Theres Roth-Hunkeler «Damenprogramm», edition bücherlese

«Nacherzählen ist auch Nachzählen, sage ich schon lange», schreibt die Protagonistin Anna ihrer besten Freundin (und Schwägerin) Ruth im Roman «Damenprogramm» von Theres Roth Hunkeler. Und etwas zwischen Abrechnung und Bilanz ist der Roman von Theres Roth-Hunkeler tatsächlich. 

Gastrezension
von Franco Supino

Eine Abrechnung mit dem Leben ihren Protagonistinnen, denn wer so unerbittlich ehrlich und stilistisch klar schreibt wie Roth-Hunkeler, macht es nicht wie die Sonnenuhr (und zählt die heiteren Stunden nur).  Und eine Bilanz ist der Roman, weil die beiden Freundinnen an der Schwelle zur Pensionierung auf ihr bisheriges Leben schauen: Das Arbeitsleben, das die beiden tüchtigen Frauen erfüllte, werden sie bald ablegen. Männer, die mal wichtig waren, sind abgehauen, verstorben (Thore, Max und Arno bei Anne) oder erweisen sich als unbrauchbar, so dass man sich von ihnen trennen muss (Jan bei Ruth) – was kann also dieser Lebensabschnitt, vor dem sie stehen, der sie mal ängstigt, mal zuversichtlich werden lässt, noch bringen? Dies auch in Anbetracht von Caro, Annas Tochter und Ruths Patenkind, einer labilen, suchtkranken Frau, die von einem selbstbestimmten Leben wie das der Mutter und der Tante nur träumen kann, und immer nur wieder einen Strich durch die wohlfeilen Rechnungen der Mutter zu machen im Stande ist.

Theres Roth-Hunkeler «Damenprogramm», Edition Bücherlese, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-79-6

Kann, wer ungeschönt aufs Leben schaut, wer sich nicht belügt, zwischen verpassten Chancen und trüben Aussichten nur Schwarz sehen? Nein, nicht bei Theres Roth-Hunkelers «Damenprogramm». Unerwartet erhält dieser Text einen hellen Klang, denn die beiden Protagonistinnen lassen sich, (einmal mehr) nicht unterkriegen oder vom Selbstmitleid einlullen. Ruth stellt fest, dass sie beide, erlöst von Existenzsorgen, nun in der Situation ihrer Mutter, der Bankiersgattin, seien, die damals im Dorf im sogenannten Damenprogramm, also dem ehrenamtlichen sozialen Engagement im Kreise anderer gut gestellter Frauen, ihre Erfüllung sah (oder sehen musste). 

Ein solches, aber ganz anderes, politisch engagiertes Damenprogramm will Ruth, die auch ansehnlich geerbt hat, mit Anna initiieren. Anna ist erst nicht sehr begeistert, aber schliesslich … mehr sei nicht verraten! Nur der Schluss:  wie bei den Arztserien (die Anna so liebt) und wie beim einspaltigen Fortsetzungsroman, den Anna als Kind täglich in der Tageszeitung las, endet «Damenprogramm» augenzwinkernd mit dem «grossen Versprechen»; F.f. – Fortsetzung folgt. Denn das Leben im Gegensatz zu Geschichten hört nie auf.

Theres Roth-Hunkeler ist eine feste Grösse der Schweizer Literatur, seit sie 1991, eingeladen von Peter von Matt, einen Preis beim renommierten Ingeborg Bachmann Preis zugesprochen bekam. Sie hat seither sechs Romane veröffentlicht, dies neben Essays und Kurzgeschichten, und sie ist als Kulturvermittlerin tätig. Ihre Schaffenskraft beeindruckt mit jedem Text neu. Ob das Leben im Alter lebenswert ist? diese Frage stellt «Damenprogramm» – eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Aber wenn man so schreibt wie Theres Roth-Hunkeler, ist es uneingeschränkt lesenswert.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind die Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen bestimmt haben. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten sechs Romane publiziert, zuletzt das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter und den Roman «Geisterfahrten» (2021). In unregelmässigen Abständen meldet sich Theres Roth-Hunkeler mit ihrem Blog zu Wort.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Theres Roth-Hunkeler «Luftwurzeln», Plattform Gegenzauber

Die Zeit verdunstet. In den Parks sprechen Alte mit winterharten Vögeln und üben bereits die Litanei der Namen für den nahenden Frühling. Viele Freunde sind verschwunden in den letzten zwei Jahren. Himmelwärts, vermutlich, aber ohne Sang und ohne Klang. Die Begabten unter den Zurückgebliebenen, schüchterner denn je, skizzieren ein neues Heimweh und kaufen Postkarten: Meer und Himmel, abstrahiert in Strichen. Oder eine Carte Blanche, von ihnen dann beidseitig beschrieben: Lebst du noch? 
Die, die noch können, stolpern ungelenk über den Friedhof. Auf den Gräbern gutmütige Blumen wie Druckfehler im Gras. Viel Wind wühlt in fast tauben Ohren, fährt unter die Kleider der Schmächtigen und beinahe fällt sie der Föhn. Die Jahre mussten wir an der Grenze lassen, sagen die Toten.

In der Altersresidenz tobt das Heimspiel. Leib gegen Leben. Die Partie endet unentschieden. Es sind ja bloss Wörter, beschwichtigt Eine ihr einsilbiges Herz. Dieweil ihre Zimmernachbarin täglich Eigenschaften abgibt, eine nach der andern. Eine der Fröhlichen der zweiten Etage streicht unentwegt Teppichfransen glatt und stellt ein paar verpixelte Fotos nach. Flausen im Kopf, ausschliesslich. Ich muss hier schliessen, schreibt Einer im Einzelzimmer. Seinem Sohn. Schicke liebe Grüsse an dich und deinen Anhang. Dann ertränkt er seine Orchideen auf dem Fensterbrett, pünktlich wie jeden Tag. Um fünfzehn Uhr kommt die Pflegerin. Sie bringt Tee. Einen Lappen hat sie stets dabei. Für alle Fälle. Das sei doch keine Zuversicht, diese täglichen Überschwemmungen, stellt sie fest. Der Alte nickt. Stimmt, sagt er, und wir wissen wenig über Pflanzen. Stimmt auch, sagt die Pflegerin, vermutlich sind sie in einem der weichsten Momente entstanden.

Eine Glückliche lebt noch daheim. Ist bei sich. Dein Reich komme. Morgens, mittags und abends. Die Spitex. Die Augen wollen nicht mehr recht. Die Beine geben nur noch Kurzstreckentickets aus. Der Rest sei eine Sache des Willens. Und der Vorfreude auf den Frühling. Auf die Gartenarbeiten. Auf die Luft. Sie ist bald hundert Jahre alt. Sie macht täglich ein paar Übungen. Knie hochziehen, auf Zehenspitzen gehen, auf einem Bein stehen und dabei kurz die Augen schliessen. Nicht stolpern. Nicht fallen. Das sei im Alter das Wichtigste, sagt sie. Standfest sein. Im Gleichgewicht bleiben. Haltung bewahren. Ab und zu strauchle sie über die eigenen Regeln. Ich habe genascht. Der Herrgott werde ihr die lässliche Sünde nachsehen. Und, sie sei ready, im Fall. Jederzeit abholbereit. Dein Reich komme. Wobei, die Tulpen und die Narzissen in ihrem Garten würde sie doch gerne noch einmal sehen. Wenn sie es recht bedenke, seien Blumen schon immer ihre grösste Freude gewesen. Die Anemonen, die Osterglocken, der Sommerflor erst, die wilden Rosen, Astern und Dahlien im Herbst, und Erika und Christrosen schliesslich zu Allerheiligen auf dem Friedhof. Wo sie lieber nicht hin wolle. Sie wünsche, dass sich ihr letztes Bett im Garten befinde. Sorgst du dafür?

Und dann noch die uneinigen Paare. Einer von beiden ist aus dem Leim gegangen. Hat sich einen schlurfenden Gang angewöhnt. Kommt nicht mehr aus Morgenmantel und Pantoffeln raus, nicht mehr hoch aus dem Lehnstuhl. Zeitung und TV. Zwei, drei Gläser Rotwein, Weissbrot, Käse und Trockenfleisch. Dem andern ist das zu zäh. Nun beissen sie sich aneinander die Zähne aus. Getreulich.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind ihre Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen prägten. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten fünf Romane publiziert, zuletzt «Allein oder mit andern» (2019) und das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter.
Zu «Geisterfahrten» (2021): «Die Autorin versteht es meisterhaft, uns sowohl das unmittelbare Geschehen der Gegenwart vor Augen zu führen wie dieses mit vergangenen und nachwirkenden Hintergründen so zu verbinden, dass die verschiedenen Zeitebenen fliessend ineinander übergehen. So gelingt ihr ein psychologischer Familienroman, der auf kunstvolle Weise die faktische Realität der Vergangenheit mit dem Realismus einer fiktiven Gegenwart verbindet.» Daniel Rothenbühler

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Beitragsbild © Ayse Yavas