Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes und Seitz

Ana sucht einen Ausweg aus patriarchischen Strukturen in einem kroatischen Dorf namens Glück. Sie verliebt sich in Igor, flieht aus der steinernen Umklammerung und strandet weit weg über dem Meer an einem eigentlichen Sehnsuchtsort, ernüchtert und desillusioniert in einem Frauenhaus, geschlagen nicht nur von ihrem Mann.

«Liebe um Liebe» ist das romangewordene Pendant zu ihrem vorletzten Buch «Glück», das aus einem Theaterstück entstand und mit dem gleichen Personal die Geschichte einer grossen Enttäuschung erzählt. Die Geschichte von Ana Jagoda, einer jungen Frau, die in sich den grossen Drang verspürt, den Drang zu schreiben, Welten zu erschaffen, die aber eingeschnürt ist und wird, von einer Umgebung, aus deren Fesseln sie sich nicht befreien kann. Ana wächst in einem kleinen Dorf in den kroatischen Bergen auf, einem Dorf namens «Glück». Aber Glück ist nicht ihr Glück. So wie ihr Leben nicht jenes Leben ist und wird, das sie eigentlich mit sich trägt. In einem Dorf, das von absolut patriarchischen Strukturen regiert wird, aber ebenso vom Alkohol, der Armut und der Aussichtslosigkeit, wird die noch junge Ana ungewollt schwanger. Sie verliebt sich in Igor, ihre Rettung. Aber was nach gemeinsamen Leben aussah, nach Perspektive, wird zu dem, was sich im Dorf Glück als Nährboden unweigerlich einstellt: Alles muss seinen vorbestimmten Platz einnehmen. Auch wenn dieser Platz zum Martyrium wird.

Ana treibt das Kind in ihrem Bauch ab. Ana verlässt Glück. Ana heiratet Igor und flieht mit ihm in den Norden der USA. Aber ihr krankhaft eifersüchtiger und aufbrausender Ehemann macht den Sehnsuchtsort zum Kampfgebiet. Ana leidet. Ihr Leben besteht nur aus Reaktion, lässt auch auf der andern Seite des Ozeans nie zu, was sie eigentlich gerne möchte; ihr Glück im Schreiben. Ana flieht weiter in ein Womanirrhaus. Dorthin, wo alle stranden, die nicht Frau über ihr eigenes Leben werden.

Auch wenn es die Autorin gar nicht will, Pauschalverurteilungen oder Pauschalurteile über den «bösen Mann» zu provozieren, ging es mir bei der Lektüre sehr nah, wie sehr Männer- und Frauenwelten auseinanderdriften können. Dragica Rajčić Holzner bewegt sich im vollen Bewusstsein zwischen Verständnis und Widerwillen aller Verurteilung gegenüber.

Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes & Seitz, 2020, 167 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7518-0000-6

Dragica Rajčić Holzner beschäftigt sich schon seit 35 Jahren mit der Geschichte Anas. Der Stoff sei ihre Rettung gewesen, ihr Schiff, ihre Kontinuität, mit der sich die Autorin über Wasser hielt. So wie es das Dorf Glück mit seinen gemeisselten Strukturen gibt, noch immer gibt, so gibt es Ana, Frauen, Menschen, die ihr Glück nicht finden, obwohl die Sehnsucht und die Liebe sie wegtreibt. Anas Leben ist Realität. Aber noch viel mehr Realität ist die Sprache, die direkt unter die Haut geht, die mich als Leser erschaudern lässt. Eine Sprache, die all die Frauen sprechen lässt, die keine Stimme und keine Kraft mehr besitzen, stumm bleiben, die sich so sehr einschüchtern lassen, dass nichts ihr Leben aufregen lässt. Dragica Rajčić Holzner erzählt nicht ihre Geschichte. Nicht ihr Schicksal, schon gar nicht ihre eigene Biographie, aber das Leben der Vergessenen, all jener Frauen, die mit einem unendlich scheinenden Reservoir an Hoffnung und Liebe scheitern.

Auf die Frage, warum der Roman nicht mehr in der ihr so eigenen Grammatik einer «Exilantin» geschrieben und gedruckt ist, erklärt Dragica Rajčić Holzner; Männern würde man diesen Umstand ihrem künstlerischen Ausdruck zugestehen, als Teil ihres schöpferischen Tuns, ihres Ausdrucks. Frauen hingegen als Ausdruck ihres Unvermögens. Die Bücher zuvor verunsicherten jene, die Orthographie wie die steinernen Strukturen einer patriarchischen Gesellschaft unumstösslich betrachten. «Liebe um Liebe», bei Matthes & Seitz in Berlin erschienen und schon durch den traditionsreichen Verlag geadelt, nun «einwandfrei» orthographisch, schreckt all jene auf, die vermissen, was bisher verunsicherte. Allen Leuten recht getan!

In Dragica Rajčić Holzners Roman spüre ich die unsägliche Kraft der Poesie, die Kraft der Worte, die die Bahnen der Geschichte oft überstrahlen. Wenn die Geschichte durch die Sprache fast in den Hintergrund rückt und sich der Text wie das Echo der Geschichte anhört, die eigentliche Resonanz. Beeindruckend!

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Dragica Rajčić Holzner wurde für ihren Roman «Glück» der Schweizer Literaturpreis 2021 verliehen: «In «Glück» erzählt Dragica Rajčić Holzner von einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe, die weder in der Erinnerung, noch in der räumlichen Entgrenzung Halt findet. Die Autorin zeigt eine Welt voller Zumutungen, die dem Leben ihrer Protagonistin mit jedem Schritt aus dem Heimatort hinaus mehr Möglichkeiten nimmt.
Die Autorin tut das in einer eigenwilligen, drängenden Sprache, die selbst auch Grenzen überschreitet und in der Enge der beschriebenen Lebensläufe unerwartete Freiheitsräume eröffnet.»

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Dragica Rajčić Holzner, 1959 in Split geboren, wuchs in Kroatien auf, bevor sie in die Schweiz zog. 1988 kehrte sie nach Kroatien zurück, arbeitete als Journalistin und gründete die Zeitung «Glas Kaštela». 1991 floh sie während der Jugoslawienkriege mit ihrer Familie in die Schweiz, wo sie sich in der Friedensarbeit engagierte. Zu ihrem Werk zählen auf Kroatisch und Deutsch verfasste Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke. Heute lebt Holzner in Zürich und Innsbruck. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 1994.

Rezension von «Glück» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Usama Al Shahmani «Im Fallen lernt die Feder fliegen», Limmat

Wer die Romane von Usama Al Shahmani liest, begegnet einem Mann, der in zwei Kulturen lebt. Einem deutsch schreibenden Iraker, dessen Herz und Erzählkunst ganz in der Tradition seines Landes pulst. Einem Thurgauer, der sein neues Zuhause wie nur wenige andere schreibend, wandernd, spazierend begeht und dabei eine Offenheit ausstrahlt, die mehr als nur ansteckt.

Die Veranstaltung muss leider auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.

Nach seinem ersten Roman „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit dem er sich in die Herzen seiner Leserinnen und Leser nistete und dort ganz eng an seiner eigenen Biographie die Geschichte eines Ankommenden schildert, beschreibt sein neuer Roman „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ beide Bewegungen; jene der Flucht und jene der Rückkehr. Zwei Richtungen, die sich aber sehr oft nicht klar zuweisen lassen, denn mit einem Mal kann aus der Rückkehr Flucht werden, so wie die Flucht immer auch die Möglichkeit der Rückkehr in sich trägt.

Eine junge Familie flieht aus dem von Saddam Hussein regierten Irak über den Iran bis in die Schweiz. In einem Land, in der Schweiz, wo die Eltern nie wirklich ankommen, wachsen die beiden Töchter Aida und ihre ältere Schwester Nosche auf. Sie gehen zur Schule, bereiten sich vor auf ein Leben in Ausbildung und Beruf, eingebettet in Freundschaften und Beziehungen. Aber dem Vater der beiden Schwestern, ein konservativer Theologe und seiner in Traditionen eingebundenen Ehefrau will es nicht gelingen, sich in das Gefüge ihres Zufluchtsortes einzuleben. Eine Sprache, die sich quer stellt, keine Familie mehr, die einem trägt und eine Gesellschaft, deren Rituale nur schwer oder gar nicht zu verstehen sind. 

Usama Al Shahmani «Im Fallen lernt die Feder fliegen», Limmat, 2020, 240 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-002-7

Während Aida in der Schule ist und die ältere Tochter schon in der Ausbildung aber noch nicht volljährig, beschliesst der Vater, in den Irak zurückzukehren. Aber was eine Rückkehr werden sollte, wird zur grossen Ernüchterung. Zum einen für die Eltern, die in ein Land, in ein Dorf, in ein Haus zurückkehren, wo nichts mehr ist wie es einmal war, man nicht versteht, warum man aus dem paradiesischen Westen zurückkehrt in ein Land, das vom Hass zwischen Sunniten und Schiiten zerfressen wird. Aber noch viel mehr für Aida und Nosche, für die es dort keine Zukunft zu geben scheint, ausser jener einer gefügigen Ehefrau.

Aida und Nosche beschliessen, mit Hilfe aus der Schweiz erneut aus dem Irak zu fliehen. Zurück nach Frauenfeld. Dorthin, wo sich vor ihrer Flucht ihr Leben abspielte. Die Flucht gelingt. Aber zu einem hohen Preis. Als Aida Jahre später Daniel, einen Schweizer kennen lernt und mit ihm zusammenzieht, merkt dieser, dass Aida ihre Vergangenheit weggesperrt hat, ihre Erinnerung, ihre Herkunft, den Alp, der auf ihrer Seele lastet. Und weil Daniel keine Ruhe gibt und immer wieder darauf hofft, etwas aus dem Davor seiner Freundin zu erfahren, droht die Liebe durch Verweigerung zu zerbrechen. Während Daniel sich eine Auszeit nimmt und ungewiss bleibt, ob es für sie beide eine Zukunft gibt, beginnt Aida, zaghaft aufzuschreiben, was wie ein Monolith quer in ihrer Seele alles Licht schluckt.

Wer ankommen will, muss etwas wagen. Das tun all die, die fliehen, die ein Heimatland zurücklassen, eine Familie, Freunde, ein Zuhause. Das Ankommen an einem anderen Ort ist nicht zwingend ein neuer Ort, eine freundliche Umarmung. Die einen bleiben immer auf der Flucht. Auf der Flucht vor sich selbst, den Bildern aus der Vergangenheit und einer zuweilen feindlichen Gegenwart. Andere schliessen sich in einer Kapsel ein aus lauter Angst, jenen kleinen Rest zu verlieren, den sie wie einen Schatz mit sich herumtragen.

Usama Al Shahmani erzählt genau davon. Vom Ankommen. Vom Kampf gegen permanente Flucht. Und weil es Usama Al Shahmani gelingt, in seinen Romanen nicht nur erzählerisch, sondern auch sprachlich diesen permanenten Kippzustand zwischen Hier und Dort zu beschreiben, werde ich als Leser mit all dem Zauber seiner Sprache an der Hand genommen.

„Im Fallen lernt die Feder fliegen“ ist Aidas Kampf mit sich selbst, ein Kampf in poetischer Kraft!

© Ayşe Yavaş

Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasiriya), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittler und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion» von Friedrich Schleiermacher. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.

Rezension von «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Ayşe Yavaş

Quentin Mouron „Vesoul, 7. Januar 2015“ und „Heroïne“, Bilger


Auf dem Cover des französischen Originals von Quentin Mourons jüngstem Roman „Vesoul, le 7 janvier 2015“ (Olivier Morattel Éditeur, Dole 2019) springt einem ein Porträt des Schriftstellers entgegen: Quentin Mouron, 1989 in Lausanne geboren und in Québec, Kanada, aufgewachsen, hält ein brennendes Buch in Händen und blickt dem Betrachter direkt in die Augen: „Na, was denkst du hierüber?“, scheint er zu fragen, „verstehst du, dass die Kultur brennt, dass sie nicht mehr greift, dass wir in einer sinnentleerten Welt leben?“

Gastbeitrag von Florian Vetsch, Autor, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer und deutscher Beatliteratur

Satirisch, illusionslos, dystopisch – thrilling

«Vesoul, 7. Januar 2015» ist Quentin Mourons viertes Buch, das im Bilgerverlag auf Deutsch erschienen ist. Es ist eine Burleske, eine Groteske, ein Absurditätenkabinett sondergleichen. Hansruedi Kugler bezeichnete es im «Tagblatt» vom 13. Juni 2020 als «eine originelle Zeitgeistsatire mit der Figur eines postmodernen Picaro, einem Nachfolger des Schelmenromans. Der unbeschwerte Freigeist und smarte, ideologie- und bindungslose, arrogante Snob und Genfer Vermögensberater nimmt den Erzähler als Autostopper mit zu einem Kongress in Vesoul, den Hauptort des Departements Haute-Saône in der Region Bourgogne-Franche-Comté in Frankreich. Dort geraten sie in einen «Tag der Republik» und damit auf einen grotesken Marktplatz mit pazifistischen Neonazis, Sittenpolizisten in der Literatur, Verschwörungstheorien und Avantgardekünstlerinnen.»

Quentin Mouron «Vesoul, 7. Januar 2015» (aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller), Bilgerverlag 2020, 120 Seiten, CHF 24.00, ISBN 978-3-03762-086-1

Das Buch entpuppt sich als Polemik gegen die Verwerfungen unserer Zeit, gegen Ideologien, welche die Gesellschaft spalten, und gegen die Eiseskälte des Kapitalismus. Doch Moralisten seien mit diesem Zitat, das keinen Tabubruch ausschliesst, vorgewarnt: «Der Picaro kennt kein Schuldgefühl, es ist daher normal, dass in seiner Umgebung das Schamgefühl nach und nach verschwindet. Der pikareske Manager, wie ihn unsere Banken, unsere Start-ups, unsere Kunsthochschulen hervorbringen, zeichnet sich dadurch aus, dass er sich überall anzubiedern versteht, sich in jeder Situation den Rahmenbedingungen anpasst.»

Quentin Mouron «Heroïne» (aus dem Französischen von Andrea Stephani und Barbara Heber-Schärer), Bilgerverlag, 2019, 128 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-03762-078-6

Quentin Mouron gilt als der Tarantino der Schweizer Gegenwartsliteratur, als Genie des Roman noir zumal. Sein Stil ist filmisch, szenisch, atmosphärisch dicht, dabei welthaltig und anspielungsreich. Schon seine beiden ersten Bücher, «Notre-Dame-de-la-Merci» – eine unglaublich traurige Winterballade aus Kanada – und «Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain» – eine Revolvertrommel an Suspense –, haben diesem Autor im deutschsprachigen Raum begeisterte Kritiken und eine wachsende Leserschar eingetragen. Auch der dritte Roman fasziniert als ein Krimi der besonderen Art. «Heroïne» beginnt mit einer «Ouverture baroque», einer vollkommen abgedrehten Sexszene in einem Berliner Antiquariat, welche einem Georges Bataille alle Ehre gemacht hätte. Franck, Leiter eines New Yorker Detektivbüros, aus Hoffnungslosigkeit seit drei Jahren bibliophil, schiebt eine schräge Nummer mit der Buchhändlerin Mademoiselle Schulz. Abends im Hotel bemerkt er, dass er seinen Siegelring im Antiquariat vergessen hat, und kehrt zurück. Dort findet er, angeordnet wie auf einem barocken Stillleben, den Kopf der Buchhändlerin auf einem Silbertablett… Seine Nachforschungen lassen ihn auf einen bestimmten Kunden schliessen, doch erfährt er aus der Zeitung, dass „ein gewisser Wilfried Wagner – der sich Abu Mohammed Daoud al-Bavari nennen lässt –“ die Buchhändlerin enthauptete, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, Voltaires „Mahomet“ aus dem Schaufenster zu entfernen. Mademoiselle Schulz ist nicht die einzige Heldin in Mourons Roman „Heroïne“, der nach der ausschweifenden Eröffnung in eine „Suite classique“ mündet. Darin forscht der Anti-Held Franck nach einer verschollenen Lieferung Heroin und nach dem Mörder des Vaters einer blutjungen Prostituierten, und zwar in Tonopah, einem 2000-Seelen-Krachen im Nirgendwo von Nevada – „einer Wüste in einer Wüste“, einer für Mourons Romane typischen kleinen Ortschaft, die den desaströsen Zustand des grossen Ganzen widerspiegelt (genauso tut dies die kleine Ortschaft Vesoul im eingangs erwähnten Roman). Leah, so heisst die eigenwillige Sexarbeiterin, ist die zweite rätselhafte Heroin, „fromm und verrucht, eine hehre und sich anbietende Jungfrau.“ Sie besorgt hauptberuflich die Bedienung in einem Fast Food, nebenberuflich arbeitet sie daselbst in einer „Besenkammer unter den Postern von Elvis, Spongebob und der Jungfrau Maria.“ Trotz ihrer seelischen Verwüstung setzt Leah, ein in sich zerrissener Charakter, ein Gegenzeichen in dieser trostlosen Welt. „Heroïne“ bietet ein Noir-Set par excellence, vorangetrieben in kurzen kaleidoskopischen Kapiteln, vollgepumpt mit Sex, Drogen und blauen Bohnen – illusionslos, dystopisch, thrilling. 

Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec.
Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Rezension von «Notre-Dame-de-la-Merci» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Bilgerverlag

Joachim Zelter «Imperia», Klöpfer Narr

An der Hafeneinfahrt der Bodenseestadt Konstanz steht seit bald dreissig Jahren die neun Meter hohe Imperia. Ein üppiges Frauenzimmer in Beton gegossen mit grosszügigem Dekolleté und zwei schrumpligen Mannsbildern in erhobenen Händen. In Joachim Zelters neustem Roman «Imperia» windet sich ein Mann aus den Tentakeln einer raumgreifenden Muse, büsst ein Künstler dafür, sich verkauft zu haben.

Gregor Schamoni ist Schauspieler. Und weil seine Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.

Was ganz artig beginnt, den Schauspieler jedoch von Beginn weg gleichermassen verunsichert und befriedigt, da ihm die aufgeputzte Dame grosszügig dicke Briefumschläge mit Geldbeträgen übergibt, Geldbeträge, die seine in Schieflache geratene Existenz aufrichten, wird mehr und mehr zu einer emotionalen Achterbahn, aus der Gregor nicht mehr auszusteigen weiss.

Joachim Zelter «Imperia», Klöpfer Narr, 2020, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7496-1017-4

Man kennt die Sorte Mensch; uneingeschränkt von sich eingenommen, selbstverliebt und besitzergreifend, fähig, die ganze Welt nach eigenem Gusto drehen zu lassen. Iphigenie de la Tour, Professorin an der Universität Konstanz, ist es gewohnt, dass man sich in ihre Sonne setzt, alles nach ihr ausrichtet, ihren Anweisungen Folge leistet. Da ist nicht nur das Geld, sondern die masslose Selbstverständlichkeit, die die Frau wie die Imperia an der Hafeneinfahrt übergross und bedeutsam macht. So wie die Betonfrau am Hafen die kleinen Männer herumjongliert, so tut es Iphigenie de la Tour; mit Gregor Schamoni, dem Personal in den Restaurants, in denen man sich trifft, mit allen, die sich in die Aura inszenierter königlicher Weiblichkeit trauen. So wie sich Gregor in seinen Panikträumen verlieren kann, in seiner Angst, irgendwann den Text auf der Bühne zu vergessen, nicht mehr weiterzuwissen, den Bühnenboden unter den Füssen zu verlieren, so sehr dreht er sich im Strudel rund um die Professorin, die ihn mit Geld, Komplimenten, Aufgaben und Zukunftsträumen einwickelt und vereinnahmt. Sie will ihn für sich, als ihr Instrument. Sie will ihn als Mitarbeiter, Sprecher, Freund, Schauspieler, Partner. Irgendwann übergibt Gregor Pia, der Studentin, die an Iphigenies Seite alles zu Papier macht, was in den Unendlichkeiten des de la Tour’schen Archivs an Bedeutsamkeit lagert, sein Handy. Iphigenie de la Tour will aus den SMS zwischen ihr und Gregor einen Briefwechsel transkribieren, will sie doch aus Gregor Schamoni einen bedeutsamen Schauspieler machen.

Gregor beginnt zu kämpfen, will sich aus den Fängen der Matrone befreien. Etwas, was ihm im direkten Gegenüber mit der Frau nicht gelingt, denn Iphigenie schafft es meisterlich, ihre scheinbare Verletzlichkeit zum Kampfstoff zu machen. 

Joachim Zelters Iphigenie ist köstlich, wenn auch nur für mich als Leser. Für Gregor wird sie zur Katastrophe. Jenes Loch, das sie aufzureissen droht, ist ebenso gross, wie die Angst, die Gregor in seiner ganz privaten Panik peinigt. Joachim Zelter peitscht die Drehungen des Karussells, aus dem Gregor nicht mehr entfliehen kann, genussvoll an. Wenn Joachim Zelter die Erscheinung der Professorin schildert, wird aus dem Betongrau der Imperia über dem Hafen Konstanz ein tiefes Rot, wird das Dekolleté beider Frauen bis zur Aufdringlichkeit ein erdrückendes Gebirge.

„Imperia“ ist eine literarische Berg- und Talfahrt in einem Gefährt, von dem man bis zum Schluss nicht weiss, ob es sich bremsen lässt oder mit voller Wucht und Geschwindigkeit in ihr Ende rast. Eine Buch gewordene Metapher darüber, was Käuflichkeit aus Leben macht. Dass Joachim Zelter aus dem Kammerstück zweier Personen ein Gegenüber zwischen fast allmächtiger Weiblichkeit und wirkungsloser Männlichkeit macht, heizt die Szenerie nur noch an.

 

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg im Breisgau geboren, studierte und lehrte englische Literatur in Tübingen und Yale. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thaddäus-Troll-Preis, dem Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg, dem Gisela-Scherer-Stipendium der Stadt Hausach im Schwarzwald. 2010 war er mit seinem Roman «Der Ministerpräsident» für den Deutschen Buchpreis nominiert. Seine Romane wurden mehrfach ins Französische, Italienische und Türkische übersetzt. 

Rezension von «Im Feld» auf literaturblatt.ch

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Schreibende Paare: Dana Grigorcea und Perikles Monioudis

Ein neues Format im Literaturhaus Thurgau ist «Schreibende Paare». Erste Gäste auf der Bühne sind Dana Grigorcea und Perikles Monioudis. Ein schreibendes Paar, das Liebe und Leidenschaft weit über ihr Leben als Paar verbindet. Liebe und Leidenschaft für die Literatur.

2018 begeisterte Dana Grigorcea LeserInnen und Kritik mit dem Buch «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen», einer Novelle, in der sie Anton Tschechows „Die Dame mit dem Hündchen“ aus dem Jahr 1899 ins Zürich der Gegenwart transformierte. Eine Verwandlung, die die Gewichte der Novelle von damals vertauscht und die doch viel vom Liebreiz Tschechows Novelle übernimmt. Eine Lektüre für einen Abend. Ein Stück Literatur als hätte ein Musiker ein Stück neu arrangiert. Die Liebe zweier Menschen, die zur Lüge zwingt.
Ein warmer Frühlingstag am See. Hungrig nach Sonne und Wärme sitzen die Menschen in Cafés und spazieren an der Seepromenade. An einem der Tische treffen sich Anna, die Ballerina, mit ihrem Hündchen und Gürkan, der Gärtner. Sie verheiratet mit einem Arzt, er, ein Kurde, vor vielen Jahren mit seiner Familie aus der Türkei in die Schweiz gezogen. Sie beide in einer Atempause. Entgegen ihren Gewohnheiten wird aus der Zufälligkeit ein gemeinsamer Spaziergang, bei dem Anna nicht nur zuhört. Gürkan fasziniert; sein Gesicht, seine Stimme und die scheue Art, die ihn von den sonstigen Avancen anderer Männer abhebt. Anna fühlt sich hingezogen, nicht nur weil er jünger als sie zu sein scheint. Sie treffen sich wieder, immer wieder, fast jeden Tag.

Perikles Monioudis veröffentlicht schon seit dreissig Jahren Romane, Erzählungen, Theater und Essays ist vielfach ausgezeichnet und veröffentlichte 2019 die Erzählung «Azra und Kosmàs», keine Liebesgeschichte, aber die Geschichte einer Begegnung. Kosmàs Gros, einst ein umtriebiger, erfolgreicher und berühmter Schriftsteller lebt alt geworden zurückgezogen in Berlin. Auf der Flucht vor dem Erkanntwerden, auf der Flucht vor sich selbst. Azra ist Ärztin in einem Berliner Krankenhaus und steht eines Tages am Bett des Schriftstellers, der nach einem Unfall eingeliefert wurde. Kosmàs mit griechischen Wurzeln, Azra mit tunesischen Wurzeln. Beide tragen Vergangenheiten und Wurzeln mit sich herum. Kosmàs versucht sich an verlorene Sätze zu erinnern, Azra an ihr Versprechen als Ärztin.
Azra und Kosmàs treffen sich an der griechischen Küste wieder, dort wo sich Schwimmwesten türmen und behelfsmässige Zelte die Ankömmlinge von der anderen Seite des Meeres am Strand erwarten. Azra und Kosmàs, beide zwischen Flucht und Suche.

2019 gründeten Dana Grigorcea und Perikles Monioudis den Verlag «Telegramme für Literatur» und beweisen, dass die Leidenschaft für das Buch weit über das Schreiben hinausgehen kann.

Dana Grigorcea und Perikles Monioudis lesen an diesem Abend aus ihren Büchern und diskutieren am 14. November im Literaturhaus Thurgau über das Schreiben, die Literatur und ihre Bücher – und was die Schriftstellerei für ihre Beziehung bedeutet.

Dana Grigorcea, geboren 1979 in Bukarest, studierte Deutsche und Niederländische Philologie in Bukarest und Brüssel. Mit einem Auszug aus dem Roman «Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit» wurde Dana Grigorcea in Klagenfurt beim Ingeborg Bachmann-­Wettbewerb 2015 mit dem 3sat-­Preis ausgezeichnet. Ihr Erstling «Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare» ist im Oktober 2015 ebenfalls im Dörlemann Verlag erschienen, 2018 die Novelle «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen». Nach Jahren in Deutschland und Österreich lebt sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Perikles Monioudis, und Kindern in Zürich.

Perikles Monioudis wurde 1966 in Glarus, Schweiz, geboren und hat Soziologie und Politische Wissenschaften in Zürich studiert. Nach zwölf Jahren in Berlin lebt er mit Frau und Kindern wieder in Zürich. Für seine in mehrere Sprachen übersetzten Romane und Erzählbände («Palladium», «Eis», «Die Trüffelsucherin», «Deutschlandflug» u.v.a.) wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, darunter der Preis des Schweizerischen Schriftsteller­verbandes und der Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Im Rimbaud Verlag sind bisher erschienen zuletzt «Azra und Kosmás» (2019), bei dtv die Romane «Frederick» und «Land» und beim Deutschen Kunstverlag die Biografie «Robert Walser».

Rezension von «Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen auf literaturblatt.ch

Rezension von «Robert Walser» auf literaturblatt.ch

Webseite von Dana Grigorcea

Webseite von Perikles Monioudis

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Rolf Lappert «Das Wunder von Kalifornien», Plattform Gegenzauber

Stuart Weaver erschrak nicht, als das Licht ausging. Auch nicht, als die ersten Stöße des Bebens die Bücher aus den Regalen warfen. Er setzte sich unter einen der Schreibtische und wartete. Die nächsten Wellen erschütterten Boden und Wände, es regnete noch mehr Bücher, die Regale und Karteischränke kippten und landeten krachend auf den Monitoren und Tastaturen, den Telefonapparaten und Wasserspendern, den Druckern und Fotorahmen und Kaffeetassen. Weaver hörte die Stockwerke über sich einstürzen, ein dumpfes Grollen wie von vereistem Schnee, der über ein Dach rutscht. Alles ging sehr schnell, dann herrschte Stille.

Der erste Gedanke, den er in seinem Kopf zu fassen kriegte, war: Ich habe die Wette mit Sheldon Hoffman gewonnen. Der zweite: Gott sei Dank ist außer mir niemand im Gebäude, nicht einmal die Putztruppe. Seine Armbanduhr zeigte zwei Minuten vor drei. Er tastete nach der Taschenlampe am Gürtel, zog sie aus der Halterung und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl durchdrang Dunkelheit und Staub und traf auf liegende Regale, verstreute Bücher und einen Bürostuhl. Alles blieb ruhig, dennoch wartete Weaver. Er versuchte, normal zu atmen, und presste die Beine zusammen, damit sie aufhörten zu zittern.

Nach einer Weile kroch er unter dem Tisch hervor und richtete sich vorsichtig auf. Er hustete, wischte die Brillengläser an der Uniformjacke ab. Die Decke war noch da, wo sie sein sollte. Er versuchte, sich den großen Lesesaal, die Bücherausleihe und die Büros über ihm in Trümmern vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Der Kegel der Taschenlampe erfasste eine Wand voller Plakate, Fotos und Zeichnungen. Jetzt erst wurde ihm klar, wo er sich befand: im Raum mit den Kinderbüchern. Ausgerechnet, seufzte er, und seine Stimme klang heiser und fremd. Der Tank des Wasserspenders war unversehrt geblieben. Weaver füllte einen Plastikbecher und trank ihn leer. Er wollte einen zweiten füllen, überlegte es sich aber anders. Vielleicht würde er eine Weile hier drin festsitzen, bis die Bergungstruppen ihn finden würden. Er stellte den Becher auf einen der Schreibtische und legte den Inhalt seiner Taschen daneben: ein Mobiltelefon, eine Ersatzbatterie für die Taschenlampe, ein Rapportbuch mit Bleistift, eine Brieftasche mit Ausweisen und etwas Geld, ein Hershey’s Almonds Schokoriegel, Münzen für den Kaffeeautomaten in der Eingangshalle. Er wählte Sheldon Hoffmans Nummer, dann die des Notrufs, aber es gab keinen Empfang. Wahrscheinlich waren die Sender in der Nähe zerstört, oder der Schutt über ihm ließ keine Signale durch.

Er bahnte sich einen Weg zu der Tür, durch die er gekommen war und die er korrekt hinter sich geschlossen hatte. Sie ließ sich nicht öffnen. Dahinter waren die Regale mit den Architekturbüchern umgestürzt und blockierten die Tür. Architekturbücher. Er musste beinahe lachen. Die zweite Tür konnte er einen Spalt weit aufdrücken und in den Flur hineinleuchten, der zu den Toiletten für die Angestellten und zum Treppenhaus führte. Hier versperrten gekippte Blechschränke und herabgefallene Deckenplatten den Weg. Weaver zog die Uniformjacke aus und setzte sich auf einen Bürostuhl. Hoffentlich ist Sheldon nichts passiert, dachte er. Und den anderen Nachbarn. Aber das war naiv.

Als er aufwachte, konnte er kaum glauben, geschlafen zu haben. Die Uhr zeigte elf nach sieben. Er brauchte einen Moment, um zu realisieren, was vier Stunden zuvor geschehen war. Verzweiflung erfasste ihn, aber er schüttelte sie ab, indem er sich aufrappelte und die Schubladen der Schreibtische und die Schränke durchsuchte. Außer einer Taschenlampe und mehreren Batterien fand er eine angebrochene Packung Butterkekse, eine Blechschachtel voller Pfefferminzbonbons, eine Dose mit gesalzenen Erdnüssen, eine unversehrte Tafel Schokolade, eine Flasche Eistee, eine halbe Flasche Wasser und eine Thermoskanne mit einem Rest schwarzen Kaffees. Die Bibliotheksverwaltung wusste, dass er hier war, und würde die Suche nach ihm einleiten. Man würde ihn innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden finden, im schlimmsten Fall würde er zwei Tage ausharren müssen. Zu trinken hatte er genug, Kalorien würde er kaum verbrauchen.

Er warf sich ein paarmal gegen die Tür zum Flur, aber sie gab nur wenige Zentimeter nach. Er setzte sich wieder hin und rieb sich die Schulter. Ein Schluck Gin mit Sheldon wäre jetzt genau das Richtige, dachte er. Plötzlich rannen ihm Tränen über die Wangen. Er wischte sie weg und hob wahllos eines der Bücher vom Boden auf. Ein Bilderbuch. Sprechende Mäuse, Hasen in gestrickten Pullovern. Kinderkram. Er ließ das Buch fallen und griff nach einem anderen. Ein Bär als Pilot eines Heißluftballons. Das nächste voller Ferkel, die Eisenbahn fahren. Eines über das Kind einer Pfauendame und eines Truthahns, das nicht weiß, ob es Trau oder Pfruthahn ist. Ein Hundeastronaut, der auf einem von Katzen bewohnten Mond landet. Noch mehr sprechende Mäuse. Und so weiter. Weaver wurde erneut von Verzweiflung ergriffen. Er schaltete die Taschenlampe aus und legte sich wieder hin, die zusammengerollte Uniformjacke als Kopfkissen. Warum hatte ihn das Erdbeben nicht nebenan erwischt, wo die Zeitungen und Zeitschriften auslagen? Oder wenigstens bei den Geschichtsbüchern. Sogar die Belletristikabteilung wäre ihm lieber gewesen, obwohl er sich nichts aus Romanen machte. Nicht einmal als Kind hatte er Kinderbücher gelesen. Er hatte keine besessen, nie welche geschenkt bekommen. Seine Mutter hatte ihm nie vorgelesen, sein Vater erst recht nicht. Seine Eltern waren andauernd umgezogen, pachteten eine neue Farm, eine neue Autowerkstatt, eine neue Imbissbude, einen neuen Tabakladen.

Wenn Stuart Weaver es recht bedachte, hatte er gar keine Kindheit gehabt. Jedenfalls keine, an die er sich erinnern konnte. Oder wollte. Alles, was ihm aus jener Zeit im Gedächtnis haften geblieben war, waren endlose Reisen durch das ganze Land, ausgeräumte oder mit alten Möbeln vollgestellte Häuser und Wohnungen, schäbige Motelzimmer, in denen er vor einen flimmernden Fernseher gesetzt wurde, miefige Matratzen, auf denen er lag und dem ewigen Streit seiner Eltern lauschte, kaputte Traktoren, kaputte Hebebühnen, kaputte Kaffeemaschinen, aufgeschlagene Zeitungen und mit Kugelschreiber markierte Anzeigen von Leuten, die jemanden suchten, der optimistisch oder dumm genug war, einen Eisenwarenladen in Arnold, Nebraska, eine Wäscherei in Greybull, Wyoming, oder ein Bestattungsunternehmen in Lima, Ohio, zu pachten.

Zwei Stunden später begann Weaver damit, die Bücher zu sortieren. Die Bilderbücher ohne Text für die ganz Kleinen kamen auf einen Stapel, die Bilderbücher mit Text auf einen anderen. Schmale Bücher mit Illustrationen und wenig Text in großer Schrift stapelte er ebenso separat wie die Bücher, die für Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren gedacht waren. Die Bücher für jugendliche Leser ab dreizehn bildeten am Schluss vier Türme. Zu seiner Erleichterung befanden sich darunter ein paar Werke, von denen er gehört hatte. Eines davon war Mark Twains »Ein Yankee aus Connecticut an König Artus’ Hof«, ein anderes »Wolfsblut« von Jack London. Nachdem er alle Bücher geordnet hatte, setzte er sich an einen Tisch und begann zu lesen.

aus einer von Michael Krüger herausgegebenen Anthologie mit dem Titel «Folge Deinem Traum», mit freundlicher Genehmigung des Autors

Rolf Lappert liest am Donnerstag, den 14. Januar 2021 aus seinem Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» um 19.30 Uhr im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Moderation: Gallus Frei-Tomic

Rolf Lappert «Das Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter». 2020 erscheint sein neuer Roman «Leben ist ein unregelmäßiges Verb» im Carl Hanser Verlag.

Interview mit Rolf Lappert, dem ersten Preisträger des Schweizer Buchpreises

Beitragsbild © Sonja Maria Schobinger 

Ulrike Almut Sandig «Monster wie wir», Schöffling

Wer Ulrike Almut Sandig live erlebt, wird tief beeindruckt sein. Eine Performerin par excellence! Und klar, wenn dann eine Lyrikerin und Erzählerin wie sie ihren ersten Roman ankündigt, nach über einem Dutzend Veröffentlichungen und noch mehr Preisen, dann sind die Erwartungen hoch. Nichts desto trotz hat „Monster wie wir“ bei mir eingeschlagen. Eine Sternschnuppe aus dem Literaturhimmel, hell und heiss.

Gute Bücher sollen nicht schmeicheln, sie sollen zuweilen sogar weh tun. Auch wenn man damit ein gewisses LeserInnensegment gleich mal ausschaltet; jene, die unterhalten werden wollen, jene, die bestätigt werden wollen, jene, vor denen Schreibende mit ihrem Geschriebenen zu gefallen haben. Gute Bücher dürfen Schmerzgrenzen überschreiten – wenn sie wirklich gut geschrieben sind – und wenn die überschrittenen Grenzen nicht um ihrer selbst willen überschritten werden. Gute Bücher sollen provozieren, und wenn es nur die Angst ist, in Abgründe zu schauen.

„Eine gute Geschichte beginnt weit vor ihrem ersten Wort, und sie hört auch nicht auf.“

„Monster wie wir“ ist wie der Gang über eine schmale Hängebrücke. Man kann den Abgrund durchaus überqueren, wenn man sich am Geländer hält und mit geschlossenen Augen auf die andere Seite tappt. Man spürt den Wind, das Schaukeln, das Filigrane der Konstruktion. Oder man schreitet entschlossen voran, blickt hinunter, lässt sich nicht beirren, nimmt in sich hinein, was da passiert; diesen Schwindel, die Angst, die unfassbare Tiefe.

Mit dem Romandebüt von Ulrike Almut Sandig passiert bei der Lektüre genau das, auch wenn man eigentlich nicht mehr von einem Debüt sprechen kann. Wenn sich eine Dichterin, eine Schriftstellerin so trittsicher in Erzählungen und Lyrik bewegt, nicht nur „eingesperrt“ zwischen zwei Buchdeckeln, sondern noch viel beeindruckender performativ, dann ist der erste Roman einfach der erste Roman, dieses erste Mal, bei dem sich Ulrike Almut Sandig in der langen Form versucht – und wie!

„Ich will, denkt er, alles. Alles ausser zurück.“

Ulrike Almut Sandig «Monster wie wir», Schöffling, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-89561-183-4

Sie sind alle einsam. Ruth, die Geige spielt und etwas vom Glauben an Vampire bis in ihr Erwachsensein mitgenommen hat, irgendwo im ostdeutschen Nirgendwo aufwächst im Haus einer Pfarrersfamilie. Viktor, der Sonderling, mit dem sich Ruth in der Schule anfreundet, der sich fürchtet vor seinem „Scheissschwager“, der sich an ihm vergeht. Von Fly, Ruths Bruder, der Fliegen und sein Cello malträtiert, weil er von seinem Grossvater ausgesaugt wird. Von all den Eltern, die durch Ignoranz das Leiden multiplizieren, nur weil nichts und niemand die blutenden Krusten aufbrechen will, um endlich dorthin zu gelangen, wo der Eiter das Fleisch erhitzt. Einsam und verletzt. Victor taucht irgendwann ab, um in Frankreich mit Glatze und Springerstiefeln als Au Pair aufzutauchen. Viktor wird zu einem Hulk, der die Kinder in der reichen Familie beschützen soll; Lionel, der sich in seinem Zimmer mit seiner Musik zudröhnt und Maud, noch klein und unschuldig. Aber auch dort grassiert die Verlogenheit, wird alles unter der Oberflächlichkeit weggewischt.

„Ja, man kann wirklich über Nacht erwachsen werden.“

„Monster wie wir“ erzählt schonungslos von der Verlogenheit, von Übergriffen und unheilbaren Verletzungen. Dass sich Ulrike Almut Sandig an diesem Stoff nicht die Finger verbrennt, ist ihrer Sprache, ihrem Geschick, den Bildern und der Art und Weise zu verdanken, wie sie trotz maximaler Nähe keinem Voyeurismus, keinem „Veröffentlichen“ verfällt. Die Verletzten, die Gezeichneten, die Geschundenen und Versehrten bleiben stark, weil die Autorin nicht ihren Niedergang beschreibt, sondern die Kraft, die aus ihrem Kampf erwächst. Und weil Ulrike Almut Sandig eben keine Debütantin ist, sondern sich wie wenige sonst der Möglichkeiten der Sprache bewusst ist, weil sie weder mit den Figuren noch mit mir als Leser spielt, nicht unnötig emotionalisiert, wird der Roman zu einem ganz speziellen Leseerlebnis!

Interview mit Ulrike Almut Sandig

Sie schreiben Gedichte, Erzählungen, mit „Monster wie wir“ ihren ersten Roman, sie geben Zeitschriften heraus, arbeiten mit Komponisten und Musikern zusammen, performen auf der Bühne und im Studio, füttern eine spannende Webseite, reisen für Lesungen quer durch Deutschland bis in die Schweiz und lesen dabei nicht nur, sondern diskutieren über Themen wie „Europäische Identität“. „Daneben“ haben sie eine Familie. Atemlos?

Nein. Ich habe das Glück, ein sehr abwechslungsreiches Berufsleben führen zu dürfen. Es gibt wenig Routine, stille Schreibmonate wechseln mit Probetagen und Reisemonaten. Der Wechsel der Genres und Kunstformen tut meiner Arbeit gut, finde ich. Er sorgt für einen frischen Blick auf Themen und Techniken und verunsichert mich auf eine produktive Art. Aber es gibt einige Konstanten, die meiner Arbeit den festen Boden geben, auf dem alles steht. Die wichtigste ist meine Familie. Bei weiten Reisen begleitet mich manchmal meine Tochter, letztes Jahr waren wir zweimal gemeinsam in Indien. 

Als ich sie im vergangenen Winter in Basel an den internationalen Lyriktagen zusammen mit der Musikerin und Singer-Songwriterin Pamela Méndez sah, hörte und geniessen konnte, öffnete sich mir das Herz. Nicht zuletzt deshalb, weil ich bei ihrer Performance Zeuge ihrer eigenen Offenbarung wurde. Ist das Ulrike Almut Sandig?

Ich versuche, auf der Bühne keine Kunstfigur zu sein, weil mich das zu viel Kraft kosten würde. Aber so ein Ich hat natürlich viele Identitäten, Geschlechter und Rollen. In meinen Büchern schreibe ich dagegen selten über mich selbst. Vieles, was autobiografisch wirkt, ist eigentlich fiktiv. Und andersherum. Die Dinge lassen sich besser untersuchen, wenn man sich dabei nicht im Weg steht, aber bereit ist, sich selbst Material zu sein.

Almut ist ein alter germanischer Vorname und bedeutet „die Edelmütige“. Von diesen Edelmütigen ist in ihrem Roman wenig zu spüren, ausser dem Vater Ruths, dem Pfarrer und ein paar Alten, die aber mehr verrückt und entrückt erscheinen. Drückt da etwas die Pfarrerstochter durch, die uns mahnt vor den Abgründen der Unmenschlichkeit?

Ich möchte nicht mahnen und nicht belehren. Aber die Theologen, die ich kenne, wollen das ebenso wenig wie ich. Ich sehe meine Arbeit als ein Untersuchen der Wirklichkeit mit den Mitteln der Literatur. Dabei will ich keine Figuren vorführen oder für verrückt erklären. Ich fand es wichtig, auch den Figuren im Roman, die hart und brutal sind, mit Respekt zu begegnen. Es gibt nicht den Täter, der nur Täter ist. Und keinem Opfer werde ich gerecht, wenn ich es nur als Opfer sehe.

Es wird nicht nur der Übergriff am Menschen geschildert, sondern auch der an der Natur. Zum Beispiel der, der durch den Braunkohleabbau in Deutschland ganze Ortschaften frisst. Ein Eingriff, der in den dicht besiedelten und kleinräumigen Nachbarländern Österreich und Schweiz so nicht denkbar wäre. Nichts desto trotz grassiert der apokalyptische Übergriff, der auch durch Fridays for Future oder Corona keinen Aufschub erreichte. Wie viel Hoffnung haben sie? Auch Hoffnung für die Literatur?

Der Ausstieg aus der Energiegewinnung durch Braunkohle ist im Juni 2019 von der Bundesregierung gesetzlich beschlossen worden. Laut Martin Kaiser, dem Geschäftsführer von Greenpeace, bedeutet der Beschluss der Kohlekommission, dass die seit Jahren durch Aktivist*innen bekämpfte Rodung des Hambacher Forstes in der Nähe von Köln abgewandt ist. Auch weitere Devastierungen von Ortschaften in der Lausitz, in Mitteldeutschland und im Rheinland können dadurch gerettet werden. Allerdings warten viele Einwohner*innen der unmittelbar betroffenen Ortschaften seit Jahren auf ihre Umsiedlung, weil ein Leben in der Nachbarschaft der Braunkohlekraftwerke wegen der Luftverschmutzung etc. nicht lebenswert ist. Der Protest der Einwohner hält sich aber auch aus einem anderen Grund in Grenzen. In diesen Gegenden sind die Braunkohlegesellschaften ein wichtiger Arbeitgeber, oft für Generationen. Also obwohl Deutschland das Pariser Klimaschutzabkommen nicht einhält, wenn es wie beschlossen erst 2038 aus der Braunkohle aussteigt, steht ihm neben dem Ausbau erneuerbarer Energiegewinnung auch eine Umstrukturierung der Arbeitsstruktur grosser Landstriche gegenüber. Das muss möglich sein, ganz einfach weil es keine Alternative gibt. Es geht also weniger um Hoffnung als um Alternativlosigkeit.

Und Hoffnung für die Literatur? Gar nicht nötig. Die ist doch so vielseitig und aufregend wie selten! Nie in der Geschichte war der Anteil der Analphabeten so gering wie im 21. Jahrhundert. Es wird gelesen, es wird diskutiert, es wird gestritten. Oft gehen die aufregendsten Impulse von Dichtern und Dichterinnen aus. Würde die Lyrikszene sich allerdings weiter aus ihrem selbstgeschmiedeten goldenen Käfig herauswagen, könnte ihr Einfluss auf gesellschaftliche Diskussionen noch viel grösser sein.

Mit dem Romantitel „Monster wie wir“ richten sie den Blick nicht nur auf ihr Romanpersonal, sondern auch auf mich Leser. Kein sehr schmeichelhafter Wink. Aber ganz offensichtlich ist das Schmeicheln nicht das Ihre, ausser mit der Sprache selbst.

Ach, Schmeicheln ist bloss eine Technik, sein Gegenüber klein zu halten. Die Gewaltformen, von denen ich in «Monster wie wir» erzähle, ziehen sich durch alle Bildungsschichten und Familien. Aber Ruth, eine der beiden Hauptfiguren meines Romans, entdeckt im Klavierspiel eine produktive Kraft: «Im Tastenspiel wohnte ein monströser Golem, der es mit allem, was einem so zustossen konnte, aufnahm.» So ein Golem wünsche ich jeder und jedem.

Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2017 mit dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet, 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Ulrike Almut Sandig am 17. Lyrikfestival Basel 2020

zu einem Filmporträt über die Autorin

Webseite der Autorin

Beitragsbild: Michael Aust © Villa Concordia

Thilo Krause «Elbwärts», Hanser

Manchmal muss man weg, um irgendwann zurückzukommen, zurückzukommen auf das, was einst passierte, an den Ort, an dem es passierte, zu den Menschen, von denen man sich entfernen musste. Vielleicht wäre Gras über die Sache gewachsen. Vielleicht wären die Geschehnisse in den Sedimenten der Vergangenheit eingesunken. Aber er kommt zurück, in vielerlei Hinsicht zurück.

In Thilo Krauses erstem Roman „Elbwärts“ geht auch der Autor „zurück“, denn Thilo Krause, geboren in Sachsens Hauptstadt Dresden wohnt und wirkt schon lange in der Schweiz, arbeitet neben seinem Wirken als Dichter bei den Technischen Betrieben der Stadt Zürich. Sein Protagonist geht zurück an die Elbe, elbwärts, ohne je an dem Ort anzukommen, den er sich vor seiner Rückkehr ausmalte. Denn er kehrt zurück mit seiner Familie, mit seiner Freundin Christine und dem Kind, in ein Haus mit Apfelhain, einem Haus, das alles hätte, um ein neues Zuhause zu werden, nicht weit von der Stadt-die-keine-ist, nicht weit von dem Fels, der seinem Freund Vito damals zum Verhängnis wurde. Damals, kurz vor dem Mauerfall, als sich die berstende DDR ein letztes Mal aufbäumte.

„Als wir weg waren, schien es hier zu sein, und nun, da wir hier sind, ist es, was weiss ich wo.“

Aber nach der Rückkehr ist nichts so, wie es hätte sein sollen. Die Beziehung zu Christine erstickt in Streitereien, das Leben als Hausmann und Heimwerker scheitert und die Vergangenheit, die nicht zurückzulassen ist, sticht und provoziert aus jedem Winkel an der Elbe, sei es zuhause, im Dorf bei den alten, bekannten Gesichtern, den Glatzköpfen, die sich wie eine Krankheit ausbreiten, in den Wäldern oder um die Felsen, in die er und Vito, sein Freund aus Kinder- und Jugendtagen, hinaufkletterten.

„Ich schloss die Augen und konzentrierte mich darauf zu verschwinden.“

Thilo Krause «Elbwärts», Hanser, 2020, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26755-8

Vito und er gingen damals noch zur Schule, waren Freunde wie Pech und Schwefel. Nach der Schule machten sie sich auf zu den Kalkfelsen über dem Elbtal, unter der Festung, kletterten, wollten sein wie die Grossen, mit Seilen, die sie aus den Waschküchen der Mütter klauten. Bis zu jenem Tag, der alles kippte. Als Vito hätte nachklettern sollen. Als er oben wartete und nur dieses eine dumpfe Geräusch hörte. Als Vito abstürzte, liegen blieb, Blut verlor. Als er ihn auf seinen Rücken packte und zurück ins Dorf schleppte. Als man ihn ins Spital brachte und bei der Operation irgendetwas nicht lief, wie es hätte sein sollen. Als Vito im Spital sein Bein verlor, man ihm ein Bein amputierte, seinen Freund amputierte, als Vitos Mutter ihn für das verantwortlich machte, was am Felsen niemals hätte passieren dürfen.
Vitos Absturz wird zum Absturz beider. Vor versammelter Schule wird gebrandmarkt und ausgesondert.

„Wenn es dunkel wurde, schlich ich zu mir nach Hause wie ein Dieb, denn das war ich: ein Dieb, der Vito das Bein geklaut hatte.“

Nach Jahren zurück, sucht er erneut die Nähe zu Vito. Vito ist Tischler geworden, im Ort, wenn auch nicht der Alte geblieben. Als es den Moment endlich gibt, an dem er sich traut, zurück ins Leben seines alten Freundes zu treten, ist es Vito, der „oben auf dem Fels“ steht, ist es sein alter Freund, der einbeinig beide Füsse auf dem Boden hat, während ihm die Gegenwart wegrutscht.

Eine Geschichte, die berührt, eine Sprache, die bezaubert. Dass der Dichter und Sprachkünstler Thilo Krause nicht einfach eine Geschichte erzählen will, wird nicht nur in der Art seines Erzählens klar, auch im Sound, in der Prägnanz. Seien es einzelne Sätze, die wie Blitze aus dem Text schiessen und an mir hängen bleiben oder Dialoge, die viel mehr erzählen, als nur das, was gesprochen wird. „Elbwärts“ ist ein Abtasten der Landschaften, der inneren und äusseren Landschaften: „Elbwärts“ will nichts klären, nichts erklären. „Elbwärts“ ist der Strom des Erzählens, diese langsam fliessende Bewegung, der man sich nicht entziehen kann. Wunderbar.

Begründung der Jury zur Verleihung des Robert Walser Preises 2020:
«Krause erzählt auf höchst eindringliche und sprachlich stimmige Weise von der Rückkehr an den zugleich vertrauten und fremd gewordenen Ort der Kindheit im Elbsandsteingebirge nahe der tschechischen Grenze und von der unvermeidlichen Konfrontation mit einem die Existenz überschattenden, in Schweigen eingemauerten Jugendtrauma. In Bildern von grosser dichterischer Intensität gelingt es Krause, das Eintauchen-Wollen in eine unwiederbringlich verlorene, nicht mehr zu berichtigende Vergangenheit sinnlich fassbar zu machen.»
Die deutschsprachige Jury bildeten unter dem Vorsitz von Stefan Humbel, Jürg Altwegg, Andreas Langenbacher, Camille Lüscher und Anne Weber.

Thilo Krause, geboren 1977 in Dresden, lebt und arbeitet in Zürich. Seit 2005 veröffentlicht er literarische Texte in Zeitschriften (u.a. Akzente, Sinn und Form), Zeitungen (u.a. Die Zeit, Zürcher Tagesanzeiger) und Anthologien. Für seine Gedichte wurde Thilo Krause 2012 mit dem Schweizer Literaturpreis und 2016 mit dem Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg sowie dem ZKB Schillerpreis ausgezeichnet. Bei Hanser erschien 2018 sein Gedichtband «Was wir reden, wenn es gewittert», für den er den Peter Huchel-Preis erhielt. 

Webseite des Autors

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes

Raufarhövn liegt ganz im Norden Islands. Dort wacht Kalmann über Raufarhövn. Ein Kaff, das im weissen Nichts zu verschwinden droht. Doch als Kalmann mit dem Verschwinden des Dorfkönigs konfrontiert wird und er fremdes Blut von seinen Händen putzen muss, drohen Helikopter den Frieden aus dem Dorf zu fegen. „Kalmann“ ist ein Geschenk!

Wenn es in Island Frühling ist, ist es noch immer kalt. Mitteleuropäische Frühlingsgefühle würden erfrieren. Aber Kalmann kennt nichts anderes. Er wohnt schon immer in Raufarövn (gesprochen: Reuwarhöbb), weit weg von Reykjavik, der Hauptstadt des Inselstaates. Kalmann gehört zum Dorf. Man nennt ihn Sheriff, weil er mit einem Cowboyhut und einem Sheriffstern durch die Landschaft zieht, manchmal auf der Jagd nach einem Polarfuchs, manchmal aber einfach, weil ihn etwas zieht. Manchmal auch mit seinem kleinen Boot aufs Meer, wo er mit eingelegten Fleischködern Grönlandhaie fischt und seinen Fang zu Gammelhai verarbeitet, einem isländischen Gericht, das aber nur echten IsländerInnen eine Gaumenfreude sein kann. Von seinem Grossvater hat er das Rezept. Aber der ist in einem Altersheim, ein- und weggesperrt. Sein Grossvater ist das einzige im Leben Kalmanns, das wirklich zählt. Freunde gibt es nicht, höchstens Noì, aber den trifft er nur im Netz – und eine Frau will ihn nicht. 

© Joachim B. Schmidt

Eigentlich heisst Kalmann Kalmann Óðinnsson. Aber in Raufarhövn ist Kalmann nur Kalmann. Ein Sonderling, einer, den man gewähren lässt, der keiner Fliege was zu Leide tun kann, der seine Sonderbarkeiten immer nach dem gleichen Muster haben will, zum Beispiel den immer gleichen Tisch für seinen Hamburger im Imbiss, auch wenn dieser Tisch von den einzigen Gästen sonst belegt ist. Und Kalmann ist ehrlich, so ehrlich wie niemand sonst, nimmt alle beim Wort.

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2

Eines Tages findet Kalmann auf einem seiner Streifzüge auf der Ebene Melrakkaslétta mitten im Schneegestöber eine grosse Blutlache. Während der Schnee rundum ansetzt, schmilzt er auf dem Blut, dass auch für Kalmann nicht von einem Tier sein kann. Viel zu viel. Und Abdrücke im Schnee, hinunter zum Hafen. Kalmann erzählt es im Dorf. Und weil dort der einzige Mann mit Geld fehlt, muss es Róbert McKencie sein, dem das Hotel gehört, der die Rechte für die Fischgründe um Raufarhövn verhökert und wie niemand sonst im Dorf Feinde genug hat. Der, der nicht weit vom Dorf mit dem Bau eines modernen Steinkreises begonnen hat, dem Arctic Henge, einem Monument für den rettenden Tourismus in einer Gegend, die sonst nicht viel oder fast nichts zu bieten hat (Der Arctic Henge existiert wirklich!).

Das sonst so geregelte und stille Leben Kalmanns gerät aus dem Gleichgewicht. Plötzlich ist Polizei im Dorf und er, der Sheriff, im Brennpunkt ihres Interesses. Nicht weil er zu den Verdächtigen zählt, sondern weil die Ermittlerin Birne aus der Stadt schnell spürt, dass Kalmann bei der Wahrheit bleibt, sich niemals in ein Lügengeflecht begeben würde. Selbst als in einem Hai, den Kalmann aus dem Meer fischt, eine abgeschnittene Hand auftaucht, selbst als im Meer eine Tonne mit Rauschgift gefunden wird, selbst als ein Helikopter in Raufarhövn landet und ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Polizisten über Kalmann herfallen.

© Joachim B. Schmidt

„Kalmann“ ist kein Krimi, selbst wenn gewisse Ingredienzen daran erinnern. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte an einen Sonderling, an einen Menschen, der nicht so tickt wie alle andern. Kalmann ist ein Original, mag sein, dass es dafür auch eine ziemlich abwertende medizinische Bezeichnung gibt. Aber Kalmann in Raufarhövn hat wenigstens Platz in seinem Dorf, wird nicht in eine Institution eingegliedert, weil man ihm eine Existenz im allgemeinen Wahnsinn der Gegenwart nicht zutraut. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte an Joachim B. Schmidts neue Heimat, „seine“ Insel, die Leere, die Ödnis. Joachim B. Schmidt liebt Island so wie es ist, nicht so wie es einmal war, auch wenn er sich als Reiseführer und Journalist bestens in der isländischen Geschichte auskennt.

Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.

12. Literaturblatt

„Kalmann“ ist höchstes Lesevergnügen! Noch vor ein paar Jahren meinte Joachim B. Schmidt in einem Interview auf literaturblatt.ch: «Ich bin noch immer auf der Kippe. Wenn ich nicht bald mal meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller bestreiten kann, muss ich eine andere Tätigkeit suchen. Momentan verdiene ich mein Brot als Reiseleiter und Filmkritiker.» Es waren drei Romane, Romane, die das Zeug hatten, die all jene begeisterten, die ein Exemplar davon gelesen hatten, die sich an einer seiner Lesungen in der Schweiz betören liessen. Aber wenn einem kleinen Verlag (Landverlag) schlicht Ressourcen und Mittel fehlen, um Türen weit aufzureissen, dann ist es nicht verwunderlich, dass Qualität allein nicht ausreichen kann, selbst mit einer Einladung an die Solothurner Literaturtage 2013. Am Verlag damals lag es nicht, sondern an den Ohren und Augen, die nicht hören und lesen wollten! Damals war es sein erster Roman «Küstennähe», von dem ich auf meinem 12. Literaturblatt schrieb: «Der junge Bündner Autor, der auf Island mit seiner Familie lebt und schreibt, hat mehr als ein Buch über isländische Gegenwart geschrieben. Es geht um das Geheimnis wirklicher Beziehungen, das Geheimnis um Liebe und Freundschaft, nicht zuletzt um die Liebe des «Helden» zu sich selbst. Und das alles so meisterlich geschrieben, dass man staunt und hofft, einen neuen Stern am Literaturhimmel entdeckt zu haben.«

Und nun ist zu hoffen, dass es Joachim B. Schmidt doch noch geschafft hat, dass er seine Schriftstellerei nicht aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, weil eine Familie zu ernähren ist, an den Nagel hängt. Die Zeichen stehen gut!

© Joachim B. Schmidt

Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist, Autor dreier Romane, die in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental erschienen und diverser Kurzgeschichten. 2007 ist er nach Island ausgewandert, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.

Webseite des Autors

Rezension von «Moosflüstern» auf literaturblatt.ch

Programm Literaturhaus Thurgau

Illustration © Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Eröffnung der Literaare «Tage wie Hunde» mit Ruth Schweikert

Ruth Schweikert eröffnete das 15½. Literaturfestival Literaare in Thun. Was bräuchte es, um den Kilimandscharo zu bezwingen? Was stände auf der To-do-Liste? Ruth Schweikert schrieb mit «Tage wie Hunde» ein Buch, das sich mit Radikalität und Offenheit mit ihrer Krebserkrankung auseinandersetzt. Ein Buch, das unter die Haut fährt und in seiner Lesart nicht wenig verunsichert.


Ruth Schweikert bezwang einen solchen Berg, auch wenn die Metapher nicht wirklich taugt, da es ja bei jenen, die den Berg nicht bezwingen, meist nicht an der Liste oder der fehlenden Orientierung bis zum Gipfel fehlte und schon gar nicht an der Ausrüstung. Ruth Schweikert schildert die Konfrontation mit Brustkrebs vom Beginn der Diagnose weg bis tief in die Krankheit hinein, in Rückblenden weit zurück und in Vorblenden bis weit über die Gegenwart hinaus. Ruth Schweikerts Erzählen, ihr Nachdenken ohne Pathos der Genesenen nimmt mich mit, ganz nah, als ob ich neben und mit ihr sehen, leben und denken würde; wenn sie nach der Mammographie im Besprechungszimmer des Arztes sitzt oder die Staatsbürgerschaft im Reich der Gesunden verliert. Wenn sie beim Arzt zugibt, wie sehr sie die Angst packt, als ob es möglich wäre, keine zu haben.


Ruth Schweikert, eine Grosse der Schweizer Literatur, protokolliert nicht, erzählt keine Leidensgeschichte. Sie spürt scharfsinnig nach, was sich nach einer verhängnisvollen Vermessung ihres Körpers unausweichlich aufdrängt. «Tage wie Hunde» ist aber auch eine Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben, über die Veränderungen des Schreibens, die Befreiung des Schreibens. Über das Übersetzen von «Erfahrungen, die sich dem Punkt entziehen», Empfindungen, die Ruth Schweikert ähnlich einer Mathematikerin in Beziehung zu setzen versucht, um sie in Sprache übersetzen zu können.


«Krankheit ist eine ganz spezifische Zeiterfahrung», sagte Ruth Schweikert im Gespräch mit der Moderatorin und Festivalchefin Tabea Steiner. Eine Literatur gewordene Zeiterfahrung darüber, was sich beispielsweise im Moment einer Diagnose zeitlich ausbreitet. So wie man ein ganzes Leben in einen einzigen Satz packen kann, konzentriert Ruth Schweikert in ihrem Buch jene Momente, die das Leben ausweiten, die Zeit zerreissen. «Tage wie Hunde» ist nicht blosses Abbilden, sondern der Versuch, eine andere Art des Beschreibens der Krankheit entgegenzusetzen, eine Ordnung, denn Krebs ist Chaos, Unordnung, Wucherung. Sprache ist Ordnung.

Ruth Schweikert «Tage wie Hunde», S. Fischer, 2019, 208 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-10-397386-0

Ruth Schweikert erzählte, das Buch sei auch Resultat eines Zu-fallens. Während sie am Text arbeitete, starb Ruth Schweikerts Vater. «Tage wie Hunde» ist ein Buch über das Drinnen und Draussen, das Leben und den Tod, das Davor und Danach, das Beginnen und drohende Ende.

Ruth Schweikert las nicht allein zur Festivaleröffnung. Links von ihr sassen abwechselnd zwei Frauen, lautlos gestikulierend mit Händen und Gesicht, mit Blick auf die erste Reihe im Rathaussaal, wo Gehörlose nicht der Schriftstellerin lauschten, sondern den Simultanübersetzungen zuschauten. «Eine Parallellesung» leicht versetzt, als wären die Gesten ein Echo der Sätze.

«Stoff für den Shutdown» mit Anaïs Meier, Benjamin von Wyl, Aleks Sekanic und Mariann Bühler


Ob mit Mundschutz und Social Distancing Festivalstimmung aufkommt, muss sich noch erweisen. Das Festivalteam hat angerichtet! Heute Samstag lesen Sandra Künzi, die GewinnerInnen des Textstreich-Wettbewerbs, Katerina Poladjan, Stef Stauffer, Christoph Geiser, Thomas Rötlhisberger, Svenja Gräfen, vier Studierende des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und Hengameh Yaghoobifarah. Und am Abend um 21 Uhr ein ganzer Strauss: Meral Kureyshi, Demian Lienhard, Daniel Mezger, Elio Pellin, Regula Portillo, Giuliano Musio, Laura Vogt und Benjamin von Wyl. Möge Thun strömen! (Festivalprogramm)

Mariann Bühler liest «Lang, lang lebe die Weile» aus «Stoff für den Shutdown, Vol 2, Ausdauer»


Begleitet wird das Festival von der jungen Illustratorin Lea Frei, die im Foyer des Rathauses die Zeichnungen zeigt, die sie fürs ursprüngliche Festivalprogramm im März dieses Jahres erstellte. Zeichnungen aller beteiligten Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Zeichnungen, die man sich nicht nur von ganz Nahem ansehen kann. Zeichnungen, die man sich gönnen, kaufen kann!

Aleks Sekanic liest «im sommer, vielleicht.» aus «Stoff für den Shutdown, Vol 2, Ausdauer»

 

 

 

 

Stoff für den Shutdown

Illustrationen  © leafrei.com