Längst nicht jede Geburt steht unter einem guten Stern, auch wenn man die eine jede Weihnachten feiert. André David Winter, der sich 2007 mit seinem Roman „Die Hansens“ schon einmal in die Abenteuer einer Familie hineinschrieb, überzeugt mit seinem neuesten Roman nicht nur durch den so gar nicht helvetisch grosszügigen Schwung des kräftigen Erzählens, sondern durch einen Sound, durch Bildfarbe, die an französische Filme erinnert, nicht nur wegen der frankophonen Namen.
Gaston wird 1929 in eine Pariser Artistenfamilie hineingeboren. Sein Vater ist artiste et céphalopode, Schlangenmensch, selten bis nie zuhause. Seine Mutter versucht sich selbst als Modistin über die Runden zu bringen, mehr schlecht als recht, zumal ihr Gemahl nur in den seltensten Fällen Geld von seinen Streifzügen zurück nach Hause bringt. Man deponiert den kleinen Gaston mal hier mal da, bis er im Unrat einer entfernten Verwandten liegen bleibt und zu einem sabbernden Stück Dreck zu werden droht, das die Tante bloss ihr „Tier“ nennt.
Glücklicherweise kehrt Gastons Vater doch noch einmal zurück, rettet seinen verkümmerten Sohn vor dem sicheren Tod, nimmt ihn mit und lässt ihn bei einer Bekannten, die ein Bordell unterhält, in dem Gaston zu einem eigentlichen Maskottchen heranwächst und all jene Liebe dankbar entgegennimmt, die man ihm in seinem bisherigen Leben verweigerte. Schnell zeigt sich, dass Gaston sich nicht nur wohl in den vielen Kissen fühlt, sondern schnell zu lernen weiss, all das, was ihm seine Ammen beibringen und das, was in den Büchern geschrieben steht, aus denen man ihm in den Pausen gerne vorliest.
Aber als Gaston in die Schule gehen sollte und klar wird, dass das Haus, in dem er lebt das Leben des kleinen Jungen zur permanenten Provokation im Ort werden lässt, nimmt der Vater Gaston mit, obwohl der kleine Junge die Frauen und allen voran Paulette nicht gerne zurücklässt. Aus Gaston soll auch ein Artist werden. Gaston ist mehr als lernwillig, saugt auf wie ein Schwamm. Was er von seinem Vater und dem Leben auf der Strasse nicht lernt, lernt er in den wenigen Tagen und Wochen, in denen er dann doch immer wieder einmal zu Schule geht. Und als es Gastons Vater im Schatten der Soldaten mit einer Truppe junger Mädchen finanziell immer besser geht, stellt man gar Privatlehrer an. Doch in den letzten Monaten des Krieges wendet sich das Blatt. Gastons Vater gerät in Gefangenschaft und Gaston selbst rettet sich in den sicheren Hafen eines Klosters.
Nach dem Krieg macht sich Gaston auf auf die Suche nach seinem Vater, nach Paulette, durch die Trümmer eines verwüsteten Landes. Gaston wird zu einem Phantom, einem Geist, der immer wieder sein Antlitz wechselt, fremdes Leben zu seinem eigenen macht, bis die letzte Rettung nur noch in der Fremdenlegion zu liegen scheint, jenem Ort, wo man ihm mit einer Nummer eine neue Identität zu geben verspricht. Aus dem Phantom wird eine Kampfmaschine, bis Gaston ein letztes Mal seine Fesseln hinter sich lassen kann und er zurück in den sicheren Schoss jenes Klosters findet, das ihn schon einmal rettete. Gaston wird zu einem bischöflichen Privatsekretär und ausgerüstet mit einer geheimen Mission mit einem Mal zu einem Mann mit dicker Brieftasche und geheimnisvoller Aura. Ein Mann, der das Herz einer jungen Bankierstochter erobert.
Schlussendlich wird Gaston der Gehilfe von Monsieur Petit, dem Inhaber der Librairie Jousseaume mitten in Paris. Dort hofft Gaston, dass dereinst Paulette den Laden betreten werde, weil Gaston weiss, wie sehr ihr an der Welt der Bücher gelegen ist.
„Die Leben des Gaston Chevalier“ ist ein völlig atypischer Roman in der Literaturlandschaft Schweiz, die nur ganz selten Geschichten hervorbringt, die mit dem grossen Pinsel gezeichnet sind, die cineastisch erzählen, ohne oberflächlich und platt zu bleiben. André David Winter zeichnet einen Mann, der durch ein Jahrhundert gepeitscht wird, der dann aber doch weiss, dass nur zwei Dinge bleiben; die Liebe und die Literatur. „Die Leben des Gaston Chevalier“ ist Resultat purer Erzählfreude. Ein Abenteuerroman!
André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz, verbrachte die ersten acht Lebensjahre in Berlin. Nach Stationen auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit in der Notschlafstelle sowie in einem rumänischen Kinderheim. Heute arbeitet Winter als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen. Er lebt mit seiner Familie im Kanton Luzern.
Tom und Patrick waren Freunde. In den wilden Jahren ihrer Jugend zerriss es ihre Freundschaft. Leben, die vorgezeichnet schienen, warf es aus der Bahn. Ein Vierteljahrhundert später treffen sich die beiden wieder in Bern. Zwei Versehrte stehen einander gegenüber. Patrick hat in Übersee studiert, Tom ist Lehrer geworden. Alleine sind beide.
Patrick ist zur Beerdigung seiner Mutter in die Schweiz zurückgekehrt. Kurz vor seinem Rückflug steht er vor der Wohnungstür seines einstigen Freundes. Wenn die Vergangenheit nach einem Vierteljahrhundert so einfach vor der Türe auftaucht, dann nicht, um Hallo zu sagen, denn als sie sich gegenübersitzen, ist da das leise Surren von Patricks Handprothese.
Damals waren sie Freunde, Blutsbrüder, besuchten das Gymnasium, trafen sich nach der Schule, lümmelten in Rohbauten und Einkaufszentren herum, rauchten, tanzten in den Kellern des Ortes und verdienten sich auf dem Ticketschwarzmarkt vor grossen Konzerten einen ordentlichen Batzen Geld. Dass es dabei mit konkurrierenden Gangs zu Konflikten und handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, schien die Freundschaft zwischen Tom und Patrick nur zu stärken, zumal sich die beiden mit aller Deutlichkeit von ihren Eltern abnabeln wollten. Patrick von Eltern, die nie da waren, selbst wenn die Mutter mit Pumps und vollen Tüten eines Lieferservices den peinlich gewordenen Geburtstag feiern wollte. Tom von seiner Mutter, die sich mit Alkohol tröstete. Weg von Eltern, die sie bloss Zombies nannten.
Bis Tom Jasmin in seiner Klasse erstmals wahrnimmt. Ein Mädchen, das anders ist als jene, die im Keller tanzen. Ein Mädchen, das sich anders gibt, auch in der Schule. Auch keines von denen, die seinem grossen und athletischen Freund Patrick wie die Fliegen aufsitzen. Einmal steht Jasmin vorne beim Lehrerpult und hält wie alle anderen einen Vortrag. Aber der Vortrag ist eine Kampfansage gegen die Gewohnheiten der Gesellschaft; Halbnackte Hühner in Massentierhaltung, geschredderte Küken in einem Container, gestapelte Schweinehälften wie Tote in einem Konzentrationslager. Pater Zyrill, der Lehrer, bricht den Vortrag ab und schickt die Gymnasiasten an die frische Luft. Aber Tom ist fasziniert vom Mut seiner Mitschülerin. Sie treffen sich und er erfährt, dass Jasmin nicht bloss Vegetarierin ist, sondern Teil von „Straight Edge“, einer Bewegung, einem Lebensstil ohne Alkohol, Tabak oder andere Drogen, gegen häufigen PartnerInnenwechsel, nüchtern, gradlinig und selbstbestimmt. Tom verliebt sich. Er verliebt sich aber auch in die Kraft seiner Freundin, die sich nicht einfach blossen Schimpfen und Auflehnen hingibt, sondern in den Augen Toms auch für Veränderungen einsteht. Erst recht als klar wird, dass Jasmin Teil einer Gruppe junger AktivistInnen ist.
Tom ist mittendrin. Die alkoholabhängige Mutter, sein Freund Patrick, der mit seiner cool-lässigen Art die Welt zu nehmen versteht, Jasmin, die nicht bloss Steine wegkickt, Toms Onkel, der ihn zum Denken ermuntert und doch ganz anders ist wie sein erloschener Vater. Jasmin nimmt Tom mit und aus ihrer Überzeugung wird seine.
Aber kann man eine Überzeugung wie einen Mantel umlegen? Wann wird Überzeugung zu eigenem Leben? Was bleibt von dem, was man in seiner Jugend wie ein Schwamm in sich aufgesogen hat? Den Plänen und den Träumen, den Vorstellungen und Visionen? Spiegelt mein gegenwärtiges Leben noch einen Funken dessen, was damals im Brennpunkt war, explosiv werden konnte? Ein Vierteljahrhundert später treffen sich zwei Ernüchterte. Ist die Handprothese seines Freundes ein Grund, dass Tom Philosophieleher geworden ist? Ist jene Katastrophe, die damals Tom und Patrick beinahe das Leben gekostet hätte, bloss einfach ein Ende mit Schrecken oder ein Anfang?
Peter Zimmermann nimmt mich mit in die 90er Jahre, konfrontiert mich mit mir selbst, der ich auch einmal meine Überzeugung für jeden sichtbar mit mir herumtrug. Was bleibt vom Kampf gegen das Immergleiche, Unumstössliche, gegen Tradition und Establishment? Peter Zimmermanns Roman ist sehr konventionell erzählt, bleibt auf der eingeschlagenen Linie. Ich hätte dem Roman mehr Sprache und Konstruktion gewordenen Mut gewünscht. Doch auch wenn Peter Zimmermanns Debütroman manchmal etwas hölzern wirkt, lohnt sich die Lektüre allemal, weil da einer einen Kampf ausleuchtet, den wir alle mit uns herumtragen; die Rebellion und das, was davon bleibt.
Ein Interview mit Peter Zimmermann:
Tom wurde Philosophielehrer. Sie lassen im Verborgenen, wie sehr die verheerende Geschichte damals einer der Gründe wurde, warum Tom diesen Beruf auswählte. Und warum er einer der Menschen geworden ist, denen nicht die Karriere an erster Stelle steht, sondern ihr Idealismus. Ist jener Idealismus, den man sich bewahrt, nicht immer das Resultat von Leben, das an einem nagt? Ja, das kann sein. Ich mag solche Figuren. Sie sind mir sympathischer als jene, die das Leben an sich abperlen lassen, keine Ideale besitzen und am Leben ihrer Mitmenschen nagen. Das ist es ja auch, was Tom in Bezug auf seinen Freund Patrick befürchtet: Dass dieser sich zu einem «zufriedenen, satten Geist» entwickelt. Auf der anderen Seite kann das Leben so sehr an einem nagen, dass der Idealismus, den man sich bewahrt, zahnlos wird, zu einer Flucht vor der Realität verkommt. Ich denke, Tom befindet sich da an einer Grenze.
Tom hat einen Onkel, den Bruder seines Vaters, der ganz anders ist, der Sätze sagt wie „Dein Verstand muss intuitiv werden. Er darf nicht sezieren, darf sich nicht in Einzelheiten verlieren“. Das tut doch aber die Literatur sehr oft. Man verliert sich in den Einzelheiten, den Details und traut der Intuition nur wenig. Oder liegt dort der Unterschied zwischen Handwerk und Kunst? Gibt es diesen Unterschied überhaupt? Ich betrachte das literarische Schreiben – zumindest mein eigenes – eher als Handwerk. Aber ich verstehe den Sinn Ihrer Frage: Gewisse Texte sprechen uns in emotionaler und intellektueller Hinsicht auf eine ganz besondere Weise an und in diesen Fällen sagen wir üblicherweise, dass wir es mit Kunst zu tun haben.
Was zeichnet solche Texte aus? Ich formuliere eine Gegenthese zu Ihrer Aussage: Oft vernachlässigt Literatur den präzisen Blick auf die Details. Man verliert sich im Abstrakten, produziert «Geschwurbel» und behauptet, es wäre Kunst. Ich will Ihnen aber auch nicht widersprechen. Womöglich liegt die echte Kunst – oder das gute Handwerk – darin, die richtigen Details so zu wählen und zu arrangieren, dass Bedeutungen entstehen, die über die wörtliche Bedeutung des Textes hinausreichen. Dazu braucht es vielleicht tatsächlich so etwas wie Intuition. Ein solches Mehr an Bedeutung lässt sich dann wiederum bloss intuitiv erschliessen und nicht vollständig ausbuchstabieren, was zu dieser besonderen Leseerfahrung führt, die uns dazu bringt, von Kunst zu sprechen.
Was bleibt von dem, was einem in jungen Jahren umtreibt? Wie wächst Ideologie? Was ist von den Idealen des jungen Peter Zimmermann geblieben? Das ist eine sehr persönliche Frage. Nun gut: Die Ideale des jungen Peter Zimmermann haben sich zu einem guten Teil darauf bezogen, was für ein Leben er führen möchte. Unter anderem wollte er auf keinen Fall Lehrer werden. Genau das ist aber aus mir geworden. Diese Entwicklung bereue ich keineswegs. Das Unterrichten ist eine sehr erfüllende Tätigkeit, die mir zwanzig Jahre lang grossen Spass bereitet hat. Allerdings nähere ich mich inzwischen dem Leben an, das ich mir als Jugendlicher erträumt habe: Nachdem ich diesen Frühling meine Stelle am Gymnasium gekündigt habe, um fortan nur noch in der Lehrerbildung tätig zu sein, werde ich in Zukunft deutlich weniger verdienen, aber auch deutlich mehr Zeit fürs Schreiben haben. Im Vergleich zu früher lebe ich heute in grösserer Übereinstimmung mit den Idealen des jungen Peter Zimmermann.
Sie zielen mit Ihrer Frage aber wohl auf andere Dinge. Wie steht es um meine moralischen Ideale? In gewisser Hinsicht war das auch mein Ausgangspunkt, als ich den Roman zu schreiben begann. Wie wird aus einem fünfzehnjährigen Jugendlichen, der genau dieselben Werte wie seine Eltern vertritt und der vor seinen Mitschülern ein flammendes Plädoyer für die Erneuerung der Schweizer Luftwaffe hält, in kurzer Zeit jemand, der auf die Strasse geht, um gegen die Anschaffung des F/A-18 zu demonstrieren? Auch wenn der Roman nicht als persönliche Aufarbeitung gedacht ist, interessiert mich grundsätzlich, wie ein solcher Wandel zustande kommt.
Im Erwachsenenalter und bis heute sind meine moralischen Überzeugungen im Wesentlichen aber stabil geblieben. Eine andere Frage ist die nach dem moralischen Engagement und der Konsequenz im Handeln. In dieser Hinsicht gilt es, Abstriche einzugestehen. Mein damaliges Ich hätte meine diesjährige Reise nach Costa Rica wohl kaum gutgeheissen. Auf der anderen Seite wäre es sicherlich erfreut zu hören, dass ich während der Recherche zum Buch endlich wieder zum Vegetarier geworden bin und inzwischen auch auf viele Milchprodukte verzichte.
Zur Frage nach der Ideologie: Meiner Meinung nach wächst Ideologie in der Weigerung, die Stimmen der Anderen zu vernehmen. Und Idealismus schlägt dann in Ideologie um, wenn entsprechende Überzeugungen entgegen ihrem Anspruch, vernünftig und allgemeingültig zu sein, lediglich der Verteidigung eigener Interessen dienen. In dieser zweiten Hinsicht würde ich, um auf das Thema des Romans Bezug zu nehmen, eher die Gegner einer veganen Lebensweise und Lebensmittelproduktion unter Ideologieverdacht stellen wollen als deren Befürworter.
Sie schildern in ihrem Roman einen „Einbruch“ der jungen AktivistInnen in einen Schweinebetrieb. Eine Sauerei aus der Sicht der jungen Leute, eine Sauerei aus der Sicht des Schweinezüchters. Ihre Schilderungen sind so krass wie die Bilder des Tierschützers Erwin Kesslers. Erziehung, Überzeugung und Korrektur geschieht aber in den wenigsten Fällen durch Abschreckung. Und doch reizt kaum etwas so sehr wie das Krasse, das Schreiende, das Brutale. Warum stechen sie nicht noch viel mehr in die eiternde Beule? Weil es den Roman aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Die Schilderungen sollten drastisch genug sein, um die Reaktionen der Figuren und das weitere Geschehen plausibel zu machen, ohne dabei die Grenze zum Reisserischen zu überschreiten. Die entsprechenden Passagen dienen der Geschichte und nicht umgekehrt. Aber ja, das Krasse und Schreiende reizt. Tatsächlich hat mir ein Literaturagent geraten, das Manuskript in die Tonne zu treten und die Geschichte neu aufzuziehen, mit literweise Blut und allem. Das entspricht jedoch nicht meinen Vorstellungen. Auch wenn in meinen Texten immer mal wieder brutale oder krasse Ereignisse vorkommen, reizt mich insgesamt doch eher das Subtile.
Um einen weiteren Aspekt Ihrer Frage aufzugreifen: Wäre es meine Absicht gewesen, Leserinnen und Leser zu überzeugen, hätte ich ein Sachbuch geschrieben. Und da stimme ich Ihnen zu: Abschreckung funktioniert nicht. Man müsste eher versuchen, vegetarische und vegane Lebensweisen noch stärker positiv zu besetzen, gegen das Vorurteil anzuschreiben, es handle sich dabei um genussfeindliche Einstellungen, die nur von miesepetrigen Besserwissern vertreten werden. Auf der anderen Seite bin ich schon der Meinung, dass jede Person, die Tierprodukte konsumiert, wissen sollte, unter welchen Bedingungen diese hergestellt werden. Dass ein solches Wissen oftmals schockiert, liegt in der Natur der Sache.
Tom liebte Jasmin, liebt jene Jasmin vielleicht auch noch nach einem Vierteljahrhundert als Imago. Tom ist alleine geblieben, Jasmin längst verheiratet und Mutter von Kindern. Bleibt Tom an seiner Geschichte hängen? Dieser Schluss drängt sich auf. Aber das eigentliche Geschehen wird ja von drei Kapiteln eingerahmt, die in der Gegenwart spielen. Diese Kapitel sind mir wichtig, auch sie erzählen eine Geschichte: Tom trifft nach fünfundzwanzig Jahren auf seinen Jugendfreund, die Ereignisse von damals werden zum Thema. Das könnte durchaus der Ausgangspunkt einer Entwicklung sein, die es Tom ermöglicht, sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Das Leben nagt an ihm, aber es besteht die Chance, dass es ihn nicht zerfrisst.
Peter Zimmermann, geboren 1972, wuchs in Nidwalden auf. Er promovierte in Philosophie und arbeitet als Fachdidaktiker an der Universität Fribourg. Ab 2016 publizierte er diverse Texte in Literaturzeitschriften und wurde für sein Schreiben bereits verschiedentlich ausgezeichnet: 2016 gewann er den Schreibwettbewerb von Das Magazin und den Literaturwettbewerb Treibhaus des Literarischen Monats, 2018 erhielt er einen Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung für die Arbeit an «Was der Igel weiss», und 2019 den Irseer Pegasus. Peter Zimmermann lebt in Bern.
In Zeiten globaler Katastrophen, ob virus- oder klimabedingt, verliert sich der Fokus auf die kleinen Katastrophen, die für Betroffene ein ganzes Leben nicht nur beeinflussen, sondern dominieren. Regula Portillo schrieb mit „Andersland“ einen Roman über das Auseinanderbrechen von Familien und wie sehr eine andere Epidemie, die in den letzten drei Jahrzehnten über 30 Millionen Tote forderte, das Leben nicht nur der Direktbetroffenen zerreissen kann.
Pascal lernt in Mexiko Lucía kennen. Lucía wird schwanger, will das Kind in ihrer Not aber nicht zur Welt bringen. Pascal setzt sich durch, das Mädchen Matilda kommt zur Welt und Pascal nimmt es mit in die Schweiz. Keine einfache Aufgabe für einen alleinerziehenden Vater. Aber Tobias, sein Bruder und dessen Lebenspartner Michael unterstützen Tobias und Matilda wächst in den ersten sieben Jahren wohlbehütet in der Fürsorge der beiden Brüder auf.
Bis Pascal an seinem Arbeitsort zusammensackt und ein Herzinfarkt Matilda zur Halbwaisen macht. Pascals Bruder Tobias setzt alles daran, dass Matilda bei ihm und Michael aufwachsen, in ihrer kleinen Welt bleiben kann. Aber Lucía in Mexiko erfährt vom Tod ihres einstigen Geliebten. Verschüttete Muttergefühle werden wach und Lucía setzt alles daran, dass Matilda bei ihr in Mexiko ein neues Zuhause findet, eine Familie, einen kleinen Bruder, einen sicheren Hafen.
„Wenn du nicht sprichst, ist die Stille zu laut“, sagte Matilda heute beim Abendessen, als ich müde und deshalb nicht sehr gesprächig war. (24. 6. 1984)
Aber auch Tobias setzt alles daran, dass das kleine, vaterlose Mädchen, das er in den ersten sieben Jahren wie eine eigene Tochter lieben lernte, das untrennbar in sein Leben gehört, bei ihm und Michael bleiben kann. Aber weil in den 90ern die Angst vor AIDS grassiert und man dem schwulen Paar den amtlichen Segen verweigert, gemeinsam das Kind aufziehen zu dürfen, fliegt Matilda mit der fremden Mutter nach Mexiko, in eine fremde Familie, ein fremdes Land mit einer fremden Sprache. Zurück bleiben gebrochene Herzen. Jenes von Matilda, das den Schmerz wie einen Kloss mit sich durch ihr Leben trägt und jenen von Tobias, dem nicht nur eine liebgewordenene Nichte entrissen wurde, sondern dem man amtlich das Recht verweigerte, das Sorgerecht für die Tochter seines toten Bruders zu erkämpfen.
Regula Portillo beschreibt in ihrem zweiten Roman die Auswirkungen dessen, was die Entwurzelung der kleinen Matilda in den Leben in Mexiko und der Schweiz auslöst. Lucía versucht alles, um dem Mädchen ein gutes Zuhause zu schenken. Ihr Mann Fabio behandelt das Mädchen ebenso herzlich wie die Grosseltern. Und doch fällt Matilda der Start im neuen Leben schwer. Der Knoten bleibt, entwirrt sich nie, zieht sich im Mädchen phasenweise nur noch heftiger zusammen, vor allem Jahre später, während der Pubertät und noch später, als die erwachsen gewordene Matilda selbst spürt, dass ihr in Beziehungen die Nähe schnell beengend wird.
Gleichzeitig schliesst sich die offene Wunde, die der Abschied von Matilda hinterliess, bei Tobias nie. Tobias stürzt sich in den Kampf, sein politisches Engagement für die Rechte Homosexueller, nicht zuletzt jenes, selbst Familie sein zu dürfen. In den 90ern, als in der Gesellschaft die kollektive Angst vor AIDS grassierte, galt jede Berührung mit Menschen dieser Risikogruppe als Bedrohung. Schwule standen unter Generalverdacht, Träger einer hochansteckenden Krankheit zu sein. So konnte auch ein siebenjähriges Mädchen unmöglich bei einem schwulen Paar aufwachsen.
Unter den wenigen Dingen, die Matilda in ihr neues Leben in Mexiko mitnimmt, ist ein rotes Büchlein, in das Pascal, ihr Vater, kleine Episoden wie in einem Tagebuch hineinschrieb. Ein Büchlein, das ihr verschlossen bleibt, weil sie in den Jahren nach ihrem Neubeginn auf der andern Seite des Ozeans die Sprache ihrer Kindheit vergisst. Nur ein paar wenige Fotos bleiben, auch wenn die damit verbundenen Erinnerungen immer blasser werden.
Regula Portillo erzählt ganz behutsam. Sie trennt nicht auf, ordnet nicht in Gut und Böse. Lucías Leben nimmt seine Richtung nicht, weil Lucía die Richtung wählt, sondern weil man sie stösst und drängt, zwingt und weitgehend alleine lässt. Genauso das Leben von Matilda, das Leben von Tobias, ihrem Onkel in der Schweiz. Bleibt die Frage, ob man es schafft, den Knoten zu lösen, den Kloss freizulegen. „Andersland“ ist ein Roman über das verlorene Glück.
Interview mit Regula Portillo:
Ganz am Schluss des Buches steht unten auf einer sonst leeren Seite: „Vielen Dank Veronica, dass ich mich von deiner Geschichte inspirieren lassen durfte.“ Können Sie etwas über die Entstehungsgeschichte Ihres Romans erzählen?
Veronica steht ganz am Anfang dieser Geschichte. Wir haben uns kennengelernt, als wir beide acht Jahre alt waren. Kurz davor war ihr alleinerziehender Vater gestorben. Sie wohnte deshalb vorübergehend bei einer Pflegefamilie im Dorf, wo ich aufgewachsen bin, und wartete darauf, von ihrer Mutter, die im Ausland lebte, abgeholt zu werden. Eigentlich wäre Veronica lieber in der Schweiz bei ihrem Onkel geblieben. Diese Ausgangslage hat mich nie ganz losgelassen – wobei ich nicht weiss, ob die Ausgangslage, so wie ich sie schildere, überhaupt der Realität entspricht. Ich war ja noch sehr klein damals. Veronica und ich haben uns daraufhin aus den Augen verloren; erst vor ein paar Jahren haben wir den Kontakt zueinander wieder aufnehmen können. Ich habe ihr von meinen Erinnerungen an sie erzählt und von Matilda, der Protagonistin in Andersland. Ihre beiden Lebenswege sind natürlich sehr unterschiedlich verlaufen und doch gibt es einige Überschneidungen. Der Verlust der deutschen Sprache zum Beispiel.
Matilda verliert ihren Vater mit sieben. Ihr Onkel tröstet sie: „Er wartet anderswo auf uns.“ Verständlich. Im jenseitigen „Andersland“. Aber Ihr Roman erzählt auch vom diesseitigen „Andersland“, einer neuen Heimat, einem neuen Zuhause, wo alles anders ist. Auch vom „Andersland“ der Erinnerungen, die sich wandeln, die verblassen, die verklären. Ein schöner Titel! Wie sind Sie auf ihn gestossen?
Ursprünglich wollte ich Tobias und Michael miteinander über den fragwürdigen Ausdruck «vom anderen Ufer sein» reden lassen. Doch unabhängig davon, dass die Szene so nicht im Buch erscheint, war mir Ufer vom Bild her zu schmal, es sollte grösser, weiter sein – ein Stück Land, das auch positiv besetzt, erobert und gestaltet werden kann. Daraus entstand «Andersland». Es gefällt mir, dass Matilda, die so sehr zwischen die Welten fällt und zeitenweise verloren ist, diesen Ort schon als Kind zu ihrem eigenen erklärt. Obwohl damit auch viel Schmerzhaftes verbunden ist. Es ist ein Ort, an dem ihre verschiedenen Welten, Erinnerungen und Lieblingsmenschen Platz finden und keinen Normen entsprechen müssen.
AIDS schien vor dreissig Jahren apokalyptische Ausmasse anzunehmen. Heute scheint man sich mit dieser Epidemie arrangiert zu haben, obwohl in Deutschland beispielsweise noch immer jährlich 600 Menschen an den Folgen der Immunsystemzerstörung sterben. Wollten Sie eine globale Katastrophe in Erinnerung rufen?
Ja. Aids hat sehr viel Leid angerichtet und ist auf jeden Fall ein Thema, das nicht in Vergessenheit geraten darf. In der Generation meiner Eltern kennen die allermeisten jemanden, der daran gestorben ist. Problematisch war ja nicht nur die Krankheit an sich, sondern auch die Stigmatisierung, die damit verbunden war – bzw. bis heute ist. Lange Zeit war von «Sex-Seuche» oder «Schwulenkrankheit» die Rede. Positiv war, dass Schwulenverbände und die staatlichen Gesundheitsbehörden früh zusammenspannten, um die beispiellose Aufklärungs- und Präventionskampagne «STOP AIDS» zu lancieren. Ich glaube nicht, dass jemals eine andere Kampagne so viele Menschen erreicht und geprägt hat. Dadurch hat eine Annäherung stattgefunden, die gesellschaftlich sehr bedeutend ist. Es ist auch dieses Momentum, das ich festhalten wollte: Wie selbst die schlimmste Katastrophe eine Chance bietet.
Matilda wird im Moment ihrer „Umsiedlung“ nie nach ihrer Meinung gefragt, jedenfalls nicht von den Entscheidungsträgern. Sie wird wie ein Gegenstand nach Mexiko verfrachtet und in ein neues Leben hineingestellt, abgestellt. „Zum Wohle des Kindes“ wird zum Wohl ausgewählter Erwachsener, um dem Gesetz zu genügen. Ein ewiges Dilemma? Nehmen wir Kinder zu wenig ernst?
Ein Dilemma, ja. Nach dem Tod von Matildas Vater gibt es zwei Entscheidungen, bzw. Verfügungen, in die Matilda nicht miteinbezogen wird. Zuerst entscheidet das Jugendamt, dass Tobias aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht für Matilda sorgen darf. Für Matilda, aber insbesondere für Tobias ist das ungeheuerlich. Matildas Wunsch, bei Tobias leben zu dürfen, hätte unbedingt berücksichtigt werden müssen. Weniger eindeutig ist es danach, als Matilda von ihrer Mutter nach Mexiko geholt wird. In den meisten Fällen spricht vieles dafür, dass das Kind nach dem Tod eines Elternteils beim anderen Elternteil leben kann. Auch bei Matilda. Zumal sich Lucía ja auch sehr ernsthaft bemüht, Matilda eine liebevolle Mutter zu sein. Lucías Fehler ist, dass sie Matildas Vergangenheit keinen Platz einräumt.
Ob Kinder generell zu wenig ernst genommen werden, finde ich schwierig zu beantworten. Ich denke, dass sich auf dieser Ebene schon auch viel verändert hat und die Bedürfnisse und Wünsche von Kindern – auch in Extremsituationen – stärker gewichtet werden als früher. In der Regel haben Kinder innerhalb der Familien heute mehr Mitspracherecht als zu Zeiten, in denen meine Eltern und Grosseltern Kinder gewesen sind.
Lucía leidet ein Leben lang, Matilda genauso, Tobias ihr Onkel auch. Einziges Mittel gegen dieses Leiden ist die Versöhnung. Nicht zuletzt die Versöhnung mit sich selbst. Und Versöhnung funktioniert nur über die Sprache, über das Sprechen. Das tägliche Brot aller TherapeutInnen. Millionen leiden unter dem Zwang der Menschheit, alles in die zwei Schubladen „weiblich“ und „männlich“ zu spalten. Versöhnen wir uns tatsächlich oder öffnen sich mit jeder Versöhnung nur neue Türen zu dunklen Räumen?
Versöhnung hat auch mit Verständnis zu tun; dem Willen und der Möglichkeit, sich in die Schuhe des Anderen hineinzuversetzen. Es ist zum Beispiel leicht, die eigenen Eltern zu kritisieren – bis man selber Kinder hat und merkt, was es bedeutet, vollumfänglich für einen kleinen Menschen verantwortlich zu sein. Die eigenen Themen und Abgründe lösen sich durchs Elternsein ja nicht einfach auf.
Ich denke, Versöhnung und Akzeptanz liegen nah beieinander. Habe ich eine Situation akzeptiert, werde dann aber aufs Neue mit ihr konfrontiert, können da durchaus wieder Türen zu dunklen Räumen aufgehen. Habe ich mich aber wirklich mit mir, der Situation, einem anderen Menschen oder dem, was passiert ist, versöhnt, bin ich davon befreit – so hoffe ich es zumindest.
Vieles wäre einfacher, wenn wir uns von unseren starren Geschlechter-, Rollen- und Familienbildern verabschieden könnten. Warum sollte beispielsweise Tobias nicht für ein Kind sorgen dürfen? Dass er es kann, hat er ja längst bewiesen. Oder warum ist die Wahrnehmung eine ganz andere, wenn sich eine Frau gegen ein Kind ausspricht als wenn ein Mann dasselbe tut? Sich von den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich unserer Rollen, die wir selber ja auch verinnerlicht haben, zu befreien, ist keine einfache Sache.
Regula Portillo, geboren 1979, wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Fribourg und Buch- und Medienpraxis an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie lebte und arbeitete mehrere Jahre in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. Für ihr Schaffen hat sie Förderpreise und Werkbeiträge von Stadt und Kanton Bern und dem Kuratorium für Kulturförderung des Kantons Solothurn erhalten. 2017 ist ihr erster Roman «Schwirrflug» erschienen. Seit 2018 lebt sie mit ihrer Familie in Bern und arbeitet als Texterin in einer Kommunikationsagentur.
Warum setzen sich Menschen Gefahren aus? Warum begeben sich Menschen an jene Grenzen, die über Leben und Tod entscheiden können? Was passiert in solchen Grenzsituationen? Ist es die Sehnsucht nach der ultimativen Nähe? Peter Weibel nimmt mich in der Erzählung «Schneewand» hinauf auf einen Berg, mitten in einen Sturm, ins unsägliche Weiss tagelangen Schneetreibens. Warm anziehen!
Myriam ist hoffnungsvolle Cellistin mit politischem Bewusstsein, Kathrin Ärztin und Mutter zweier Kinder, Leon Lehrer, immer wieder an der Grenze, an seiner Aufgabe zu zerbrechen. Sie sind alle nah dran, jeder auf seine Art.
«Der Schnee war nie so gewesen. Nie wie der Schnee an diesem Morgen: Bestürzend, feindselig, fremd.»
Leon kennt die Berge, man vertraut seinem Berggängerurteil. Und als sich seine Wetterbedenken verflüchtigen, machen sich die drei auf den Weg hinauf auf den Berg, in eine Hütte weit oben, in der sie euphorisiert übernachten, um am nächsten Morgen festzustellen, dass sich das Wetter doch nicht so entwickelte, wie vorausgesagt wurde. Es schneit. Und weil es am frühen Morgen nur die Optionen gibt, schnell den Abstieg zu wagen oder in der Hütte abzuwarten, wagen es die drei. Sie trauen sich ins Weisse, stapfen durch den Schnee hinab, um irgendwann festzustellen, dass es ein Fehler war, dass man durch Lawinen, Erfrieren oder einen Absturz das Leben riskiert. Sie kämpfen sich zurück und finden zu ihrem Glück einen Rettungscontainer, der ihnen für einige Tage das Überleben sichert.
«Die Verzweiflung spaltet, weil der Widerstand nicht eindeutig ist, weil es keine klare Antwort darauf gibt.»
Menschen sitzen fest. Ausgerechnet in der Weite der Natur wird einem die eigene Endlichkeit unmittelbar vor Augen geführt. Menschen sitzen fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück, keine Entscheidung, nur das Warten und die Hoffnung. Was es zum Überleben braucht, reicht für vier, fünf Tage. Man teilt auf, nicht nur das, was zum Essen bleibt, sondern auch den Schlaf. Um nicht einfach hinüber- und abzugleiten. Man stapft durch den Schnee vor dem Container, jene wenigen Meter hin und her, die einem für eine gewisse Zeit die Wärme in die Glieder zurückgeben.
Aber vor allem stellt man sich Fragen. Die drei im Container in der sich immer weiter ausdehnenden Zeit und ich als Leser, der mir während der Lektüre die Wolldecke bis unters Kinn ziehe. Was bleibt vom Leben?
«… aber es gab keinen Lehrgang für die Ohnmacht auf der Rückseite des Wissens.»
Ganz oben auf dem Berg, ganz weit weg von allem, eingeschlossen in den Schnee sind Myriam, Kathrin und Leon Gefangene. Alle Euphorie ist weg, dafür unter jedem Gedanken nackte Angst. Im Alltag weiss man vielleicht, dass das Leben endlich ist. Aber in Situationen, in denen man unmittelbar mit dem möglichen Ende konfrontiert wird, in denen der Alltag zu einer Erinnerung, einem Traum, zu Sehnsucht werden kann, stülpt sich Innerstes nach aussen. Man beginnt zu fragen, Bilder steigen auf. Myriam beginnt von Siniša Glavašević zu erzählen, jenem jungen Mann, der in Vucovar fürs Radio Geschichten für das Leben schrieb, während draussen Bomben fielen und Häuser explodierten. Leon erzählt von seinem schwindenden Glauben an die Zukunft, dem tiefen Schmerz einer Trennung und Kathrin als Ärztin von einer sterbenden Patientin, gleich alt wie sie, deren Kinder verständnislos am Bett standen.
«Die Worte blieben lange im Raum hängen, wie Eiskristalle … an der offenen Tür, an den Wänden, auf den Kleidern.»
Peter Weibel erzählt knapp und dicht. Mag sein, dass die Erzählung durch seine Gestrafftheit manchmal etwas überladen wirkt. Als ob das Konzentrat von allem im Gegensatz zu dem unendlichen Weiss des fallenden Schnees, dem Heulen und Pfeifen des Sturmes den Lesegenuss überreizen würde. Nichts desto trotz ist Peter Weibel eine mehr als beeindruckende Schilderung einer Extremsituation gelungen, die mich mitzieht bis an die Grenzen der Existenz. Dorthin, wo die wirklich wichtigen Fragen gestellt werden.
Ein kleines Interview mit Peter Weibel:
Eine Erzählung über eine Grenzerfahrung. Drei BergängerInnen eingeschlossen in Sturm und Schnee und die Angst, nie mehr zurück in den Alltag zu gelangen. Je mehr wir von den Gefahren wissen, desto mehr lockt sie. Man springt von Klippen, stürzt sich von Brücken, hangelt sich ungesichert durch den Fels. Warum braucht das der Mensch? Die Grenzerfahrung. Ihre literarische Gestaltung ist die zentrale Linie des Textes; es gibt dazu einen bedeutenden Satz von Karl Jaspers; Wir werden wir selbst, wenn wir auf Grenzsituationen offenen Auges zugehen. Wir erfahren uns selbst an den Rändern, nicht in der Mitte des Lebens – dabei sind die Grenzsituationen, die uns zu Menschen machen, nicht die gesuchten Grenzsituationen beim Sprung von Klippen oder Brücken – es sind diejenigen, in die wirhineingeworfen werden, ohne sie gesucht zu haben: eine hereinstürzende Katastrophe, eine Epidemie (Camus’ Pest) – oder eben: ein unvorhersehbares Eingeschlossensein in Nebel und Schnee.
Je weiter man sich vom Alltag entfernt, je stärker wird die Sehnsucht nach ihm. Noch ein Paradox? Die Entfernung vom Alltag und die Sehnsucht nach Alltag in der zu weiten Entfernung von ihm istein Paradox – und in dieser Dualität liegt wohl einDilemma unserer Existenz: Wir müssen uns von Alltag entfernen können, um ihn zu erkennen – aber wenn wir uns zu weit entfernen (oder entfernen müssen, zum Beispiel durch eine Krankheit), wird das Erkennen zum Schmerz über etwas Verlorenes.
Sie flechten in ihre Erzählung das Schicksal von Siniša Glavašević ein, der während der Schlacht um Vukovar während des Kroatienkriegs von serbischen Freischärlern umgebracht und verscharrt wurde. Oder jenes von Vedran Smailović, der als Cellist von Sarajevo in die Geschichte einging. Hinter diesen beiden, die sich in Grenzsituationen begaben, steht ihr Kampf für die Menschlichkeit. Entsteht der Drang, sich in Gefahr zu begeben durch die Sehnsucht nach Bedeutsamkeit? Menschen wie Siniša Glavašević und Vedran Smailović (oder Izet Sarajlić, der in den Kriegsbunkern in Sarajevo Gedichte gegen den Krieg auf Papierservietten geschrieben hat) sind die einzigen Helden, die ein Krieg hervorzubringen hat. Sie sind es nicht aus Hunger nach Bedeutsamkeit, sondern weil sie in ihrer Menschlichkeit keine andere Wahl haben (Sisyphos!). Myriam spricht es in der Erzählung einmal aus: Klänge (oder Worte) können die Welt nicht verändern, sie können das Verderben nicht aufhalten – aber sie können die Welt wärmen.
Wir entfernen uns immer mehr von dem, was Leben ausmacht. Ist ihre Erzählung der Versuch, mich als Leser aus meiner latenten Betäubung zu wecken? Es wäre vermessen, jemanden durch Literatur wecken zu wollen. Literatur, Sprache ist nicht dazu da, belehren zu wollen – sie ist dazu da, Fragen zu stellen.
Jedem Kapitel ihrer Erzählung sind Zitate vorangestellt. Solche von grossen Schriftstellern, aber auch von solchen, denen das Vergessen droht. Zum Beispiel Walter Matthias Diggelmann oder Ludwig Hohl. Wie fanden sie den Weg in ihre Erzählung? Die Zitate. Sie sind mir wichtig, weil sie zum Nach-Denken auffordern (im Lektorat haben wir beschlossen, jedem Kapitel ein Zitat voranzustellen). Jedes Zitat soll einen inhaltlichen Kern eines Kapitels vorauswerfen, der im Text zwischen den Zeilen steht. Und natürlich ist es auch eine Hommage an die AutorInnen, die mir alle viel bedeuten. Die meisten verwendeten Texte sind in meinem Kopf gespeichert, einzelne habe ich bewusst auf ihre inhaltliche Botschaft hin gesucht.
Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmässig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, etwa mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013), dem ersten Kurt Marti Literaturpreis für «Mensch Keun» (edition bücherlese, 2017) und verschiedenen Essaypreisen. Peter Weibel lebt in Bern.
Es wäre alles da für ein perfektes Familienidyll; Chris arbeitet zuhause, Antonia bald schwanger, Timon ein hübsches, gesundes Kind. Aber Idyllen existieren nicht. Chris setzt sich ab, zuerst phasenweise, dann endgültig. Antonia fühlt sich allein gelassen, einsam, überfordert. Timon und Antonia, ein Doppelgestirn, ein Doppelplanet, durch Familienbande aneinander gekoppelt, durch wachsende Zentrifugalkraft auf Konfrontation mit all jenen Gestirnen, die sich auf ewig gleichen Bahnen befinden.
„Balg“ ist ein Schimpfwort. Abgezogenes Fell, ein freches Kind. Aber wer ist schon der, der er sein könnte. Timon ist genauso das Resultat von vielem, wie seine Mutter Antonia, wie seine Grossmutter Lydia. Da war ein kleines Kind, das durch Mark und Bein schrie. Ein kleiner Junge, der biss und schlug. Ein Schuljunge, mit dem keine Lehrkraft klarkommen wollte oder konnte. Timon, zuerst von seiner Mutter eingesperrt, damit diese Luft bekommt, dann ausgesperrt, weil die Mutter keine Luft mehr bekommt, wird zum Kometen, der sich auf unberechenbarer Bahn mit langem Schweif durch ein verkorkstes Leben bahnt.
Irgendwann lernt Antonia einen neuen Mann kennen, einen, der mit ihr zusammenleben will, aber nicht mit dem unberechenbaren Balg, mit Timon, der sich allen und allem entzieht. Aber statt ihren Sohn mitzunehmen, botet Antonio, der neue Mann, ihn aus, nimmt ihm das Wenige, das Timon von seinem Vater, den er manchmal am Wochenende sieht und auch längst in einer neuen Familie lebt, geschenkt bekommt. Antonia weiss oft nicht, wie ihr geschieht, ist genauso Opfer ihrer Reflexe und Reaktionen wie ihr ausser Rand und Band geratener Sohn.
Im gleichen Dorf lebt Valentin der Postbote. Vor Jahren war er der Dorflehrer, irgendwann suspendiert und im Dorf hängen geblieben, mit einem Makel. Antonia war als Schülerin die Freundin seiner einzigen Tochter, jener Tochter, die er nie mehr sah, von der er nichts weiss, seit sie ihn zusammen mit seiner Frau verliess. Antonia macht Valentin für eine Katastrophe in der Vergangenheit verantwortlich, die nicht nur ihn selbst, sondern auch sie aus der Bahn geworfen hatte, aus der Kindheit rausgerissen, entwurzelt. Und ausgerechnet mit ihm, mit Valentin, dem alt gewordenen Sonderling, den man im Dorf wie etwas Übriggebliebenes behandelt, freundet sich Timon an. Gegen den Willen seiner Mutter.
Timon entgleitet. Allen. Selbst Valentin, der ihn im Garten, bei seinen Tieren oder auch an seinem Tisch gewähren lässt, der ihm den einzigen Ort gibt, an dem er sich nicht in die Enge getrieben fühlt, ist von den verqueren Wahrnehmungen einer Dorfgemeinschaft nicht gefeit. Einmal ins schlechte Licht getaucht – immer empfänglich wie elektromagnetisch aufgeladenes Textil.
Alle sind sie einsam. Alle irgendwie verloren, eingeschlossen, ausgeschlossen.
Eine der vielen Qualitäten des Romans ist Tabea Steiners Zurückhaltung, bei aller Katastrophe das Maximum nicht ausgeschöpft zu haben. Es geht der Autorin weder um die Katastrophe, noch um ein Soziogramm eines vermeintlichen Dorfidylls. Tabea Steiner begleitet mit überzeugendem Feingefühl, erzählt die Geschichte aus mehrfacher Perspektive, stülpt das Innere ihrer Protagonisten nicht gegen Aussen. Sie alle sind Opfer ihrer Geschichte. Eine andere Qualität dieses Romans sind all die Halbschatten, die nicht ausgeleuchtet sind, das bloss Angedeutete, das dem Leser überlassen ist, das aber gleichsam mitschwingt und dem Buch, dem Erzählten Raum gibt. Und nicht zuletzt ist es die unaufgeregte, sorgfältige Art des Erzählens, einer Sprache, die sich nicht nur inhaltlich behutsam nähert, sondern in ihrem Ausdruck.
Ein Interview mit Tabea Steiner:
Du engagierst dich seit Jahren für die Literatur, sei es als Leiterin des Literaturfestivals in Thun, als Moderatorin in Bern, Thun und St. Gallen, als Literaturvermittlerin im wahrsten Sinne des Wortes. Und nun dein erster Roman, dein Debüt bei einem Verlag, der es in den letzten Jahren formidabel schaffte, sich mit CH-Spitzentiteln zu empfehlen. Ist es ein Ankommen, ein Beweis oder Resultat übermässiger Anstrengung? Es fühlt sich für mich am ehesten nach Ankommen an. Auf jeden Fall ist es ja so, dass ich mich schon immer nicht „nur“ mit Texten anderer befasst habe, sondern auch selber geschrieben habe. Damit jetzt rauszugehen und der Öffentlichkeit diese andere Rolle gewissermassen zu präsentieren, heisst natürlich auch, dass ich mich nicht mehr hinter den Büchern anderer „verstecken“ kann, von denen ich weiss, dass sie gut sind.
„Balg“ ist ein sehr intimer Roman, dessen Konstruktion sich scheinbar weit weg von deiner eigenen Biographie ansiedelt, ausser vielleicht, dass sich die Geschichte irgendwo in der Ostschweiz, in einem Dorf unweit des Bodensees verorten lässt. Was dir ausgezeichnet gelang, ist aber genau jene unmittelbare Intimität, die das Buch, dein Roman, dein Debüt so sehr überzeugen lässt. Eine Nähe, die nie entblössend wirkt. Wie sehr musstest du dich darum bemühen? Ich habe eine lange Zeit mit diesen Figuren verbracht, sie, als sie da waren, genau studiert, nachgedacht, wie sie sind, was sie denken, sagen und wie sie handeln und warum. Sie sind mir auch sehr nahe gegangen, und es war mir gleichzeitig wichtig, selber auch immer ein wenig Verständnis für sie aufzubringen. Und das war zuweilen durchaus sehr anstrengend.
Alle Protagonisten in deinem Roman sind Verlorene? Wie sehr liegt in einer Zeit der totalen Vernetzung genau in diesem Gefühl eine der Untiefen unserer Gesellschaft? Sind sie Verlorene? Ich denke eher, dass sie aus unterschiedlichsten Gründen keinen oder nur einen unzulänglichen Zugang zu ihrer Sprache haben, und deswegen auch nicht imstand sind, die anderen zu verstehen. Auf jeden Fall schaffen sie es nicht, eine gemeinsame Sprache für ein Problem zu finden, das sie alle betrifft. Sie sehen es zwar alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, sind aber nicht imstande, darüber auch nur einen sprachlichen Konsens zu finden. Und hier setzt etwas für mich sehr Wichtiges ein: dass nämlich die Sprache politisch ist, weil wir uns darüber einigen müssen, was sie bedeutet. Es ist schwierig, sich zu unterhalten, wenn man keine gemeinsame Sprache hat – und ich glaube, dass man die Folgen davon auf Social Media, aber mehr und mehr auch im Alltag, beobachten kann, wenn Sprache in einer zunehmend verletzenden Art und Weise verwendet wird, ohne sich darum zu kümmern, dass die Sprache eben allen gehört. Niemand hat sie für sich allein, und das wäre gut so, wenn.
Gegen Schluss deines Romans lässt du Lydia, die Mutter Antonias sagen, die vieles spürt, was sie sich nicht zu sagen traut: „Man muss eben mit den Leuten reden, nicht immer nur über sie.“ Dieser Satz ist eines der Themen, die sich durch dein Buch ziehen. Und trotzdem bleibt die Einsicht, dass nicht über alles geredet werden kann. Wo liegt die Grenze zwischen befreiendem Reden und zerfleischendem Zerreden? Das ist eine sehr schwierige Frage, aber nicht nur literarisch. Jeder Mensch geht wieder ganz anders um mit Dingen, manche wollen darüber reden, andere wieder können nicht. Ich glaube nicht, dass ich diese Frage je wirklich werde beantworten können, wünsche mir aber, dass mehr darüber nachgedacht und gesprochen und geschrieben wird.
In deinem Roman steckt ein ungeheures Potenzial an Katastrophen. Einige hast du geschehen lassen, vielem bist du mit Absicht ausgewichen, hast der Versuchung von allzu beabsichtigter Plottverdichtung widerstanden. So wie das Leben nur in Ausnahmefällen das Maximum an Katastrophe zulässt. Zum Glück. Wie sehr musstet du gegen Versuchung ankämpfen? Ich musste, wie oben angedeutet, eher gegen die Versuchung kämpfen, den Figuren doch das eine und andere zu ersparen, sie freundlicher erscheinen zu lassen, sympathischer. Aber dann wäre es eine andere Geschichte geworden, und so bin ich streng mit mir und manchmal ein bisschen hart zu den Figuren gewesen.
Ein beeindruckendes Debüt von einer Autorin, von der ich nichts anderes erwartet hätte!
Tabea Steiner, Jahrgang 1981, ist auf einem Bauernhof in der Nähe des Bodensees aufgewachsen und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Tabea Steiner lebt in Zürich.
5 Namen, 5 Bücher. 4 Frauen, 1 Mann. 2 Debütromane, 1 «Zweitling», 2 Werke in langer Reihe. Vom Kleinräumigen ins Grossräumige, von rissiger Idylle bis zur Endzeitstimmung. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 hat es in sich und überrascht. Wie immer. Was sie auch tun soll.
Freuen sie sich! Der kleine Strauss an Büchern könnte unterschiedlicher und vielseitiger nicht sein. Wer sie alle liest, wird staunen, wie breit sich Literatur lesen lässt, dass sich sowohl Inhalte wie Erzählweisen diametral voneinander unterscheiden können. Lesen Sie nicht nur die Bücher, sondern nutzen sie die vielen Möglichkeiten, die Autorinnen und den Autor auf ihrer langen Lesereise zu begegnen (z. B. am 25. Oktober im Literaturhaus Zürich oder an der BuchBasel vom 8. – 10. November).
Für den Schweizer Buchpreis 2019 hat die Jury über 70 Titel aus 45 Verlagen geprüft. Der Jurysprecher Manfred Papst sagt zur Wahl: „Die Bandbreite an Themen und Herangehensweisen war gross, und es gab viele interessante junge Stimmen. Die Jury hat sich für fünf eigenwillige und überraschende Texte entschieden:
Jury: In ihrem Roman «GRM.Brainfuck» treibt Sibylle Berg den entfesselten Neoliberalismus auf die Spitze und attackiert eine moralisch verkommene Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihrer eigenen entfesselten Phantasie. Dieser Entwicklungsroman ist eine Mind Bomb von emotionaler Wucht.»
Sibylle Berg ist ein Eckpfeiler in der deutschsprachigen Literatur, Garantin dafür, dass Literatur Leserinnen und Leser an die Grenzen der Wohlfühlzone bringt – zuweilen auch darüber hinaus. Sibylle Berg schreibt keine Literatur fürs Nachttischchen. Wenn man dann doch vor dem Schlaf liest, kann sich das Gelesene durchaus störend in den Schlaf schleichen.
«GRM.Brainfuck» Vier Kinder in einer heruntergekommenen Stadt in Grossbritannien, in einem kaputten Staat, der auf Überwachung setzt. Sibylle Berg (*1962) verlängert in «GRM.Brainfuck» (Kiepenheuer & Witsch, 2019) eine brutale Gegenwart in eine gnadenlose Zukunft.
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Jury: «Im vielschichtigen Roman «Der Sprung» zeigt die Autorin Simone Lappert in einem raffiniert konstruierten Geschichtenmosaik, wie ein einziger dramatischer Moment auf verschiedene Einzelschicksale einwirkt.»
Simone Lappert überzeugte schon 2014 mit ihrem Debütroman «Wurfschatten». Mit «Der Sprung» gelang ihr aber weit mehr Aufmerksamkeit – mit Recht! Und seit dem vergangenen Internationalen Lyrikfestival in Basel im Januar dieses Jahres freue ich mich auch auf Simone Lapperts ersten Lyrikband. Die junge, umtriebige Schriftstellerin ist ein grosses Versprechen für die Zukunft!
«Der Sprung» Eine junge Frau steht auf dem Dach eines Mietshauses und weigert sich herunterzukommen. Das bringt den Alltag verschiedener Menschen aus dem Gleichgewicht. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt Simone Lappert (*1985) in «Der Sprung» (Diogenes, 2019) von Halt und Freiheit.
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Jury: «Der Traum vom Familienidyll auf dem Land erweist sich in Tabea Steiners Debütroman «Balg» als trügerisch. Der Alltag mit Kind ist für Antonia und Chris anstrengender als erwartet, zur Isolation und Überforderung gesellt sich eine zunehmende Entfremdung. Diese Entwicklung zeichnet Tabea Steiner in einer einfachen, lakonischen Sprache mit glasklaren Bildern nach.»
Tabea Steiner, schon lange tätig als Organisatorin verschiedener Literaturfestivals (Literaare in Thun oder Aprillen in Bern), als Moderatorin, Literaturvermittlerin lebt ganz in der Literatur. Dass ihr jetziger Verlag Edition Bücherlese zusammen mit ihr ins Rennen um den Schweizer Buchpreis geschickt wird, freut mich sehr.
«Balg» Timon, ein «Problemkind», steht im Zentrum des Debütromans «Balg» (edition bücherlese, 2019) von Tabea Steiner (*1981). Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie von Überforderung und Ausgrenzung in einem Dorf, das nicht zur Idylle taugt.
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Jury: «Alain Claude Sulzer erzählt in seinem Roman «Unhaltbare Zustände» die Geschichte eines gewissenhaften alternden Angestellten. Der Autor schildert in einer Sprache, die sich und uns Zeit lässt, eine so vielschichtige wie anrührende Figur.
Seit Alain Claude Sulzers Roman «Urmein», der vor mehr als 20 Jahren bei Klett-Cotta erschien, bin ich treuer Begleiter des Basler Schriftstellers. Ein Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderem teilzuhaben.
«Unhaltbare Zustände» Die Schaufenster des Dekorateurs Stettler sind legendär, über viele Jahre pilgern die Leute zum Warenhaus, um sie zu sehen. Doch dann kommt Stettlers Leben ins Wanken. Alain Claude Sulzer (*1953) beleuchtet in «Unhaltbare Zustände» (Galiani, 2019) die gesellschaftlichen Umbrüche der 1968er Jahre auf ungewöhnliche Weise.
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Jury: «Ein Zug zwischen Paris und Zagreb, eine junge Frau zwischen den Ländern und Sprachen ihres Lebens: «Die Nachkommende» von Ivna Žic ist ein Debüt von grossem Sprachbewusstsein und sinnlicher Intensität.»
Ivna Žic, eine neue Stimme, «wie aus dem Nichts» schreibt der Tages Anzeiger, eine frische Art des Erzählens. Eine Lesereise, bei der ich als Leser oder Leserin mit einsteige, weg und hin – oder hin und weg. Ihr Erstling «Die Nachkommende», erschien beim renommierten Wallstein Verlag.
«Die Nachkommende» Ivna Žic (*1986) verbindet in ihrem Debütroman «Die Nachkommende» (Matthes & Seitz, 2019) die Geschichte einer jungen Frau, die unterwegs zu ihrer Familie in Kroatien ist, mit einer Liebesgeschichte in Paris. Eine vielschichtige Spurensuche zwischen damals und heute.
Und seien sie weiterhin dabei, wenn litertaturblatt.ch seinen Senf dazu gibt!
Fast gleich viele wie im letzten Jahr, als es einen neuen Besucherrekord zu verzeichnen gab! Die Solothurner Literaturtage leben, glänzen und tun genau das, was die Besuchenden an diesem Festival zu schätzen wissen.
Aber Solothurn ist auch „Familientreffen“ der kleinen Schweizer Literaturszene. Die Schriftsteller-Nationalmannschaft spielt die sich ewig wiederholende Revanche gegen Rakete Solothurn (1:1!), im Park auf der anderen Aareseite performen die alten Hasen Bänz Friedli, Patrick Tschan, Wolfgang Bortlik, Maurizio Pinarello und Franco Supino ihre Texte unter dem ausladenden Geäst der Uferplatanen, in denen sich ebenso lautstarkes schwarzes Gefieder eingenistet hat. An langen Tischen zwischen der Geburtsstädte der Solothurner Literaturtage, dem Restaurant Kreuz, in dem 1978 Autoren wie Peter Bichsel und Otto F. Walter das Festival gründeten und dem Landhaus branden engagierte Gespräche zwischen den „wilden Jungen“, den „Literaturaktivistinnen“, die sich mit Recht gegen Verkrustungen, betonierte Hierarchien und die ewig Gestrigen auflehnen und aufregen. Und zwischen allen sitzt, plaudert und pafft der ungekrönte König von Solothurn, der mittlerweile 84jährige Peter Bichsel.
Es gab sie, die grossen Namen, auch wenn die aktuelle Deutsche Buchpreisträgerin Inger-Maria Malke mit ihrem preisgekrönten Roman „Archipel“ fehlte. Ferdinand von Schirach, Judith Schalansky, Thomas Hürlimann oder der in Paris lebende Türke Nedim Gürsel oder alt gediente Säulen der Schweizer Literaturszene; Lukas Hartmann, Milena Moser, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder die nimmer müden Ernst Halter und Beat Brechbühl.
Aber was muss unbedingt gelesen werden: „Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach. Kein Nahrungsratgeber, obwohl die beiden momentan meistverkauften Bücher im deutschsprachigen Raum solche sind. Ferdinand von Schirach verkauft seine Süchte auch nicht als Eingangstore in die grossen Erkenntnisse der Welt. Es geht in seinem Buch um die grossen Fragen des Lebens. Gibt es eine Grenze zwischen Gut und Böse? Wann gilt ein Leben als erfolgreich oder gescheitert? Ferdinand von Schirach ist verstörend ehrlich, direkt und auf seine Weise authentisch. Nach Bestsellern mit den Titeln „Tabu“ oder „Strafe“, in denen er von seinen zwanzig Jahren Erfahrung als Strafverteidiger erzählt, ist „Kaffee und Zigaretten“ sein persönlichstes Buch über eine Jugend voller Traumatisierungen. Ferdinand von Schirachs Auftritt, etwas zischen welt- und staatsmännisch und empfindsamer Scheu beschreibt exakt, was im Buch geschieht. Er breitet aus, sich und die Welt, macht kein Geheimnis aus seinen Depressionen und dem Leiden an der Welt und fordert mehr als deutlich, dass ihm ein Leben mit Respekt und deutlich gelebter Ethik überlebenswichtig erscheint.
„Wild wie die Wellen des Meeres“ von Anna Stern und „Balg“ von Tabea Steiner. Wie gut, waren sie da! Zwei engagierte junge Autorinnen in so gänzlich verschiedener Lebens- und Schreibsituation. Anna Stern, eine Akademikerin, die sich in ihrem Brotberuf wissenschaftlich mit Umweltfragen beschäftigt, Tabea Steiner eine „junge Wilde“, die sich auf ganz vielen Bühnen und Wirkungsfeldern innerhalb des Literaturbetriebs bewegt. Anna Stern erzählt vom Fluchtversuch einer jungen Frau, eine Geschichte, die sich geographisch aus der Heimat entfernt und Tabea Steiner jene eines Ausgegrenzten, das eingezwängte Dasein in dörflicher Enge. Beide Bücher sind auf literaturblatt.ch besprochen. Ich würde mich nicht wundern, wenn die beiden Titel im September auf der ominösen Shortlist des Schweizer Buchpreises erscheinen würden.
Auch wenn Simonetta Somaruga ihrem Mann bei seiner Lesung am Sonntag einen Besuch abstattete und ich mich einmal mehr wunderte, dass eine Ministerin in der Schweiz wie jede andere als Privatperson durch die Solothurner Innenstadt spazieren kann, ohne dass an jeder Ecke ein bis auf die Zähne bewaffneter Soldat jeden Anwesenden mit durchdringendem Blick nach seinem Gewaltpotenzial scannt und mir der neue Roman ihres Mannes ausgesprochen gut gefällt (Eine Rezension und Interview mit Lukas Hartmann folgt!), war es der Rückkehrer Thomas Hürlimann, der mit seiner ersten Lesung aus seinem vor einem Jahr erschienen Roman „Heimkehr“ den Solothurner Literaturtagen einen grossartigen Abschluss bescherte.
Thomas Hürlimann ist unbestritten einer der Grossen, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen deutschsprachigen Literatur. „Das Gartenhaus“, eine Novelle, die die Geburtsstunde des vielvermissten Ammann-Verlags bedeutete, ist genauso Eckpfeiler, wie fast alle folgenden Publikationen, Prosa oder Theater. Und jetzt, nach Krankheit, langer Abwesenheit, las Thomas Hürlimann zum ersten Mal vor grossem Publikum aus seinem Roman „Heimkehr“. Heinrich Übel, Fabrikantensohn, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. „Heimkehr“ beschreibt die Rückkehrversuche eines Sohnes in die verlassene Welt der Familie. Ein Autounfall katapultierte ihn aus seinem Leben, seiner Identität. „Heimkehr“ ist ein vielschichtiger Roman mit einem grossen Bruder, Max Frischs „Stiller“. Dem Tod von der Schippe gesprungen, sei alles neu gewesen, erzählte Thomas Hürlimann. Auch das Schreiben. Ein zu der Zeit fast fertiger Roman musste noch einmal neu erzählt werden. Die Frage „Bin ich oder bin ich nicht mehr?“ war in der Fassung vor der Krankheit und dem drohenden Tod nicht vorhanden. Thomas Hürlimanns Roman sprudelt vor Fabulierlust, Witz bis hin zur „Klamotte“. Ein grosses Buch!
Wir hatten für die Reise nach Armenien eine Flugverbindung mit längerem Zwischenstopp in Warschau gewählt, weil sie billiger zu haben war. Ich wusste bis dahin nicht viel mehr über Armenien, als dass die armenische Kirche ihren eigenen Papst hat, dass die Bagdadbahn nur kraft der Zwangsarbeit zahlloser Armenier gebaut werden konnte und dass man die Armenier im Zuge der verschiedentlichen Genozide ohne jede Nahrung in die Wüste getrieben hat, mit der Absicht, sie verhungern zu lassen, auch Kinder.
Wir haben die Sienna Street 55 nicht auf Anhieb gefunden, weil wir vom Hauptbahnhof her zuerst die falsche Richtung eingeschlagen haben. Im Bahnhofsquartier blitzte alle Augenblicke ein Mercedesstern zwischen den hohen gläsernen Neubauten und den breiten Prachtbauten aus Sowjetzeiten auf. Der Stern drehte sich immerzu im Kreis und schleuderte so das Sonnenlicht weit über die Stadt.
Nummer 55 ist ruhig gelegen, gleich neben einer Imbissbude, die sonntags geschlossen ist. Im Hinterhof haben Kinder gespielt, aber das Gittertor war verriegelt. Wir haben gezögert, diese Kinder anzusprechen, bis uns eins der Kleineren bemerkt hat, stehen geblieben und dann davongesprungen ist, um kurz darauf in Begleitung eines grösseren Kindes zurückzukommen. Sie haben uns gemeinsam gemustert, dann haben sie von innen den elektronischen Türöffner betätigt und uns nicht weiter beachtet.
Im Innenhof ist mir zuerst das gerahmte Bild des Papstes aufgefallen, das in einer Wohnung im ersten Stock hing. Dieser Papst, an den ich nur noch im Zusammenhang mit dem Papamobil und seinem einsamen Tod im Fernsehen denken kann, blickte nach draussen, in die Richtung der Imbissbude, die aber hinter einer vielleicht sieben Meter langen und drei Meter hohen Mauer verborgen blieb. Gütig blickte er hinaus auf diesen Platz, mir war, als schaute er aus seinen Gefilden zu uns zurück durch ein Fernglas, das die Zeiten auf einer winzigen Linse zusammenpresst.
Wenige Wochen vor dieser Reise war Claude Lanzmann gestorben, was mich daran erinnert hatte, dass ich Shoah an einem einzigen Tag geschaut hatte, als könnte man all das auf neun Stunden und diese neun Stunden auf einen einzigen Tag komprimieren.
In der letzten Szene des Filmes spricht ein Mann davon, wie er sich durch die Abwasserkanäle in das Warschauer Ghetto geschmuggelt und Botengänge erledigt hatte, hin und her. Nach seinem letzten Botengang hatte er keinen einzigen Menschen mehr angetroffen. Er schildert, wie er alleine in einem Hinterhof gestanden und geglaubt hatte, dass er nun der letzte verbliebene Mensch auf der ganzen Welt sei, zurückgeblieben, weil er alleine in den Untergründen unterwegs gewesen war, während alle anderen aus dem Ghetto abgeholt worden waren.
Jener Mann hatte das Ghetto wieder verlassen und war, auf welchen Wegen auch immer, von Claude Lanzmann aufgespürt worden, dem er schliesslich seine Geschichte der Einsamkeit erzählt hat.
Nachdem 1989 in Berlin die Mauer gefallen war, hatten sich die Amerikaner aufgemacht, um in Warschau an der Sienna Street 55 aus der ehemals kilometerlangen Mauer des Warschauer Ghettos einen Stein zu holen. Auf einer Tafel über der Stelle, wo der Stein herausgebrochen wurde, kann man nachlesen, dass dieser Stein heute im Kriegsmuseum in Washington ausgestellt ist.
Gebracht haben die Amerikaner Imbissbuden, die Fastfood herausreichen in Endlosketten.
Wir sind noch einen Moment vor diesem Mauerrest gestanden, den man auch in Amerika betrachten kann. Dann haben wir den Innenhof verlassen, den Kindern ein Dankeschön zugewinkt. An der Aussenmauer des Gebäudes an der Sienna Street 55 ist ein emailliertes Foto angebracht. Darauf ist eine kleine Schar abgebildet, aufgestellt in Reih und Glied, ausgerüstet mit Waffen, bereit zum Warschauer Aufstand vom 19. April 1943.
Am Gebäude gegenüber prangte hoch oben ein Plakat der Billiglinie Etam. Ein Model, auf eine geradezu aus der Mode gefallene Weise mager, warb für den Konzern mit dem Slogan The french liberté. Scheinwerfer waren angebracht, welche in der Nacht dieses ungeheuer grosse Modeplakat beleuchten; es musste weit über die Stadt sichtbar sein.
Es sind die gleichen Strassen und Gassen, die mit Licht geflutet worden waren, als die Mauer noch mehrere Kilometer lang war und als nach Einbruch der Dunkelheit, zur Nachtsperre, nur vereinzelt magere Gestalten über die Gassen und Plätze im Inneren des verriegelten Mauerrings gehuscht waren.
Wir sind zurückgegangen zum Bahnhof, ein Gebäude, dessen Standort und Stellenwert sich innerhalb des zwanzigsten Jahrhunderts mehrmals verschoben und verändert hat. Diesmal haben wir ihn auf Anhieb gefunden, haben Tickets für die Rückfahrt an den Flughafen gekauft, die Abflughalle erreicht, das Flugzeug bestiegen und sind wenige Stunden später in Jerewan gelandet. In der Dunkelheit der Nacht haben wir armenischen Boden betreten, dieses heisse, kleine, fruchtbare Land.
Tabea Steiner, 1981, studierte Germanistik und alte Geschichte in Bern und hat sich in ihrer Masterarbeit mit der Wahrnehmung in zeitgenössischer Landschaftslyrik befasst. Sie ist auf einem Bauernhof in der Ostschweiz aufgewachsen und lebt heute in Zürich. Sie hat das Thuner Literaturfestival initiiert, ist Mitorganisatorin des Berner Lesefestes Aprillen und Mitglied der Jury der Schweizer Literaturpreise. 2011 hat sie an der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin teilgenommen. Ihr erster Roman «Balg» erschien im Frühjahr 2019 in der Edition Bücherlese.
«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller
«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller
«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin
«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller
«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin
Sonst gibt es das eher, wenn alte Hasen ihre Bücher in die Welt entlassen. Dass sich Literaturprominenz im Foyer eines kleinen Theaters begrüsst, Wangen entgegenstreckt und den Rücken des Gegenüber tätschelt. Aber wenn eine ihr Buch zur Taufe freigibt, die schon lange auf verschiedenste Weise in der Szene mitmischt, dann sollt auch die Kollegin und der Kollege Respekt.
Tabea Steiner ist angekommen, die die schon lange schreibt, sechs lange Jahre an diesem, ihrem ersten Roman. Angekommen auf jener Seite, der sie meist als Moderatorin und Gesprächspartnerin gegenübersitzt. Noch vor ein paar Tagen sass sie bie dem von ihr gegründeten Literaturfestival „Literaare“ in Thun dem grossen Michael Köhlmeier gegenüber, einem ganz Grossen der Gegenwartsliteratur, einem Mann mit umfangreichen Werk, bei dem sich das Regalbrett langsam leicht nach unten wölbt. Nun sitzt sie auf der Seite der Grossen, mit Tischen, Mikrophon und Wasserglas, auch wenn es bei ihr noch ihr Erstling „Balg“ ist.
Noch bei den vergangenen Literaturtagen in Solothurn las sie aus dem unveröffentlichten Manuskript vor Publikum und einer mehrköpfigen Kritikerrunde und setzte sich der kritischen Meinung ihres Gegenübers aus. An diesem Abend im Theater Sogar in Zürich wollte niemand mehr Fragen stellen. Der Abend gehörte ihr, der Autorin und dem Buch, der Feier ihrer Ankunft dort, wo sie mit ihrem Engagement schon lange erwartet hingehört.
Tabea Steiner schreibt in „Balg“ von einem Dorf, einem wie sie in der Ostschweiz aufgewachsen ist, das sie kennt und eine Kindheit lang ihr ganzes Leben bedeutete. Ein paar Häuser, ein Schulhaus, eine kleine Bibliothek darin. Bewohnt von Menschen, die alle Rollen haben, so wie das Personal in ihrem Roman. Die überforderte, alleinerziehende Mutter, der ungeratene Sohn, der Briefträger, der einmal Dorfschullehrer war, bis ihn ein Beben aus seiner Bahn katapultierte, Nachbarn, Kaninchen und eine Kulisse, die immer gleich erscheint.
Ganz am Anfang ihres Romans, in den ersten Texten, war es Valentin, der alt gewordenen Briefträger. Irgendwann genügte die Banalität eines Briefträgers nicht mehr. Es brauchte den ersten Bruch, die Katastrophe, die aus Valentin das macht, was er bis in die Gegenwart mit sich herumschleppt- Es dauerte sechs Jahre, bis die Geschichten zwischen Buchdeckeln zu einem Roman werden konnten, bis die Linien endeten.
Valentin, der Briefträger. Der alte Mann der vieles Weiss und sich den Rest zusammenzureimen weiss. Die erste Figur, die maximalen Abstand zur eigenen Figur, zur eigenen Geschichte haben musste. Er ist Teil des Dorfes, blieb, obwohl man ihn im Kollektiv zu strafen wusste, er, der im Gegensatz zu vielen im Dorf stets an das Gute glaubt, auch an das Gute im Jungen Timon, der überall und am meisten bei seiner Mutter anzuecken scheint. Briefträger scheinen bei „Jungschreibern“ ein beliebtes Motiv zu sein, nicht nur weil sie Geschichten ganz offensichtlich mit sich herumtragen, weil sie verkörperte Vernetzung eines Dorforganismus sind, sondern mit all der Post ein Maximum an Interpretation mit sich herumtragen.
Bald kamen andere Personen dazu: Timon, der Junge und Antonia, seine Mutter, die mit ihrem Sohn nicht zurecht kommt, die an ihrer Mutterrolle scheitert, sowohl vor sich selbst wie auch in den Augen aller um sie herum. Eine Frau, die negative Lesegefühle förmlich auf sich zieht, nur schon weil sie ihren Sohn einen kleinen Scheisser schimpft oder sein Fahrrad, das er von seinem Vater on ihr getrennten Ex bekommt verkauft, um sich den einen Mantel im Schaufenster leisten zu können.
Stark an ihrem Roman ist das Gegenüber von Lücke und ausgemalter Szene, von Personen, die nur skizzenhaft bleiben, ohne Geschichte und Erklärung und jenem Personal, dass bis in die tiefsten Winkel ausgeleuchtet ist. Tabea Steiner erzählt und lässt doch offen, verfällt nie der Versuchung, den Leser mit überflüssigen Erklärungen zu gängeln. Einzelne Figuren und Schauplätze sind nur gezeichnet, längst nicht in all ihren Farbnuancen ausgemalt. In der Handlung wichtig, aber nicht um den Zentren der Geschichte das Gewicht abzuziehen.
Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser. Ein Anfang ist gemacht, denn Medien feiern das Buch und bei der Nabelschau der Schweizer Literatur, bei den Literaturtagen in Solothurn, ist sie hoffentlich eingeladen.