Ulrike Almut Sandig «Monster wie wir», Schöffling

Wer Ulrike Almut Sandig live erlebt, wird tief beeindruckt sein. Eine Performerin par excellence! Und klar, wenn dann eine Lyrikerin und Erzählerin wie sie ihren ersten Roman ankündigt, nach über einem Dutzend Veröffentlichungen und noch mehr Preisen, dann sind die Erwartungen hoch. Nichts desto trotz hat „Monster wie wir“ bei mir eingeschlagen. Eine Sternschnuppe aus dem Literaturhimmel, hell und heiss.

Gute Bücher sollen nicht schmeicheln, sie sollen zuweilen sogar weh tun. Auch wenn man damit ein gewisses LeserInnensegment gleich mal ausschaltet; jene, die unterhalten werden wollen, jene, die bestätigt werden wollen, jene, vor denen Schreibende mit ihrem Geschriebenen zu gefallen haben. Gute Bücher dürfen Schmerzgrenzen überschreiten – wenn sie wirklich gut geschrieben sind – und wenn die überschrittenen Grenzen nicht um ihrer selbst willen überschritten werden. Gute Bücher sollen provozieren, und wenn es nur die Angst ist, in Abgründe zu schauen.

„Eine gute Geschichte beginnt weit vor ihrem ersten Wort, und sie hört auch nicht auf.“

„Monster wie wir“ ist wie der Gang über eine schmale Hängebrücke. Man kann den Abgrund durchaus überqueren, wenn man sich am Geländer hält und mit geschlossenen Augen auf die andere Seite tappt. Man spürt den Wind, das Schaukeln, das Filigrane der Konstruktion. Oder man schreitet entschlossen voran, blickt hinunter, lässt sich nicht beirren, nimmt in sich hinein, was da passiert; diesen Schwindel, die Angst, die unfassbare Tiefe.

Mit dem Romandebüt von Ulrike Almut Sandig passiert bei der Lektüre genau das, auch wenn man eigentlich nicht mehr von einem Debüt sprechen kann. Wenn sich eine Dichterin, eine Schriftstellerin so trittsicher in Erzählungen und Lyrik bewegt, nicht nur „eingesperrt“ zwischen zwei Buchdeckeln, sondern noch viel beeindruckender performativ, dann ist der erste Roman einfach der erste Roman, dieses erste Mal, bei dem sich Ulrike Almut Sandig in der langen Form versucht – und wie!

„Ich will, denkt er, alles. Alles ausser zurück.“

Ulrike Almut Sandig «Monster wie wir», Schöffling, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-89561-183-4

Sie sind alle einsam. Ruth, die Geige spielt und etwas vom Glauben an Vampire bis in ihr Erwachsensein mitgenommen hat, irgendwo im ostdeutschen Nirgendwo aufwächst im Haus einer Pfarrersfamilie. Viktor, der Sonderling, mit dem sich Ruth in der Schule anfreundet, der sich fürchtet vor seinem „Scheissschwager“, der sich an ihm vergeht. Von Fly, Ruths Bruder, der Fliegen und sein Cello malträtiert, weil er von seinem Grossvater ausgesaugt wird. Von all den Eltern, die durch Ignoranz das Leiden multiplizieren, nur weil nichts und niemand die blutenden Krusten aufbrechen will, um endlich dorthin zu gelangen, wo der Eiter das Fleisch erhitzt. Einsam und verletzt. Victor taucht irgendwann ab, um in Frankreich mit Glatze und Springerstiefeln als Au Pair aufzutauchen. Viktor wird zu einem Hulk, der die Kinder in der reichen Familie beschützen soll; Lionel, der sich in seinem Zimmer mit seiner Musik zudröhnt und Maud, noch klein und unschuldig. Aber auch dort grassiert die Verlogenheit, wird alles unter der Oberflächlichkeit weggewischt.

„Ja, man kann wirklich über Nacht erwachsen werden.“

„Monster wie wir“ erzählt schonungslos von der Verlogenheit, von Übergriffen und unheilbaren Verletzungen. Dass sich Ulrike Almut Sandig an diesem Stoff nicht die Finger verbrennt, ist ihrer Sprache, ihrem Geschick, den Bildern und der Art und Weise zu verdanken, wie sie trotz maximaler Nähe keinem Voyeurismus, keinem „Veröffentlichen“ verfällt. Die Verletzten, die Gezeichneten, die Geschundenen und Versehrten bleiben stark, weil die Autorin nicht ihren Niedergang beschreibt, sondern die Kraft, die aus ihrem Kampf erwächst. Und weil Ulrike Almut Sandig eben keine Debütantin ist, sondern sich wie wenige sonst der Möglichkeiten der Sprache bewusst ist, weil sie weder mit den Figuren noch mit mir als Leser spielt, nicht unnötig emotionalisiert, wird der Roman zu einem ganz speziellen Leseerlebnis!

Interview mit Ulrike Almut Sandig

Sie schreiben Gedichte, Erzählungen, mit „Monster wie wir“ ihren ersten Roman, sie geben Zeitschriften heraus, arbeiten mit Komponisten und Musikern zusammen, performen auf der Bühne und im Studio, füttern eine spannende Webseite, reisen für Lesungen quer durch Deutschland bis in die Schweiz und lesen dabei nicht nur, sondern diskutieren über Themen wie „Europäische Identität“. „Daneben“ haben sie eine Familie. Atemlos?

Nein. Ich habe das Glück, ein sehr abwechslungsreiches Berufsleben führen zu dürfen. Es gibt wenig Routine, stille Schreibmonate wechseln mit Probetagen und Reisemonaten. Der Wechsel der Genres und Kunstformen tut meiner Arbeit gut, finde ich. Er sorgt für einen frischen Blick auf Themen und Techniken und verunsichert mich auf eine produktive Art. Aber es gibt einige Konstanten, die meiner Arbeit den festen Boden geben, auf dem alles steht. Die wichtigste ist meine Familie. Bei weiten Reisen begleitet mich manchmal meine Tochter, letztes Jahr waren wir zweimal gemeinsam in Indien. 

Als ich sie im vergangenen Winter in Basel an den internationalen Lyriktagen zusammen mit der Musikerin und Singer-Songwriterin Pamela Méndez sah, hörte und geniessen konnte, öffnete sich mir das Herz. Nicht zuletzt deshalb, weil ich bei ihrer Performance Zeuge ihrer eigenen Offenbarung wurde. Ist das Ulrike Almut Sandig?

Ich versuche, auf der Bühne keine Kunstfigur zu sein, weil mich das zu viel Kraft kosten würde. Aber so ein Ich hat natürlich viele Identitäten, Geschlechter und Rollen. In meinen Büchern schreibe ich dagegen selten über mich selbst. Vieles, was autobiografisch wirkt, ist eigentlich fiktiv. Und andersherum. Die Dinge lassen sich besser untersuchen, wenn man sich dabei nicht im Weg steht, aber bereit ist, sich selbst Material zu sein.

Almut ist ein alter germanischer Vorname und bedeutet „die Edelmütige“. Von diesen Edelmütigen ist in ihrem Roman wenig zu spüren, ausser dem Vater Ruths, dem Pfarrer und ein paar Alten, die aber mehr verrückt und entrückt erscheinen. Drückt da etwas die Pfarrerstochter durch, die uns mahnt vor den Abgründen der Unmenschlichkeit?

Ich möchte nicht mahnen und nicht belehren. Aber die Theologen, die ich kenne, wollen das ebenso wenig wie ich. Ich sehe meine Arbeit als ein Untersuchen der Wirklichkeit mit den Mitteln der Literatur. Dabei will ich keine Figuren vorführen oder für verrückt erklären. Ich fand es wichtig, auch den Figuren im Roman, die hart und brutal sind, mit Respekt zu begegnen. Es gibt nicht den Täter, der nur Täter ist. Und keinem Opfer werde ich gerecht, wenn ich es nur als Opfer sehe.

Es wird nicht nur der Übergriff am Menschen geschildert, sondern auch der an der Natur. Zum Beispiel der, der durch den Braunkohleabbau in Deutschland ganze Ortschaften frisst. Ein Eingriff, der in den dicht besiedelten und kleinräumigen Nachbarländern Österreich und Schweiz so nicht denkbar wäre. Nichts desto trotz grassiert der apokalyptische Übergriff, der auch durch Fridays for Future oder Corona keinen Aufschub erreichte. Wie viel Hoffnung haben sie? Auch Hoffnung für die Literatur?

Der Ausstieg aus der Energiegewinnung durch Braunkohle ist im Juni 2019 von der Bundesregierung gesetzlich beschlossen worden. Laut Martin Kaiser, dem Geschäftsführer von Greenpeace, bedeutet der Beschluss der Kohlekommission, dass die seit Jahren durch Aktivist*innen bekämpfte Rodung des Hambacher Forstes in der Nähe von Köln abgewandt ist. Auch weitere Devastierungen von Ortschaften in der Lausitz, in Mitteldeutschland und im Rheinland können dadurch gerettet werden. Allerdings warten viele Einwohner*innen der unmittelbar betroffenen Ortschaften seit Jahren auf ihre Umsiedlung, weil ein Leben in der Nachbarschaft der Braunkohlekraftwerke wegen der Luftverschmutzung etc. nicht lebenswert ist. Der Protest der Einwohner hält sich aber auch aus einem anderen Grund in Grenzen. In diesen Gegenden sind die Braunkohlegesellschaften ein wichtiger Arbeitgeber, oft für Generationen. Also obwohl Deutschland das Pariser Klimaschutzabkommen nicht einhält, wenn es wie beschlossen erst 2038 aus der Braunkohle aussteigt, steht ihm neben dem Ausbau erneuerbarer Energiegewinnung auch eine Umstrukturierung der Arbeitsstruktur grosser Landstriche gegenüber. Das muss möglich sein, ganz einfach weil es keine Alternative gibt. Es geht also weniger um Hoffnung als um Alternativlosigkeit.

Und Hoffnung für die Literatur? Gar nicht nötig. Die ist doch so vielseitig und aufregend wie selten! Nie in der Geschichte war der Anteil der Analphabeten so gering wie im 21. Jahrhundert. Es wird gelesen, es wird diskutiert, es wird gestritten. Oft gehen die aufregendsten Impulse von Dichtern und Dichterinnen aus. Würde die Lyrikszene sich allerdings weiter aus ihrem selbstgeschmiedeten goldenen Käfig herauswagen, könnte ihr Einfluss auf gesellschaftliche Diskussionen noch viel grösser sein.

Mit dem Romantitel „Monster wie wir“ richten sie den Blick nicht nur auf ihr Romanpersonal, sondern auch auf mich Leser. Kein sehr schmeichelhafter Wink. Aber ganz offensichtlich ist das Schmeicheln nicht das Ihre, ausser mit der Sprache selbst.

Ach, Schmeicheln ist bloss eine Technik, sein Gegenüber klein zu halten. Die Gewaltformen, von denen ich in «Monster wie wir» erzähle, ziehen sich durch alle Bildungsschichten und Familien. Aber Ruth, eine der beiden Hauptfiguren meines Romans, entdeckt im Klavierspiel eine produktive Kraft: «Im Tastenspiel wohnte ein monströser Golem, der es mit allem, was einem so zustossen konnte, aufnahm.» So ein Golem wünsche ich jeder und jedem.

Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2017 mit dem Literaturpreis Text & Sprache des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft ausgezeichnet, 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Ulrike Almut Sandig am 17. Lyrikfestival Basel 2020

zu einem Filmporträt über die Autorin

Webseite der Autorin

Beitragsbild: Michael Aust © Villa Concordia

Aufgebrochen! Das 17. Lyrikfestival Basel

Für jede Kunst ein Haus? Bildende Kunst in Museen und Galerien, Musik in Konzerthäusern und Clubs, Theater und Tanz auf Bühnen und Plätzen, Film in Kinos und zuhause, Literatur im Literaturhaus, im kleinen Lesekreis oder für sich, ganz allein. Was ganz zaghaft aufzubrechen beginnt, was viele Kunstschaffende längst auf ihre Fahnen geschrieben haben, die Sparten aufzubrechen und miteinander zu verbinden und zu verweben, manifestiert sich in aller Deutlichkeit am Lyrikfestival Basel.

Ulrike Almut Sandig in der Late Night Varieté im Sommercasino Basel, © Samuel Bramley

Ulrike Almut Sandig, vielfach preisgekrönte Lyrikerin und Erzählerin, schon oft zusammen mit MusikerInnen aufgetreten, vertonte ihre Gedichte, ihre Texte zusammen mit der jungen Pamela Méndez, einer jungen, freischaffenden Songwriterin aus dem aargauischen Brugg, die bald ihr drittes Album veröffentlichen wird. Zusammen mit anderen Paarungen traten die beiden am Freitag spät im Sommercasino Basel auf, nachdem sie sich einen Nachmittag zusammen für diesen einen Auftritt vorbereitet hatten. So entstand ein vielschichtiges Klangkunstwerk, eine Performance aus Sound, Text, Stimme, Rhythmus und Gestus, öffnete sich ein weites Feld, dass den Text aus seiner Hülle riss, die Musik den Text dem Boden enthob und in neue Sphären katapultierte. Erfindungsreich und wagemutig, genauso wie politisch und gesellschaftskritisch. Ulrike Almut Sandig relativiert sowohl formal, inhaltlich und performativ die Grenzen traditioneller Lyrik.
Sie fügt sprachliche Netze zusammen, wirft sie aus, nicht um LeserInnen zu gewinnen, sondern in der Hoffnung, dass diese etwas von dem wiedererkennen, was an Verlinkungen in ihren Büchern ausgelegt ist, geheimnisvoll, zahlen- und symbolverliebt. Dichtung sei wohl die mutigste aller Kunstformen, meinte die Autorin, denn keine andere Kunstgattung strecke die Arme so weit auf, um andere Genres einzuladen und mitzunehmen.

Michael Fehr und Manuel Toller mit ihrem Programm «Im Schwarm», © Samuel Bramley

Ebenso beeindruckend der Auftritt von Michael Fehr und Manuel Toller, die das Literaturhaus Basel zu einem musikalischen Tollhaus werden liessen. Als hätte Michael Fehr seine Geschichten, Bilder und Texte wie wilde Hunde losgelassen, als hätten die beiden den kratzenden, wütenden Sound eines Tom Waits ins Land hineingelassen, um ihn in helvetischem Grove an den Steilhängen der vaterländischen Widrigkeiten hinaufzupeitschen. Die beiden waren ein wahrhaft hinreissendes Ereignis, so gar nicht das, was man sonst in einem Lyrikfestival vermuten würde.

Preisträgerin des diesjährigen Basler Lyrikpreises 2020 ist die junge Dichterin Eva Maria Leuenberger mit ihrem Debütband «dekarnation», herausgegeben bei Droschl. Alisha Stöcklin und Rudolf Bussmann, beides Mitglieder der Lyrikgruppe Basel, die Festival und Preisvergabe organisiert, priesen in ihrer gemeinsamen Laudatio einen Erstling, der nichts mit Anfängerglück gemein hat, lobten einen sprachlich raffinierten Naturlyrikzyklus über «tal – moor – schlucht – tal», der ebenso viel Reife wie unmittelbare Nähe zu Sprache und Motiv zeigt. Dekarnation als Form der Inkarnation. Dekarnation nicht als das Ende, den blossen Zerfall, sondern den Anfang von etwas Neuem, nicht Schluss, sondern Beginn, losgelöst von der Zeit, nicht eingegrenzt in ein Dasein, ein Leben, sondern kleiner Abschnitt eines Ganzen, eines Kreislaufes. Lyrik, die trotz der Erdigkeit durch Leichtigkeit überzeugt, das scheinbar Dunkle erhellt.

Eva Maria Leuenberger liest aus ihrem preisgekrönten Band «dekarnation». © Samuel Bramley

hier ist ein tal
in vorhergesehener form
mit berg und bach und grüner wiese
am rande des baches
am ende der ersten äderung
wächst moos über die steine
zieht flaumig über die ränder hinweg
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
der mund spricht ein wort
und ordnet es in die hügel ein

am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
der bach, lang und laut,
beachtet mich nicht

hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
auf der haut perlt das wasser
in tropfen, licht /
darin der himmel ein boden

auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
blau mit gelb darum
und knickt den kopf:
es ist still
wir sind allein

(Ausschnitt aus „dekarnation“ von Eva Maria Leuenberger, © Droschl, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Schlusspunkt in einem äusserst vielfältigen und abwechslungsreichen Programm war die Lyrikerin und Musikerin Lydia Daher, die zusammen mit dem Musiker Hannes Buder erst recht die Grenzen zwischen Musik und Literatur, zwischen Lyrik und Lyrics verwischen will. Sie arbeitet an Schnittstellen, tummelt sich an Genregrenzen, bildende Kunst mit eingeschlossen. Angesprochen, ob den Musik nicht einfach nur untermale oder begleite, meinte Hannes Buder: «Im besten Falle höre ich gut zu.» So wie der Illustrator seine Arbeit längst nicht mehr nur als Bebilderung versteht, will Hannes Buder weder Textmusik noch Hintergrund. Text und Musik als ebenbürtige MitspielerInnen, Fragende und Antwortende.

Ein gelungenes Festivalspektakel trotz des grossen Abwesenden Lutz Seiler! Ein grosses Kompliment an den unermüdlichen Eifer der organisierenden Lyrikgruppe Basel unter ihrer Präsidentin Simone Lappert.

Alle Fotos © Samuel Bramley, Lyrikfestival Basel (Beitragsbild Pamela Méndez und Ulrike Almut Sandig)