Walle Sayer … lesen und staunen

Per Zufall entdeckte ich Walle Sayers Texte auf einem Blog mit literarischen Alltagsbetrachtungen. Da schreibt er über eine späte Heimfahrt nach einem Rockkonzert übers süddeutsche Land, bezeichnet Autobahnen als Krampfadern – und mir war die Landschaft, auch die sprachliche, sofort vertraut.

Gastbeitrag von Alice Grünfelder

Walle Sayer lebt und schreibt in Horb, kam nach diversen «Kneipensemestern» in einer selbstverwalteten Kneipe – «Studium des Lebens», nennt Walle Sayer diese Zeit – übers Lesen zum Schreiben, zu Gedichten als Gegenwelt zu seiner Kaufmannslehre in einer Bank, später engagierte er sich in der Friedensbewegung. Er spielte das Grosse im Kleinen durch, die ersten Bücher, so sagt er in einer online-Lesung im April 2021, waren ungelesen, ungesehen, sagt aber auch, dass er diesen Schonraum geschätzt habe, in dem er sich entwickeln konnte, unterstützt von gelegentlichen Stipendien, die «schon wichtig» waren.

Ich beginne mit der Lektüre «Beschaffenheit des Staunens» und stosse erneut auf vertraute Bilder von Mofarockern und Jugendlichen auf einem «Verlassenheitsareal, auf dem man nur Fehlzeiten verbringen kann. Von den Jugendversehrten, die sich untereinander mit Stummelsätzen verständigen, erzählt einer nebenbei, dass die Mutter gestern im Suff sein Sparschwein aufgebrochen habe. (…) Als von irgendwoher (…) der Wortführer hallend gerufen wird, dreht der einfach das dröhnende Gerät weiter auf, bis zum scheppernden Anschlag.» 

Walle Sayer «Mitbringsel», Klöpfer Narr, 122 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7496-1011-2

Wie Walle Sayer fern von jedem Pathos Landschaften und Alltagsmomente beschreibt, ist mir indes neu, diesen Ton aus der Provinz habe ich so noch nie gelesen und werde fortan an keinem Holzschopf mehr vorbeigehen können, ohne an Walle Sayer zu denken, der in seiner archäologisch angelegten Prosaminiatur «Betrachtung» übereinandergeklebte Plakate von Dorfversammlungen, Verkaufsmessen, Sichelhenkeln und damit einen Flickenteppich von Triumpf und Vergänglichkeit beschreibt. So könnte ich weiter staunen und schreiben über seine lakonischen Notate zum Beispiel über Menschen und ihre Liebe: «Die beiden fangen ein Vierecksverhältnis an mit den Bildern, die sie sich voneinander machen.» In solchen Zeilen zeigt sich der Meister der Kürze oder, wie Denis Scheck es treffend sagt, ein Misstrauen gegenüber jeder Ausführlichkeit. In dem Band «Mitbringsel» treibt er es damit auf die Spitze, indem er Wörter aneinanderreiht, die er oder sein Lektor gestrichen haben.

Seine leichte Sprache entfaltet eine starke Wirkung, das Hingetuschte wirkt bei Walle Sayer keineswegs leicht, das Leben und Sterben ist es gleichermassen nicht, denn „die Kehrseite der Kehrseite ist noch lange nicht die Vorderseite.“ So notiert er es in einem nicht ganz ernst gemeinten Sitzungsprotokoll.

So kann nur einer schreiben, dem „Wachsein vor dem Aufsein“ eingeschrieben ist in ein Leben abseits der Metropolen, der nach Wortkrumen in seinem Dialekt sucht wie ein Archivar, und diese Wörter so behutsam einsetzt, des Klanges wegen oder auch nur, wenn es kein anderes adäquates gibt, dass sie aufleuchten statt abzustossen. Und nein, er schreibt nicht über sich selbst, stülpt nicht das Innen ins Aussen, sagt stattdessen: «Wohl bietet die eigene Biografie Material, aus dem man schöpft, aber man muss nicht über sich selbst schreiben.» Vielmehr sucht Walle Sayer im Alltag nach einem «Tagesleck», das er mit einem Satz abdichten will, damit es nicht im Alltagsrauschen untergeht, so erklärt er sein Schreiben.

Walle Sayer «Nichts, nur», Edition Klöpfer, 2021, 240 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-520-75501-8

Der Verlag schenkte Walle Sayer zu seinem 60. Geburtstag «Nichts, nur». Nichts passt wohl besser zu Walle Sayer als dieses Understatement. Das Buch ist Querschnitt und Zwischensumme zugleich seiner Poeme und Prosaminiaturen. «Nichts, nur», so sagte es die Moderatorin anlässlich der Buchvorstellung im April 2021 in Dornstetten, könnte vor jedem seiner Gedichte stehen.

Nichts, nur der Vollmond, der sich spiegelt im ruhigen Wasser, ein an den See entrichteter Obolus der Nacht. 
Nichts, nur ein paar Raben, Funktionäre der Farbe Schwarz, hocken im Geäst, zerkrächzen die Sicht.

Nichts, nur die Runde am Nebentisch, Schaumkronen setzen sie sich auf, erlassen ihre Edikte, danken ab.
Nichts, nur: diese Tonfolge, dieser Auftakt.

Walle Sayers Werke sind meistens im Verlag Klöpfer&Meyer erschienen, einen Überblick über seine Bücher lässt sich am besten auf literaturport nachlesen. 

© Burkhard Riegels-Winsauer

Beitragsbild © Charly Kuball

Joachim Zelter und sein Kammerspiel

Ein letztes Mal im Jahr 2020 lud das Literaturhaus Thurgau Literaturinteressierte zu einer Lesung im Bodmanhaus in Gottlieben ein. Joachim Zelter war Gast mit seinem aktuellen Roman «Imperia», mit dem der Schriftsteller lesend und performend das Publikum zu begeistern wusste – ein Publikum, das nach Kultur hungert!

Joachim Zelters zentrale Figuren in seinem Roman sind absolut gegensätzlich. Gregor Schamoni, ein mässig erfolgreicher Schauspieler mit einigen Geldsorgen und Iphigenie de la Tour, eine raumgreifende Frau und Professorin, deren Visitenkarte sich wie eine Speisekarte liest. Eine Frau, die sich als absolutes Zentrum ihres Sonnensystems sieht, ein Mann, der es wie ein kleiner Planet nie mehr schafft, aus der ihm zugewiesenen Umlaufbahn auszubrechen. Jeder kennt solche Archetypen wie die Professorin; Menschen, denen das Leben immer wieder Recht zu geben scheint, auch ihr Erfolg, ihr Geld, ihre Macht. Und weil Gregor Schamonis Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.

Was für den Schauspieler Gregor Schamoni Wirklichkeit ist, ist Wirklichkeit für viele Kunstschaffende: Wie weit soll, darf und kann man sich in Abhängigkeiten begeben, um nicht in Existenznöten unterzugehen. Es liegt einiges an Zündstoff in den Schilderungen, im Roman selbst, in der Dramaturgie des Geschehens, aber auch darüber hinaus, sind doch die Diskussionen über „Entmännlichung“ und Rollenverständnis nicht nur in vollem Gange, sondern Flächenbrand geworden.

Joachim Zelter inszenierte seinen Text auf der kleinen Bühne des Literaturhauses gekonnt und mit viel Leidenschaft, einer Leidenschaft, die sein ganzes Tun und Schaffen bezeugt, eine Leidenschaft, die im Publikum ganz selbstverständlich seine Resonanz findet. 

«Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor*innen und lebendiger Zuhörer*innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean, und es war mir eine Freude, gestern Abend auf dieser Insel weilen zu dürfen.» Joachim Zelter

Ein fast volles Haus, mit aller Vorsicht geführt! Das Literaturhaus Thurgau dankt dem Autor für den spannenden Abend

Joachim Zelter «Die Würde des Lügens» – SWR2

Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Joachim Zelter «Imperia», Klöpfer Narr

An der Hafeneinfahrt der Bodenseestadt Konstanz steht seit bald dreissig Jahren die neun Meter hohe Imperia. Ein üppiges Frauenzimmer in Beton gegossen mit grosszügigem Dekolleté und zwei schrumpligen Mannsbildern in erhobenen Händen. In Joachim Zelters neustem Roman «Imperia» windet sich ein Mann aus den Tentakeln einer raumgreifenden Muse, büsst ein Künstler dafür, sich verkauft zu haben.

Gregor Schamoni ist Schauspieler. Und weil seine Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.

Was ganz artig beginnt, den Schauspieler jedoch von Beginn weg gleichermassen verunsichert und befriedigt, da ihm die aufgeputzte Dame grosszügig dicke Briefumschläge mit Geldbeträgen übergibt, Geldbeträge, die seine in Schieflache geratene Existenz aufrichten, wird mehr und mehr zu einer emotionalen Achterbahn, aus der Gregor nicht mehr auszusteigen weiss.

Joachim Zelter «Imperia», Klöpfer Narr, 2020, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7496-1017-4

Man kennt die Sorte Mensch; uneingeschränkt von sich eingenommen, selbstverliebt und besitzergreifend, fähig, die ganze Welt nach eigenem Gusto drehen zu lassen. Iphigenie de la Tour, Professorin an der Universität Konstanz, ist es gewohnt, dass man sich in ihre Sonne setzt, alles nach ihr ausrichtet, ihren Anweisungen Folge leistet. Da ist nicht nur das Geld, sondern die masslose Selbstverständlichkeit, die die Frau wie die Imperia an der Hafeneinfahrt übergross und bedeutsam macht. So wie die Betonfrau am Hafen die kleinen Männer herumjongliert, so tut es Iphigenie de la Tour; mit Gregor Schamoni, dem Personal in den Restaurants, in denen man sich trifft, mit allen, die sich in die Aura inszenierter königlicher Weiblichkeit trauen. So wie sich Gregor in seinen Panikträumen verlieren kann, in seiner Angst, irgendwann den Text auf der Bühne zu vergessen, nicht mehr weiterzuwissen, den Bühnenboden unter den Füssen zu verlieren, so sehr dreht er sich im Strudel rund um die Professorin, die ihn mit Geld, Komplimenten, Aufgaben und Zukunftsträumen einwickelt und vereinnahmt. Sie will ihn für sich, als ihr Instrument. Sie will ihn als Mitarbeiter, Sprecher, Freund, Schauspieler, Partner. Irgendwann übergibt Gregor Pia, der Studentin, die an Iphigenies Seite alles zu Papier macht, was in den Unendlichkeiten des de la Tour’schen Archivs an Bedeutsamkeit lagert, sein Handy. Iphigenie de la Tour will aus den SMS zwischen ihr und Gregor einen Briefwechsel transkribieren, will sie doch aus Gregor Schamoni einen bedeutsamen Schauspieler machen.

Gregor beginnt zu kämpfen, will sich aus den Fängen der Matrone befreien. Etwas, was ihm im direkten Gegenüber mit der Frau nicht gelingt, denn Iphigenie schafft es meisterlich, ihre scheinbare Verletzlichkeit zum Kampfstoff zu machen. 

Joachim Zelters Iphigenie ist köstlich, wenn auch nur für mich als Leser. Für Gregor wird sie zur Katastrophe. Jenes Loch, das sie aufzureissen droht, ist ebenso gross, wie die Angst, die Gregor in seiner ganz privaten Panik peinigt. Joachim Zelter peitscht die Drehungen des Karussells, aus dem Gregor nicht mehr entfliehen kann, genussvoll an. Wenn Joachim Zelter die Erscheinung der Professorin schildert, wird aus dem Betongrau der Imperia über dem Hafen Konstanz ein tiefes Rot, wird das Dekolleté beider Frauen bis zur Aufdringlichkeit ein erdrückendes Gebirge.

„Imperia“ ist eine literarische Berg- und Talfahrt in einem Gefährt, von dem man bis zum Schluss nicht weiss, ob es sich bremsen lässt oder mit voller Wucht und Geschwindigkeit in ihr Ende rast. Eine Buch gewordene Metapher darüber, was Käuflichkeit aus Leben macht. Dass Joachim Zelter aus dem Kammerstück zweier Personen ein Gegenüber zwischen fast allmächtiger Weiblichkeit und wirkungsloser Männlichkeit macht, heizt die Szenerie nur noch an.

 

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg im Breisgau geboren, studierte und lehrte englische Literatur in Tübingen und Yale. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thaddäus-Troll-Preis, dem Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg, dem Gisela-Scherer-Stipendium der Stadt Hausach im Schwarzwald. 2010 war er mit seinem Roman «Der Ministerpräsident» für den Deutschen Buchpreis nominiert. Seine Romane wurden mehrfach ins Französische, Italienische und Türkische übersetzt. 

Rezension von «Im Feld» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Kurt Oesterle «Die Stunde, in der Europa erwachte», klöpfer narr

Es ist ein Jahrhundert her, dass das lange Töten und Morden endete. In einem Krieg, der auf allen Kontinenten wütete und 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Ein Krieg, der tiefe Gräben und Krater in die Landschaft schoss, Wunden, die im Weltkrieg darauf wieder aufrissen und an denen die Welt bis heute leidet. Gräben und Krater, die zugeschüttet sind, Gräben und Krater, die einst den Sieg versprachen, die zu Massengräbern wurden.

In den Kinos lief 1917, ein Kriegsfilm von Sam Mendes, der in 110 Minuten Echtzeit die Mission zweier Soldaten zeigt, zweier Helden, die verhindern sollen, dass eine andere Einheit in den Hinterhalt des Feindes gerät. Das übliche Muster; Helden kämpfen für das Gute. Das Gute hier, das Böse dort und alles „zum Gedenken an die Opfer einer verlorenen Generation“. Der Mensch denkt in Kategorien.

Kurt Oesterle tut das nicht. In einem apokalyptischen Szenario finden sich in einem vom Krieg verwüsteten Landstrich in Frankreich, wo kein Stein mehr auf dem andern steht, das Land von Bomben umgepflügt ist und unter jedem Stein eine Mine droht, in der der Geruch des Todes über die offenen Wunden wabert und es eine Unendlichkeit dauern muss, bis die Gegend an das erinnert, was sie einmal war. Menschen, einst Feinde, auf der Suche nach einer Zukunft. Nur eine Hütte steht noch, ein kleines Haus, dahinter ein mobiler Backofen, ein „Gasthaus“ mit Namen À l’héroine des ruins – Zur Heldin der Ruinen.

Geführt wird es vom 16jährigen Minot, der eigentlich von seiner vom Krieg geflüchteten Familie geschickt wurde, um nachzusehen, was vom Hof geblieben ist, auf dem die Familie einst lebte. Minot bleibt am Haus hängen, weil die einstige Wirtin verschwand und irgendjemand den streunenden Seelen an diesem Ort die Oase sein muss.

Der erste Teil des Romans gibt sich wie ein Erzählband mit Kapiteln, die nichts miteinander zu tut zu haben scheinen. Kurt Oesterle erzählt vom jungen Minot, der einst in dieser Gegend auf einem Einödhof geboren wurde. Vom Ehepaar Max und Magda Krüger, deren Sohn Felix kein Feigling sein sollte, der sich dann mehr oder weniger freiwillig in Kriegsdienst gemeldet hatte, wie alle um ihn, die an einen schnellen und glorreichen Sieg glaubten. Von der Engländerin Elsie Norton, die einen traumatisierten Mann aus dem Krieg zurückbekommt, sich selbst und den Mann zu hassen beginnt, weil sie nicht verstehen kann, was geschah und geschieht. Von Franz, dem Kriegsgefangenen Nummer 2341, der den Krieg als Freiwilliger einst als Labor für den Fortschritt sah, denn was zerstört wird, kann „über kurz oder lang nachwachsen wie Haare und Fingernägel“. Und von Gorm, dem Hund, der von seinen kinderlosen Besitzern als ihr Beitrag im Dienste des Vaterlands als Sanität- und Meldehund in einer Kaserne abgeliefert wird.

Im zweiten Teil des Romans treffen sich all diese Gestalten, nachdem ihr Weg bis zur Heldin der Ruinen erzählt wurde. Minot wird zu einem Helden der Herzlichkeit, Max und Magda Krüger wollen die sterblichen Überreste ihres Sohnes zurück nach Hause holen, Elsie sucht das verlorene Leben ihres stumm gewordenen Ehemannes, Franz fristet das Dasein eines Kriegsgefangenen im nahen Lager und der Hund Gorm stomert einsam, vergessen und verwahrlost in der schrundigen Endzeitlandschaft herum.

Sie suchen alle, ernüchtert, desillusioniert. Genauso die Männer, die in der Heldin vom Metall ernten in den Schlachtfeldern ausruhen, die Meter für Meter absuchen, nach dem, was der Krieg liegen lässt, denen der Geruch frischgebackenen Brotes etwas von dem zurückgibt, was ihnen die vier Jahre Krieg genommen hat.
Der Krieg ist nicht vorbei, wie kein Krieg je vorbei ist mit dem Schweigen der Waffen. Der Ursprung allen Schmerzes ist aber nicht der ehemalige Feind, sondern der Verlust, der Verlust von Leben, Liebe und Vertrauen.

Die Idee Europa entspringt der Angst. Und der November 1918, das Ende des Krieges und die darauffolgenden Jahre der Ernüchterung, das kollektive Trauma, das auch einen weiteren weltweiten Krieg nicht verhindern konnte und die Angst von Generation zu Generation weiterfüttert, weckte Europa kurz, um gleich danach in den Versailler Verträgen den Grundstein zum nächsten grossen Schlachten zu legen.

Kurt Oesterle schrieb ein gewichtiges Buch, das sich ins Bewusstsein einfrisst. Keine actiongeladene Herogeschichte, sondern einen Roman mit epischer Tiefe über das, was übrig bleibt, wenn die Waffen schweigen. Grossartig geschrieben und inszeniert, Papier gewordenes Welttheater!

Ein Interview mit Kurt Oesterle:

Sie geben ihrem Roman einen durchaus positiven Titel. Erwacht Europa 1919 wirklich? Oder ist das, was sich heute Europäische Union nennt (Ich weiss, das ist nicht Europa!), nicht einfach das Konglomerat von Wirtschaftsinteressen, Angst und Verzweiflung darüber, das Nationalismus und Eigenbrötelei den Anfang eines weiteren Endes bescheren?

Ja, Europa ist nach dem Ersten Weltkrieg erwacht … durchaus! Aber es hat sich nur kurz die Augen gerieben, um gleich wieder einzuschlafen – so tief, als wäre es tot. Niemand ahnte damals, dass die nicht genutzte Chance sich zu einer Katastrophe übelster Art auswachsen würde. Doch wichtiger scheint mir: Der Augenblick des Erwachens steht uns immer noch und immer wieder bevor – darum ist mein Roman auch kein historischer Roman, sondern ein ganz und gar gegenwärtiger. Auch und gerade heute sucht er eine Antwort auf die Frage, wie wir, die Europäer, WIR sagen könnten, oder anders: was uns eigentlich verbindet. Bisher ist es doch überwiegend der Wohlstand, der den Kontinent zusammenhält, doch wehe, dieser Wohlstand schwindet …

Herr und Frau Krüger wollen ihren toten Sohn in die Heimat zurückführen, weg von dem Ort, an dem die „Demokratenart“ keine Unterschiede macht, an dem „alle rücksichtslos miteinander gekreuzt, vermischt oder zusammengeworfen“ werden. Hundert Jahre später ist die Argumentation längst nicht gestorben auch wenn es meiner Meinung die einzige Art ist, dem Menschen das Überleben auf diesem Planeten zu sichern. Wie soll es der Mensch schaffen, Grenzen niederzureissen? Erst in Zeiten apokalyptischer Not?

Die Grenzen in Europa sind inzwischen zum Glück nahezu bedeutungslos geworden – dass ich ohne Passkontrolle nach Frankreich fahren, ja, mich dort sogar wie ein Inländer niederlassen kann, ist ein unerhörter Fortschritt, der noch in meiner Jugend undenkbar war. Ich vergesse nie, dass sowohl mein Vater als auch mein Grossvater gegen Frankreich Krieg geführt haben! Was jedoch auch ohne Grenzziehung weiterlebt, das ist der Egoismus der einzelnen Nationen und Personen. Darum erprobe ich in meinem Roman ja in zarten Ansätzen so etwas wie eine Wir-Erzählung, die es in Europa nach wie vor nicht gibt. Sie sollte basieren auf dem gefühlsgesättigten Wissen, dass wir als Menschen in grösseren Einheiten existieren als bloss in Familie, engerer Heimat oder Nation. Dafür habe ich mit meinem Buch einen ersten Entwurf geliefert – andere müssen fortfahren mit dieser Wir-Erzählung, solange bis man ihre Stimme hört.

Einer der Gäste in der Heldin nennt den Nationalstaat die Ursache allen Kriegs. Wo liegen die Ursachen für den ungebrochenen Glauben vieler Menschen, dass eine Gesellschaft in Frieden, ohne Krieg möglich wäre. Solange wir meterhohe Thujen um unsere Grundstücke ziehen, solange Reichtum geizig macht, die Angst vor dem Fremden um sich greift und man sich mit Vorliebe nicht für die eigenen Probleme interessiert, bleibt Krieg doch ideale Ersatzhandlung. Oder nicht?

Die „apokalyptische Not“, von der Sie sprechen, war der Krieg, der 1918 endete. Dringlicher als je zuvor konnte man damals sehen, dass eine europäische Lebensform nötig ist, wenn der Kontinent überleben will. Ich möchte ja gerade zeigen, dass das heutige Europa, die EU, eine Kriegs- und Notgeburt ist. Was selbst in Deutschland inzwischen wieder in Vergessenheit gerät, mitsamt der Rolle, die mein Land in beiden Weltkriegen gespielt hat. Ich halte es mit Paul Valéry, der schon nach dem Ersten, nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Einsicht besass: „Wir Kulturvölker wissen jetzt, dass wir sterblich sind. Wir fühlen, dass eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben.“ Als Symbol steht dafür in meinem Buch insbesondere die geschändete und verstümmelte Natur, die Valéry zu seiner Zeit noch nicht auf der Rechnung hatte …

Wo lag der Ursprung ihres Romans?

Der Ursprung meines Romans lag in mir, in meiner Seele, wie ich gern sage. Und wie in einer europäischen Familienaufstellung hat sich die Konstellation ergeben, die ich dann in diesem verwüsteten französischen Landstrich zwischen Reims und Laon angesiedelt habe. Mein Roman ist keine Gedankenkonstruktion, sondern eine Schau, ein Traum, ein Film im Kopf, der unaufhaltsam ablief (und sich hoffentlich in Leserin und Leser wiederholt). Ich habe mich beim Schreiben oft gewundert, dass zuvor noch kein Autor auf die Idee gekommen ist, einen Nachkriegsroman mit gesamteuropäischem Personal zu verfassen – fast alle Bücher, die ich dazu gelesen habe, handeln nur aus der nationalen Innenperspektive, die anderen bleiben eher Schatten.

Sie nennen den 16jährigen Minot ein aus der Zeit gefallener Philantrop, der sich vorgenommen hatte, in diesen Zeiten um jeden Preis gut zu sein und die Welt mit seiner Güte anzustecken. Meist versteht man Philantropie aber in Verbindung mit unermesslichem Reichtum. Aber Minot zeigt das Gegenteil. Ein Jugendlicher an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein. Ist ihr Roman „Die Stunde, in der Europa erwachte“ nicht auch eine Aufforderung, die Jugend ernst zu nehmen? Heute erst recht?

Philantropie bedeutet schlicht: Menschenliebe, sie ist keine Sache des Geldes! In meiner Stadt Tübingen wird der „philantropische Verein“ von griechischen Gastarbeitern getragen! Die Figur des Minot in meinem Roman wäre sozusagen mein Alter ego, auch ich konnte mit 16 oder 17 Jahren nach zwei Weltkriegen als nachgeborener Deutscher keine andere Rolle für mich entdecken, als die, gut zu sein und den Neubeginn in der eigenen Güte, in Bescheidenheit und Weltoffenheit zu suchen. Dabei war es mir nicht wichtig, ernst genommen zu werden, sondern mein Leben aus innerer Überzeugung zu führen. In der Hoffnung, dass diese Überzeugung wirkt, dass sie auf andere ausstrahlt … Und genau so ist es doch auch mit der Literatur: Sie folgt nicht einem politischen Programm, sondern generiert Energien, die in anderen weiterwirken … das ist die Eigenart des Ästhetischen. Übrigens, bei Lesungen muss ich meinen Minot stets verteidigen, eben weil er versucht, gut zu sein. Im Literaturbetrieb ist es offenkundig nach wie vor so, dass man fünf Schurken weitaus weniger verteidigen muss als einen einzigen Guten. Woher mag diese Vorliebe für die Bösen wohl kommen? Das Gute beunruhigt uns anscheinend viel mehr als das Böse …

© De Maddalena

Kurt Oesterle, 1955 in Oberrot/Nordwürttemberg geboren, studierte Literatur, Geschichte und Philosophie, Dr. phil., freier Autor und Journalist, insbesondere für die Süddeutsche Zeitung und das Schwäbische Tagblatt; auch für die »Frankfurter Anthologie« der FAZ. Monographien über Wolfgang Koeppen und Peter Weiss. Essays u. a. zu Schiller, Heine, Hebel, Hauff und Uhland («Ich hatt’ einen Kameraden»), wofür er 1997 den Theodor-Wolff-Preis erhielt. 2002 erschien bei Klöpfer & Meyer sein hoch gelobtes Romandebüt «Der Fernsehgast oder Wie ich lernte die Welt zu sehen». Ausgezeichnet mit dem Berthold-Auerbach-Preis und von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats gewählt.

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