Wenn am 22. August im Literaturhaus Thurgau eine neue Saison mit dem traditionellen Sommerfest startet, werden Besucherinnen und Besucher miterleben, wie sich Musik mit Literatur verweben kann. Ariela Sarbacher liest und performt zusammen mit den Musikern Christian Berger und Dominic Doppler ihr Debüt «Der Sommer im Garten meiner Mutter». Eine Kopfreise für GeniesserInnen!
Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf einen literarischen Text einzulassen. Schon in mehreren Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können. Vor zwei Jahren waren es Autorinnen wie Dana Grigorcea, Julia Weber, Yaël Inokai, Arja Lobsiger und Noëmi Lerch, die sich zusammen mit dem Musikerduo «Stories» auf ein literarisch-musikalisches Experiment einliessen:
Dana Grigorcea: Mit Musik zu lesen war für mich eine neue Erfahrung! Es hat einfach alles gestimmt; die Einführung, die Musik des Duos „Stories“, die Art und Weise mit der die Musik auf meinen Text abgestimmt war, die Technik, die Beleuchtung im schönen Theater, das Publikum und die guten Gespräche danach. Vielen lieben Dank!“
Yaël Inokai: Wie fühlt es sich an, nicht in die Stille hinein zu lesen? Erst ist es erstaunlich. Und dann, ganz schnell, hat man sich an den Klang der anderen gewöhnt. Man geht in seinem Text spazieren. Manchmal spüre ich intuitiv, dass ich loslassen könnte, schweigen, nur für einen Moment – aber ich traue mich nicht. Warum? Ist man es sich gewohnt, an seinem Buch zu kleben, auch wenn man die Erzählstimmen eigentlich schon auswendig kann? Hat man Angst davor, ohne nichts auf dieser Bühne zu stehen? Einmal wage ich es, und schliesse die Augen. Und als wäre ich ein Kind, verschwindet tatsächlich für einen Moment die ganze Welt.»
Arja Lobsiger: «Es war ein einzigartiges, unvergessliches Erlebnis, mit Dominic Doppler und Christian Berger auf der Bühne zu stehen und meine Worte in ihren Klangteppich zu weben. Dieser Teppich gab meinem Text einen neuen Rhythmus, andere Pausen, betonte Passagen und schuf eine Atmosphäre, in welcher die Worte zum Klingen gebracht wurden.»
Lassen Sie sich im Literaturhaus von der Kombination, dem Zusammenwirken von Musik und Literatur be- und verzaubern. Der Abend, das Sommerfest zusammen mit der Schriftstellerin Ariela Sarbacher ist der Beginn einer Reihe, die in den kommenden Jahren seine Fortsetzung finden wird.
Geheimnisse gibt es in jedem Leben, in jeder Familie. Geheimnisse, die unausgesprochen, verschwiegen oder scheinbar vergessen wie schwarze Locher ein Familiengefüge bedrohen können. Ariela Sarbacher erzählt von einer Frau, die durch ihre sterbenskranke Mutter und ihren Willen auch den letzten Schritt selbstbestimmt zu gehen, jenes Licht zurückbekommt, das jene Löcher ein Leben lang zu schlucken drohte.
Samstag, 22. August!
Ich kenne Ariela Sarbacher als Schauspielerin, als Stimme. In einem Sommer sass ich ihr und ihrem Mann im Zug schräg gegenüber auf der Fahrt nach Leukerbad im Wallis. Dort gaben die beiden ihre Stimmen jenen Autorinnen und Autoren, die ihre Texte in deutsch nicht lesen wollten oder konnten. Und in diesem Frühling hat Ariela Sarbacher sich selbst eine Stimme gegeben. Eine Stimme, die wegen der Pandemie aber des öftern zurückgepfiffen werden musste. So auch im Literaturhaus Thurgau, wo die programmierte Lesung am 2. April dieses Jahres den strikten Massnahmen zum Opfer fiel. Eine Stimme, der sich nun glücklicherweise doch noch ein Fenster öffnet, denn die Autorin wird ihren Debütroman am 22. August doch noch im Literaturhaus Thurgau präsentieren können. Eine Veranstaltung, die mit Musik, Speis und Trank zu einem kleinen Sommerfest werden soll, zum Start in eine neue Saison.
Ariela Sarbacher erzählt von Francesca und ihrer Mutter. Vielleicht erzählt Ariela von sich und ihrer Mutter. Aber eigentlich spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn Ariela Sarbacher schildert eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine mitunter schwierige Geschichte. Die Geschichte einer grossen Familie, halb an der ligurischen Küste in Chiavari zuhause, halb am Zürichsee in der Schweiz. Ariela Sarbacher erzählt aus der Ich-Perspektive nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit, nach dem selbstbestimmten Sterben der Mutter.
Francesca hat ihre Mutter bis zum letzten Moment begleitet, einer Nähe, die in starkem Kontrast zu den wenigen Gemeinsamkeiten der beiden sonst steht. Sie ist da, als die Tropfen durch die Kanüle den Geist der Mutter nach wenigen Atemzügen wegdämmern lassen. Sie bleibt. Sie bleibt in der Wohnung. Die Mutter bleibt im Kopf, im Herzen, in den Dingen, die zurückbleiben und nicht einfach zu Staub zerbröseln. „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ ist der letzte Sommer. Jene Wochen, in denen sie zusammen sind, aufräumen, ordnen, das Sterben organisieren, Filme schauen, erzählen, streiten, lachen und weinen. So liest sich auch der Roman. Es sind Bilder, die auftauchen, ein langer Gang durch die Geschichte einer ganzen Familie. Nicht chronologisch erzählt, denn niemand erzählt chronologisch. Es sind Geschichten aus den Tiefen der Vergangenheit, Geschichten, die erst auftauchen, wenn sich das Ende abzeichnet. Geschichten, die eine Erklärung sein sollen und wollen dafür, was in diesem Sommer, dem letzten gemeinsamen Sommer, geschieht.
Francescas Mutter, die als Zwölfjährige durch eine schlimme Blutvergiftung für drei Jahre ans Bett gefesselt war, sich ganz der Hilfe anderer ergeben musste, die die Welt in Büchern an ihr Bett holte und Zeit ihres Lebens alles daran setzte, selbstbestimmt durch ihr Leben zu schreiten, will auch in den letzten Wochen keiner Krankheit, keinem Zustand die Kontrolle über ihr eigenes Selbst, nicht einmal über ihr Sterben übergeben. Ein Entschluss, der für ihre Familie, für Francesca ein Kampf wird, der nicht mit dem Sterben der Mutter zu Ende ist, sondern erst durch das Erzählen ein langsames Ende, eine Versöhnung findet.
So ist die Stärke des Buches auch ihre Achillesferse. Die erzählerische Nähe der Autorin zu ihren Protagonisten suggeriert unweigerlich, dass vieles im Roman autobiographisch sein muss. Dabei spielt das für Literatur eine völlig unwichtige Rolle. Diese Nähe macht den Text zerbrechlich, führt mich ganz nahe an starke Emotionen. Dabei passiert diese Auseinandersetzung im und um den Tod mit allen, die zurückgelassen werden. Mit dem kleinen, grossen Unterschied, dass es im Sterben dieser Mutter im Roman eine Alternative zu geben scheint.
Aber wenn man „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ auf ein „Sterbe-Buch“ reduziert, wird man dem Roman nicht gerecht. Ariela Sarbacher erzählt die Geschichte von Francesca, ihrer Kindheit zwischen den Kulturen, zwischen Italien und der Schweiz. Francesca erfährt, was es bedeutet, hin- und hergerissen zu werden, nicht nur zwischen den Kulturen, auch zwischen Eltern, die sich irgendwann trennen, in den Gegensätzen dieser Welten. Francesca muss erfahren, dass es mit dem Sterbewunsch ihrer Mutter auch ein anderes Sterben gibt, als all jene Tode, die sich im Laufe ihres Lebens in die Erinnerung gruben. Ariela Sarbacher erzählt die Geschichte einer hellen Kindheit, wie sich der Wunsch, Schauspielerin zu werden, eingräbt, vom Kampf bis der Wunsch Realität wird. Von unsäglicher Fremdheit undschmerzhafter Nähe. Davon, dass aus jahrzehntelanger Distanz zwischen Mutter und Tochter nicht mit einem Mal Nähe entstehen kann, schon gar nicht unter dem Zwang einer lebensbedrohenden Krankheit. Sie erzählt von einem Leben, in dem Sprache schon immer nicht nur Mittel zum Zweck des Erzählens war, sondern Elixier, der Stoff, aus dem Leben entsteht, Freiheit und Halt.
Ein ungeheuer bewegendes Buch.
Ariela Sarbacher wurde 1965 in Zürich geboren. An der Schauspiel-Akademie Zürich wurde sie als Schauspielerin ausgebildet. Ihre ersten Engagements führten sie ans Stadttheater Heidelberg und an die Bremer Shakespeare Company. Nach der Geburt ihrer beiden Töchter liess sie sich zur Taiji-, Qi Gong- und Pilateslehrerin ausbilden. 2002 gründete sie ihre Schule »Einfluss«. Sie hat ein eigenes Präsenztraining entwickelt, mit dem sie Menschen für ihre Auftritte vor Publikum vorbereitet. Von 2017 – 2018 Ausbildung Literarisches Schreiben am EB Zürich. Heute arbeitet sie als Schauspielerin, Sprecherin, Schriftstellerin und Präsenztrainerin.
Das Sommerfest im Literaturhaus Thurgau wird musikalisch begleitet von «Stories»: Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula).
Seit 2016 erscheint bei Galiani Berlin eine ganz besondere Reihe ausgesuchter Erzählungen und Novellen. Grandiose Texte, feinste Ausstattungen, ungewöhnliche Materialien, überraschende Interpretationen. Alle Bände im selben Format, alle Bände mit dreiseitigem Farbschnitt – aber jeder Band in anderer Ausstattung und jeder Band mit eigener Bildsprache. Ein Fest für Geist und Sinne. Gestalterisch interpretiert von Kat Menschik.
Bisher sind die ersten acht Bände erschienen, jeder ein Kleinod; von Franz Kafka „Ein Landarzt“, von William Shakespeare „Romeo und Julia“, von E. T. A. Hoffmann „Die Bergwerke zu Falun“, von Volker Kutscher „Moabit“, von Edgar Allan Poe „Unheimliche Geschichten“, das Kochbuch „Essen essen“, das norwegische Märchen „Die Puppe im Grase» und 2020 „Pique Dame“ von Alexander Puschkin.
Alexander Puschkin, 1799 – 1837, gehört zu den Grossen der russischen Literatur, in Russland selbst der Nationaldichter, für viele RussInnen höher einzuschätzen als dessen Landsleute Tolstoi, Dostojewski, Gogol oder Pasternak. Nebst seinem wohl berühmtesten Versepos Eugen Onegin war Alexander Puschkin Meister der Erzählung. Eine davon ist die von Kat Menschik illustrierte Spielernovelle „Pique Dame“. Gering im Umfang, aber typisch für Puschkin. „Das Phantastische in der Kunst hat seine Grenze und Regel. Das Phantastische sollte sich so viel mit dem Realen berühren, dass man es «fast» glauben kann“, so Fjodor Dostojewski.
Man trifft sich in langen, russischen Winternächten zu Kartenabenden, die bis in die Morgenstunden dauern. Man spielt, erzählt sich Geschichten, labt sich an den Gewinnen und hadert mit dem Schicksal, wenn der Einsatz zerrinnt. Die alte, schrullige Gräfin ist eine der Spielerinnen. Sie lebt zusammen mit ihren Bediensteten und einer jungen Frau, Lisaweta Iwanowna in einem stattlichen Haus, von dessen Fenster die junge Frau eines Abends einen jungen Mann sieht. Einen jungen Mann, der auch noch Stunden später an der gegenüberliegenden Strassenseite zu warten scheint und zum Fenster hochschaut. Ein junger Mann, der ihr Briefe schreibt, ein junger Gardekavallerist, Sohn eines nach Russland immigrierten Deutschen.
Aber Hermann ist entgegen seiner Liebesschwüre gar nicht an der jungen Frau interessiert, sondern an einem Geheimnis, das man sich von der alten Gräfin erzählt. Sie habe die Fähigkeit, drei Karten im Spiel vorauszusagen, drei Karten, die für jenen Reichtum bedeuten, der mit der letzten Karte zu spielen aufhört. Kein Problem für den jungen, sparsamen Soldaten. Das Problem allerdings liegt darin, das Vertrauen der alten Dame zu erlangen, um ihr das Geheimnis zu entlocken.
Mit Lisaweta Iwanownas Hilfe schleicht sich Hermann in das Haus der Gräfin, wartet ab, bis diese allein in ihrem Schlafgemach ist und stellt sich ihr im Halbdunkel mit seinem Drängen um die drei Karten. Doch die alte Dame stirbt vor Schreck. Hermanns Gewissen scheint zu erwachen. Doch als ihm nach der Beerdigung der alten Gräfin, diese im Traum erscheint und ihm die drei Karten nennt, eine Drei, eine Sieben und ein Ass, erwacht die Gier erneut und Hermann macht sich auf zu seinem grossen Spiel. Aber die Pique Dame schlägt ihn, schlägt ihn nicht nur im Spiel, sondern für sein ganzes Leben lang.
Kat Menschiks Reihe entwickelt sich zur Kultreihe. Wer die einen hat, muss die andern auch haben. Kat Menschik bebildert aber nicht einfach die Geschichten, sie erzählt mit, leidenschaftlich mit Farben und Formen, eindringlich in ihrem kraftvollen Ausdruck. Jedes Buch ist durchdrungen von der Liebe zum Buch. Kat Menschiks Reihe ist buchgewordene Leidenschaft!
Kat Menschik musste leider absagen. Das Sommerfest findet aber trotzdem statt und zwar mit Ariela Sarbacher und ihrem Debüt «Der Sommer im Garten meiner Mutter». Für alle Menschik-Fans wartet eine ganz besondere Überraschung!
Kat Menschik (1968 in Luckenwalde DDR) ist freie Illustratorin. Ihr Gartenbuch «Der goldene Grubber. Von grossen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr» (2014) wurde zum Dauerseller und unter die 25 schönsten Bücher des Jahres gewählt. Seit 2016 gestaltet Kat Menschik ihre eigene Buchreihe, darunter der Bestseller «Moabit» von Volker Kutscher (2017) und Edgar Allen Poes «Unheimliche Geschichten» (2018). Jeder dieser Bände ist individuell gestaltet und ausgestattet. Zuletzt erschien dort die Neuübersetzung von Alexander Puschkins «Pique Dame» (2019).
Valerie Fritschs neuer Roman «Herzklappen von Johnson & Johnson» ist eine sprachliche Offenbarung, kein Unterhaltungs-Kurzfutter, keine Strandlektüre für den Halbschlafmodus. Die junge Österreicherin, die neben der Schriftstellerei auch fotografiert, vereint in ihrem Roman optische und sprachliche Tiefenschärfe, dringt sowohl psychologisch, geschichtlich und formal tief in die Segmente des Lebens ein. Ein Meisterwerk.
Alma ist schon als Kind eines mit Ecken und Kanten, wächst auf in einem unterkühlten Elternhaus, fühlt sich vielmehr zu ihrer Grossmutter hingezogen, einer stolzen, lange Zigaretten rauchenden Frau, die, je älter sie wird, desto seltener ihren Kosmos zuhause verlässt. Alma saugt alles in sich auf, auch den Schmerz der Geschichte, personifiziert in der Verschwiegenheit ihres Grossvaters, der im Krieg an Gräueltaten teilnahm, lange in russischer Kriegsgefangenschaft war und nach Jahren als Versehrter in ein Leben zurückkehrte, mit dem er nichts mehr anzufangen wusste.
Alma ist eingeklemmt in die Erwartungen ihrer Umwelt, ihrer Familie und die permanente Verunsicherung, die all das ausstrahlt, was sie zu verstehen versucht; das Leben ihrer Eltern, in das sie als Mitspielerin gezwungen ist, das Schweigen ihres Grossvaters, das immer mehr zu einem tiefen Abgrund wird, dass das, was wirklich entscheidend ist und war, ausserhalb ihres Wirkungsradius passiert. «Über ihre eigene Rolle rätselte sie oft.»
So sehr die mondäne Grossmutter zu einem Ankerpunkt, so sehr wird der Grossvater zu einem schwarzen Loch, der Verkörperung von unterdrücktem Schmerz, nicht nur körperlich, sondern ebenso psychisch und gesellschaftlich. Alma fühlt diesen Schmerz, der sie zu bremsen scheint, den sie, je älter sie wird, desto körperlicher wahrnimmt. Eine immerwährende Verunsicherung, die sich auch nicht verflüchtigt, als sie den Fotografen Friedrich kennen und lieben lernt. «Die Zeit wirkte wie ein Brennglas für den Schmerz.» Das Haus der Grosseltern wurde zu einem Behälter eines alten, durch Schweigen haltbar gemachten Schmerzes. Ein Schmerz, der nicht zu ignorieren war. Ein Schmerz, aus dem sie es nicht schaffte herauszuwachsen.
Und dann, als Emil zur Welt kommt, «eine grundlegende Erschütterung kroch ihr durch den Laib», stellt sich auch zu ihrem Kind nicht jene Nähe ein, die Mutterglück spiegelt. Emil wird zur Störung, einer Störung, die ihre Umwelt mit Unverständnis quittiert. Friedrich sieht das Leiden, möchte Alma am liebsten schütteln, damit etwas herausfiele aus ihr. Aber statt sich mit Emils Geburt Normalität einstellt, muss Alma feststellen, dass ihr kleiner Sohn unter einem genetischen Defekt leidet. Emil empfindet keinen Schmerz. Er spürt keinen Kratzer, keinen tiefen Schnitt, kein Bauchweh, keine Verbrennung. Und so schleicht sich der Schmerz als überdimensionale Leerstelle in Almas Leben, ein Leben, das auch vor Emils Geburt dem Schmerz gehörte.
Und weil Alma spürt, dass die grossen Antworten und Einsichten nur dort zu klären sind, wo der Schmerz seinen Ursprung nahm, macht sich Alma nach dem Tod ihrer Grossmutter zusammen mit ihrer Familie auf eine grosse Reise. Eine Reise weit weg, tief hinein.
«Herzklappen von Johnson & Johnson» ist derart sprachmächtig geschrieben, dass ich unweigerlich mein Lesetempo der sprachlichen Intensität anpassen musste. So gab es Abschnitte, die ich nicht einfach ein zweites Mal las, weil ich sie inhaltlich nicht verstanden hätte, sondern weil der Genuss des Lesens, die Entfaltung des Sounds nur durch die Lesewiederholung in seiner Totale genossen werden konnte.
Interview mit Valerie Fritsch
Als ich Sie das letzte Mal an einer Lesung traf, waren sie in den Vorbereitungen für eine lange Reise gen Osten, eine Reise, die man dann in den Sozialen Medien auch immer wieder einmal mit Fotos mitverfolgen konnte. Eine Recherchereise. Wie viel von diesem Roman ging damals schon mit auf die Reise? Die Idee einer Familiengeschichte, die in Schmerzkapseln, in Abwesenheiten und Entfernungen erzählt wird, stand damals schon, und diese Reise, die die Protagonisten gegen Ende machen, um der Kriegsvergangenheit des Grossvaters sprichwörtlich hinterherzureisen, wollte ich erleben, mir jeden Kilometer selbst zumuten, um die Distanzen ermessen zu können: 16 000 sind es geworden.
Ein zentrales Thema in Ihrem neuen Roman ist der Schmerz, ein Zustand, ein Gefühl, mit dem sich viele Menschen nur ungern oder am liebsten gar nicht aussetzen. Erst wenn man dazu gezwungen wird, konfrontiert einem der Schmerz unweigerlich. Aber selbst dann geht es um Vermeidung, Überwindung und Kampf. Ihre sprachliche Auseinandersetzung aber klingt durchaus lustvoll. Ein Widerspruch? Ich denke, es ist eine präzise, organische Sprache, die der Plastizität, der heimlichen und unheimlichen Wirkmächtigkeit des Schmerzes versucht gerecht zu werden, der körperlichen und der abstrakten Zerbrechlichkeit, der niemand ganz entkommt.In der Macht von Schmerz kann auch Lust stecken, zumindest aber ist es ein Begriffspaar, das jedes Leben bestimmt, in seiner Gegenüberstellung, oder in seiner Gleichzeitigkeit.
Sie fotografieren und schreiben. Alma, die Protagonistin, zeichnet, ihr Mann Friedrich fotografiert. Alle setzen sich durch ein vertieftes Sehen mit Welt auseinander. Wie weit verändert der fotografische Blick Ihr Sehen? Wenn man wild entschlossen undgenau schaut, sieht man viel. Die Augen wachsen förmlich mit dem Sehen. Man entdeckt im Allerkleinsten Schlüssel, die in grossen Geschichten sperren. Und man kann, wenn man genug gesehen hat, hernach die Bruchteile, Einzelheiten, Texturen der Welt zu einem grossen, fühlbaren Ganzen wieder sprachlich zusammzimmern mit Buchstaben, so dass der Leser alles in Bildern wiederfindet.
Ihr Roman ist auch ein Familienroman. Wie jede und jeder wird Alma ungefragt in eine Familie hineingeboren. Sie erzählen, als ob der Schmerz selbst die Genstruktur einer Familie Schaden nehmen würde, so sehr, dass sich an Almas Sohn Schmerzunempfindlichkeit manifestiert, ein Gendefekt. Mag sein, dass ein Zusammenhang abenteuerlich erscheint. Oder doch nicht? Inwieweit sich Erfahrungen in den Genen zeigen,ist eine neue Wissenschaft, die noch am Anfang steht, aber oft auf Überraschendes stösst. Es gibt beispielsweise ein Experiment mit Mäusen, in denen man den Tieren beibringt, sich vor dem Geruch von Kirschblüten zu fürchten, und auch wenn man die Eltern sofort nach der Geburt von den Jungen trennt, haben diese die gleiche – erfahrungsbasierte – Angst vor dem schönen Blumenduft. Für die Herzklappen von Johnson & Johnson ist das Genphänomen ein Kunstgriff, das Kind eine Gegenfigur des Schmerzes, auch wenn es dieser Defekt, der die Schmerzrezeptoren vollständig ausschaltet und einen unempfänglich macht für jedes physische Leid, tatsächlich medizinisch beschrieben existiert.
Alma macht sich auf eine Reise, zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn. Wer Antworten, Erklärungen, Deutungen sucht, macht sich immer auf die Reise, wenn auch nicht zwingend räumlich. Almas Reise ist keine Reise zur Überwindung, weder Schmerz- noch Angstüberwindung. Und doch eine Reise der Klärungen. Wie weit war das Schreiben dieses Buches eine Reise? Eine Reise in die Ungewissheit? Jedes Buch ist eine Reise, ein rollender Zug, in dem man sich setzt, aus dem man nicht aussteigen kann, und von dem man nicht weiss, wo genau er ankommen wird. Wie herrlich!
Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Photokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. Publikationen in Literaturmagazinen und Anthologien sowie im Rundfunk. 2015 erschien «Winters Garten» im Suhrkamp Verlag. Sie lebt in Graz und Wien.
Hansjörg Schertenleib veröffentlichte seinen ersten Erzählband «Grip» 1982, mit 25 Jahren. Seither ist die «Bibliothek Schertenleib» auf eine stattliche Länge gewachsen, der Autor ein Eckpfeiler der CH-Literatur. Aber keines seiner Bücher ist ihm selbst so nah wie sein jüngstes, «Palast der Stille», eine Perle aus der Gatsby-Reihe des Kampa Verlags.
Mag sein, dass die Lektüre dieses Buches für all jene ein ganz anderer Genuss ist, die seine Bücher und den Autor kennen. Mag sein, dass es für die NeueinsteigerInnen in den schertenleibschen Kosmos ein Erinnerungsbuch eines in die Jahre gekommenen Schriftstellers ist, ein Begleitbuch durch einen eiskalten Wintertag in Maine USA, wo der Autor seit ein paar Jahren zusammen mit seiner Frau ein kleines Cottage direkt am Meer mit Sicht auf einen kleinen Hafen mit Lobsterbooten von Hummerfischern bewohnt. Ein Tag von vielen, ganz allein mit sich selbst, um sich der Stille hinzugeben, aus der das Schreiben erwachen soll. Dann ist dieses Buch ein Spaziergang durch das Leben des Autors, als wäre ich Zeuge davon, wie Bilder im Kopf des Autors aufploppen; Erinnerungen, Ideenfetzen, Gedanken, Erklärungen, manchmal ganz nach innen gerichtet, manchmal mit cineastischem Geschick an die grosse Leinwand gemalt.
Wer Hansjörg Schertenleib kennt, dem begegnet in diesem Buch der Autor unmittelbar, als würde er mich an der Hand nehmen. Als wolle er mir zeigen, wie es sich schreibt, irgendwo zwischen Realität und Ideal. In diesem kleinen Haus am Meer auf Spruce Head Island, das er in der gleichen Sehnsucht kaufte, wie er vor Jahren einst den Ort besuchte, wo Henry David Thoreau seine Blockhütte baute und sein heute berühmtestes Werk «Walden. Oder das Leben in den Wäldern» zu schreiben begann. Schertenleib ist ein Suchender. Und das kleine Haus in Maine mit Blick aufs Meer ein real gewordener Sehnsuchtsort. Vorläufiger Endpunkt einer langen Reise, die immer auch Flucht war, vom ersten Moment seines Schreibens weg. Keine Flucht vor sich selbst, aber stets eine aus der Enge heraus in die Sehnsucht noch Offenheit, Weite und Unabhängigkeit.
Es schneit fast ununterbrochen und das Thermometer ist tief in den Minusgraden. In dem kleinen Haus mit Wohnküche, Schlafzimmer und Arbeitszimmer knacken Birkenscheiter im Ofen. Die Katze schleicht um seine Füsse, er liest, sinniert, packt sich ein, um sich einen Weg zur Garage freizuschaufeln. Ich gehe mit, wenn ihn seine Gedanken in seine Kindheit am Fusse des Uetliberg in Zürich tragen, in die Enge seiner Familie, aus der er nur in seinen Streifzügen mit seinen Freunden ausbrechen konnte. Wie aus dem geselligen Jungen plötzlich ein Einzelgänger wird, der erst spät zu lesen beginnt, dann aber unheilbar von diesem Virus befallen wird. Wie er nach einer Schriftsetzerlehre im Rausch zu schreiben beginnt und von seinem Idol Urs Widmer ermuntert wird, wie ihn die Zürcher Unruhen 1980 aus Zürich vertreiben, später für vierzehn Jahre in ein altes Schulhaus in Irland, bis in seinen Palast der Stille, den Ort, der ihm alles gibt, was sein Schreiben und Leben braucht, in maximaler Distanz.
Er verrät mir die Geschichte seines kleinen Schreibtischs, jene seiner ersten Liebe, die Geschichten seines österreichischen Onkels, der den Weltkrieg nicht abzuschütteln vermochte. Er nimmt mich mit in sein Schreiben, das permanente Reflektieren eines Künstlers, den Kampf gegen die Rechtfertigung von Müssiggang und Distanzierung in einer Welt, die nach Effizienz und Aufmerksamkeit geifert. Er nimmt mich mit und ich bin stiller Gast in seinem Haus in Maine.
Dabei hat sein Buch nichts Exhibitionistisches, strömt Stille aus, fast Beschaulichkeit. Und wenn sich die Dramaturgie des Buches am Schluss dann doch noch aufbäumt und der 4. September 1980 im Leben des Schriftstellers mehr als einen Bruch zugefügt wird, schliesst sich der Kreis und die müssige Frage, warum es Maine sein müsse.
Ich mag seine Leidenschaft, in der eine Prise Zorn mitmischt. Seine Ehrlichkeit, die kombiniert mit seiner Leidenschaft Stürme entfachen kann. Das Quantum Eitelkeit, das ihn nicht zum Übermenschen macht. Die noch immer jugendliche Kraft, die seinen Blick beseelt und ihn zu einem stolzen Ritter der Literatur macht.
Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seine Romane wie der Bestseller «Das Regenorchester» wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Zwanzig Jahre lang lebte Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, in Irland. Heute pendelt er zwischen der Schweiz und Spruce Head Island in Maine, USA. Der Transport seiner Bibliothek und Plattensammlung über den Atlantik dauerte per Containerschiff mehrere Monate. Aber literarisch sass Schertenleib in seiner neuen Heimat dennoch nicht auf dem Trockenen: The Lobster Lane Book Shop mit schätzungsweise 100 000 Büchern liegt nur eine Meile von seinem Haus entfernt.¨
Laura Vogts zweiter Roman strotzt von beinah triefender Weiblichkeit. Ob Mann oder Frau; wer den Roman „Was uns betrifft“ liest, sinkt immer tiefer in ein enges Geflecht von Intimitäten, die nie entblössend, nie voyeuristisch, nie beschämend, aber unsäglich ehrlich und direkt sind. „Was uns betrifft“ betrifft uns, ob Mann oder Frau.
Fenna, Verena und Rahel. Drei Frauen. Verena die Mutter, die sich einst von Erik trennte und mit Ida ein neues Leben begann, die krank und geschwächt die Nähe zu ihren Töchtern sucht. Fenna, die jüngere der Töchter, schwanger von Luc, gleichsam verunsichert wie entschlossen. Und Rahel, die Erzählende, die von Martin schwanger sitzengelassen wurde und bei Boris in seinem grossen Haus Asyl findet, wieder schwanger wird und sich immer tiefer in den Verstrickungen von Mutterschaft, Selbstzweifeln, Enge und Verunsicherung wiederfindet.
„Rahel trommelte mit beiden Fäusten auf ihre Stirn…. Hier drin ist alles weg. Absolut leer!»
Wäre Rahels Leben nicht von den Pflichten einer Mutterschaft zugedeckt worden, wäre sieSängerin, Texterin geblieben. Aber was in ihrem Bauch zu wachsen begann, nahm ihr die Freiheit, auch jene, jener Stimme nachzugehen, von der sie einst glaubte, es mache ein ganzes Leben aus. Und weil sich mit dem Schriftsteller Boris, seinem grossen Haus, seiner Unaufdringlichkeit und seiner Fürsorge alles wie von selbst zu fügen schien, gibt sich Rahel auch in eine zweite Schwangerschaft. Ein Kind allerdings, dass sich in eine nicht bereite Welt verirrt hat, das sich nach der Geburt fremd anfühlt. Zeichen, die Boris nicht verstehen kann, denen Boris immer hilfloser gegenübersteht.
„Sie wollte fort, weit weg.“
„Was uns betrifft“ ist keine Beziehungskiste. „Was uns betrifft“ ist eine wilde Reise durch die Weiblichkeit. Selten verunsicherte mich die Lektüre eines Buches so sehr – weil ich ein Mann bin. Nicht weil ich nicht verstehen könnte, was geschrieben steht, was erzählt und gefühlt wird. Aber ich bin ein Mann. Ich lese diesen Roman mit dem Blick eines Mannes, eines Vaters, lese ihn von der anderen Seite, von gegenüber, in einer seltsamen, bei der Lektüre eigenartigen Distanz. Noch verstärkt darin, weil der Roman aus maximaler Nähe erzählt, weil mich die Weiblichkeit wie ein Strudel mitnimmt, ohne mich zu erschlagen.
„Jede webt ihre Geschichten aus ihren Erfahrungen und trägt sie anders.“
„Was uns betrifft“ betrifft so sehr, weil Laura Vogt mich auf eine Reise mitnimmt in jenes Reich, dass sich scheinbar unendlich weit weg von Freiheit befindet, erdrückende Enge bedeutet, die alles zudeckt, alles vereinnahmt und doch durch nichts gleichzusetzen ist, dass in seiner Einmaligkeit berauscht, das von etwas kosten lässt, was sonst verborgen bliebe.
„Was uns betrifft“ ist kein Frauenbuch, aber ein Buch, das so nur von einer Frau geschrieben werden kann. Umso aufschlussreicher für den Mann. Umso kraftvoller und unmittelbarer für die Frau! Unglaublich sensible Beobachtungen und Schilderungen. Frausein wird Wahrnehmung, für mich als lesenden Mann zum Abenteuer. Dieses Frausein, das mit Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft untrennbar verbunden ist und für mich durchs Lesen zur Tiefenerfahrung wird! Laura Vogt schreibt sich durch die Haut hindurch in den Bauch der Frau. Vielleicht auch in die Erkenntnis, dass es zwischen Frau und Mann letztlich nur zum liebenden Verständnis kommen kann, ohne die Geheimnisse des jeweils anderen Geschlechts ergründen zu können. Dass ich als Mann Eindringling und Ausgeschlossner bleibe.
„Ein Haus, ein Mann, ein Sohn, eine Tochter, ein Stück Garten und dann doch auf einmal diese Leere.“
Rahel trifft sich mit ihrer Schwester und ihrer vom Krebs geschwächten Mutter. Zwei Tage allein, ohne Kinder, weil Boris mit ihnen weggefahren ist. Sie sind allein in seinem Haus, wie damals, als sie allein waren, bei ihren „Dämlichabenden“. Aus Distanz wird mit einem Mal Nähe, gewinnen sie zurück, was sie verloren glaubten. Verena ihre Familie, Fenna ihre Entschlossenheit und Ruhe und Rahel ihre Stimme, ihre Sprache, ihr Schreiben. Laura Vogts Roman ist vielschichtig, entblättert sich nur bis zu einem Kern, der verschlossen bleibt und die Fragen, was uns denn zusammenhält nicht beantworten kann und will.
„Ich habe immer gemeint, Singen und Schreiben bedeutet vor allem Loslassen und Abschied. Abstand nehmen … Aber es ist viel mehr als das. Es ist auch Neuanfang. Weitergehen.“
„Was uns betrifft“ ist eine Reise. Die Reise einer Mutter mit ihrem Kind, von der unmittelbaren Verbindung über die permanente Entfremdung und Entfernung ab Geburt bis zum Gefühl, dass damit auch Entfernung und Entfremdung mit sich selbst einhergeht. Eine Reise weg von den festgelegten Vorstellungen von Familie aus der Vergangenheit in die Weite einer Gegenwart, in der man sich zu verlieren droht. Eine Reise von aussen in die Fänge einer Familie und wieder hinaus. Eine Reise zwischen Tochter- und Muttersein.
Grossartig!
Die Buchvernissage am 26. März 2020, 19:30 Uhr, Raum für Literatur, St. Gallen ist abgesagt. Lesen Sie das Buch erst recht!!!
Laura Vogt, 1989 in Teufen (AR), studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, davor einige Semester Kulturwissenschaften an der Uni Luzern. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman «So einfach war es also zu gehen». Laura Vogt lebt im Kanton St. Gallen.
Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangener Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden.
Es gibt Momente, die alles in Frage stellen, die einem aus der gewohnten Sicherheit kippen. Monas Vater droht zu sterben. Und mit ihm all die Geschichten, von denen sie weiss oder ahnt oder auch keine Ahnung hat. Die Geschichten, die aus ihrem Vater jenen Johannes machten, den sie als Vater zu lieben versucht. Und zwar nicht einfach, weil er ihr Vater ist. Sie möchte ihn lieben wie damals als Kind, uneingeschränkt. Mit dem Tod eines nahen Menschen sterben Geschichten, das Verstehen, all die Leben dahinter, die mit jeder Generation zurück im Nebel des Vergessens entschwinden.
Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht.
Andreas Neeser erzählt die Geschichte von Johannes, erzählt das, was viele mitnehmen, wenn sie gehen, sei es eine Scheidung oder der Tod. Erzählt von einem Leben als ungeliebter Sohn, verdingt an den reichen Onkel, der auf der anderen Talseite den grossen Hof bewirtschaftet. Von der Armut, die wie eine unheilbare Krankheit an der Familie klebt, sie nicht aus dem Würgegriff lässt. Wie Johannes, obwohl man ihn als Arbeitskraft schätzt, überzählig bleibt, keinen Platz findet, schon gar keine Liebe, auch dort nicht, wo sein Zuhause sein müsste.
Trotz Tuberkulose findet Johannes den Tritt, davon überzeugt, dass das Leben ein steter Kampf, niemandem zu trauen ist. Er findet Arbeit in der Fremde, bei den Bauarbeiten zum Grand-Dixance-Staudamm, wird Schweisser. Aber erneut von der Tuberkulose zurückgeworfen, schrammt er nur ganz knapp am Tod vorbei. Was Johannes in seiner Familie nie erfährt, vermag er auch in seiner Familie den Kindern nicht zu schenken, Mona, seiner Tochter nicht und schon gar nicht Martin, seinem tot zur Welt gekommenen Sohn, der für die Eltern zum Trauma wird, das alles überschattet.
Andreas Neeser erzählt von Noëlle, Monas Tochter, die miterleben muss, wie die Ehe ihrer Eltern zerbricht, wie Noëlles Vater nach einem Raubüberfall in sein Goldschmiedeatelier den Boden unter den Füssen verliert, nicht nur wirtschaftlich. Wie Mona zur Projektionsfläche wird, es niemandem Recht zu machen versteht, nicht ihrem Vater, der ihr zu entgleiten droht, nicht ihrer Tochter, die nicht verstehen will und kann, nicht den Menschen, die sie beruflich zu betreuen hat, die einer Heimat entflohen, viel weiter als Mona, die die ihre in Sichtweite zu verlieren fürchtet.
Wie nahe kommt man den Nächsten? Wie zu einem Vater, zu einer Mutter? Braucht es Krankheit und Tod, um jene Nähe zurückzugewinnen, die man ein Leben lang Stück für Stück verliert? Wie gross muss der Schmerz sein, bis die Wunde aufreisst? Wie viel Leben versäumt man, wenn man den tiefen Schmerz in seinem Leben unausgesprochen mit sich herumschleppt? Väter und Mütter sind nie weg, nicht wenn sie sich für immer verabschieden, nicht wenn sie verschwinden, nicht wenn sie sterben. Mona verliert ihren Vater, genauso wie Noëlle den ihren. Aber Väter bleiben. Fragt sich nur wie.
Andreas Neeser erzählt in seiner gewohnt gekonnten Art, webt ein dichtes Netz, öffnet Türen, die er manchmal nur einen Spalt offen lässt, lotet nicht aus, tut genau das, was das Leben auch macht. Er erklärt nicht, öffnet sacht, manchmal nur unvollständig, bewusst lückenhaft. Andreas Neeser erzählt von Familie, diesem zarten Gefüge, das lebenslangen Schmerz und tiefsitzende Verletzung bedeuten kann.
Fast zeitgleich erscheint Andreas Neeser erster Mundartroman «Alpefisch». Nach mehreren Sammlungen mit Kurzprosa, die unter den Titeln «No alles gleich wie morn» (2009), «S wird nüme, wies nie gsii isch» (2014) und «Nüüt und anders Züüg» (2017) sein erster buchfüllender Mundartroman wieder bei Zytglogge.
Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.
Am Mittwoch 4. März besucht Andreas Neeser mit seinem neuen Roman «Wie wir gehen» den Literaturport Amriswil. Wer das Buch bereits gelesen hat und mit dem Autor am Tisch über sein Schreiben, die Literatur und den Roman diskutieren möchte, ist herzlich an den Tisch eingeladen. Für Essen und Trinken ist gesorgt. Der Mindesteintritt ist 30 CHF. Eine Anmeldung unter info@literaturblatt.ch ist unbedingt erforderlich!
4. März, 20 Uhr, Maihaldenstrasse 11, «Literatur am Tisch»
mit Andreas Neeser
Mona steht mitten im Leben. Von Pierre hat sie sich getrennt, ihre Tochter Noëlle geht zunehmend eigene Wege. Ganz am Anfang hingegen ist die Beziehung zu ihrem Vater Johannes. Die beiden sind sich schon viel zu lange fremd – dabei geht sein Leben langsam dem Ende zu. Solange Zeit ist, will Mona mit ihrem Vater ins Gespräch kommen. Doch wie soll sie Zugang zu diesem spröden, gebrochenen Mann finden?
Sie bittet ihn, seine Geschichte auf ein Diktiergerät zu sprechen. Erzählerisch brillant spannt Neeser den weiten Bogen von Johannes’ Kindheit, in der
er als Verdingbub auf dem Bauernhof seines Onkels schuftet, bis in die Gegen- wart, in der sich ihm seine Tochter behutsam annähert: Welche Seele denkt und fühlt in diesem Menschen? Was für ein Leben hat ihn so werden lassen? Und wie wäre es möglich, einander doch noch lieben zu lernen? Andreas Neeser entwickelt einen feinsinnigen Familien- und Generationenroman: leise und voll poetischer Kraft.
«Literatur am Tisch» hat Tradition und ist ein Ereignis von besonderer Gute:
«Es war ein wunderbarer Abend mit wunderbaren Menschen und wunderbaren Gastgebern, und der Duende, dieser Geist, der dem Mark des Lebens die Bühne bereitet, legte sich auf die Runde und befeuerte die Energie des Erzählens, der Geschichten und des Redens über Geschichten, die den Menschen die Seele reinigen. So war es, in Amriswil, am 29. Mai 2019, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, deren Herzenskraft der Literatur den Rücken stärkt.» Patrick Tschan
«Ein Wunder, das sich Dank Gallus und Irmgard ereignet. Schön, mit Gallus einen Bruder im Geiste zu wissen, einen Verbündeten, der wie ich nicht leben kann und will ohne Bücher, ohne Geschichten, einen, der wie ich brennt für die Literatur. Danke, durfte ich Platz nehmen an besagter Tafel und meine Novelle zur Diskussion stellen.» Hansjörg Schertenleib
«Schön gibt es die Hauslesungen und «Literatur am Tisch» bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, wo man die Begegnung zwischen Leser/in und Autor bei bester Verköstigung üben und «likes» oder «unlikes» ausgiebig diskutieren darf. Ein grosses Dankeschön nach Amriswil. Weiter so!» Jens Steiner
«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen.» Bettina Spoerri
Vom 26. bis 29. März 2020 erwartet die Besucherinnen und Besucher eine grosse Auswahl wortlauter Kunst in den vier etablierten Programmreihen Luise, Laut, Lechts und Rinks. Die vier Reihen strukturieren das Programm und fordern zu literarischen Grenzüberschreitungen auf. Insgesamt bietet das Sankt Galler Literaturfestival an vier Tagen 25 Veranstaltungen an den unterschiedlichsten Orten der Stadt, allesamt fussläufig erreichbar. Ab heute (06. Februar) ist das Gesamtprogramm des Literaturfestivals auf der neu programmierten sowie neu gestalteten Webseite wortlaut.ch abrufbar.
Buchvernissage mit Laura Vogt Was bedeutet es in der heutigen Zeit, Mutter zu sein? Was ist Weiblichkeit? Welche Beziehungen sind möglich und wie bleibt man darin selbstbestimmt? Zusammen mit dem Basler Zytglogge Verlag feiert Wortlaut die Buchvernissage von Laura Vogts neuem Roman «Was uns betrifft«. Die Ostschweizer Autorin liest am Donnerstag, den 26. März, um 19:30 Uhr im Raum für Literatur. Musikalisch begleitet wird sie von Andi Bissig. Die Moderation übernimmt der Literaturvermittler Gallus Frei-Tomic.
Eröffnungsveranstaltung und Dialekt-Poetry-Slam Zur Eröffnungsveranstaltung im Palace wird erst einmal eine Partie «Print-Pong» gespielt. Das ist sowas wie Ping-Pong nur ohne Ball und mit Worten. Wer das Kleinkunst-Duo «Ohne Rolf» kennt, wird diese Spielart bereits lieben gelernt haben. Sie ist gespickt mit seitenweise überraschenden Momenten. Was als Strassenaktion vor eineinhalb Jahrzehnten begann, tourt vier abendfüllende Programme und einige Preise später erfolgreich durch den ganzen deutschsprachigen Raum. Wortlaut präsentiert das sehens- und hörenswerte Künstler-Duo Christof Wolfisberg und Jonas Anderhub am Freitag, den 27. März, um 19 Uhr. Eine kurze Begrüssungsrede hält die Wortlaut-Festivalleiterin Rebecca C. Schnyder.
Am gleichen Abend, um 21 Uhr, findet in der Grabenhalle, nur einen Steinwurf vom Palace entfernt, der schweizweit einzigartige Dialekt-Poetry-Slam (Säg rächt!) statt, bei dem Mundarten aus der Schweiz und dem angrenzenden deutschsprachigen Raum aufeinandertreffen.
Tour littéraire in den vier Reihen Vier Reihen strukturieren das Wortlaut-Programm und fordern insbesondere am Wortlaut-Samstag, dem 28. März, zu literarischen Grenzüberschreitungen auf: Comic-Autorinnen lassen ihre Zeichnungen zu Wort kommen, es reden und singen Kabarettisten, Spoken-Word-Poetinnen performen die Sprache und Autoren lesen aus ihren aktuellen Werken.
In der Reihe Luise stellt zum Beispiel die Autorin Karen Köhler ihr Romandebüt «Miroloi» vor. Das Buch stand im letzten Herbst auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ähnlich wahrgenommen bzw. rezipiert wurde das Buch «Die Nachkommende» von Ivna Žic. Mit ihrem Erstling war sie u.a. für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert. Die Moderation der Lesung übernimmt die Schriftstellerin Tabea Steiner, die im letzten Jahr ebenfalls für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Mit einem bildstarken, und vor kurzem mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Debüt, zeigt Eva Maria Leuenberger, welche eigene Kraft Lyrik entfalten kann. Sie liest am Samstag, um 14 Uhr, im Raum für Literatur.
Einen Webteppich aus Kurztexten und Celloimprovisationen (Hommage an John Cage) präsentieren Christine Fischer (Text) und Brigitte Meyer (Musik) am Sonntag, 16 Uhr, im Museum of Emptiness.
Ostschweizer Bühne: Neben weiteren Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum betreten am Wortlaut-Samstag vier Literaturschaffende aus dem Literaturnetz Ostschweiz die Bühne im Splügeneck. Ab 13 Uhr treten auf: Tobias Bauer, Liv Naran, Mathias Ninck und René Oberholzer. Es moderiert Tamara Hostettler.
In der Reihe Lechts stellt das Festival bekanntlich Werke aus dem Bereich «Comic und Graphic Novel» vor. Veranstaltungsort ist das Palace. Dieses Jahr wird neben der Hamburger Illustratorin Orphea Heutling, dem Cartoon-Kollektiv «Pause ohne Ende» und dem Comic-Künstler Frank Schmolke («Nachts im Paradies»), der Illustrator Nando von Arb mit seinem Buch «Drei Väter» zu Gast sein. Ihm verdankt Wortlaut das aktuelle Plakatmotiv, das in enger Kooperation mit dem Büro Sequenz entstanden ist. Ab heute, den 06. Februar, hängen die grossformatigen Wortlaut-Plakate an den Kultursäulen der Stadt.
Die Reihen Laut und Rinks werden divers bespielt: So wird in der Reihe Laut neben «Ohne Rolf» auch Lisa Christ ihren Auftritt mit dem Programm «Ich brauche neue Schuhe» haben. Sie präsentiert ihr einstündiges Programm ab 21 Uhr in der Kellerbühne. Bei Rinks stellt u.a. der Slam-Poet Nektarios Vlachopoulos sein zweites Bühnenprogramm mit dem Titel «Ein ganz klares Jein» vor. Mal geht’s dabei um Rechtspopulismus, mal um mitgebrachte Rotweingläser bei der Studentenparty, mal um die Liebe, mal um morphogenetische Spektralbarometer. Weitere Spoken-Word-Künstler an diesem Samstag werden sein: Rolf Hermann/Trio Chäslädeli, Jan Rutishauser, Cruise Ship Misery, Diana Dengler und Marcus Schäfer (Gassenhauer). Nähere Infos dazu finden sich auf wortlaut.ch oder im Wortlaut-Programmheft.
Festivalzentrum mit Illustrationskiosk Die Buchbeiz ist zentrale Ticket-Verkaufsstelle. Hier können Tagespässe erstanden, reservierte Tickets abgeholt und sich über das aktuelle Programm informiert werden. Achtung: Tickets für einzelne Veranstaltungen können nur an den jeweiligen Kassen in den Lokalitäten erworben werden.
Illustrationskiosk: Angehende Illustratorinnen und Illustratoren zeichnen für Besucherinnen und Besucher des Festivals: Textpassagen werden in Zeichnungen übersetzt – überraschend, vielfältig, kreativ. Ab 13 Uhr, Eintritt frei, Kollekte. Speis und Trank.
TeilnehmerInnen Wortlaut 2020 – nach Programmreihen Luise (Lesungen und Gespräche): Laura Vogt (musikalische Begleitung: Andi Bissig), Tobias Bauer, Liv Naran, Eva Maria Leuenberger, Mathias Ninck, Ivna Žic, René Oberholzer, Andreas Neeser, Lorenz Langenegger, Karen Köhler, Richard Butz und Nathalie Hubler (Literatur in der Stadt), Christine Fischer (musikalische Begleitung: Brigitte Meyer)
Laut (Musik- und Sprechkabarett): Ohne Rolf (Christof Wolfisberg und Jonas Anderhub), Lisa Christ
Lechts (Comic und Graphic Novel): Orphea Heutling, Frank Schmolke, Nando von Arb, Pause ohne Ende
Rinks (Slam Poetry und Spoken Word): Säg rächt! Dialekt-Poetry-Slam mit: Teresa Reichl (Regensburg), Emil Kaschka (Tirol), Jan Rutishauser (St.Gallen), Sven Hirsbrunner (Thurgau), Remo Rickenbacher (Thun), Valerio Moser (Langenthal), Diego Häberli (Schaffhausen) und Simon Libsig (Baden), Spoken Word: Nektarios Vlachopoulos, Rolf Hermann/Trio Chäslädeli, Jan Rutishauser, Cruise Ship Misery, Diana Dengler und Marcus Schäfer (Gassenhauer)
Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band „Über die Lippen“ und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.
Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.
Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.
schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe
„Über die Lippen“ sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…
Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.
entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt
Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.
Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. Und Albert Ostermaier liest in der Schweiz!
Am Wochenende vom 7. und 8. März treffen sich im Aargauer Literaturhaus Lenzburg grosse Namen wie Esther Kinsky oder Albert Ostermaier mit NewcomerInnen wie der Bündnern Flurina Badel und der eben mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Eva Maria Leuenberger. Das Herz des Festivals sind traditionsgemäss Werkstattgespräche von jeweils drei Lyrikerinnen. AutorInnen stellen dabei dem Publikum nicht nur Texte aus ihrem Werk vor, sondern befragen sich gegenseitig über ihre Texte und beleuchten an ausgewählten Beispielen die kreativen Entstehungsprozesse.