Lize Spit «Der ehrliche Finder», S. Fischer

Die junge Lize Spit erzählt in ihrem dritten, auf Deutsch erschienenen Roman «Der ehrliche Finder» von der bedrohten Freundschaft zwischen Jimmy und Tristan. Ein Erzählen, das es meisterhaft versteht, die kindliche Perspektive zu einer Art des Sehens zu machen. Ein Roman voller Zuwendung!

Tristan und Jimmy sitzen in der Schule in der gleichen Bank. Tristan, als Sohn einer grossen Flüchlingsfamilie quer durch ganz Europa aus dem Balkan bis nach Belgien gekommen, Jimmy aus der Einfamilienhaussiedlung, aus einem Haus ohne Vater. Tristan Ibrahimi mit seiner ganzen Familie, Schwestern und Brüder, Mutter und Vater. Jimmy von einem Zuhause, wo sich die Mutter seit Vaters Verschwinden nur mehr schwer aus dem Bett bringt. Und weil Jimmy es gewohnt ist, die Welt, die sich ihm stellt, in kleinen Schritten anzugehen, ist die Tatsache, dass sich Tristan neben ihm in der gleichen Schulbank findet, Aufgabe genug. Jimmy zeigt Tristan seine Welt und Tristan lernt. Er lernt den Ort, die Schule, die Sprache. Und mit einem Mal ist Jimmy auch ein Teil der Welt von Tristan. Einer mitgenommenen Welt. Einer Welt in einer grossen Familie. So ganz anders wie das verlorene Glück in Jimmys Familie, seit der Vater nicht mehr da ist, alles im Haus, was an ihn erinnern könnte, ausgemerzt ist.

Jimmy sammelt Flippos, kleine, bunte Klebebilder, die er in Alben sammelt. Und weil sein Taschengeld nicht reicht, um jene Chipstüten zu kaufen, in denen Flippos beigelegt sind, macht Jimmy jeden Tag seine kleine Fahrradtour und sucht in irgendwelchen Automaten nach liegengelassenen Münzen. Bis er eines Tages, mittlerweile liegt der Ausweisungsbescheid an die Familie Ibrahimi auf ihrem Tisch, im Schlitz eines Geldautomaten ein Bündel Banknoten sieht. Er bleibt stehen, nimmt das Bündel; 5000 Gulden – eine Menge Geld für eine ganze Menge Chipstüten. Aber das vermeindliche Glück dauert nicht lange. Ein Mann fährt mit seinem Auto vor und fragt Jimmy, was der in seiner Jackentasche verschwinden liess. Jimmy ist das Geld wieder los. Nicht einmal ein Finderlohn. Ein ehrlicher Finder. Erst später wird Jimmy bewusst, wofür man das Geld auch noch hätte brauchen können, zum Beispiel für einen Anwalt.

Lize Spit «Der ehrliche Finder», S. Fischer, 2024, aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen, 128. Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-10-397564-2

Jimmy sammelt nicht nur Flippos, irgendwann, wenn die Gelegenheit die richtige ist, wird er auch seinem Freund Tristan ein volles Album übergeben, Jimmy sammelt Geschichten. Er schreibt in ein kleines Buch, dem er den Titel „Tristans Krieg“ gab. Er schreibt, was er von Tristan erfährt, chronologisch. Er versuchte nicht, eigens danach zu angeln, Sensationen wollte er nicht, das passte nicht zu seinem Beruf als Ehrlicher Finder. Was Jimmy erfährt, ist nicht leicht einzuordnen, noch weniger das, was im Dorf die Runde macht. 

Aber die Familie Ibrahimi bringt nicht nur Jimmys ehrliche Seele in Aufruhr. Das ganze Dorf wird mitgerissen. Ibrahimis enges Zuhause wird zugedeckt von Dingen, von denen andere glauben, man könne sie in der Not brauchen; Möbel, Säcke mit Bettwäsche und Kartons voller Spielzeug, Dinge, die Kurt, der Vermieter der Ibrahimis, in seiner Gebrauchtwarenhandel „Klein-Kosovo“ wieder zu gutem Geld macht. Im Dorf formiert sich eine Allianz, die erreichen will, dass die Ibrahimis bleiben können. Jimmy würde seinen Freund nicht verlieren. Tristan, von dem er nur den Tristan-nach-der-Flucht kennt, den Tristan mit der permanenten Angst, ausgewiesen zu werden, nie den kosovarischen Tristan, der einst auf einem Bauernhof aufwuchs.

Lize Spit ist eine Spezialistin der Ausnahmezustände. Das bewies sie auch schon mit ihrem vorherigen Roman „Ich bin nicht da“ über eine junge Frau, der die grosse Liebe von einer psychischen Erkrankung weggerissen wird. Lize Spit erzählt in kleinen Geschichten von den grossen, wichtigen Dingen des Lebens; von Freundschaft und Liebe, von der Suche nach Zugehörigkeit und dem Wunsch verstanden zu werden. Lize Spit erzählt in ruhigen Bildern, scheinbar unspektakulär, aber mit grösstmöglicher Empathie. Kein Wunder, hat dieses warmherzige und ehrliche Buch über eine Freundschaft zwischen einem belgischen und einem kosovarischen Jungen in Belgien Diskussionen ausgelöst. Das Buch hat es in sich!

Lize Spit wurde 1988 geboren, wuchs in einem kleinen Dorf in Flandern auf und lebt heute in Brüssel. Sie schreibt Romane, Drehbücher und Kurzgeschichten. Ihr erster Roman «Und es schmilzt» stand nach Erscheinen ein Jahr lang auf Platz 1 der belgischen Bestsellerliste, gewann zahlreiche Literaturpreise und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Auch ihr zweiter Roman, «Ich bin nicht da», war ein großer Erfolg. Mit ihrem dritten Roman, «Der ehrliche Finder», hat sie ein ganzes Land aufgewühlt.

Helga van Beuningen ist die Übersetzerin von Margriet de Moor, A. F. Th. van der Heijden, Marcel Möring, Cees Nooteboom u.a. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Martinus-Nijhoff-Preis, dem Helmut-M.-Braem-Preis und dem Else-Otten-Preis. 2021 wurde ihr der Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW verliehen.

Beitragsbild © Lieve Blanquaert

Judith Hermann «Wir hätten uns alles gesagt», S. Fischer

Die Literaturhäuser St. Gallen und Thurgau laden ein:

In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel „Wir hätten uns alles gesagt“ steht der Untertitel „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. Was Judith Hermann in ihrem berührend ehrlichen Buch mir als Leser offenbart, sind Geheimnisse aus ihrem Leben, die die Formen ausmachen, in die die Autorin ihr Schreiben bisher gegossen hat.

Mir gefiel in der Verlagsvorschau schon der Titel, zumal er im Vergleich zu den anderen ihrer Bücher erstaunlich lang ist. Aber das muss so sein, denn mit diesem Buch umarmt Judith Hermann ihre bisherigen Bücher, ihr bisheriges Schreiben. Sie klärt und umkreist erzählend. Von ihren 1000 Stunden Psychoanalyse bei Dr. Dreehüs, der in den 10 Jahren, in denen sie sich in seiner Praxis auf die Couch legte, kaum je etwas kommentierte, selten eine Frage stellte, einfach nur zuhörte, selbst dann, wenn sie schwieg. Von Ada, ihrer Freundin, die sie aus den Augen verlor, die sie an einem Geburtstag überraschend besuchte und niemanden sonst antraf, nur Ada selbst mit einer warmen Flasche Sekt. Von ihrer Grossmutter, die ihr mehr Zuhause gab, als es die mit sich beschäftigten Eltern je hätten geben können. Von ihrem Grossvater, vor dem sie sich fürchtete, der mehr und mehr abrutschte, bis er wieder sich selber wurde. Von Marco, einem Freund, einem Künstler, der am Schluss im Altenheim vor sich hindämmerte.

Und dabei ist „Als hätten wir uns alles gesagt“ alles andere als eine Familienaufstellung, die Erklärung dafür, warum das Schreiben zu einer Welt wurde, in der sie sich selbst wiederfindet. Eine Geschichte ist ein Schutzraum für die Erzählerin, ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss. Judith Hermann schreibt, als würde sie ihr Leben offenbaren, macht aber klar, wie sehr das Geschriebene das Wirkliche verbirgt und das Ungeschriebene deutlich macht. Judith Hermann erzählt von der Auseinandersetzung, nicht so sehr von jener mit ihrer Umgebung, als mit der in ihrem Inneren. Wie sehr das Schreiben eine Linie zieht, die von allen anderen Möglichkeiten des Seins entfernt. Schreiben heisst auslöschen.

„Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“

Judith Hermann «Wir hätten uns alles gesagt», S. Fischer, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397510-9

Judith Hermann entmystifiziert das Schreiben, dass das Schreiben sehr wohl aus dem Erlebten schöpft, aber nicht abbilden will, nicht einfach nur nacherzählen, ein Bild an eine leere Wand malen. Schreiben ist das Ausschliessen aller anderen Möglichkeiten.

Sie erzählt von ihrer Familie, einem Haus in dem vor allem geschwiegen wurde, von einem Leben, dass die Analyse zu brauchen schien, um aufzubrechen. Hier hörte jemand zu, so wie der Leser der Schreibenden zuhört. In ihrer Familie vergass man das Zuhören, auch wenn das Haus, in dem sie aufwuchs voll mit materialisierter Geschichte zu sein schien, zwischen Bücherregalen, Büchern in Stapeln.

Judth Hermann umkreist Menschen, die ihr nahestehen, um festzustellen, dass jene nicht die sind, von denen sie glaubt, sie zu kennen. So wie sie die Annäherung an ihre Prozesse des Schreibens nicht als eigentliche Annäherung versteht, sondern als wachsendes Bewusstsein nicht zu überwindender Distanz. Ein allmählich dämmerndes Bewusstsein dafür, dass du selbstverständlich doch allein auf der Welt bist.

Aus einer Laune heraus folgt sie auf der Strasse ihrem ehemaligen Psychoanalytiker, eigentlich nur, weil sie ihn fragen wollte, wie er die Beschreibung seiner selbst in einer ihrer Erzählungen gefunden habe, nachdem sie ihm ihr Buch („Lettipark“) mit der Erzählung «Träume» in den Briefkasten gelegt hatte. „Weshalb waren Sie sicher, dass ich klarkommen würde?“, fragt sie. „Weil ich Sie, trotz allem, immer als ein wenig wehleidig empfunden hatte.“ Weh und Leiden. Judith Hermann schreibt: ein Wort wie ein Talismann, ein Schutzwort. Vielleicht liegt genau darin der Schlüssel für Judith Hermanns Erfolg, für die Resonanz, die sie mit ihren Büchern erzielt. Jene Empfindsamkeit. Und mit Sicherheit sind es auch einzelne Sätze und Bilder, die bei der Lektüre ihrer Bücher unweigerlich zu eigenen Empfindungen werden, die sich einbrennen.

Judith Hermanns Sprache ist von grosser Zartheit. Es ist, als würde sie mit mir allein ein Geheimnis teilen.

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien «Alice», fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, «Aller Liebe Anfang». 2016 folgten die Erzählungen «Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Im Frühjahr 2021 erscheint der Roman «Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.  

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer #SchweizerBuchpreis 22/4

In den 60ern: Ein Kloster mit Internat hoch in den Bergen – das Kloster Maria Schnee. Arthur Goldau, elfjähriger Junge – Zögling 230. Ein Geheimnis um einen Diamanten – das letzte Stück österreichischer Monarchie. Und eine Sprache wie ein naives Fresko!

Sein Debüt von 1981 „Die Tessinerin“, die Novelle „Das Gartenhaus“ von 1989, der Umstand, dass der Autor seit der Gründung des legendären Ammann Verlags, den Egon Ammann zusammen mit seiner Ehefrau Marie-Luise Flammersfeld gegründet hatte und all die schwergewichtigen Romane und Theaterstücke, die in den letzten 30 Jahren entstanden, machen Thomas Hürlimann zu einem literarischen Schwergewicht. Erstaunlich genug, dass es dem Grossmeister bisher nicht vergönnt war, mit einem seiner Romane in der Liste der Nominierten des Schweizer Buchpreises zu erscheinen.

„Der Rote Diamant“ ist ein Monolith. Wer sich an den Farben der Sprache ergötzen kann, wem die Verspieltheit und fast kindliche Unbeschwertheit Vergnügen bereiten, wer nicht in jedem Buch, auf Biegen und Brechen mit der Keule den Gegenwartsbezug eingehämmert braucht – der lese diesen literarischen Diamanten. Der Roman entspringt purer Schreiblust, ist von jemandem geschrieben, der sich einen Deut um Strömungen, Moden und Aktualitäten kümmert, der sich an nichts und niemanden anzuhängen braucht, der nur „einfach“ erzählen will.

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer, 2022, 32 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-10-397071-5

Ein Junge wird von seiner Mutter nach einer abenteuerlichen Fahrt in einem Kloster weit oben in den Bergen parkiert. Noch ein paar Ermunterungen und die Mutter hat ihn in den kalten Mauern zurückgelassen, in einer Erziehungsstätte, die all dem widerspricht, was  man in der Gegenwart unter „Individualismus“ und „Kompetenzorientierung“ auf die Fahnen von Erziehung und Schule geschrieben hat. Das Kloster Maria Schnee ist eine Galeere, in der man die Zöglinge im Takt eines Klosters durch das Halbdunkel von Tradition und Konformität steuert. Selbst in diesem Halbdunkel soll alles ausgeleuchtet, überwacht, gleichgeschaltet und nivelliert sein. Aber Arthur ist nicht der einzige Junge in den dicken Mauern des Klosters, der sich zusammenrottet, der eine Nische sucht, nicht zuletzt in den Jahrzehnte alten Gerüchten um einen sagenumwobenen Diamanten, den man nach dem Zusammenbruch der habsburgischen Monarchie in einem Winkel des Klosters, im Schutz der Schwarzen Madonna in Sicherheit gebracht hatte.

„Ich hatte Angst vor der Freiheit.“

Im Kloster, in dem man alles tut, um dem Ewigen Tag zu huldigen, in dem alles Rütteln an versperrten Pforten nach Innen und Aussen der Verbrüderung mit der Ewigen Sünde gleicht, in der jedes Heimweh, jeder Fluchtgedanke im Keim erstickt werden soll, ist oberstes Gesetz: Gefässe sollen sie werden, ausgehöhlt und glatt geschliffen vom Ewigen Tag: Vasen.

Und doch gibt es sie, die Nischen: Ganz oben im Dachstuhl der Kathedrale. Eine ehemalige Bauhütte, grob gezimmert, ausser Acht gelassen. Dort treffen sich Viper, Alpha Wickie, Beau, Clown Giovanni, Primus Lenin, Ultimos Nebel, rauchen den ein oder anderen Joint und debattieren sich hinter das Geheimnis jenes Roten Diamanten. Bis es zu diesem einen Moment kommt, bis dieser ominöse Stein sein Geheimnis lüftet, verstreicht viel Zeit. Viel mehr als die Gang oben im umgekehrten Schiff der Kathedrale ahnen kann.

Jahrzehnte später, mittlerweile ist nicht nur das Kloster ein Ort des Zerfalls geworden, treffen sich die einen wieder in den toten Mauern der ehemaligen Schule. In den Ruinen des Klosters lüftet sich das Geheimnis im Schall und Rauch eines letzten Showdowns, im Herz jenes Klosters, das mit allem, was Tradition und Beständigkeit ausmachte, zu einem Nekropol einer erloschenen Vergangenheit wurde.

„Der Rote Diamant“ ist als Buch ein schillernder Diamant. Eine eigenartige Mischung aus klösterlicher Schauergeschichte, Abenteuerroman, aufgemotztem 5-Freude-Kinderroman, (Alp-)Traumgeschichte und Entwicklungsroman. Wer Bücher unter dem Gesichtspunkt liest, was sie einem und der Zeit zu sagen haben, kann nach der Lektüre durchaus ratlos zurückgelassen werden. Wer Bücher liest, um einem Sound zu lauschen, der Fabulierkunst zu folgen, wer einfach nur Freude hat an starken Farben, intensiven Eindrücken, einer theatralischen, nicht wirklichen Welt, der lese „Der Rote Diamant“ und lese in den aufschäumenden Bildern eines Mannes, der einst selbst in den Mauern eines Kloster zur Schule ging, die Geister nicht loswird, daran aber ganz und gar nicht zu Grunde geht! Im Gegenteil: In den Trümmern spriesst es!

Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln und studierte in Zürich und an der FU Berlin Philosophie. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb er die Romane «Heimkehr», «Vierzig Rosen» und «Der große Kater» (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen «Fräulein Stark» und «Das Gartenhaus» sowie den Erzählungsband «Die Tessinerin». Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Nach vielen Jahren in Berlin lebt er wieder in seiner Heimat.

Beitragsbild © leafrei.com

Schweizer Buchpreis 2022 – die nominierten Bücher #SchweizerBuchpreis 22/2

Zum 15. Mal wird der Schweizer Buchpreis vergeben. Ein Preis, der das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren auszeichnet.

Ziel des Schweizer Buchpreises ist es, jährlich fünf herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Ein Ziel, das bei den Debatten rund um diesen Preis immer wieder vergessen wird. Keine Schriftstellerin, kein Schriftsteller wird ausgezeichnet, sondern Bücher. Fünf Bücher stehen zur Wahl, fünf Bücher, die in diesem Jahr unterschiedlicher nicht hätten sein können. Fünf Bücher von Autoren, die einen bislang kaum auf dem Radar jener LeserInnen, die sich an Bestsellern orientieren, die andern von Autoren, die sich längst ins helvetische Bewusstsein eingebrannt haben. Schön, das es das gibt, auch wenn damit Schwergewicht gegen Neuling, Tradition gegen Aufbruch, Vielgenannt gegen Überraschung antritt.

Als offizieller Begleiter des Schweizer Buchpreises kommentiere ich auf meiner Webseite meine ganz persönliche Einschätzung, rezensiere die nominierten Bücher, führe Interviews und bin im Austausch mit den beiden weiteren Literaturblogs lesefieber.ch und eselsohren.ch.
Ganz besonders freuen würde ich mich über ihre Einschätzung, liebe Leserinnen und Leser: Welchem Buch geben Sie Ihren Vorzug? Schreiben Sie eine Mail unter «Kontakt«! Vielen Dank!

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese
Südfinnland: Henrik Nyström, der lokale Polizeibeamte, fährt hinaus zu einer Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees. Auf der Polizeistelle ist ein Anruf eingegangen, der alte Matti Nieminen habe auf seine Frau Märta geschossen, die ihn nach vierzig Jahren Ehe verlassen wolle. Auch Olli, der Sohn der Nieminens, ist auf dem Weg zum Elternhaus, weil er wieder einmal in Geldnöten steckt und sich einen Zuschuss der Mutter erhofft. Als der Polizeibeamte auf dem Hof eintrifft, findet er den alten Matti auf dem Schotterplatz vor dem Haus in einer Blutlache liegend. Aber Nieminen ist nicht tot. Und die Schusswunde scheint er sich selbst beigebracht zu haben. Was war hier vorgefallen? War Olli bereits hier gewesen, dem Nyström auf der Herfahrt begegnet war, oder hatte Arto die Finger im Spiel, der Schwager, den Matti tödlich hasst? Oder gar Pekka, der frühere Liebhaber von Märta, der seit Jahren als verschollen gilt?
Ein tiefgründiger Roman über das Menschliche und das Unmenschliche, die oft so nahe beieinanderliegen, dass die Grenze erst erkennbar wird, wenn es zu spät ist.

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer
«Pass dich an, dann überlebst du», bekommt der elfjährige Arthur Goldau zu hören, als ihn seine Mutter im Herbst 1963 im Klosterinternat hoch in den Schweizer Bergen abliefert. Hier, wo schon im September der Schnee fällt und einmal im Jahr die österreichische Exkaiserin Zita zu Besuch kommt, wird er zum «Zögling 230» und lernt, was schon Generationen vor ihm lernten.
Doch das riesige Gemäuer, in dem die Zeit nicht zu vergehen, sondern ewig zu kreisen scheint, birgt ein Geheimnis: Ein immens wertvoller Diamant aus der Krone der Habsburger soll seit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie im Jahr 1918 hier versteckt sein. Während Arthur mit seinen Freunden der Spur des Diamanten folgt, die tief in die Katakomben des Klosters und der Geschichte reicht, bricht um ihn herum die alte Welt zusammen. Rose, das Dorfmädchen mit der Zahnlücke, führt Arthur in die Liebe ein, und durch die Flure weht Bob Dylans «The Times They Are a-Changin'».

Lioba Happel «POMMFRITZ aus der Hölle», edition pudelundpinscher
Pommfritz, der Ich-Erzähler des neuen Romans von Lioba Happel, schreibt an seinen Vatter in den Emmentälern, den er vor langer Zeit einmal zu Gesicht bekommen hat, aus der Hölle seines Lebens. Er berichtet von der Kindheit, die er, angebunden an ein Tischbein, fliegentötend, bei einer gewalttätigen, schweigsamen, Grillhühnchen und Pommes verschlingenden Mutter verbringt; von den Besuchen der Angelina vom Sozialamt, einem Wesen zwischen Rosenduft und Formularfrust, und wie die Mutter sie in die Pfanne haut; von härtesten Prüfungen unter den Jugendlichen in der Spezialschule; von seiner Liebe zur Prügellilly, deren schlagkräftige Zärtlichkeit die der Mutter noch übertrifft; und von der Einzelhaft im Gefängnis, wo er auf der untersten Stufe der Verbrechen steht denn er hat seine Mutter getötet und danach verspeist naja, Stückchen von ihr, ne Kuppe vom Finger. Pommfritz, der in Lachen ausbricht, wenn sich die Hölle auftut, ist ein Anti-Held, wie es in der Literatur nicht viele gibt, ein unglückseliges Monster. Lioba Happel, die 2021 den Alice-Salomon-Poetik-Preis erhielt, ist eine Dichterin des Randständigen. In ihrem halsbrecherischen Roman an der Grenze zum Gesagten und Sagbaren spannt sie ein schwankendes Erzählseil über den Abgrund des Schweigens. Auch der Briefeschreiber Pommfritz bekommt keine Antwort. (Jan Koneffke)

Simon Fröhling «DÜRRST«, Bilgerverlag
Ein waghalsiger Roman, der den Bogen von James Baldwins »Giovanni’s Room« zu Fritz Zorns »Mars« und bis hin zu Édouard Louis’ »Im Herzen der Gewalt« spannt.
«DÜRRST»–  Simon Froehlings zweiter Roman entführt uns nach Athen, Kairo, Edinburgh, Berlin und Zürich, hinein in die Landschaft eines exzessiven, auseinanderbrechenden Lebens. In der paradoxen Realität scheinbarer Freiräume der Besetzer-, Kunst- und Schwulenszene mäandernd erzählt Simon Froehling den Weg einer brutal schmerzhaften Selbstfindung in Bildern von stupender Schönheit.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont
Die Erzählfigur in «Blutbuch» identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.
Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

Illustrationen © leafrei.com

Noch eine Bemerkung zu den Illustrationen in den Beiträgen zum Schweizer Buchpreis: Die junge Illustratorin Lea Frei zeichnet seit 2019 Cover und Porträts der Nominierten für die Beiträge auf literaturblatt.ch. Die Künstlerin veredelt damit die Beiträge auf dieser Webseite, sie gibt Büchern und AutorInnen und nicht zuletzt dem Schweizer Buchpreis einen ganz individuellen Auftritt. Herzlichen Dank!!!

Katerina Poladjan «Zukunftsmusik», S. Fischer

Im Takt der Zeit

Katerina Poladjans hochaktueller Roman «Zukunftsmusik» erzählt vom 11. März 1985, einem kalten Tag im fernen Osten Russlands – doch ein neuer Frühling steht kurz bevor. 

Gastbeitrag von Sarah-Sophie Engel
Sarah-Sophie Engel studiert Deutsche Philologie und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Ihr Interesse an Menschen und gesellschaftlichen Themen führt sie oft zur Literatur.

Die Zukunft ertönt im Viervierteltakt. Chopins Trauermarsch schallt durch das Radio der Kommunalka an jenem Morgen, an dem Matwej schon früh in der Küche sitzt. Diese Küche befindet sich irgendwo tausende Kilometer östlich von Moskau, in Sibirien – mit etwa drei Stunden Zeitunterschied. Die Töne verbreiten eine finale Stimmung, mit der niemand wirklich etwas anzufangen vermag, denn noch weiss keiner, wer ging und was kommt.

Mit dem Tod des Generalsekretärs wird Gorbatschow das Amt ergreifen und den Zerfall der Sowjetunion einläuten – aber noch gilt weiter, jedes Tun der Bürger und Bürgerinnen ist dem grossen Plan gewidmet. In dem steht auch: jeder Bürger der Sowjetunion hat Anspruch auf neun Quadratmeter. Maria teilt sich mit Mutter, Tochter und Enkelin ein Zimmer. Ihr heimlicher Verehrer, Matwej, wohnt gegenüber und gleich nebenan der alte Professor, der später durch die Zimmerdecke flieht. Die Bewohner:innen der Zimmer am Ende des Ganges spielen auf der häuslichen Bühne kaum eine Rolle, abgesehen von ihrem guten Essen auf dem Herd, von dem sich immer mal wieder jemand heimlich ein Schälchen füllt. 

Auf dem engen Raum der Wohnung bekommt man voneinander einiges mit – vieles auch nicht. Die eigenen Träume werden bewacht und Erinnerungen in kleine Kästchen verstaut, wo sie niemand findet, ausser man selbst. Poladjan erzählt von der Angst bestimmte Dinge laut auszusprechen, von vergangenen und neu beginnenden Leidenschaften und der Sehnsucht nach Schokolade, einer neuen Gitarre oder einfach nur Freiheit. Sie erinnert an Zeiten, in denen die Politik den Menschen nicht gehört – so wie sonst eigentlich auch nichts – und skizziert angesichts der systemischen Enge den Spielraum des Alltäglichen und den Platz in den eigenen Gedanken.

Katerina Poladjan «Zukunftsmusik», S. Fischer, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397102-6

Maria gesteht Matwej, ein ganzes Lexikon der Angst könnte ich schreiben. Und doch bewahrt sie, trotz ihrer Sorgen, einen sanften Humor und eine Leichtigkeit, die sie träumen lässt von Tango unter Palmen und Ferien in Abchasien. Ihre Mutter ist erstaunt über die Naivität ihrer Tochter und stellt fest: Es gab keine Freiheit, dass das immer noch niemand begriffen hatte. Maria aber kann sie schmecken, die Freiheit. Nach langem Anstehen am Lebensmittelgeschäft, ohne erst zu wissen wofür, ergattert sie Krakauer Würste und auf dem Museumsboden entdeckt sie eine Paillette, ein Überbleibsel einer anderen Welt: Maria legte sich die Paillette auf die Zunge und hatte Gold im Mund. Ob die neue gelbe Bluse, Importware, ihr stehe, will sie wissen – jedenfalls hatte sie so eine noch nie.

Poladjan zeigt, wie unterschiedlich Menschen in ihrem alltäglichen Leben auf ein starres politisches System reagieren, das ihnen nichts schenkt und alles von ihnen verlangt. So ist Matwej stets bemüht, ein «guter Kommunist» zu sein. Und während Maria befürchtet, ihr Leben zu vergeuden und das Glück nie zu finden, schenkt Matwej ihr weiter Cognac ein, mit den Worten: Dass die Menschen immer noch nicht verstanden haben, dass persönliches Glück ohne Allgemeinwohl nicht möglich ist.

Was Poladjans Roman zugrunde liegt, ist die einfühlsame Beschreibung eines historischen Tages auf der Bühne der «kleinen Leute». Sie lässt die Leser:innen die Präsenz einer Politik spüren, die so weit weg scheint und doch eine Enge schafft, in der sich die eigenen Wünsche und Pläne nur schwer entfalten. Zwischen fein skizzierten Figuren finden sich starke Worte. Die zwanzigjährige Tochter, Janka, möchte keinen Mann, sie betet zu Gott noch viele Münder küssen zu dürfen und dafür, dass ihre Lieder gehört werden: Ich erinnere mich an ein Leben, das ich nie gelebt habe und von dem ich hoffe, dass es noch vor mir liegt.

Gegen Ende des Romans lässt Poladjan surreale Nuancen entstehen, die sich ganz ungezwungen einschleichen, was erstmal überrascht, da die Erzählung sonst so solide in der Geschichte verankert zu sein scheint. Allerdings inszeniert Poladjan damit genau diese unsichere Aufbruchsstimmung voller Möglichkeiten, die jener Frühlingstag bei den Bewohner:innen der Kommunalka auslöst.

Poladjan lässt die Leser:innen eintauchen in eine Welt, die zwar vergangen ist, sich aber auf 187 Seiten erneut für sie öffnet. Man ist umgeben von russischer Musik, einer Eiseskälte, liebevoll-witzigen und ernsthaften Dialogen, dem Duft von Schaschlik über dem Feuer. Und zwischen den Zeilen leuchtet die grosse russische Literatur hervor. «Zukunftsmusik» erinnert an die Vielschichtigkeit einer Gesellschaft, die, fernab ihrer Regierung, beim Lesen aufrichtiges Interesse weckt. 

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. «Zukunftsmusik» stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Andreas Labes

Günter de Bruyn «Die neue Undine», illustriert von Jörg Hülsmann, S. Fischer

Die Geschichte des weiblichen Wassergeist Undine ist alt, der Name Undine indogermanisch, von „Welle“ abgeleitet. Die Urgeschichte aus dem 13. Jahrhundert wurde vielfach nacherzählt, u. a. 1811 von Friedrich de la Motte Fouqué als Märchennovelle und in verschiedenen Varianten auch in anderen Figuren wiederzufinden (Loreley). Günter de Bruyn erzählt die Geschichte neu und doch mit der Patina einer unsterblichen Sage.

Undine, eine junge Frau aus der Wasserunterwelt, will das Menschsein ergründen, verliebt sich und muss ihren Geliebten warnen. Denn einmal verheiratet, muss der Geliebte seine Untreue mit seinem Leben bezahlen und Undine wird verschwinden. Beide Geschichten, jene von Friedrich de la Motte Fouqué und die von Günter de Bruyn sind in dem überaus schmucken Band zusammen mit den Illustrationen von Jörg Hülsmann abgedruckt. So etwas wie der dritte Band, nach „Effi Briest“ von Theodor Fontane und „Sternstunden der Menschlichkeit“ von Stefan Zweig, die alle von Jörg Hülsmann illustriert in jede Bibliothek von BuchliebhaberInnen gehören.

Günter de Bruyn «Die neue Undine», illustriert von Jörg Hülsmann, S. Fischer, 2021, 160 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-10-397041-8

Ein einsames Fischerpaar am Ufer eines grossen Sees geniesst das späte Familienglück bis die Tochter an einem stürmischen Tag verschwindet. Todunglücklich ergeben sich die beiden ihrem Schicksal bis urplötzlich ein Mädchen an ihre Haustüre klopft, tropfnass, unbeeindruckt vom Unwetter in ihrem Rücken. Das Mädchen ist blond, gleich alt wie ihre verschwundene dunkelhaarige Bertalda. Die beiden nehmen das Mädchen auf und sie bleibt bei ihnen, wenn auch immer fremd und dem Wasser zugeneigt. Jahre später verschlägt es einen jungen Ritter zu den Fischern an das Ufer des Sees. Und weil dieser durch ein Unwetter gezwungen ist zu bleiben, verlieben sich die beiden jungen Leute. Der Ritter hält um die Hand Undines an, die ihm gerne in seine heimatliche Burg folgt mit der Warnung, dass er etwaige Untreue teuer zu bezahlen hätte. Zurück am Hof des Ritters wird klar, dass das Mädchen, dem er vor seiner Reise seine Hand versprochen hatte, die verschollene Tochter des Fischerpaars ist, eine junge Frau, die ihre Vergangenheit vergass. Es kommt, wie es kommen muss.

Warum eine alte Geschichte nacherzählen? Weil Sagen mehr als bloss Geschichten sind. Weil sie zum Erbmaterial einer ganzen Kultur gehören. Und wenn solche Geschichten bis zu Ariellefilmen aus dem Hause Disney verniedlicht werden, ist bitternötig, dass man dem alten Erbe kein neues Gesicht, aber ein neues Gewand gibt, keine Adaption in die Moderne, aber in einer Sprache erzählt, die nichts vom sagen-haften Zauber der Urfassungen eingebüsst hat. Und wer kann ein solches Kunstwerk besser als ein alter Meister seines Fachs.

Dass der Verlag S. Fischer bei dieser Veröffentlichung den Illustrator Jörg Hülsmann mit ins Boot nahm, macht aus der Sage einen Buchschatz erster Güte. Kein Buch, das man nach der Lektüre so einfach zwischen andere Bücher ins Regal schieben will. Ein Buch, das Raum nimmt und Raum braucht, dass sich zeigen lassen will, das zur Verführung aufruft, so wie die schöne Wasserfrau aus den Tiefen des Sees. „Die neue Undine“ ist eine literarische Sirene!

Der letzte vom Autor zu Lebzeiten abgeschlossene Text!

Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays «Als Poesie gut» und «Die Zeit der schweren Not», die autobiographischen Bände «Zwischenbilanz» und «Vierzig Jahre» sowie die Romane «Buridans Esel» und «Neue Herrlichkeit». Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow.

Jörg Hülsmann, geboren 1974, studierte Illustration in Düsseldorf und Hamburg. Seit 2003 zeichnet er als freier Illustrator für Buchverlage wie S. Fischer, Suhrkamp Insel, DuMont oder die Büchergilde Gutenberg und für Magazine wie das mare-Magazin, die Frankfurter Rundschau und Das Magazin des Tages-Anzeigers, Zürich.

Beitragsbild © Doris Poklekowski

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer

In Kellern lässt sich vieles lagern, verbergen, vergessen. Aber für eine ganz besondere Sorte Mensch kann ein Keller zu einem Lebensraum, einem Lebensspeicher werden, in dem sie horten, schichten, stapeln und selbst in einem scheinbaren Chaos zu ordnen versuchen.

„Das Archiv der Gefühle“ ist ein Roman der Entmaterialisierung, denn was bleibt, ist weder bedrucktes, noch beschriebenes Papier, selbst in der kurzen Einheit eines Lebens. Das einzige, was bleibt, ist der Nachhall von Gefühlen, etwas, das sich weder schichten, stapeln, noch horten lässt. Der Nachhall ist flüchtig.

Man hat den Icherzähler entlassen, nachdem er über Jahrzehnte verantwortlich war über das Recherchearchiv einer grossen Tageszeitung. Einst war er Vorgesetzter einer ganzen Equipe in den Kellerräumen des Unternehmens. Irgendwann war er übrig geblieben, der Letzte, den man entlassen musste. Und weil es in der digitalisierten Gegenwart weder Verwendung für ein Archiv, noch für die Rollregale gibt, liess man das Ganze, nachdem er seinen eigenen Keller im ehemaligen Wohnhaus seiner Mutter geräumt hatte, für wenig Geld und gegen vertraglich abgesicherte Nutzungsbestimmungen in sein Heim abtransportieren. Nicht der letzte Grund, warum ihn seine Frau Anita irgendwann aufgab und verliess.

„Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgesetzten Platz…“

Seither spielt sich das Leben des Einzelgängers in den Mauern seines Hauses ab. Was sich nicht durch die wenigen Spaziergänge erledigen lässt, ordert er per Internet. Die Tagesabläufe blieben immer gleich, die Arbeitsstunden am Morgen, das karge Mal zu Mittag, die Arbeitsstunden am Nachmittag, das Buch am Abend.

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-10-397402-7

Aber so sehr er Hüter seines Archivs ist, Hüter gegen das Vergessen, ein Manischer, der immer wieder neue Dossiers anlegt, beseelt davon, Ordnung in sein Leben zu bringen, wird er bedrängt von seinen Gefühlen, den Erinnerungen, der Ahnung, sein Leben verwirkt, vergeudet zu haben. Damals, noch in der Schule, war Franziska seine Freundin. Eine Freundin, in die er verliebt war, die seine Liebe nie verlor, auch als sie sich aus den Augen verloren und sein Leben den Anschein machte, in geordneten Bahnen zu verlaufen. Aber eine Liebe, der er sich nie offenbarte, die immer in der Schwebe blieb, auch als man sich später immer wieder einmal traf und das eine oder andere Mal geschwisterlich in Hotels ein günstiges Zimmer teilte.

Und als in der Gegenwart das Virus das Leben zeitweise zum Erliegen bringt, er seine Spaziergänge aus den Tiefen seines Archivs wieder länger werden lässt, wird auch Franziska immer mehr zu einer Begleiterin seiner Tage, manchmal so real, dass ihr Abbild beinah greifbar wird. Sollte er noch einmal Kontakt aufnehmen? Nach 40 Jahren?

Peter Stamms schrulliger Einzelgänger wendet sich immer mehr ab von jener Welt, die er zu schützen glaubte, immer mehr zu, jenem Gefühl noch eine letzte Chance haben zu müssen, seinem Leben einen Sinn zu geben. Ich mag ihn. Eigentlich hat er alles richtig gemacht und doch droht er, alles zu verlieren. Der Eigenwillige hat etwas von einem Künstler, einem Kämpfer, der sich nicht um ein Publikum schert.

Aus Franziska wurde Fabienne, ein Name, der sich auf der Bühne als Sängerin besser verkaufen liess. Aber auch ihr Leben ist aus der Spur geraten, vielleicht schon viel länger, als die Berichte in den Medien erahnen liessen. Durch einen ehemaligen Kollegen bringt er den Wohnort seiner ehemaligen Freundin in Erfahrung. Und während sich ihr Abbild immer mehr materialisiert, beginnt sich der Mann von der tonnenschweren Last seines Archivs zu entfernen.

Peters Stamms Sprache ist glasklar, seine Geschichte beinahe schlicht. Es ist das, was er mit seinem Erzählen in mir als Leser auslöst. Was machen Erinnerungen mit mir? Welches Bild von mir und der Welt trage ich in mir? Lebe ich das Leben, dem ich zugesprochen bin? Habe ich die Chancen genutzt, die sich mit stellten? Ist Ordnung alles oder letztlich das, was uns vom Leben trennt? Ergeben wir uns dem Konjunktiv unseres Lebens? Peter Stamms Protagonist lässt sich auf ein imaginäres Gegenüber ein. Dann jeweils kippt die Zeit. Peter Stamms Roman wird einmal mehr polarisieren. Erst recht, weil er so unspektakulär ist. Trotzdem, oder eben darum – ein starkes Buch!

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

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Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Judith Hermann «Daheim», S. Fischer

Dreissig Jahre nachdem sie beinahe mit einem Zauberer und einer Kiste, in der sie dreimal pro Woche zersägt worden wäre, auf eine Kreuzfahrt nach Singapur gegangen wäre, erinnert sich die Frau. Sie erinnert sich in einem Haus, in dem sie sich einrichtete, das ihr Daheim werden sollte. Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist voller überraschender Wendungen, ein einziger Strudel, der Gegenwart und Vergangenheit vermengt.

Ein kleines Haus nicht weit vom Meer. Im Erdgeschoss eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und im ersten Stock ein weiteres Zimmer, das sie aber gar nicht braucht. Es ist das letzte Haus. Danach ist der Weg bloss noch Sand. Sie wohnt in dem baufälligen Haus, weil nicht weit davon ihr Bruder eine Kneipe, einen Schuppen direkt am Meer betreibt, weil er im Frühling die Bretter von den Fenstern nimmt und er eine Hilfskraft braucht, die den Laden am Laufen hält. Ihr Bruder ist Arbeitgeber, vielleicht auch ein bisschen Asylgeber, denn sonst hält sie nichts an dem Ort, schon gar nicht die neue Freundin ihres Bruders, mehr als dreissig Jahre jünger als er, unstet und verschroben, unergründlich, ihren Bruder quälend. Eine junge Frau, die er zwischendurch zur Trailersiedlung fahren und auf sie warten muss, bis sie eine halbe Stunde später einen der Trailer wieder verlässt. Sie heisst Nike!

Judith Hermann «Daheim», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-10-397035-7

Im Frühling gibt es in der Kneipe noch nicht viel zu tun. Sie freundet sich mit ihrer Nachbarin an, mit Mimi, die auch eines der freistehenden Häuschen bewohnt, das sie einst von einer alten Frau übernahm, vollgestellt mit Möbeln und Dingen, die aus der Zeit gefallen sind. Mimi ist nicht weit von den Häusern auf einem Hof aufgewachsen, den ihr Bruder Arild seit dem Auszug seiner Frau alleine führt. Er allein mit tausend Schweinen. Mimi nimmt ihre Nachbarschaft so selbstverständlich wie ihr Bruder die Tatsache, dass sie nun irgendwie dazugehört. Obwohl die Erzählerin eigentlich ihre Ruhe will, tagsüber ihre Arbeit in der Kneipe, die Abende und Wochenenden für sich, für eine Flasche Wein und ihre Erinnerungen.

Sie hatte Familie. Hat sie eigentlich noch immer. Aber nachdem ihre Tochter Ann ausgezogen war, sich auf eine Reise machte ohne Ziel und Rückkehrdatum, gab es keinen Grund mehr bei Otis, ihrem Mann zu bleiben. Auch wenn sie Otis noch immer Briefe schreibt, auch wenn ihr die Erinnerungen an die Zeit als Familie noch immer weh tut, auch wenn Otis irgendwie noch immer ihr Mann ist. Ein Sammler, ein Messi, unter einem Dach, dass er sein Archiv nennt, in dem er alles hortet, was man dereinst, wenn die Welt vor die Hunde geht, brauchen wird. Auch wenn von Ann nur ein paar kurze Mitteilungen kommen, eigentlich bloss Koordinaten von irgendwelchen Orten. Die Liebe aber ist geblieben.

Mimi ihre Nachbarin, Arild ihr Bruder auf dem Hof mit seinen Schweinen, der manchmal rüberkommt, um in der Marderfalle hinterm Haus den Köder zu ersetzen. Und vielleicht noch die Eltern von Mimi und ihrem Bruder, ihr eigener Bruder mit „seiner“ Freundin, der er sich verschrieben hat. Und die Otis und Ann. Eine Welt, die nicht mehr ihr gehört und sie trotzdem in eine Kiste einsperrt, eine Kiste, aus der sie es nicht schafft, trotz der Distanz.

Sie erinnert sich. An die gute Anfangszeit mit Otis, an die Familienzeit, an jenen Moment zuvor, als sie mit dem Zauberer und der Kiste nach Singapur hätte fahren können und es im letzten Moment mit schon gepackten Koffern sausen liess. Ein anderes Leben. Ein Leben ohne Otis, ohne Ann, ohne die Kiste jetzt. Aber dafür mit einer Kiste, mit der der Zauberer sie dreimal pro Woche in zwei Hälften zersägt hätte. Zwei Hälften, in die sie auch ohne den Zauberer damals geworden ist. Eine Hälfte, die existiert und eine Hälfte, die sich erinnert.

Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist unkonventionell, überraschend, verunsichernd, kaum je vorhersehbar. Mit einem Mal eröffnen sich Bilder, die mich ebenso faszinieren wie verstören. Und hinter dem ganzen Roman steckt latent eine Endzeitstimmung, etwas Fatalistisches. Als hätte man allem die Zukunft geraubt. „Daheim“ bleibt hängen!

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien «Alice», fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, «Aller Liebe Anfang». 2016 folgten die Erzählungen «Lettipark», die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Der Roman «Daheim» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Beitragsbild © Michael Witte

Roland Schimmelpfennig «Die Linie zwischen Tag und Nacht», S. Fischer

Roland Schimmelpfennig inszeniert perfekt. Ich vergesse mich, wenn ich seine Romane lese. Er reisst den Schorf weg, bis es blutet. Sein neuer Roman „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist ein Höllentripp im Berlin der Gegenwart.

Sie stehen morgens auf, gehen zur Arbeit, kommen abends zurück, trinken nach dem Essen noch ein Glas Wein und gehen nach dem Krimi ins Bett? Sie wohnen in einer Stadt, bummeln am Samstag durch die Gassen und lesen auf den Litfasssäulen, was so läuft (oder eben nicht)? Sie haben ein schlechtes Gewissen oder zumindest ein ungutes Gefühl, wenn sie zu viel getrunken haben und erst in den Morgenstunden ins Bett schlüpfen?

In „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ erzählt Roland Schimmelpfennig von mehreren Linien; von der Grenze zwischen vorder- und rückseitigem Leben, von der weissen Linie auf dem Spiegel, die man durch die Nase hineinzieht, von der Spur, die einmal leuchtet und im Dunkel verschwindet.

Ich lebte in meiner Vergangenheit einmal kurze Zeit in Berlin. Etwas länger, als dass man mich bloss als Tourist hätte bezeichnen können, immerhin hatte ich dort meine Arbeit, aber zu wenig lange, dass ich einer von dort gewesen wäre. Mein Leben streifte das Leben dort nur. Ich habe die weisse Linie zwischen Tag und Nacht nie überschritten, schon allein aus lauter Rechtschaffenheit, biederer Normalität.

Roland Schimmelpfennig «Die Linie zwischen Tag und Nacht», S. Fischer, 2021, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397410-2

Tommy war einst ein gefeierter und von höchster Stelle gepushter Drogenfahnder. Man feierte ihn und seine Erfolge, obwohl man ahnte, dass nicht jede Ermittlung sauber war. Tommy, Sohn eines Tischlers, lebte mit seiner Partnerin in der zur Wohnung umfunktionierten Tischlerei, die er von seinem Vater geerbt hatte. Alles lief, mit reichlich Alkohol, einer Pille hier und einer Linie dort. Bis zu jenem Tag, als er hinter dem Steuer einen Jungen zu Tode fuhr, einen Unschuldigen, Unbeteiligten. Bis offensichtlich wurde, dass Tommy zu Ermittlungszwecken die weisse Linie zwischen Tag und Nacht längst überschritten hatte. Man suspendiert ihn. Tommy sackt ab. Seine Lebenspartnerin kann nicht mehr. Man wendet sich von ihm ab, zumindest jene, die einstmals applaudierten. Was blieb, sind die Verbindungen zur Unterwelt und ein kleiner Streifen Papier von einem Glückskeks an der Tür zu seiner Werkstatt. Vinh, ein Mädchen aus der Vergangenheit, mittlerweile Studentin weit weg, hatte ihm den Glückskeks gekauft: „Unforgettable moments will enlighten your journey.“ Ein Versprechen? Oder mehr?

Nach einer durchzechten Nacht zieht Tommy eine junge Frau aus der Spree. Sie schwimmt auf dem Rücken in einem weissen Brautkleid, mit Blumen geschmückt – und sie ist tot. Während er ins Wasser springt, geht das Feiern weiter. Tommy genügt es nicht, die junge Frau dem Krankenwagen zu übergeben. Er will wissen, warum sie im Wasser auf ihn zuschwebte, will der Namenlosen einen Namen geben, will das Rätsel dieses seltsamen Todes knacken. Tommy taucht in die Welt hinter der Sonne, hinter der weissen Linie, in menschenverlassenes Gewerbegebiet, Brachen und grosser, leerer Parkplätze einstiger Industriekolosse, dorthin wo das Leben im Rausch pulst, wo die Nacht lauter als der Tag ist und der Rechtsstaat das Heft schon lange aus der Hand gegeben hat. Tommy taucht ab, weil er getrieben ist vom einzigen, dass er wirklich kann, von den Bildern, die ihn nicht loslassen, vom Rausch, der ihn aufrecht gehen lässt.

„Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist kein Krimi und schon gar kein Thriller. Roland Schimmelpfennigs dritter Roman ist ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Ein Tripp in eine Welt, in der alles Rausch sein soll und muss, in dem der Rave den Puls taktet und der Stoff zum Elixier wird. „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist aber auch die Geschichte von jungen Menschen, die chancenlos verloren sind, denen nie jemand eine Hand reicht, die jene Linie in Pulver- oder Pillenform zur Lebenslinie wird. Man liest den Roman mit angehaltenem Atem! 

Roland Schimmelpfennig, 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit grossem Erfolg gespielt. 2016 erschien sein erster Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand, und 2017 sein zweiter Roman «Die Sprache des Regens». Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin und Havanna.

Rezension von «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Adriana Jacome

Peter Stamm «Wenn es dunkel wird», S. Fischer, Erzählungen

Es hätte nur ganz wenig gebraucht und ich hätte den neuen Erzählband Peter Stamms nicht zur Hand genommen. Aber dann schnappte ich ihn mir doch, begann im Zug zu lesen und wäre schon beim ersten Eintauchen in Peter Stamms literarischen Tauchgang durch die Dunkelheit fast an meinem Ziel vorbeigefahren.

In seiner letzten Erzählung „Schiffbruch“ sitzt ein in den Bankrott geratener Spekulant in seiner Dolder-Suite hoch über Zürich in seinen Bademantel gehüllt. Die Tür zu seiner Suite ist verrammelt, das Abenteuer konnte beginnen. Robinson hatte es zwanzig Jahre durchgehalten.
In allen Erzählungen erkennt man das stamm’sche Erzählmuster all jener Männer und Frauen, die an die Ränder ihrer Existenz geraten. Die einen springen, andere verharren. Eine Polizistin, die sich nach der Trennung von ihrem Lebenspartner in die Berge versetzen lässt, um sich auf der Suche nach ihrer „Verdoppelung“ einer Art Spiegelung in den Bergen beinahe zu verlieren. Oder Adrian, arbeitslos geworden, verliert sich in einer Parallelexistenz. Oder der Ehemann, den seine Frau mit seinen Kindern, ungeduldig und wütend geworden auf dem Weg in den Winterurlaub an einer Raststätte im Nirgendwo stehen lässt.

Peter Stamm «Wenn es dunkel wird», Erzählungen, S. Fischer, 2020, 192 Seiten CHF 29.90, ISBN 978-3-10-002226-4

Peter Stamm erzählt von Kippmomenten, in denen sattes, in fixen Bahnen geschientes Leben aus den Fugen gerät oder zumindest zu entgleisen droht. Und Peter Stamm überrascht, wie plottorientiert er zu schreiben versteht, mich als Leser in Katastrophenfantasien hineinmanövriert, die mir selbst offenbaren, wie empfänglich ich für die schlechten Varianten des Lebens bin. Peter Stamm führt mich ganz nah an jene Momente, an denen sich das Leben öffnet, wenn auch nur in Spiegelungen. Es brechen die Grenzen des eigenen Seins auf, Grenzen werden transparent, Abgründe offenbar.

In der ersten seiner Erzählungen mit dem Titel „Nahtigal“ duckt sich ein junger Mann krank gemeldet während Tagen mit einer Maske in seiner Tasche vor einer Bankfiliale herum. Tun oder nicht. Jetzt oder nie. „Es ging darum, sein Leben in die Hand zu nehmen, um die Freiheit, selbst zu bestimmen, was geschah“. Peter Stamms Erzählungen kreisen immer wieder um diesen einen Moment, von dem wir wissen, dass er überall lauert, dass wir ihn meist nicht wahrhaben wollen, um uns selbst vor möglichen Konsequenzen zu schützen.

Vielleicht spiegeln sich in Peter Stamms neuem Erzählband „Wenn es dunkel wird“ aber auch Veränderungen seines Schreibens selbst. Denn wenn man ihm in diesen Erzählungen eines nicht nachsagen kann, dann ist es Unterkühlung. In seinem Buch werde ich als Leser ganz nah an den heissen Kern des Lebens geführt, dort hin, wo sich die Banalität des Alltags mit der drohenden Katastrophe zu reiben beginnt. Peter Stamms Erzählungen sind nicht einfach Kurzfutter fürs Nachttischchen, sondern tiefe Einblicke mit dem Brennglas eines feinen Beobachters.

Peter Stamm, (geboren 1963) aufgewachsen in Weinfelden im Kanton Thurgau. Nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Studium der Anglistik, Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Seit 1990 freier Autor und Journalist. Peter Stamm schrieb Reportagen und Satiren unter anderen für die Neue Zürcher Zeitung, den Nebelspalter und das Magazin des Tages-Anzeigers. Längere Auslandaufenthalte, u.a. in Paris, New York und Berlin. Lebt mit seiner Familie in Winterthur.
Peter Stamm schrieb zahlreiche Hörspiele und Theaterstücke. 1998 erschien sein erster Roman «Agnes». Seither sind vier Erzählsammlungen und fünf weitere Romane erschienen, zuletzt 2016 «Weit über das Land». Werke von Peter Stamm wurden in 37 Sprachen übersetzt. Lesereisen in viele Länder, unter anderem nach China, Mexiko, Russland, in die arabischen Emirate, nach Kolumbien und in den Iran.

Webseite des Autors

Rezension «Marcia aus Vermont» auf literaturblatt.ch

Rezension «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Anita Affentranger