man jeden Tannenzapfen verehrt und sich in seiner regionalen Verbundenheit mit Zirbenöl einschmiert und gleichzeitig in riesige Skipisten investiert, die die Natur ganzer Bergmassive auslöscht. 

Ihr Roman ist ein Roman über die Zeit, dieses menschliche Konstrukt, das helfen soll, aber eigentlich nur blendet. Gab der Roman Ihnen selbst Antworten?

Natürlich nicht. Ich habe jetzt allenfalls eine Menge mehr Fragen und Gründe zu verzweifeln, mit denen ich klar kommen muss. Die nächsten Jahrzehnte werden ein paar mehr geschichtliche Erdlöcher freilegen, daran zweifle ich keine Sekunde. 

Vielen Dank!

Raphaela Edelbauer, geboren 1990 in Wien, wuchs im niederösterreichischen Hinterbrühl auf. Sie studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst, war Jahresstipendiatin des Deutschen Literaturfonds und wurde für ihr Werk »Entdecker. Eine Poetik« mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage 2018 ausgezeichnet. Beim Bachmannpreis in Klagenfurt gewann sie 2018 den Publikumspreis. 2019 wurde ihr der Theodor-Körner-Preis verliehen.

Webseite der Autorin

Christian Torkler «Der Platz an der Sonne», Klett-Cotta

«Der Platz an der Sonne» ist ein wahrhaft verrücktes Epos. Christian Torkler dreht in seinem ersten Roman die Geschichte und setzt damit der Gegenwart jenen Spiegel vor, der einem verstehen lässt. Ein Mann stopert durch eine Welt, die nach dem 3. Weltkrieg auf dem europäischen Kontinent nicht zur Ruhe kam, durch Ereignisse, die die ganze Welt verkehren.

Josua Brenner landet nach einer unendlichen Odyssee in einem Abschiebehaftgefängnis in Dar es Salaam/Ostafrika. Er muss zurück in sein kaputtes Heimatland, die Neue Preussische Republik. Ein Gefängnispfarrer schenkt ihm Hefte, in die er seine Geschichte schreibt. Die Geschichte eines Mann, der in einem Berlin aufwuchs, das sich nie von den Zerstörungen des 2. Weltkrieg erholte, zwischen Trümmern und Hoffnungslosigkeit. Brenner erzählt von seiner Kindheit, den Freundschaften, dem Willen, sein Glück zu finden, der Suche nach Arbeit und dem lange erkämpften Erfolg, der ihm Arbeit, eine Bar und eine Familie schenkt.
Aber Brenners Glück währt nicht lange. Kaum der Bürokratie und Korruption in der maroden Republik entwunden, verfängt er sich in Schutzgelderpressung, mafiösen Strukturen und strauchelt, nachdem ihm das Unglück die Familie entreisst. Brenner ist am Boden. Sein Freund Roller ist schon lange weg. Ab auf der Suche nach dem Glück im Süden. Brenner trägt eine Postkarte von Roller mit sich herum, eine Karte von Matema, jenem magischen Ort auf dem afrikanischen Kontinent, wo Milch und Honig fliesst. «Ich habs geschafft!», schrieb Roller.

Brenner macht sich auf den Weg, einen langen Weg. Durch ein Deutschland, das in weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen in viele kleiner Einzelstaaten zerfiel, in denen Willkür herrscht, die Menschen den Glauben an die Politik schon lange verloren haben, Clans sich am wenigen schamlos bereichern. Er schliesst Freundschaften mit Schicksalsgenossen, hungert, friert, wird eingesperrt, geprügelt und gefoltert, landet in den Fängen skrupelloser, geldgieriger Blutsauger und findet sich irgendwann auf einem hochseeuntauglichen Boot, das ihn und seine Leidensgenossen, Männer, Frauen und Kinder auf die andere Seite des Meeres bringen soll, in die Wiege des Glücks, den Ort der einzigen Hoffnung, nach Karibu Matema, wo Roller sein Freund es geschafft hat.

Brenner schreibt aus der Rückblende, mit den Worten einer einfachen Mannes. Christian Torkler schreibt, als hätte ihm Brenner an einem Tisch diktiert. Die Sprache ist hart, hölzern, mehr «gesprochen» als geschildert. Brenner erzählt seine Geschichte trocken, aus der Sicht eines Mannes, der es gewohnt ist einzustecken, der die unbändige Kraft mit sich trägt, immer wieder aufzustehen.

Ein Mailinterview mit Christian Torkler:

Wie viel Schmerz verursachte das Schreiben ihres Romans?
Schmerz klingt vielleicht etwas zu dramatisch, aber ja, eine Reihe von Passagen haben mich beim Schreiben schon recht mitgenommen. Und auch wenn ich sie später noch einmal gelesen habe, hat mich das jedes Mal auf’s Neue berührt. 

In Afrika wütet der 3. Weltkrieg schon lange; ein Krieg der Armut, des nicht enden wollenden Kolonialismus, der Korruption und Gier. Kein Wunder machen sich bei all der Hoffnungslosigkeit Tausende auf den Weg, im reichen Norden, auf der andern Seite des Meeres, ihr Glück zu suchen. Einen Roman lang haben sie das wirtschaftlich Magnetfeld umgepolt. Gibt einem das als Westeuropäer mehr Legitimation, seiner Empathie freien Lauf zu lassen?
Vieles von dem, was ich beschreibe, geschieht ja tatsächlich so, und zwar jeden Tag – es geschieht eben nur nicht uns! Indem ich das grundsätzlich ändere, rückt uns dieses Geschehen vielleicht näher, das ist zumindest ein Anliegen des Romans. Dazu kommt, daß wir in unserem Umgang mit der Flüchtlingsproblematik ja schnell zu Verallgemeinerung neigen. Deshalb habe ich den Text ganz bewußt und ausschließlich aus der Perspektive eines Einzelnen geschrieben, denn jeder, der sich auf den langen Weg nach Europa macht, hat seine eigene Biographie. So, wie ich meine eigene Biographie habe und jeder Leser.

© Annette Hauschild / Ostkreuz

Joshua Brenner verliert immer wieder alles; seine Familie, seine Freunde, seine Frau, sein Kind, den Glauben, dass da irgendwo ein Platz für ihn ist, der auf ihn wartet. Schlussendlich ist er sich das und der Einzige, das bleibt. Ist das eine der Quintessenzen aus der Gegenwart, dass in einer Zeit, in der uns der Glaube an „Höheres» genommen ist, sich selbst Beziehungen scheinbar digital messen lassen, nichts mehr geblieben ist, als das Gegenüber im Spiegel?
Ehrlich gesagt, gehört diese Frage eigentlich nicht zu denen, die ich im Roman thematisieren wollte. Aber gerade deshalb finde ich sie sehr interessant, demonstriert sie doch die bemerkenswerte Fähigkeit von Literatur, mehr sein zu können, als der Autor beabsichtigt hat. Davon abgesehen denke ich, daß es auf diese Frage keine einfache Antwort gibt. Ein Beispiel: ich gehe ins Café und dort sitzt eine Gruppe von Menschen zusammen, die sich nicht mehr miteinander unterhalten, weil jeder für sich mit seinem Smartphone beschäftigt ist. Doch worin besteht diese Beschäftigung in der Regel? Im Pflegen von «social networks»! Diese Netzwerke funktionieren ganz wesentlich über Zustimmung oder Ignoranz der anderen Teilnehmer, frei nach Sartre: die Hölle (oder der Himmel) sind immer die anderen. So spielen sich also zwei Phänomene zeitgleich ab: eine seltsame Form von Vereinzelung und eine starke Abhängigkeit von Followern und Friends. Was man im Café nicht so alles erleben kann ;-).

Der Titel Ihres Romans erinnerte mich an die gleichnamige Deutsch Fernsehlotterie „Ein Platz an der Sonne“, die ein halbes Jahrhundert Geld zur „Förderung sozialer Massnahmen“ sammelte. Joshua Brenners Odyssee durch ein kaputtes Europa Richtung paradiesisches Afrika ist auch eine Lotterie mit maximalem Einsatz. Liegt das Glück wirklich am Ende eines Weges?
Tatsächlich spielt der Titel des Romans auch auf diese Lotterie an. Die hat übrigens ihre Ursprünge in der Zeit der Berlin-Blockade 1948, die ja auch für meinen Roman von wesentlicher Bedeutung ist. Damals wurden Kinder aus dem eingeschlossenen West-Berlin nach Westdeutschland geflogen, um ihnen dort für einige Wochen einen erholsamen «Platz an der Sonne» zu bieten. Außerdem spielt der Romantitel auf eine Formulierung Bernhard von Bülows an, die zum Inbegriff deutschen Kolonialstrebens wurde. Auch er sah in Afrika «einen Platz an der Sonne» – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen.
Was nun das Glück angeht, so hat Josua Brenner ja zunächst alles versucht, um es in seiner Heimat zu finden. Erst als das fehlschlägt, und zwar in jeder Beziehung, macht er sich auf den Weg. Und ja, für ihn liegt das Glück tatsächlich am Ende des Weges, das ist zumindest seine große Hoffnung. Wir, die wir Kreuzfahren oder Urlaubsreisen unternehmen, können ja entspannt sagen, der Weg ist das Ziel. Josua Brenner hat diesen Luxus nicht, für ihn ist das Ziel das Ziel.

Sie leben zeitweise in Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Ein Land und eine Stadt, das von der Geschichte arg in die Mangel genommen wurde, zuerst im Indochina-Krieg und dann unter der Herrschaft der Roten Khmer. Sowohl in Deutschland wie in Kambodscha könnte sich die Frage aufdrängen, was mit der Geschichte eines Landes, eines Kontinents passiert wäre, wäre dies oder jenes nicht geschehen. Das allein kann die Motivation hinter ihrem Roman nicht gewesen sein – oder doch?
Nein, die Motivation, diesen Roman zu schreiben hat verschiedene Facetten. Dazu gehört, daß ich einige Jahre in Tansania gelebt habe. Diese Perspektive hat meinen Blick dafür geschärft, daß wir in einer Welt leben, in der wenige viel und viele nur sehr wenig haben, was sicherlich eine der Ursachen für die Flüchtlingsströme ist, wie wir sie heute erleben. In diesem Zusammenhang will ich anmerken, daß ich den Roman schon vor 2015 fertiggestellt habe, also bevor das Thema eine breite Öffentlichkeit erreicht hat. Aber ich hatte seinerzeit einfach das Gefühl, da kommt noch etwas auf uns zu … und das hat mich beschäftigt. Aber ja, ich wollte auch die Frage stellen, was wäre wenn? Ich denke, wir unterstellen der Geschichte häufig eine Folgerichtigkeit, die es so wohl niemals gegeben hat. Es hätte immer auch anders kommen können, und das spiele ich in einer Variante durch. Dabei liegt mein Augenmerk aber nicht auf der Weltgeschichte, sondern auf dem Einzelnen. Und der Einzelne kann sich die Welt nicht aussuchen, in die er geboren wird. Die Umstände können günstig sein – oder auch nicht, aber das verdankt sich niemand selbst. Ich finde, das sollte uns gelegentlich etwas bescheidener machen und auch in unser Urteil einfließen über diejenigen, die weniger Glück hatten als wir.

Christian Torkler, geboren 1971 in Greifswald, wuchs im Pfarrhaus auf. Das und die unerschöpflichen Erzählungen der ostpreußischen Verwandten haben ihn früh geprägt. Er hat in Berlin Theologie, Philosophie und Kulturwissenschaften studiert. Von 2002 bis 2009 hat er in Dar es Salaam, Tansania, gelebt und von dort aus den Kontinent bereist. Seit einigen Jahren lebt und schreibt er in Berlin und Phnom Penh, Kambodscha. «Der Platz an der Sonne» ist sein erster Roman.

literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

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Daniel Goetsch „Fünfers Schatten“, Klett-Cotta

Daniel Goetsch schrieb mit „Fünfers Schatten“ einen kunstvoll konstruierten und sprachlich meisterhaften Roman über einen Mann, der mit seiner Geschichte ins Uferlose abdriftet, seiner eigenen Geschichte abhanden kommt. Ein beeindruckendes Buch mit ungewohnten Horizonten. Literatur, die einem etwas abverlangt und zutraut.

Maxim Diehl, ein erfolgreicher Theaterautor, setzt sich auf eine Insel vor der französischen Mittelmeerküste ab. In eine kleine Pension, nicht weit von dem Haus, in dem der Vielschreiber Georges Simenon Romane am Fliessband in seine Remington tippte. Aber Maxim Diehl ist aus dem Tritt geraten, möchte schrieben, findet aber seine Stimme nicht. Die Urangst jedes Autors. Erst recht in Hörweite eines Hauses, aus dem das Tippen noch immer, für Maxim Diehl als Drohung, den Takt angibt.

In der Pension ist er der einzige Gast, bedrängt von der Besitzerin, die bei jedem auftauchenden Schreiberling hofft, ihre Geschichte und die ihres Mannes unterzubringen. Diehl flieht vor der Pensionsbesitzerin und den leeren Seiten seiner Notizbücher. Auf diesen Spaziergängen begegnet er einem alten Amerikaner, der vor seinem Hotel alleine Cognac trinkt. Jack Quintin beginnt zögerlich seine Geschichte zu erzählen, als er auf Seiten der Alliierten gegen Ende des Krieges nach Deutschland kam. In einer Spezialeinheit hatten sie die Aufgabe, für die führungslose Verwaltung im besiegten Deutschland fähiges Personal zu rekrutieren, das während der Nazizeit nicht brauner Gesinnung unterlag. Während er sich in Interviews einen Reim auf die verdunkelten Lebenslinien der Überlebenden zu machen versucht, verliebt er sich gegen die Weisung der Besetzer in die junge, hübsche Tochter eines Kandidaten.

Diehl erliegt der Geschichte des Amerikaners. Er, der eigentlich einen Roman über seine eigene Geschichte schreiben wollte, nicht zuletzt über die wilden 70er Jahre in Zürich rund um die Globuskrawalle oder die von der Öffentlichkeit vergessene Selbstverbrennung der jungen Silvia Zimmermann im Winter 1980, mitten in Zürich. Revolte und Aufbruch. Statt dessen erliegt er der Geschichte des Amerikaners, beginnt wie besessen aufzuschreiben, was ihm der Amerikaner erzählt. Eine Geschichte, die den auf die Insel Entflohenen noch einmal von seinem eigenen Leben wegträgt. Ein Leben, das aus der Distanz, auf seinen Spaziergängen, im Wanken zwischen medikamentös unterstützter Euphorie und tiefen Abstürzen immer mehr in Schieflage gerät.

Und als Diehls schon längst geschiedene Frau zusammen mit dem gemeinsamen Sohn ihren Besuch auf der Insel ankündigt, droht sich zur Flucht eine unabwendbare Konfrontation zu gesellen. Eine mit einem auseinandergebrochenen Leben, einem autistischen Sohn, der nie zu seinem eigenen Sohn geworden war, einer nicht wahrgenommenen Pflicht, einer ungewollten Vaterschaft. Und unter allem, zwischen allem und hinter allem die Erinnerungen an Viv, der einzigen Liebe, die aber nie wurde, was sie hätte sein können, sein sollen.

Die Geschichte Jack Quentins, eine Geschichte in den Ruinen Deutschlands verknüpft sich mit einem unwirklichen Sog mit seiner eigenen, der Geschichte Maxim Diehls. Ein Sog, der sich auf den Leser überträgt. Geheimnisse, deren Erklärung man unbedingt entgegenlesen will.

Daniel Goetsch erzählt zeitlich auf mehreren Ebenen, ebenso wie in seinen Erzählpositionen. So nah einem die verschiedenen Perspektiven erscheinen, so weit weg geraten sie aus jeweils anderer Perspektive. Es entstehen Vexierbilder, Kippbilder.

„Fünfers Schatten“, ein kluger Roman, ein Buch über Biographien, Lebensentwürfe und den Versuch ihrer Realisation. Diehl wird von seiner Geschichte weggespült, in die Unendlichkeit der Bedeutungslosigkeit. Das, was uns dereinst allen blüht, man aber geflissentlich verdrängt und vergisst, solange man sich im Zentrum des Universums glaubt.

Hochgradig gute Schweizer Literatur mit dem Zeug für das grosse Buch! Daniel Götsch liest morgen Freitag, am 20.April, im Kosmos Buchsalon in Zürich.

Daniel Goetsch geboren 1968 in Zürich, lebt als freier Autor in Berlin. Er verfasste mehrere Romane, darunter »Herz aus Sand« und »Ben Kader«, sowie Dramen und Hörspiele. Für »Ein Niemand « erhielt er das HALMA-Stipendium des europäischen Netzwerks literarischer Zentren.

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Titelfoto: Sandra Kottonau