Raymond Vouillamoz «Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise», Bilger

Vor 200 Jahren und mehr gab es viele Gründe, warum man sich gezwungen sah, seiner Heimat, der Schweiz den Rücken zu kehren und auszuwandern. Nicht immer waren es wirtschaftliche Gründe. So wie bei Eugènie und Frederick, die ihr Glück auf der Krim zu finden hofften.

„Kretainismus“ war vor 200 Jahren der Sammeltopf für all jene geistigen und körperlichen Behinderungen und Missbildungen, die man damals infolge Jodmangels und fehlender Hygiene nicht in den Griff bekam. Der Patriziersohn Frederick Zen Zaenen, der in den 80ern des 18. Jahrhunderts im Wallis zur Welt kommt, leidet an dieser Krankheit, ist von schwächlicher Konstitution und hat einen Kropf, ein grosses Geschwulst am Hals. Damals war diese Krankheit nicht unüblich. Das Glück von Frederick Zen Zaenen aber war, dass er einer wohlhabenden und einflussreichen Familie entstammte, die ihn nicht einfach dahinsiechen liess, sondern den werdenden Mann nach Leukerbad zur Kur schickte und ihm dort eine Magd, Fräulein Eugènie, zur Seite stellte.

Eugènie und Frederick verlieben sich. Frederick weiss, welches Glück ihm mit dem Bauernmädchen widerfährt, muss aber hinnehmen, dass ihn seine Familie ächtet und verstösst, als sie erfährt, dass Frederick und Eugènie zur Familie werden. Obwohl Frederick an der Seite seines gestrengen Vaters in dem im Rhonetal grassierenden Krieg zwischen Napoleon ergebenen Truppen und dem katholischen Oberwallis zieht, ist der Bruch in der Familie irreparabel. Fredericks Schicksal wird zu einer ersten Reise, denn es gibt nur zwei Dinge, die ihm zu einem Zuhause werden können, Eugènie mit den Kindern und die Musik. Aber weder die Familie noch die Musik werden zu einem sicheren Hafen. Nicht zuletzt darum, weil Eugènie alles andere als eine dienstbeflissene und ergebene Magd ist und obwohl von niederem Stand alles daran setzt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Sie lässt sich in Yverdon zur Hebamme ausbilden, zieht mit ihrem Kind in die Fremde und lernt dort nicht nur das Handwerk der Geburtshelferin, sondern die Freiheiten einer sich von den kirchlichen Zwängen emanzipierten Gesellschaft. Weil Eugènie zurück im Wallis sich nicht von ihren aufmüpfigen, antiklerikalen Ideen distanziert, sieht sich die noch junge Familie gezwungen der Enge ihres Heimatkantons den Rücken zu kehren. Sie lassen sich von den Versprechungen einer Kolonie auf der Krim anwerben und eine zweite Reise beginnt.

Raymond Vouillamoz «Eugènie, die Magd des Kretins. Tagebuch einer Reise», aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer, Bilger, 124 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03762-102-8

Frederick findet in seiner neuen Heimat gar eine Orgel. Aber das so leidenschaftlich begonnene Glück beginnt zu schwinden. Nicht nur die Orgel, die er im Hafen einer Krimstadt günstig erstehen konnte, bringt er kaum zum Klingen, auch seine Liebe zu Eugènie, die nun Evgenia heisst, verliert an Farbe und Kraft. Und als ihm Eugènie, die im zaristischen Gesundheitswesen schnell Karriere macht, unterbreitet, dass sie ins ferne Petersburg zu ziehen gedenkt und Frederick ahnt, dass es nicht nur ihr Handwerk ist, dass sie in die Ferne zieht, beginnt sein Stern zu sinken, während der Ihrige zusammen mit ihrem Sohn in für damalige Verhältnisse schwindelerregende Höhen steigt. Eugènie wird Hebamme der Zarenfamilie, Othmar, Eugènie und Fredericks Sohn ein erfolgreicher Arzt. Während Frederick sein Leben an einem Strick beendet, reüssiert Eugènie in der Fremde und schüttelt alles ab, was sie an ihre eigene Herkunft erinnert.

Raymond Vouillamoz’ Debüt ist realistische Fiktion. Feminismus ist keine Erfindung der Neuzeit. Es gab sie immer, die Frauen, die nicht für Gesetz nahmen, was ihnen Tradition und Patriarchat vorsetzten. Auch die Tatsache, dass es lebensgefährlich sein kann, für Gleichberechtigung einzustehen, hat sich nicht wirklich verbessert. Während sich selbst Europa, die westliche Welt noch immer schwer tut, aus einem Geschlechterdenken herauszutreten, werden anderorts Frauen von bärtigen Männern wie Vieh behandelt. Trotz Fiktion ist dieser Roman ein Stück erfrischende Realität, auch wenn das, was von Frederick übrig bleibt, an einem starken Ast einer Linde baumeln muss.

Raymond Vouillamoz wurde 1941 in Martigny im Kanton Wallis geboren. Nach dem Studium wurde er Journalist und Filmkritiker in Neuenburg. 1966 machte er ein Regiepraktikum bei Claude Goretta im TSR und schloss seine Ausbildung mit zwei Kurzfilmen ab. Seit 1970 drehte er zahlreiche Reportage, adaptierte Theaterstücke fürs Fernsehen und drehte Fernsehfilme. 1980 wurde er Chefproduzent für Fernsehfilme, 1990 Programmdirektor bei France 3. 1993, wieder in der Schweiz, war er bis 2003 Programmdirektor beim TSR. 2005 kehrte er in seinen Beruf als Filmregisseur zurück und wurde von der französischen Regierung zum Chevalier des Arts et des Lettres ernannt. 
Raymond Vouillamoz wurde im Herbst 2022 in Zürich mit dem Literaturpreis der Stiftung Kreatives Schaffen im Alter ausgezeichnet.

Barbara Heber-Schärer, geboren 1945, lebt in Basel. Sie arbeitet seit 1990 als Lektorin und Übersetzerin, unter anderem von Emmanuel Bove, Paul Ricœur, Joseph Szapski, Leslie Kaplan, Claude Lanzmann und Michèle Desbordes.

Simon Froehling «Dürrst», bilgerverlag #SchweizerBuchpreis 22/8

„Dürrst“ ist eine gnadenlose Achterbahnfahrt eines aufstrebenden Künstlers zwischen euphorischen Höhenflügen, ekstatischer Arbeit und trostloser Abstürze in die Tiefen psychischer Abgründe. Alles an diesem Leben ist Auseinandersetzung. Auch die Lektüre dieses Romans!

Je nach Lebenssituation ist der Blick in eine andere Richtung gerichtet. Bei den einen zurück, bei den andern in die Zukunft. Dürrsts Blick geht nur nach vorne, auch wenn es sich nur schwer erschliesst, was sich im Nebel der Zukunft abzeichnet. Was Vergangenheit ist und war, stösst er ab, wie die Eidechse ihren Schwanz. Was nachwächst, ist nur mehr rudimentär und hilft gerade noch so, um im Tempo des Lebens das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Ein Elternhaus, das nicht verstehen will, Mutter und Vater, die an die Macht des Geldes glauben, jene Macht, die sie selber stets auf der Welle des Erfolg reiten liess. Dürrst weiss, dass er nicht nach dem Rhythmus seiner Eltern tickt, dass er anders ist, dass sein Schwulsein keine Laune der Natur ist, dass sich sein Wunsch, als Künstler etwas erschaffen zu wollen, genauso wenig einer Laune der Natur zuordnen lässt. Dass sein Leben sich nicht nach Kompromissen richten soll. Dass alles Risiko ist.

Simon Froehling «Dürrst», Bilger, 266 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03762-100-4

Dürrst ist nicht zu fassen. Auch für seine Freunde nicht, seinen Freund. Ein permanent unter Druck stehendes Leben, dass sich kaum zwischen seinen Extremen einpendeln lässt. Einmal wird er als zukünftiger Star von seiner Galeristin gefeiert, ein andermal lässt er sich freiwillig von einem Mantel an Medikamenten zudecken, weil es die einzige Möglichkeit ist, zur Ruhe zu kommen. Manchmal bricht er aus, manchmal bricht er ein.

Einmal wirbelt er wie ein Derwisch durch die wilden Parties der Stadt, verliert sich im Arbeitswahn, in den Ideen zu seiner Kunst. Ein andermal sackt er ab in die Untiefen menschlichen Verlorenseins, vegetiert, ergibt sich der Maschinerie, die hinter verschlossenen Kliniktüren das Zepter in die Hand nimmt.

Eigentlich will Dürrst nur leben, will sein, was er ist, was er in hellen Zeiten seines Lebens als treibende Kraft in sich spürt. Aber weil sein Leben zu einer permanenten Demonstration gegen alles Biedere und „Bünzlihafte“ wird, ist alles Kampf. Ein Kampf der Abnützung, des Anrennens, des Verschleisses. Ich möchte Dürrst beim Lesen an der Hand nehmen, möchte ihn drosseln, weil ich die drohenden Katastrophen erahne.

Simon Froehlings zweiter Roman nach „Lange Nächte Tag“ ist eine buchgewordene Performance, der Schrei einer Generation, die alle Muster ablegen will, die nicht bereit ist, sich all jenen Zwängen zu beugen, die die Generationen zuvor als Selbstverständlichkeit hinnahmen. Aber vielleicht ist „Dürrst“ auch das Manifest einer Generation, die angesichts der Fülle an Eingebrocktem einfach nur die Nase voll hat.

Simon Froehling macht es mir nicht einfach. Sein Roman ist keine Geschichte zur Erbauung, sondern der Schrei von Verlorenen. Auf dem Klappentext steht: „Froehling erzählt den Weg einer brutal schmerzhaften Selbstfindung in Bildern stupender Schönheit.“ „Dürrst» ist nicht Selbstfindung, sondern das unendliche Suchen.

Simon Froehling wurde 1978 geboren, ist schweizerisch-australischer Doppelstaatsbürger und lebt in Zürich. Anfang der Nullerjahre machte er sich hauptsächlich als Lyriker und Dramatiker einen Namen – mit über einem Dutzend Theaterstücken und Hörspielen, die in der Schweiz, Deutschland und Österreich uraufgeführt oder gesendet wurden. Sein erster Roman «Lange Nächte Tag» erschien 2010 im Bilgerverlag. Für sein Werk wurde er mit diversen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Publikumspreis der St. Galler Autorentage, dem Dramatikerpreis der Schweizerischen Autorengesellschaft, einem Heinz-Weder-Anerkennungspreis für Lyrik und dem Network-Kulturpreis der schwulen Führungskräfte. Simon Froehling ist Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel/Bienne. Neben seiner Tätigkeit als freier Autor und Übersetzer arbeitet er am Tanzhaus Zürich als Dramaturg und Kommunikator.

Schweizer Buchpreis 2022 – die nominierten Bücher #SchweizerBuchpreis 22/2

Zum 15. Mal wird der Schweizer Buchpreis vergeben. Ein Preis, der das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren auszeichnet.

Ziel des Schweizer Buchpreises ist es, jährlich fünf herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen. Ein Ziel, das bei den Debatten rund um diesen Preis immer wieder vergessen wird. Keine Schriftstellerin, kein Schriftsteller wird ausgezeichnet, sondern Bücher. Fünf Bücher stehen zur Wahl, fünf Bücher, die in diesem Jahr unterschiedlicher nicht hätten sein können. Fünf Bücher von Autoren, die einen bislang kaum auf dem Radar jener LeserInnen, die sich an Bestsellern orientieren, die andern von Autoren, die sich längst ins helvetische Bewusstsein eingebrannt haben. Schön, das es das gibt, auch wenn damit Schwergewicht gegen Neuling, Tradition gegen Aufbruch, Vielgenannt gegen Überraschung antritt.

Als offizieller Begleiter des Schweizer Buchpreises kommentiere ich auf meiner Webseite meine ganz persönliche Einschätzung, rezensiere die nominierten Bücher, führe Interviews und bin im Austausch mit den beiden weiteren Literaturblogs lesefieber.ch und eselsohren.ch.
Ganz besonders freuen würde ich mich über ihre Einschätzung, liebe Leserinnen und Leser: Welchem Buch geben Sie Ihren Vorzug? Schreiben Sie eine Mail unter «Kontakt«! Vielen Dank!

Thomas Röthlisberger «Steine zählen», edition bücherlese
Südfinnland: Henrik Nyström, der lokale Polizeibeamte, fährt hinaus zu einer Bauernkate in der Nähe des Vehkajärvi-Sees. Auf der Polizeistelle ist ein Anruf eingegangen, der alte Matti Nieminen habe auf seine Frau Märta geschossen, die ihn nach vierzig Jahren Ehe verlassen wolle. Auch Olli, der Sohn der Nieminens, ist auf dem Weg zum Elternhaus, weil er wieder einmal in Geldnöten steckt und sich einen Zuschuss der Mutter erhofft. Als der Polizeibeamte auf dem Hof eintrifft, findet er den alten Matti auf dem Schotterplatz vor dem Haus in einer Blutlache liegend. Aber Nieminen ist nicht tot. Und die Schusswunde scheint er sich selbst beigebracht zu haben. Was war hier vorgefallen? War Olli bereits hier gewesen, dem Nyström auf der Herfahrt begegnet war, oder hatte Arto die Finger im Spiel, der Schwager, den Matti tödlich hasst? Oder gar Pekka, der frühere Liebhaber von Märta, der seit Jahren als verschollen gilt?
Ein tiefgründiger Roman über das Menschliche und das Unmenschliche, die oft so nahe beieinanderliegen, dass die Grenze erst erkennbar wird, wenn es zu spät ist.

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer
«Pass dich an, dann überlebst du», bekommt der elfjährige Arthur Goldau zu hören, als ihn seine Mutter im Herbst 1963 im Klosterinternat hoch in den Schweizer Bergen abliefert. Hier, wo schon im September der Schnee fällt und einmal im Jahr die österreichische Exkaiserin Zita zu Besuch kommt, wird er zum «Zögling 230» und lernt, was schon Generationen vor ihm lernten.
Doch das riesige Gemäuer, in dem die Zeit nicht zu vergehen, sondern ewig zu kreisen scheint, birgt ein Geheimnis: Ein immens wertvoller Diamant aus der Krone der Habsburger soll seit dem Zusammenbruch der österreichischen Monarchie im Jahr 1918 hier versteckt sein. Während Arthur mit seinen Freunden der Spur des Diamanten folgt, die tief in die Katakomben des Klosters und der Geschichte reicht, bricht um ihn herum die alte Welt zusammen. Rose, das Dorfmädchen mit der Zahnlücke, führt Arthur in die Liebe ein, und durch die Flure weht Bob Dylans «The Times They Are a-Changin'».

Lioba Happel «POMMFRITZ aus der Hölle», edition pudelundpinscher
Pommfritz, der Ich-Erzähler des neuen Romans von Lioba Happel, schreibt an seinen Vatter in den Emmentälern, den er vor langer Zeit einmal zu Gesicht bekommen hat, aus der Hölle seines Lebens. Er berichtet von der Kindheit, die er, angebunden an ein Tischbein, fliegentötend, bei einer gewalttätigen, schweigsamen, Grillhühnchen und Pommes verschlingenden Mutter verbringt; von den Besuchen der Angelina vom Sozialamt, einem Wesen zwischen Rosenduft und Formularfrust, und wie die Mutter sie in die Pfanne haut; von härtesten Prüfungen unter den Jugendlichen in der Spezialschule; von seiner Liebe zur Prügellilly, deren schlagkräftige Zärtlichkeit die der Mutter noch übertrifft; und von der Einzelhaft im Gefängnis, wo er auf der untersten Stufe der Verbrechen steht denn er hat seine Mutter getötet und danach verspeist naja, Stückchen von ihr, ne Kuppe vom Finger. Pommfritz, der in Lachen ausbricht, wenn sich die Hölle auftut, ist ein Anti-Held, wie es in der Literatur nicht viele gibt, ein unglückseliges Monster. Lioba Happel, die 2021 den Alice-Salomon-Poetik-Preis erhielt, ist eine Dichterin des Randständigen. In ihrem halsbrecherischen Roman an der Grenze zum Gesagten und Sagbaren spannt sie ein schwankendes Erzählseil über den Abgrund des Schweigens. Auch der Briefeschreiber Pommfritz bekommt keine Antwort. (Jan Koneffke)

Simon Fröhling «DÜRRST«, Bilgerverlag
Ein waghalsiger Roman, der den Bogen von James Baldwins »Giovanni’s Room« zu Fritz Zorns »Mars« und bis hin zu Édouard Louis’ »Im Herzen der Gewalt« spannt.
«DÜRRST»–  Simon Froehlings zweiter Roman entführt uns nach Athen, Kairo, Edinburgh, Berlin und Zürich, hinein in die Landschaft eines exzessiven, auseinanderbrechenden Lebens. In der paradoxen Realität scheinbarer Freiräume der Besetzer-, Kunst- und Schwulenszene mäandernd erzählt Simon Froehling den Weg einer brutal schmerzhaften Selbstfindung in Bildern von stupender Schönheit.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont
Die Erzählfigur in «Blutbuch» identifiziert sich weder als Mann noch als Frau. Aufgewachsen in einem schäbigen Schweizer Vorort, lebt sie mittlerweile in Zürich, ist den engen Strukturen der Herkunft entkommen und fühlt sich im nonbinären Körper und in der eigenen Sexualität wohl. Doch dann erkrankt die Großmutter an Demenz, und das Ich beginnt, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen: Warum sind da nur bruchstückhafte Erinnerungen an die eigene Kindheit? Wieso vermag sich die Großmutter kaum von ihrer früh verstorbenen Schwester abzugrenzen? Und was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Die Erzählfigur stemmt sich gegen die Schweigekultur der Mütter und forscht nach der nicht tradierten weiblichen Blutslinie.
Dieser Roman ist ein stilistisch und formal einzigartiger Befreiungsakt von den Dingen, die wir ungefragt weitertragen: Geschlechter, Traumata, Klassenzugehörigkeiten. Kim de l’Horizon macht sich auf die Suche nach anderen Arten von Wissen und Überlieferung, Erzählen und Ichwerdung, unterspült dabei die linearen Formen der Familienerzählung und nähert sich einer flüssigen und strömenden Art des Schreibens, die nicht festlegt, sondern öffnet.

Illustrationen © leafrei.com

Noch eine Bemerkung zu den Illustrationen in den Beiträgen zum Schweizer Buchpreis: Die junge Illustratorin Lea Frei zeichnet seit 2019 Cover und Porträts der Nominierten für die Beiträge auf literaturblatt.ch. Die Künstlerin veredelt damit die Beiträge auf dieser Webseite, sie gibt Büchern und AutorInnen und nicht zuletzt dem Schweizer Buchpreis einen ganz individuellen Auftritt. Herzlichen Dank!!!

Florian Vetsch «Paul Bowles The Garden / Der Garten», Bilgerverlag

Bowles‘ Stück «The Garden» wurde 1967 zwar uraufgeführt – aber bisher nie veröffentlicht. Florian Vetsch, der mit Bowles (1910–1999) befreundet war, arbeitete zusammen mit dem Autor an einer Buchfassung des Stücks, das nun, 55 Jahre nach der Uraufführung in Tanger, vorliegt. Kaum einer kennt die Welt der Beatniks und deren Werke besser als Florian Vetsch. Als Herausgeber schrieb Vetsch (zusammen mit Boris Kerenski) bereits mit dem legendären «Tanger Telegramm» Geschichte.

Paul Bowles (*1910 Long Island, NY, †1999 Tanger) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Komponist. Autor von vier Romanen, Short Stories, Reiseberichten, autobiografischer Prosa, Gedichten und einem umfangreichen Briefwerk. Sein Roman «The Sheltering Sky» (1949; dt. Himmel über der Wüste) wurde durch Bernardo Bertoluccis Verfilmung (1990) zu einem zweifachen Welterfolg – er zählt zu den Schlüsselromanen des 20. Jahrhunderts.

Paul Bowles «The Garden/Der Garten», übersetzt und herausgegeben von Florian Vetsch und von Dario Benassa gestaltet, Bilgerverlag, 2022, 184 Seiten, CHF 56.00, ISBN 978-3-03762-094-6

Paul Bowles gilt als exilamerikanischer Repräsentant des Existenzialismus sowie als Bindeglied zwischen der Lost- und der Beat-Generation. Im Verlauf seines Lebens unternahm Bowles ausgedehnte Reisen durch Europa, Nordafrika, Asien, Mittel- und Südamerika. In jungen Jahren prägten ihn in Paris der Surrealismus und Gertrude Stein, in Hannover Kurt Schwitters. Auf Gertrude Steins Rat hin war der kaum 20-Jährige 1931 erstmals nach Tanger aufgebrochen; er verfiel dem Zauber der weissen Stadt an der Strasse von Gibraltar auf Anhieb.

In New York, wo er 1938 die Schriftstellerin Jane Auer heiratete, arbeitete er als Rezensent und komponierte für den Broadway. 1947 wanderte er, angetrieben von einem Traum, nach Tanger aus; 1949 folgte ihm seine Frau Jane Bowles. Das Paar unterhielt einen legendären Salon, den zahlreiche illustre Persönlichkeiten frequentierten. Paul Bowles wurde zur Legende, zum »Titanen von Tanger«, dessen Bücher, um nur wenige zu nennen, Truman Capote, Tennessee Williams, Jack Kerouac, Susan Sontag und Patricia Highsmith magnetisch nach Tanger zogen.

Paul Bowles’ Übersetzungen haben eine Handvoll marokkanischer Erzähler im Westen zu viel beachteten Autoren gemacht, darunter Mohamed Choukri und Mohammed Mrabet.
1959 realisierte er für die Library of Congress ein musikethnologisches Projekt und zeichnete in 250 Tonbandaufnahmen traditionelle marokkanische Musik auf. Seine Kompositionen – Orchesterwerke, Kammermusik, Lieder – wurden 1995 in New York vom Eos Ensemble unter der Leitung von Jonathan Sheffer aufgeführt und frenetisch gefeiert. Mit seinem Tod am 18. November 1999 endete in Tanger eine Ära.

Die von Florian Vetsch herausgegebene und von Dario Benassa gestaltete Ausgabe präsentiert das Bühnenstück The Garden (1967) von Paul Bowles weltweit zum ersten Mal: zweisprachig (nur der Theatertext), ausgestattet mit zahlreichen atmosphärischen Illustrationen aus der Zeit. Die vorliegende Erst- und Originalausgabe erzählt die spannende Genese dieses Bühnenstücks und nähert sich aus verschiedenen Perspektiven dem rätselhaften Sinn der brandaktuellen Parabel an.

«Seite für Seite genau angeschaut. Ich bin begeistert. Eine editorische und verlegerische Grosstat! Es ist auch bewundernswert, mit welch Ausdauer und Spürsinn Florian Vetsch alle diese Dokumente aufgespürt hat!» Joachim Sartorius in einer Mail an den Verlag

Wenn sie jodelt – Silvia Tschui mit „Der Wod“

Wie gegensätzlich Literatur, wie unterschiedlich die Motivation ein Buch zu schreiben sein kann, bewiesen die Literaturtage Zofingen, die den Umständen geschuldet, den Fokus ganz auf die CH-Literatur richteten. Zwei Bücher zeigen die Breite des Spektrums ganz deutlich: «Der Wod», ein Gehörnter, der durch ein Jahrhundert Familie wütet und «Lamento», ein Abschiedsbrief an einen guten Vater.

Klar, man kann zuhause auf dem Sofa lesen. Dieser Tage erst recht, weil Spaziergänge kürzer werden, der Winterschal aus der Versenkung geholt wird und geprüft werden muss, ob das Schuhwerk, das vor der Eingangstür steht, dem Wetter entsprechend ist. Die beiden Schriftstellerinnen Susanna Schwager und Silvia Tschui bewiesen ziemlich deutlich, warum man einen Spaziergang manchmal länger werden lassen muss, um sich an einem Literaturfest wie in Zofingen von gemachten Vorstellungen zu trennen. Zum einen davon, dass die Auseinandersetzung mit Vätern und Müttern nicht immer aus Übergriffen, Schmerz und Verletzungen resultieren müssen. Und zum andern, dass Lesungen aus Büchern gut gepolstert, mit bedeutungsreichen Gesten und stets besonnen und brav vorgetragen werden müssen, sogenannte „Wasserglaslesungen“ längst nicht mehr Darbietungen von verdichteter Sprache allein repräsentieren.

© Ayse Yavas

Susanna Schwager hat mit ihren literarischen Reportagen, Büchern wie «Fleisch und Blut» oder «Das volle Leben» eine breite und treue Leserschaft gefunden. Bücher, die sich mit Menschen befassen, Bücher, bei denen die Autorin nach Antworten sucht. «Lamento – Brief an einen Vater» schert für einmal gleich mehrfach aus Mustern aus. «Lamento» ist keine Abrechnung an einen Vater, den man gerne anders gehabt hätte, an dem man ein Leben lang leiden musste. «Lamento» ist ein langer Brief an einen guten Vater, eine Ode an die Liebe einer Tochter zu ihrem Vater. Eine Liebe allerdings, die es in den letzten Monaten vor dem Tod des Vaters immer schwerer hatte, die akzeptieren musste, dass nicht nur eine Krankheit Stück für Stück des Vaters entfernt, sondern auch die Maschinerie einer auf Effizienz getrimmten Medizin und ihrer Institutionen. Zum andern musste sich Susanna Schwager für dieses eine Buch, das mit Sicherheit ihr persönlichstes ist, die Antworten auf ihre Fragen selber geben. «Lamento» ist ein zärtliches, behutsames Buch, das trotz alles Intimität Lesende zwingt, sich mit der eigenen Endlichkeit auseinanderzusetzen.

Susanna Schwager im Gespräch mit der Moderatorin Nicola Steiner und der Schriftstellerin Ariela Sarbacher («Der Sommer im Garten meiner Mutter«)

Wie anders «Der Wod» von Silvia Tschui! Wann gibt es das schon: eine Schriftstellerin singt, jodelt, rockt, interagiert mit dem Publikum. Keine Spur von «Liebreiz» und sprachlichen Streicheleinheiten. Silvia Tschui schöpft aus dem Ganzen, macht Literatur zu einem Feuerwerk. Sie lässt ein ganzes Jahrhundert auftanzen, lässt es krachen, treibt einen wilden Wod, einen Gehörnten, den man nicht ungestraft aus dem Verborgenen holt, der eine Familie durch ein ganzes Jahrhundert jagt, durch Krieg und Vertreibung, Lügen und Tod. Silvia Tschui bricht aus, nicht nur in ihrer Performance auf der Bühne zusammen mit dem Gitarristen und Komponisten Philipp Schaufelberger, auch sprachlich, denn es ist, als ob das von ihr ausgebreitete Jahrhundert nur die Bühne sei, um ihrer virtuosen Sprache den nötigen Platz zu verschaffen. Silvia Tschui ist ein Tausendsassa, erfrischen vielseitig, ein Paradiesvogel in der sonst manchmal etwas biederen Literaturlandschaft Schweiz.

«Ich habe kein Buch in der Schweizer Literatur angetroffen, das solch einen Sog entwickelt.» Julian Schütt, Buchzeichen SRF

Webseite von Susanna Schwager

Webseite von Silvia Tschui

Karin Richner «Der Traum des Walnussbaums», bilgerverlag

Knackt man eine Walnuss, sieht das Innere einem Hirn sehr ähnlich; gespeicherte Zeit – gespeicherte Erinnerung. Karin Richner hat mit ihrem neuen Roman „Der Traum des Walnussbaums“ ein Buch über die Zeit geschrieben, über Erinnerungen, die mit ihr verblassen und entschwinden oder mit einem Mal wieder auftauchen. „Der Traum des Walnussbaums“ ist eine literarische Kostbarkeit, der ich jedes mögliche Podest wünsche!

Es hat acht Jahre gedauert, bis nun endlich ein neues Buch der Sprachkünstlerin meine Neugier stillt. Ein Buch, das trotz seiner Erzählspanne von fast 500 Jahren den Bogen in keiner Weise überspannt. Von 1874 bis 2351 erzählt Karin Richner von den Jahrringen einer um Dasein und Überleben kämpfenden Spezies. Ein Buch, das in sechs Kapiteln aus der Perspektive sechs verschiedener Menschen von dem erzählt, was wir in unserem Alltag viel zu leichtsinnig in Stein gemeisselt sehen; eine Welt, die wir zu kennen glauben, eine Welt, die immer so bleiben wird und muss, wie sie sich aktuell zeigt oder wie wir mit Bedacht einzublenden versuchen. Dabei ist nichts, wie es ist, weder die Gegenwart so, wie sie sich uns zeigt, noch die Zukunft, wie die Gegenwart verspricht. Alles ist im Fluss und nichts und niemand kann vorhersagen, ob dieser mäandernde Fluss nicht plötzlich das Ufer aufbricht und einen ganz anderen Lauf nimmt.

„Der Traum des Wahlnussbaums“ widerspiegelt etwas von dem, was passiert, wenn ich durch den nahen Wald meines Wohnorts spaziere, vorbei an all den knorrig alten Eichen, die schon so lange stehen und in ihren Jahrringen Dinge speichern, die längst jeder Erinnerung entglitten sind. Aber Karin Richner tut dies in keiner Weise in einer verklärten, übersinnlich entrückten Säuselei, sondern so wie in den drei Kapiteln vor der Gegenwart absolut sachlich und die Wirklichkeit respektierend, auch in den drei Kapiteln in der Zukunft. Einer Zukunft, die unseren Planeten im kommenden Jahrhundert in einen Krieg der Kontinente manövriert und „über die Erde fegt wie ein alles verschlingender Dämon“. Wie sich aus der verbrannten Erde erst mit den Jahrhunderten ganz langsam wieder scheues Leben hervorwagt und das, was von der Menschheit übrig geblieben ist, sich aus ihren unterirdischen Bunkern wieder hervortraut.

Karin Richner «Der Traum des Walnussbaums», bilgerverlag, 2021, 186 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03762-092-2

Karin Richners Roman ist keine Dystopie im eigentlichen Sinn, viel mehr ein Entdecker:innenroman, ein Abenteuerroman. Ein Roman, in dem jene Sorte Mensch die Hauptrolle spielt, die nicht an Macht und Reichtum interessiert ist, sondern die in erster Linie verstehen will. Die sich auf die Suche macht, die sich nicht in ein dumpfes Dahinvegetieren ergeben hat, die aufbrechen will, die weiss, dass es hinter allem etwas Anderes, Neues zu entdecken gibt. 

Immer wieder ranken die Geschichten um das Leben in einer Universität, an den Orten, an denen Wissen und Erfahrung gespeichert ist, an denen Menschen forschen, festhalten und kombinieren, die zum Humus werden für all die Bäume, die in den Himmel wachsen sollen. Selbst die apokalyptischen Kriege der Zukunft werden diese Speicher der Erinnerungen nie ganz auslöschen können. Beschädigen leider schon, aber niemals dem menschlichen Hunger nach Erkenntnis entziehen.

Was mich neben Karin Richners erzählerischem Wagnis aber noch viel mehr überzeugt, bewegt und fasziniert, ist eine ausgereifte, farbige Sprache. Die satten Bilder, die Räume, die sie mit wenigen Sätzen zu erschaffen versteht. Die Nähe zu den Personen, obwohl sie sich auf ein halbes Dutzend Protagonist:innen konzentriert – auf nicht einmal 200 Seiten. Man liest dieses Buch mit hochgezogenen Brauen, klappt es am Schluss nicht einfach zu, sondern schliesst es ganz langsam, um mit allen Sinnen noch lange im Nachhall dieses Kunstwerks zu bleiben.

Und dann ist da noch das Buch als haptisches Objekt selbst. Der Verleger Ricco Bilger schafft es immer wieder meisterlich, jedem seiner Bücher jenes Gewand zu geben, das ihm entspricht. Als hätte er wirklich einen Finger mehr in seinem verlegerischen «Händchen».

Hätte ich einen roten Teppich; ich würde ihn vor der Autorin ausrollen!

Interview

Dass jemand mit einem Roman so viel Mut zeigt, ist schon beachtlich genug, denn jedes Experiment birgt auch vielfältige Möglichkeiten des Scheiterns. Sie spannen den Bogen weit, ohne ihn in irgend einer Weise zu überspannen. Schrieben Sie mit einem Plan? War da von Anfang an eine Idee, die sich durchsetzte?
Die Idee war anfangs, wie immer bei meinen Romanen, eher vage. Ich suchte nach einer Möglichkeit, verschiedene Lebensgeschichten – die zu verschiedenen Zeiten spielen – auf irgendeine Weise zu verknüpfen, mehr wusste ich nicht. Der Text hat sich aus dieser Grundidee allmählich entwickelt, und irgendwann wurde dann klar, wie die genaue Umsetzung sein sollte. Dass diese Form ein Experiment ist und ich damit scheitern kann, war mir ebenfalls bewusst… wenn ich aber überzeugt bin, dass ein Text die Form gefunden hat, die er natürlicherweise in sich trägt, spielen solche Überlegungen für mich keine Rolle. 

Tapetenstücke aus dem Aarauer Altstadthaus, in dem die Autorin eine Weile wohnte.

Ein Walnussbaum lässt im Herbst seine Nüsse fallen, und legt sich jeden Winter einen weitern Jahrring zu. Jede Nuss, jeder Jahrring etwas gespeicherte Zeit. In Ihrem Roman geht es um Zeit, Erinnerung und das Vergessen. Leben wir zu wenig im Bewusstsein unserer eigenen Nichtigkeit?
Ich glaube – ich empfinde das anders – das Leben eines Einzelnen kann vielleicht nichtig erscheinen, vor allem im grossen Zusammenhang der Menschheitsgeschichte, in Wirklichkeit ist aber die Existenz jedes Menschen von absoluter Bedeutsamkeit. Weil jedes Individuum diese Geschichte ja mitformt, und weil zudem jeder Mensch ein einzigartiges Wesen hat. 

Über Jahrhunderte war es der Mensch, der die Welt in eine Form zu fassen versuchte. Er baute Gärten und Parks, um in menschlicher Ästhetik die Natur zu optimieren. In der Zukunft ihres Romans hat sich der Mensch mit seiner reduzierten Natur unter Kuppeln zurückgezogen, weil das, was von der Natur übrig geblieben ist, menschenfeindlich wurde, zumindest für einige Jahrhunderte. Ist nicht selbst dieses Szenario ein optimistisches?
Dem würde ich zustimmen. Der optimistische Grundgedanke zieht sich durch den gesamten Roman, und er zeigt sich auch in diesem Szenario. Der Mensch adaptiert sich immer an veränderte Umstände, und er bleibt dabei menschlich: Beziehungen, Empfindungen, die Verbundenheit mit der Natur – all das ist in seinem Kern unveränderlich.

Büchern wird es in „Ihrer Zukunft“ fast keine mehr geben, dafür fleissige Archivare, die in endlos scheinender Kleinarbeit aus den Schutthalden zerbombter Bibliotheken nach dem Prinzip Zufall das Wenigste zu retten versuchen. Man hat den Tod des gedruckten Buches schon oft prophezeit. Aber wenn man auch in nächster Zukunft so rabiat mit den natürlichen Ressourcen umgeht, werden Bibliotheken mit Papier wohl zu Museen und Bücher zu Sonderanfertigungen für Sammler. Können Sie sich eine Wohnung ohne Bücher vorstellen? Eine Wohnung, in der Sie sich zuhause fühlen?
Generell denke ich nicht gerne in absoluten Kategorien. Wird die Welt der Zukunft eine bücherlose sein, wird es dafür anderes geben – Dinge, die wir uns nicht vorstellen können, bevor es sie gibt, und über welche die Menschen sagen werden: Wie hat man jemals ohne sie leben können? Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich bin mit Büchern aufgewachsen, und wenn ich gegenwärtig die Möglichkeit habe, fülle ich mein Zuhause damit, aber wer weiss, welche veränderten Umstände mit dem Verlust von Büchern Hand in Hand gehen würden… vielleicht würden sie mir dann gar nicht fehlen. Veränderung war von Anfang an Bestandteil der Menschheitsgeschichte.

Zwei Männer reiten durch die Landschaft, dorthin, wo sie den Niedergang eines Meteoriten vermuten. Sie suchen und finden ihn, einen faustgrossen Brocken, der auf seiner unendlich scheinenden Reise durchs All auf der Erde einschlug. Ein Stück Materie gewordene Ewigkeit. Dabei trägt doch jeder Stein diesen Code in sich. Selbst wir Menschen. Ist es die Gier des Entdeckers, die die Bergung dieses Steins zur Besonderheit werden lässt?
Vielleicht empfindet man einen Meteoriten als etwas Besonderes, da er lange Zeit fern von der Erde existiert hat – er stellt eine Verbindung zur Unendlichkeit des Weltalls dar. Zudem sind Meteoriten rar, und das Seltene ist immer auch etwas Aussergewöhnliches. Im Fall des betreffenden Protagonisten kommt aber ganz bestimmt auch die Persönlicheit des Entdeckers hinzu.

Karin Richner, geboren 1980, lebt und arbeitet in Aarau. Sie studierte an der Universität Basel Deutsch, Englisch und Geschichte. 2007 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium von Pro Helvetia und einen Werkbeitrag des Aargauer Kuratoriums. Ihre Werke erscheinen im bilgerverlag.

Beitragsbild © Dieter Kubli

Quentin Mouron «Extrait de L’Âge de l’héroïne» Plattform Gegenzauber

Dans une ruelle piétonne de Prenzlauer Berg, coincée entre un bar à bières et un fast-food coréen, la Librairie du Nouveau Monde est le paradis du bibliophile.
– Vous avez la forme d’une libraire, mademoiselle Schulz. Vous n’avez pourtant pas une coiffure qui vous distingue, disons, d’une teinturière ou d’une enseignante au primaire (même s’il est exclu que vous soyez plasticienne ou coach en séduction). Vous n’avez pas non plus un regard, un sourire ou des mimiques qui vous trahissent. Il n’existe pas, spécifiquement, de nez de libraire, de sourcil de libraire, de carnation particulière; beaucoup de gens portent le même nez que le vôtre. Pourtant, en regardant votre visage, et pour peu que l’on sache différencier une femme d’une autre, on ne peut que s’écrier : «Voici une libraire!» Ce n’est pas tel élément singulier qui se surajoute à votre visage; c’est tout un masque qui se compose, lentement, en imperceptibles mouvements de fond. Vous deviendrez de plus en plus libraire, mademoiselle. Vous vous aggraverez. Les contours de votre visage, de votre masque, de votre vie (ces mots sont synonymes), seront de plus en plus nets. Oh, vous ne faites pas que vendre des livres, je le sais bien! Vous pratiquez la randonnée, la cuisine asiatique, vous donnez pour les aveugles et vous aimez, tard le soir, vous enfiler un doigt dans le derrière en écoutant Beethoven (particulièrement le majeur, particulièrement les derniers quatuors). Pourtant, vous serez toujours une libraire qui randonne, une libraire qui cuisine, une libraire qui donne – et une libraire qui se socratise lorsqu’elle rentre chez elle.
Mademoiselle Schulz pouffe.
– Et qui vous dit que j’attends toujours d’être rentrée chez moi?
Franck sniffe un trait de cocaïne à même la couverture du Tanzaï et Néadarné de Crébillon fils (dans l’édition Pékin Lou-Chou-Chu-La de 1734). Après avoir reniflé bruyamment, il dit, amusé, presque hilare:
– Voyons, mademoiselle, vous n’avez eu ici de plaisir que vaguement intellectuel, discrètement historique. Votre jouissance se tient quelque part entre la poussière et le néant. Mais votre provocation vous a coûté une rougeur; n’investissez pas à perte! Tournez-vous, je vous prie!
Ayant troussé la vieille libraire, Franck baise langoureusement son cul. Elle proteste. Il ne lui en maintient les cuisses que plus fermement; il y plante les ongles. Il se réjouit de ces fesses ridées comme d’un festin précieux. Il hume, il embrasse, il lèche, il mord. «Pas comme cela, Franck! se récrie la libraire. Vos doigts, vous me promettez vos doigts! Et voilà que vous m’arrosez de postillons, me faites la croupe en bave, me sarclez de morsures! Pour qui vous prenez-vous?» Elle se redresse, furieuse.
– Pardonnez mon appétit. J’ai toujours quelque répugnance à me servir de mes mains, sauf s’il s’agit de faire craquer une reliure ou de tuer un homme.
La vieille glousse.
– Voilà l’une de vos phrases, de vos trouvailles, suffisantes pour éblouir vos pucelles, vos bardaches. Avec moi, ça ne prend pas. Ouvrez-moi le cul et fermez votre gueule.
– Si la Poésie s’en mêle!
Franck retire sa chevalière, qu’il pose sur la table. Il inspire profondément et glisse son majeur entre les fesses de la libraire, puis son index. Il la débourre enfin à quatre doigts; il la fait virevolter dans les coins, sur les «éditions originales», sur les «autographes», sur les «beau papier», tous les «Hollande», tous les «Japon», tous les «maroquins rouges». Les amants tournoient. Le sol craque, tremble. Ils percutent une étagère. Bam! Trois Marmontel en tombent. Ils achoppent contre un pupitre: quatre Ronsard. Ils repartent en arrière, piétinent indifféremment Cazotte, Chénier et Thiers. Cette débauche! C’est un affolement. C’est une furie. Les vélins volent! Verlaine y passe. Sa poésie. Sa prose. En feuillets libres, en pluie d’agrafes. Les deux amants bondissent de l’autre côté de la pièce. Index, majeur, annulaire. Franck entonne un chant letton. Ils glissent sur un «grand format» ;Restif de la Bretonne. Ils se reprennent in extremis.» L’arrière-boutique! L’arrière-boutique!» glapit mademoiselle Schulz. Ils y parviennent; c’est une forêt de «débrochés», de «désagrafés», d’in-folio sans ordre ni rigueur. Ils s’y faufilent, y rèptent, s’y lovent – tout au cœur. L’Histoire. La Culture. La Poussière. La touffeur de tout ça! L’étranglement par les racines. Et les milles insectes, les cancrelats poilus, les mites tenaces. Les voilà pris à la gorge, aux organes, investis de haut en bas. Ils sont maintenant pressés de finir. Franck s’ankylose, il se sent las, il se sent triste. La douairière beugle, se tord, elle vesse profusément. Elle s’effondre, finalement, sur les œuvres complètes de Montesquieu (Belin, 1817).
Mademoiselle Schulz reprend place derrière le bureau de chêne. Légèrement rouge, elle roule une cigarette en lorgnant Franck qui dispose une autre ligne sur la couverture du Crébillon.
– Etes-vous toujours convaincu que je ne sois qu’une libraire, mon ami?
– Par la gueule et par le cul, pour pasticher votre poésie.
– Mais vous-même, Franck…
Il sourit.
– Je vous interdis de parler de moi.
Franck referme le volume de Tanzaï et Néadarné. Il glisse trois billets de cinq-cents euros sur le comptoir, baise brièvement la bouche de mademoiselle Schulz, et sort de la librairie. À côté, le fast-food coréen promet une réduction sur le bibimbap végétalien.

Quentin Mouron: «L’Âge de l’héroïne» (Editions La Grande Ourse, Paris 2016)

Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec. Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Rezension von «Notre-Dame-de-la-Merci» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Bilgerverlag

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Quentin Mouron „Vesoul, 7. Januar 2015“ und „Heroïne“, Bilger


Auf dem Cover des französischen Originals von Quentin Mourons jüngstem Roman „Vesoul, le 7 janvier 2015“ (Olivier Morattel Éditeur, Dole 2019) springt einem ein Porträt des Schriftstellers entgegen: Quentin Mouron, 1989 in Lausanne geboren und in Québec, Kanada, aufgewachsen, hält ein brennendes Buch in Händen und blickt dem Betrachter direkt in die Augen: „Na, was denkst du hierüber?“, scheint er zu fragen, „verstehst du, dass die Kultur brennt, dass sie nicht mehr greift, dass wir in einer sinnentleerten Welt leben?“

Gastbeitrag von Florian Vetsch, Autor, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer und deutscher Beatliteratur

Satirisch, illusionslos, dystopisch – thrilling

«Vesoul, 7. Januar 2015» ist Quentin Mourons viertes Buch, das im Bilgerverlag auf Deutsch erschienen ist. Es ist eine Burleske, eine Groteske, ein Absurditätenkabinett sondergleichen. Hansruedi Kugler bezeichnete es im «Tagblatt» vom 13. Juni 2020 als «eine originelle Zeitgeistsatire mit der Figur eines postmodernen Picaro, einem Nachfolger des Schelmenromans. Der unbeschwerte Freigeist und smarte, ideologie- und bindungslose, arrogante Snob und Genfer Vermögensberater nimmt den Erzähler als Autostopper mit zu einem Kongress in Vesoul, den Hauptort des Departements Haute-Saône in der Region Bourgogne-Franche-Comté in Frankreich. Dort geraten sie in einen «Tag der Republik» und damit auf einen grotesken Marktplatz mit pazifistischen Neonazis, Sittenpolizisten in der Literatur, Verschwörungstheorien und Avantgardekünstlerinnen.»

Quentin Mouron «Vesoul, 7. Januar 2015» (aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller), Bilgerverlag 2020, 120 Seiten, CHF 24.00, ISBN 978-3-03762-086-1

Das Buch entpuppt sich als Polemik gegen die Verwerfungen unserer Zeit, gegen Ideologien, welche die Gesellschaft spalten, und gegen die Eiseskälte des Kapitalismus. Doch Moralisten seien mit diesem Zitat, das keinen Tabubruch ausschliesst, vorgewarnt: «Der Picaro kennt kein Schuldgefühl, es ist daher normal, dass in seiner Umgebung das Schamgefühl nach und nach verschwindet. Der pikareske Manager, wie ihn unsere Banken, unsere Start-ups, unsere Kunsthochschulen hervorbringen, zeichnet sich dadurch aus, dass er sich überall anzubiedern versteht, sich in jeder Situation den Rahmenbedingungen anpasst.»

Quentin Mouron «Heroïne» (aus dem Französischen von Andrea Stephani und Barbara Heber-Schärer), Bilgerverlag, 2019, 128 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-03762-078-6

Quentin Mouron gilt als der Tarantino der Schweizer Gegenwartsliteratur, als Genie des Roman noir zumal. Sein Stil ist filmisch, szenisch, atmosphärisch dicht, dabei welthaltig und anspielungsreich. Schon seine beiden ersten Bücher, «Notre-Dame-de-la-Merci» – eine unglaublich traurige Winterballade aus Kanada – und «Drei Tropfen Blut und eine Wolke Kokain» – eine Revolvertrommel an Suspense –, haben diesem Autor im deutschsprachigen Raum begeisterte Kritiken und eine wachsende Leserschar eingetragen. Auch der dritte Roman fasziniert als ein Krimi der besonderen Art. «Heroïne» beginnt mit einer «Ouverture baroque», einer vollkommen abgedrehten Sexszene in einem Berliner Antiquariat, welche einem Georges Bataille alle Ehre gemacht hätte. Franck, Leiter eines New Yorker Detektivbüros, aus Hoffnungslosigkeit seit drei Jahren bibliophil, schiebt eine schräge Nummer mit der Buchhändlerin Mademoiselle Schulz. Abends im Hotel bemerkt er, dass er seinen Siegelring im Antiquariat vergessen hat, und kehrt zurück. Dort findet er, angeordnet wie auf einem barocken Stillleben, den Kopf der Buchhändlerin auf einem Silbertablett… Seine Nachforschungen lassen ihn auf einen bestimmten Kunden schliessen, doch erfährt er aus der Zeitung, dass „ein gewisser Wilfried Wagner – der sich Abu Mohammed Daoud al-Bavari nennen lässt –“ die Buchhändlerin enthauptete, nachdem sie sich standhaft geweigert hatte, Voltaires „Mahomet“ aus dem Schaufenster zu entfernen. Mademoiselle Schulz ist nicht die einzige Heldin in Mourons Roman „Heroïne“, der nach der ausschweifenden Eröffnung in eine „Suite classique“ mündet. Darin forscht der Anti-Held Franck nach einer verschollenen Lieferung Heroin und nach dem Mörder des Vaters einer blutjungen Prostituierten, und zwar in Tonopah, einem 2000-Seelen-Krachen im Nirgendwo von Nevada – „einer Wüste in einer Wüste“, einer für Mourons Romane typischen kleinen Ortschaft, die den desaströsen Zustand des grossen Ganzen widerspiegelt (genauso tut dies die kleine Ortschaft Vesoul im eingangs erwähnten Roman). Leah, so heisst die eigenwillige Sexarbeiterin, ist die zweite rätselhafte Heroin, „fromm und verrucht, eine hehre und sich anbietende Jungfrau.“ Sie besorgt hauptberuflich die Bedienung in einem Fast Food, nebenberuflich arbeitet sie daselbst in einer „Besenkammer unter den Postern von Elvis, Spongebob und der Jungfrau Maria.“ Trotz ihrer seelischen Verwüstung setzt Leah, ein in sich zerrissener Charakter, ein Gegenzeichen in dieser trostlosen Welt. „Heroïne“ bietet ein Noir-Set par excellence, vorangetrieben in kurzen kaleidoskopischen Kapiteln, vollgepumpt mit Sex, Drogen und blauen Bohnen – illusionslos, dystopisch, thrilling. 

Quentin Mouron, Schriftsteller und Dichter mit schweizerisch-kanadischen Wurzeln wurde 1989 in Lausanne geboren und verbrachte seine Kindheit in Québec.
Er schrieb bisher fünf Romane und avancierte schnell zum Stern am Himmel der jungen Literatur in der Romandie und in Frankreich.

Rezension von «Notre-Dame-de-la-Merci» auf literaturblatt.ch

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literaturblatt.ch fragt Ariela Sarbacher zu ihrem Debüt «Der Sommer im Garten meiner Mutter»

Ariela Sarbacher, kürzlich Gast im Literaturhaus Thurgau, beantwortet Fragen, die ich ihr gerne gestellt hätte.

Dein Buch beginnt mit einer Frage und einer Antwort:
„Mamma, was passiert, wenn man tot ist?“ „Dann wird plötzlich alles dunkel.“ Dein Buch endet mit dem selbstbestimmten Tod der Mutter. Dazwischen liegt alles. Vom Licht, das ausgelöscht wird, bis zum Drang, das Licht selber auslöschen zu wollen. Hat sich dein Verhältnis zu Sterben und Tod durchs Schreiben verändert?
In der Auseinandersetzung um den Entschluss der Mutter lernt Francesca diesen zu respektieren und sie aus der Verantwortung der Mutterrolle zu entlassen. Dadurch ändert sich Francescas Verhältnis zu ihrem Leben. Ihr wird bewusst was es heisst, ganz auf eigenen Füssen zu stehen und für sich selbst weiter zu gehen. Ich selbst habe noch kein Verhältnis zum Tod, ausser, dass ich noch lange hier bleiben möchte.

Du hast in der Ich-Perspektive geschrieben und dabei viel Nähe zugelassen. Warum nicht eine Perspektive aus der dritten Person?
Ich wollte eine eindringliche Erzählperspektive einnehmen, in der sich die Figur der Tochter durch verschiedene Lebensalter hindurch in unterschiedlicher Tonalität mit der der Mutter konfrontiert. Die Unmittelbarkeit war mir wichtig, durch die die Leser sich der Perspektive der Tochter nicht entziehen können und an ihr reiben müssen. Die dritte Person hätte Distanz zwischen den Lesern und dem Text geschaffen.

© Lea Frei/ Literaturhaus Thurgau

Dein Buch erzählt nicht chronologisch, sondern springt in der Zeit, fügt Stücke zusammen. Es gibt ganz lange Einstellungen und ganz kurze. Eigentlich so, wie wirkliches Erzählen passiert. Als sässe man vor einer ungeordneten Schachtel mit Fotografien. Kannst du etwas über die Entstehung deines Buches erzählen, wie sich die Geschichten zusammenfügten?
… ja, so wie wirkliches Erzählen passiert und so wie man auch lebt: mal bin ich ganz gegenwärtig, dann lasse ich mich von der Vergangenheit einholen und vielleicht auch bestimmen, dann träume ich mich vorwärts in eine unbekannte Zukunft, bin wieder hier … Die Stimme der «Kleinen» brachte den Stein ins Rollen. Die Zeitsprünge entstehen jedoch innerhalb einer Chronologie und einer genauen Dramaturgie.

Dein Roman ist durchsetzt mit Gedichten. Du bist Schauspielerin. Die Protagonistin Francesca auch, aufgewachsen in Sprache, in verschiedenen Sprachen. Was bedeutet Sprache im Leben von Ariela Sarbacher?
Knappe Sätze, die in ihrer Aussage verdichtet sind, liegen mir mehr, als das Weitschweifige. In den Gedichten finde ich Ausgleich und Freiheit, komplizierte Sachverhalte in Rhythmus und Klang zu verwandeln, ohne sie ihrer Komplexität zu berauben. Das Gedicht lässt keine Erklärung zu, es spricht für sich. Sprache bedeutet für mich persönlicher Ausdruck – sowohl beim Sprechen als auch beim Schreiben – und, wenn es gelingt, Kommunikation mit anderen. Ich könnte mir nie für mich vorstellen ein Schweigeseminar zu besuchen, das wäre die Hölle! Rückzug ist mir wichtig, aber immer mit der Möglichkeit nach aussen zu kommunizieren. Sprache bedeutet auch Identität.

Keine Angst, dass das in einer zukünftigen Welt immer mehr schwindet oder sich bis zur Unkenntlichkeit verändert?
Ich frage mich manchmal, was die verkürzte schnelle Art der schriftlichen Kommunikation mit uns macht. Kommunikation findet auch auf der nonverbalen Ebene statt. Sprache geht durch den Körper. Deswegen ist es wichtig, den ganzen Menschen gegenüber zu haben. Darin sehe ich eine Gefahr, in dieser zunehmend digitalisierten Welt. Ich fürchte mich vor einer körperlosen Welt, in der man vor allem schaut, tippt und auf dem Bildschirm nur noch den Ausschnitt von sich wahrnimmt, den man wahrhaben will.

© Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter in deinem Roman ist ein schwieriges, weit entfernt von der stets stark idealisierten Kind-Mutter-Bindung. Schon früh macht die Mutter der Tochter klar, dass sie nicht zur Mutter taugt, dass es besser gewesen wäre, es wäre gar nicht soweit gekommen. Schon alleine das wäre Stoff genug für ein Trauma. Aber die Mutter ist ehrlich. Hat Ehrlichkeit Schmerzgrenzen?
Die Mutter ist authentisch und handelt aus Überzeugung, ohne sich darum zu kümmern, wie die anderen damit zurechtkommen. Es ist nicht so, dass sie zur Rolle der Mutter nicht taugt, sie geht in der Rolle nicht auf.

Gibt es eine Beziehung, der man mehr Nähe zutraut, als einer Mutter-Tochter-Beziehung? Warum habe ich den Eindruck, dass die Nähe zu einem Vater nie von dieser Nähe sein kann?
Die Tatsache, dass ein Wesen im Körper einer anderen Person entsteht und neun Monate lang darin heranreift, ist nicht zu unterschätzen.

© Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Francesca wird schon als kleines Kind klar, dass ihre Mamma anders ist, nicht nur in ihrer Art zu gehen, die von einer langen Krankheit in der Jugend der Mutter begründet liegt. Aber Francesca liebt ihre Mutter. Sie verteidigt ihre Mutter, so wie das alle Kinder bis zu einem gewissen Alter tun. So wie alle Kinder ihre Mütter lieben. Aber diese Liebe bleibt ambivalent. Wann wird eine solche Ambivalenz schwierig?
Nicht die Liebe ist ambivalent, sondern das Verhältnis zwischen den beiden.

Irgendwo in der Mitte des Buches steht: „Seit ich zurückdenken kann, bin ich traurig. Die Trauer ist flach. Ich werde sie nicht los.“ Das sind Sätze, die sich eingraben. Und trotzdem ist dein Roman nicht selbstzerfleischend. War das alles Plan oder war das Schreiben intuitiv? Wie erreicht man es, dass der Ton nicht weinerlich wird?
Es freut mich, dass Du diesen Satz erwähnst. Es war der Versuch, der Geschichte auf den Grund zu gehen, da hätte Weinen keinen Platz gehabt, ich wollte die Geschichte ja begreifen, so habe ich sie Stück für Stück fortgeschrieben.

Beitragsbild © Lea Frei / Literaturhaus Thurgau, 

Sommerfest im Literaturhaus Thurgau mit Ariela Sarbacher und «Stories»

Ariela Sarbacher mit ihrem Roman «Der Sommer im Garten meiner Mutter», die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler, die Illustratorin Lea Frei waren die Gäste und Akteure des Sommerfests, dem ersten Programmpunkt in der neuen Saison des Literaturhauses Thurgau.

Vielleicht ist es der Hunger nach Kultur in einer Zeit mit vielfältigen Mangelerscheinungen. Vielleicht ist es die Freude darüber, dass Ariela Sarbacher ihren Roman nun doch noch im Literaturhaus Thurgau präsentieren konnte. Vielleicht aber, wie mit dem Sommerfest, wo so viele Formen des Genusses aufeinandertreffen: Literatur, Musik, Bildkunst, freundschaftliches Zusammensein und etwas für den Gaumen. Aber vielleicht auch, weil mit jeder neuen Programmleitung in einem Literaturhaus der Wind ein bisschen dreht.

«Stories» Christian Berger und Dominic Doppler

Ariela Sarbacher brachte ihren Debütroman „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ mit, der im Frühling dieses Jahres beim Bilger-Verlag in Zürich erschien. Ein beeindruckender Roman, der eine breite und begeisterte Leserschaft fand. Ein Buch, von dem ein Kritiker schrieb: „Sie erzählt von einem Leben, in dem Sprache schon immer nicht nur Mittel zum Zweck des Erzählens war, sondern Elixier, der Stoff, aus dem Leben entsteht, Freiheit und Halt.“

Nach einem lauschigen Vorabend im Garten des Literaturhauses wurden die Gäste Zeugen eines Experiments. Die Schriftstellerin Ariela Sarbacher und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler sahen sich an diesem Abend zum ersten Mal. Das einzige, was in den Wochen zuvor geschah; Ariela Sarbacher verriet den Musikern, welche Textstellen sie lesen, bzw. vortragen wird. Christian Berger und Dominic Doppler sind ein seit vielen Jahren eingespieltes Team. Sie lasen das Buch, spürten sich in den Text hinein. Vor ausverkauften Rängen schwang sich der Text unter dem Dach des Literaturhauses in ganz neue Sphären.

Ariela Sarbacher erzählt von Francesca und ihrer Mutter. Vielleicht erzählt Ariela von sich und ihrer Mutter. Aber eigentlich spielt das nur eine untergeordnete Rolle, denn Ariela Sarbacher schildert eine Mutter-Tochter-Geschichte, eine mitunter schwierige Geschichte. Die Geschichte einer grossen Familie, halb an der ligurischen Küste in Chiavari zuhause, halb am Zürichsee in der Schweiz. Ariela Sarbacher erzählt aus der Ich-Perspektive nach dem Tod, nach einer unheilbaren Krankheit, nach dem selbstbestimmten Sterben der Mutter. 

Jens Steiner, Schriftsteller, Stipendiat der Kulturstiftung Thurgau, Gast im Literaturhaus Thurgau

Francesca hat ihre Mutter bis zum letzten Moment begleitet, einer Nähe, die in starkem Kontrast zu den wenigen Gemeinsamkeiten der beiden sonst steht. Sie ist da, als die Tropfen durch die Kanüle den Geist der Mutter nach wenigen Atemzügen wegdämmern lassen. Sie bleibt. Sie bleibt in der Wohnung. Die Mutter bleibt im Kopf, im Herzen, in den Dingen, die zurückbleiben und nicht einfach zu Staub zerbröseln. „Der Sommer im Garten meiner Mutter“ ist der letzte Sommer. Jene Wochen, in denen sie zusammen sind, aufräumen, ordnen, das Sterben organisieren, Filme schauen, erzählen, streiten, lachen und weinen. So liest sich auch der Roman. Es sind Bilder, die auftauchen, ein langer Gang durch die Geschichte einer ganzen Familie. Nicht chronologisch erzählt, denn niemand erzählt chronologisch. Es sind Geschichten aus den Tiefen der Vergangenheit, Geschichten, die erst auftauchen, wenn sich das Ende abzeichnet. Geschichten, die eine Erklärung sein sollen und wollen dafür, was in diesem Sommer, dem letzten gemeinsamen Sommer, geschieht.

Lea Frei zeichnet.

Francescas Mutter, die als Zwölfjährige durch eine schlimme Blutvergiftung für drei Jahre ans Bett gefesselt war, sich ganz der Hilfe anderer ergeben musste, die die Welt in Büchern an ihr Bett holte und Zeit ihres Lebens alles daran setzte, selbstbestimmt durch ihr Leben zu schreiten, will auch in den letzten Wochen keiner Krankheit, keinem Zustand die Kontrolle über ihr eigenes Selbst, nicht einmal über ihr Sterben übergeben. Ein Entschluss, der für ihre Familie, für Francesca ein Kampf wird, der nicht mit dem Sterben der Mutter zu Ende ist, sondern erst durch das Erzählen ein langsames Ende, eine Versöhnung findet.

© Lea Frei / Literaturhaus Thurgau

Webseite Literaturhaus Thurgau (Wird bald erneuert!)

Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau