Joachim Zelter «Die Verabschiebung», Kröner Edition Klöpfer

Man verliebt sich, zieht zusammen und heiratet. Julia und Faizan tun genau das. Aber nichts scheint im Glück zu enden, viel mehr in Aussichtslosigkeit. Denn Faizan ist Asylbewerber aus Pakistan. Und Julia wollte genau das eine mit Sicherheit nie im Leben: Heiraten. Beide kommen in Deutschland nie an!

Was soll Literatur? Unterhalten? Provozieren? Streicheln? Sticheln? Aufbauen? Niederreissen? Weder das eine noch das andere allein. Im besten Fall mehreres zugleich. Selbst auf die Gefahr hin, das Leserinnen und Leser nicht alles in den Kram passt, was da geschrieben steht. Je mehr ein Buch aus der eigenen Innerlichkeit schöpft, je mehr es die Innenseite eines Autors offenbart, desto grösser das Risiko, mit dem Werk gleichgesetzt zu werden. Joachim Zelter schrieb aus tiefer Betroffenheit einen Roman, der zu tiefst betroffen macht. Einen Roman, den man nur schwer zuhause auf dem Liegestuhl, an der Sonne, am Strand, im Flugzeug lesen kann. Und doch ist sein neuer Roman literarische Auseinandersetzung. Aber die Geschichte für einmal nicht bloss der Träger der Sprache.

„Die Verabschiebung“ macht genau das, was im Titel des Romans passiert: Eigentlich verändert sich nur wenig, ein Buchstabe, und aus einem üblichen Vorgang wird eine Katastrophe. Wir wissen, dass es sie gibt, die Abschiebungen abgewiesener Flüchtlinge, die begleiteten Flüge, diskret, von fremden Augen abgeschottet, die Dramen, die Fesselungen, die Tränen, die Katastrophen. Manchmal dringen sie an die Oberfläche des öffentlichen Interesses, kurzzeitig, wie Strohfeuer. Eigentlich verändert sich nur wenig; meine Perspektive als Leser. Hätte ich Joachim Zelters Buch weggelegt, käme es einer Verweigerung gleich, einem Nicht-hinschauen-wollen.

Joachim Zelter «Die Verabschiebung», Kröner, 2021, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-520-75201-7

2018 wurden aus Deutschland fast 24000 Menschen abgeschoben, in der Schweiz etwas über 3000. Joachim Zelter erzählt ein Stück Geschichte eines Mannes namens Faizan Muhammad Amir. Fiktiv, wie der Autor in einer Vorbemerkung betont: „Dieser Roman ist eine fiktive Geschichte. Darin liegt seine Wahrheit. Es handelt sich um eine literarische, menschliche und gesellschaftliche Wahrheit, nicht um die faktengetreue Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse.“ Faizan floh auf dem Landweg von Pakistan nach Deutschland. Eine Flucht, die beinahe ewig dauerte und mit der Ankunft in Deutschland nie zu Ende war. Aus Pakistan, einem Land mit einer Militärregierung. Aber eben nicht Afghanistan oder Syrien. Faizan lernt Julia Kaiser kennen, auf der Treppe vor einem Tanzlokal; Faizan, der in einer Containersiedlung mit anderen Flüchtlingen auf engstem Raum zusammenlebt, Julia, die ihr Studium abgebrochen hatte und mit einem Job in einer Bücherei ihr enges Leben in den Griff zu bekommen versucht. Sie mögen sich, und weil ein Anwalt meint, es verbessere Faizans Aussichten in Deutschland bleiben zu können, würden sie heiraten, tun sie es. Durchaus aus Liebe, aber eigentlich nur, weil sie die Bürokratie, der Apparat zu diesem Schritt zwingt. Ausgerechnet Julia, die eine Magisterarbeit schrieb über die Zwänge der Institution Ehe, über die Unhaltbarkeit der Ehe, in philosophischer, literarischer, ästhetischer und jeder anderer Hinsicht. Sie heiraten schnell und still. Aber eben dieser Apparat schlägt gnadenlos zurück, denn nun ist staatlich zu prüfen, ob die Ehe zwischen den beiden eine vorgetäuschte Lebensgemeinschaft sei und damit Grund genug, um einer Aufnahme als Flüchtling unabwendbar einen Riegel zu schieben.

Was nach einem Plan aussah, was ein bisschen Hoffnung schenkte, erweist sich als Spiessrutenlauf. Ein Beamter erscheint fast täglich und bohrt. Faizans Panikattaken wachsen. Julia rennt von Amt zu Amt. Ihr Konto rutscht für Anwälte ins tiefrote Minus. Bis dann doch das Kommando auftaucht und Faizan drei Minuten Zeit gibt, das Wichtigste zu packen und einen letzten Anruf zu tätigen.

Erzählt werden die Monate von Johannes, Julias Bruder, der auf den ersten Seiten des Romans eine PIA besteigt, eine Boeing 474 der Pakistan International Airlines. Johannes, der wie alle andern im Umfeld von Julia und Faizan nie ganz begreifen konnte, was die Situation derart entgleiten liess, macht sich nach Pakistan auf, weil es sonst sein 83jähriger Vater getan hätte. Auf die Suche nach der Liebe.

Interview

Ich las dein Buch auf meinem Sofa in meiner Bibliothek. Andere lesen es vielleicht im Liegestuhl, im Flugzeug oder auf El Hierro am Strand. Eigentlich fast unerträglich. Unweigerlich stellt sich ein Gefühl der Scham ein. Muss und soll das passieren? Oder geht es dir gar nicht darum.
Niemand soll sich schämen. Schon gar nicht meine wenigen Leserinnen und Leser. Ich halte es da mit Nietzsche: „Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen.“

„Bitte verlassen Sie die Bundesrepublik Deutschland (könnte auch heissen „Bitte verlassen Sie die Schweiz.“)“ Hinter diesem «Bitte» steckt wenig Bitten, höchstens Schönfärberei. Für die einen logische Konsequenz einer propagierten Flüchtlingspolitik, für die anderen ebenso logische Konsequenz von Unmenschlichkeit und Angst. Ein ewiges Dilemma?
Als Autor interessiert mich weniger dieses Dilemma als vielmehr die euphemistische Sprache, die sich darin entfaltet. Je unmenschlicher die Sätze in ihrer tiefsten Substanz, desto mehr Anästhetikum im Vorgang einer alles benebelnden Sprache. Die ganze Asylverfahrenssprache, die ich in meinem Roman zitiere, sie ist sogar gendergerecht und politisch korrekt bis in die letzte Verästelung verfasst. Dazu noch auf Umweltpapier gedruckt. In jedem Universitätsseminar würde eine solche (sich nach allen Seiten immunisierende) Sprache eine Eins mit Sternchen bekommen. Doch am Ende scheut sie nicht davor zurück, Menschen gegen ihren Willen in ein Flugzeug zu setzen und sie ausser Landes zu schaffen.

Weder Julia noch Faizan entsprechen den Normen. Wer den Normen entspricht, wird vom Apparat in Ruhe gelassen. Sei dies in Deutschland, der Schweiz oder Pakistan. Was du mit deinem Roman tust, entspricht wohl für viele auch schon nicht mehr einer Norm, denn es lässt sich mehr als deutlich eine politische und gesellschaftlich Haltung ablesen. Julia und Faizan bezahlen dafür. Sollten sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht viel mehr „ausserhalb der Literatur“ zu aktuellen Themen äussern? Selbst auf die Gefahr hin, sich damit die Finger zu verbrennen?
Ich selbst tue mich schwer mit punktgenauen Äusserungen zur Politik, gerade ausserhalb der Literatur. Vielmehr neige ich dazu, das Politische direkt (oder indirekt) in die Literatur zu nehmen. Ich denke da an meine Romane SCHULE DER ARBEITSLOSEN, DER MINISTERPRÄSIDENT, UNTERTAN oder IM FELD. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur sehe ich mich da in einer Tradition mit Heinrich Mann oder auch Friedrich Dürrenmatt, den ich in der VERABSCHIEBUNG einige Male erwähne. In der englischsprachigen Welt sind es Autoren wie Jonathan Swift, George Orwell oder Aldous Huxley, alles eminent politische Autoren. Für mich bilden Literatur und Politik keine Gegensätze. Jeder literarische Text ist politisch, selbst dann, wenn er sich unpolitisch gibt. Das Unpolitische ist am Ende noch politischer als das Politische: in seiner völligen Anpassung und Hinnahme bestehender Verhältnisse. Die Frage ist, ob der Autor oder die Autorin davon weiss – oder nicht. 

Wäre Faizan Informatiker, Wissenschaftler, Arzt oder Fussballer bei Bayern München, würde man ihn niemals unfreiwillig mit Begleitschutz in einen Flieger setzen. Man behandelt Menschen nach ihrem möglichst messbaren Wert. Von Menschenmaterial kann man sich sehr effektiv trennen. Davon zeugt die Geschichte. Materialismus bis ins Menschenbild?
Leider stimmt das. Menschen werden sehr stark auf ihre (überwiegend ökonomisch gedachte) Nützlichkeit reduziert, entgegen aller Ethik und auch entgegen des ersten Artikels des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Doch diese Ökonomisierung geht weit über ein Asylverfahren hinaus. Wir sprechen ja auch von unserer Jugend oder von der Bildung als unserem grössten Kapital. Oder von einem Buch als einem hervorragenden Buch, wenn es sich gut verkauft. Das Gegenstück dazu ist der wunderbare Satz von Oscar Wilde: „All Art is quite useless.“ Dieser Satz begründet eine ganze Ethik. 

Julia Kaiser riskiert alles. Das weibliche Urbild der sich Aufopfernden? Hätte die Geschichte auch mit vertauschten Rollen funktioniert?
Eine gute Frage. Doch ich glaube, dass die Geschichte auch mit vertauschten Rollen funktionieren würde. Julia opfert sich zu einem gewissen Grad auf, das stimmt, doch das Wort Aufopferung greift zu kurz. Julia gewinnt auch sehr viel – an Nähe, Wärme, Kraft, Verbundenheit und Zuneigung. So wie umgekehrt die Menschen, die so sehr darauf bedacht sind, alles Fremde von sich zu halten, damit auch viel verlieren. Der Bildende Künstler Jo Winter brachte es einmal auf den Punkt: Wer die Welt ausschliesst, schliesst sich selbst immer mehr ein. Denmark is a prison.

© Yvonne Berardi

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Bei Klöpfer & Meyer erschienen u. a. «Der Ministerpräsident» (2010), nominiert für den Deutschen Buchpreis, sowie «Im Feld» (2018). Zuletzt erschien «Imperia» (2020).
Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen: u. a. den begehrten Preis der ›LiteraTourNord‹. Er ist Mitglied im Deutschen PEN.

Rezension von «Imperia» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Im Feld» auf literaturblatt.ch

Joachim Zelter «Gegen die Gewissheiten» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsbild © Yvonne Berardi

Joachim Zelter und sein Kammerspiel

Ein letztes Mal im Jahr 2020 lud das Literaturhaus Thurgau Literaturinteressierte zu einer Lesung im Bodmanhaus in Gottlieben ein. Joachim Zelter war Gast mit seinem aktuellen Roman «Imperia», mit dem der Schriftsteller lesend und performend das Publikum zu begeistern wusste – ein Publikum, das nach Kultur hungert!

Joachim Zelters zentrale Figuren in seinem Roman sind absolut gegensätzlich. Gregor Schamoni, ein mässig erfolgreicher Schauspieler mit einigen Geldsorgen und Iphigenie de la Tour, eine raumgreifende Frau und Professorin, deren Visitenkarte sich wie eine Speisekarte liest. Eine Frau, die sich als absolutes Zentrum ihres Sonnensystems sieht, ein Mann, der es wie ein kleiner Planet nie mehr schafft, aus der ihm zugewiesenen Umlaufbahn auszubrechen. Jeder kennt solche Archetypen wie die Professorin; Menschen, denen das Leben immer wieder Recht zu geben scheint, auch ihr Erfolg, ihr Geld, ihre Macht. Und weil Gregor Schamonis Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.

Was für den Schauspieler Gregor Schamoni Wirklichkeit ist, ist Wirklichkeit für viele Kunstschaffende: Wie weit soll, darf und kann man sich in Abhängigkeiten begeben, um nicht in Existenznöten unterzugehen. Es liegt einiges an Zündstoff in den Schilderungen, im Roman selbst, in der Dramaturgie des Geschehens, aber auch darüber hinaus, sind doch die Diskussionen über „Entmännlichung“ und Rollenverständnis nicht nur in vollem Gange, sondern Flächenbrand geworden.

Joachim Zelter inszenierte seinen Text auf der kleinen Bühne des Literaturhauses gekonnt und mit viel Leidenschaft, einer Leidenschaft, die sein ganzes Tun und Schaffen bezeugt, eine Leidenschaft, die im Publikum ganz selbstverständlich seine Resonanz findet. 

«Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor*innen und lebendiger Zuhörer*innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean, und es war mir eine Freude, gestern Abend auf dieser Insel weilen zu dürfen.» Joachim Zelter

Ein fast volles Haus, mit aller Vorsicht geführt! Das Literaturhaus Thurgau dankt dem Autor für den spannenden Abend

Joachim Zelter «Die Würde des Lügens» – SWR2

Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Joachim Zelter «Imperia», Klöpfer Narr

An der Hafeneinfahrt der Bodenseestadt Konstanz steht seit bald dreissig Jahren die neun Meter hohe Imperia. Ein üppiges Frauenzimmer in Beton gegossen mit grosszügigem Dekolleté und zwei schrumpligen Mannsbildern in erhobenen Händen. In Joachim Zelters neustem Roman «Imperia» windet sich ein Mann aus den Tentakeln einer raumgreifenden Muse, büsst ein Künstler dafür, sich verkauft zu haben.

Gregor Schamoni ist Schauspieler. Und weil seine Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.

Was ganz artig beginnt, den Schauspieler jedoch von Beginn weg gleichermassen verunsichert und befriedigt, da ihm die aufgeputzte Dame grosszügig dicke Briefumschläge mit Geldbeträgen übergibt, Geldbeträge, die seine in Schieflache geratene Existenz aufrichten, wird mehr und mehr zu einer emotionalen Achterbahn, aus der Gregor nicht mehr auszusteigen weiss.

Joachim Zelter «Imperia», Klöpfer Narr, 2020, 176 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-7496-1017-4

Man kennt die Sorte Mensch; uneingeschränkt von sich eingenommen, selbstverliebt und besitzergreifend, fähig, die ganze Welt nach eigenem Gusto drehen zu lassen. Iphigenie de la Tour, Professorin an der Universität Konstanz, ist es gewohnt, dass man sich in ihre Sonne setzt, alles nach ihr ausrichtet, ihren Anweisungen Folge leistet. Da ist nicht nur das Geld, sondern die masslose Selbstverständlichkeit, die die Frau wie die Imperia an der Hafeneinfahrt übergross und bedeutsam macht. So wie die Betonfrau am Hafen die kleinen Männer herumjongliert, so tut es Iphigenie de la Tour; mit Gregor Schamoni, dem Personal in den Restaurants, in denen man sich trifft, mit allen, die sich in die Aura inszenierter königlicher Weiblichkeit trauen. So wie sich Gregor in seinen Panikträumen verlieren kann, in seiner Angst, irgendwann den Text auf der Bühne zu vergessen, nicht mehr weiterzuwissen, den Bühnenboden unter den Füssen zu verlieren, so sehr dreht er sich im Strudel rund um die Professorin, die ihn mit Geld, Komplimenten, Aufgaben und Zukunftsträumen einwickelt und vereinnahmt. Sie will ihn für sich, als ihr Instrument. Sie will ihn als Mitarbeiter, Sprecher, Freund, Schauspieler, Partner. Irgendwann übergibt Gregor Pia, der Studentin, die an Iphigenies Seite alles zu Papier macht, was in den Unendlichkeiten des de la Tour’schen Archivs an Bedeutsamkeit lagert, sein Handy. Iphigenie de la Tour will aus den SMS zwischen ihr und Gregor einen Briefwechsel transkribieren, will sie doch aus Gregor Schamoni einen bedeutsamen Schauspieler machen.

Gregor beginnt zu kämpfen, will sich aus den Fängen der Matrone befreien. Etwas, was ihm im direkten Gegenüber mit der Frau nicht gelingt, denn Iphigenie schafft es meisterlich, ihre scheinbare Verletzlichkeit zum Kampfstoff zu machen. 

Joachim Zelters Iphigenie ist köstlich, wenn auch nur für mich als Leser. Für Gregor wird sie zur Katastrophe. Jenes Loch, das sie aufzureissen droht, ist ebenso gross, wie die Angst, die Gregor in seiner ganz privaten Panik peinigt. Joachim Zelter peitscht die Drehungen des Karussells, aus dem Gregor nicht mehr entfliehen kann, genussvoll an. Wenn Joachim Zelter die Erscheinung der Professorin schildert, wird aus dem Betongrau der Imperia über dem Hafen Konstanz ein tiefes Rot, wird das Dekolleté beider Frauen bis zur Aufdringlichkeit ein erdrückendes Gebirge.

„Imperia“ ist eine literarische Berg- und Talfahrt in einem Gefährt, von dem man bis zum Schluss nicht weiss, ob es sich bremsen lässt oder mit voller Wucht und Geschwindigkeit in ihr Ende rast. Eine Buch gewordene Metapher darüber, was Käuflichkeit aus Leben macht. Dass Joachim Zelter aus dem Kammerstück zweier Personen ein Gegenüber zwischen fast allmächtiger Weiblichkeit und wirkungsloser Männlichkeit macht, heizt die Szenerie nur noch an.

 

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg im Breisgau geboren, studierte und lehrte englische Literatur in Tübingen und Yale. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Thaddäus-Troll-Preis, dem Jahresstipendium des Landes Baden-Württemberg, dem Gisela-Scherer-Stipendium der Stadt Hausach im Schwarzwald. 2010 war er mit seinem Roman «Der Ministerpräsident» für den Deutschen Buchpreis nominiert. Seine Romane wurden mehrfach ins Französische, Italienische und Türkische übersetzt. 

Rezension von «Im Feld» auf literaturblatt.ch

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Joachim Zelter „Gegen die Gewissheiten“

Überlegungen zu einigen Aspekten der literarischen Moderne aus Sicht eines Schriftstellers

Warum schreibt ein Autor wie er schreibt. Oder warum schreibt er etwas nicht, das er durchaus schreiben könnte, aber trotzdem nicht schreiben kann oder partout nicht schreiben will? Warum lässt der Autor beispielsweise eine Figur nicht durch den Wald nach Hause gehen, um dort eine andere Figur zu treffen, so dass aus diesem Treffen eine Liebeshandlung entstehen könnte? Oder warum scheut sich ein Autor vor einem guten Ende? Oder vor einem eindeutigen Anfang? Oder vor einnehmenden Figuren, welche die Welt exemplarisch erleiden, durchschreiten, erleben, verbessern oder überwinden?
Oftmals sind es nur halbbewusste Triebkräfte und Maßstäbe, die einen Autor dazu bringen etwas in einer bestimmten Art zu schreiben – oder auch nicht zu schreiben. Zum Beispiel tun sich nicht wenige Autoren mit linearen Handlungen schwer. Oder mit mitreißenden Figuren, die eine Handlung vorantreiben oder aus der äußere Handlungen oder ganze Handlungswelten hervorgehen. Handlungen und Figuren – dies scheinen, zumindest heute, Selbstverständlichkeiten, ja Unabdingbarkeiten. Dennoch gibt es bei nicht wenigen Autoren ein Unbehagen, eine stumme Reserve gerade gegenüber derartigen Forderungen. Diese Reserve ist – so meine These – ein Überbleibsel der literarischen Moderne, in einer Welt, die sich zunehmend von den Er- rungenschaften der literarischen Moderne entfernt hat, die mit der Moderne auch zunehmend das Bewusstsein und Beschreibungsinstrumentarium ihrer selbst verloren hat.

Nach Mario Andreotti (Die Struktur der modernen Literatur) besteht das große Missverständnis gegenwärtiger Literaturdiskurse in der Gleichsetzung von zeitgenössisch und modern. Ein Roman sei modern, weil er soeben erschienen sei oder sich moderner Themen annimmt, zum Beispiel dem Internet, der Globalisierung, dem Grundeinkommen für alle oder einer jugendlichen Subkultur. Nach Andreotti ist diese Gleichsetzung irreführend, da moderne Themen nicht notwendigerweise gleichbedeutend sind mit der literarischen Moderne als Erzählweise in der Literatur. Ein Großteil unserer Gegenwartsliteratur, so Andreotti, ist alles andere als modern, sondern vielmehr in ihrer Struktur traditionell, konventionell, wenn nicht gar vormodern – auf dem Stand des bürgerlichen Romans des frühen 19. Jahrhunderts

Die Frage ob modern – oder nicht modern lässt sich anhand von zwei zeitgenössischen Grund- forderungen an literarische Texte demonstrieren, die gerade die literarische Moderne immer wieder in Frage gestellt hat: (1) Die Frage der Handlung und (2) die Frage von festen, eindeutigen, runden Figuren, die im Zentrum dieser Handlung stehen, ja, aus denen diese Handlungen hervorgehen. Handlung unterstellt eine Form von Kausalität. In der Poetik des Aristoteles heißt Handlung Mythos, die Zusammensetzung der Geschehnisse. Auch Edward Morgan Forster betont in seiner Definition von Handlung (plot) dessen Kausalität. „The king died and then the queen died.” Dies ist eine Geschichte. „The king died, and then the queen died of grief.” Dies ist eine kausale Ordnung, also eine Handlung. Nun ist Kausalität nichts Beliebiges, sondern beinhaltet fundamentale Anschauungen über die Wirklichkeit. Schon das Wort Kausalität impliziert eine ganze Weltanschauung: der Mechanik, der Physik, der Naturwissenschaften, der Wissenschaft allgemein. Eine Plot-Struktur geht also weit über ein einzelnes literarisches Werk hinaus. Sie beinhaltet eine Weltanschauung, und es sind gerade derartige Weltschauungen, welche die literarische Moderne immer wieder in Frage gestellt hat: sei es nun das Gebot linearer Handlungen oder der Glaube an die Erzählbarkeit der Welt oder die Vorstellung von Sprache als Abbild außesprachlicher Wirklichkeit. Hinzu kommt die Skepsis der Moderne gegenüber althergebrachten Subjektvorstellungen: zum Beispiel die Hauptfigur als Identifikationsfigur, als Sinn- und Erlebniszentrum der äußeren Welt, als Inbegriff einer bürgerlichen Charakterideologie, in der Tüchtigkeit, Selbstverantwortung und Eigenständigkeit eine Rolle spielen. Die klassische literarische Moderne demonstriert demgegenüber die Entpersönlichung ihrer Figuren, ihre psychologische Widersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit, ihre Fragmentarität, ihr Getrenntsein, ihre Auflösungser- scheinen, ihre gesellschaftliche Degradierung und Funktionalisierung. „Das Ich ist unrettbar“, schrieb kein Literat, sondern der Physiker Ernst Mach im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der Satz wurde zu einem Leitsatz der Wiener Moderne. Und nicht nur das Ich, sondern auch die Vorstellung einer objektiven, linear erzählbaren Welt wird für die Moderne zu einer unrettbaren, allenfalls noch subjektiv haltbaren Größe. „Wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet.“ Wie jeder sie empfindet – so der entscheidende Zusatz von Herrmann Bahr in Die Moderne. Althergebrachte Gewissheiten weichen in der Moderne einer tiefen Skepsis gegenüber dem Wirklichkeitsgehalt von Sprache und der Darstellbarkeit von Wirklichkeit (Hofmannsthal) sowie einem Unbehagen gegenüber monistischen Wirklichkeits- und Wahrheitsmodellen überhaupt. „Die Wahrheit“, schreibt der Philosoph Hans Vaihinger in seiner Philosophie des Als-Ob, „ist nur der zweckmäßigste Irrtum.“ Statt Wahrheit und Wirklichkeit tritt die fröhliche Bejahung des Fiktiven in den Vordergrund, nicht nur die Fiktionalität der Kunst, sondern die des Lebens überhaupt. In den Worten Oscar Wildes: „I treated art as the supreme reality and life as a mere mode of fiction.

Um das bisher Gesagte (aus der Erfahrung eines heutigen Autors) an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen. Im Jahr 2006 erschien mein Roman „Schule der Arbeitslosen“. Der Roman spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft in einem Internierungslager für Langzeitarbeitslose. Dies wird nicht anhand fester, abgerundeter Figuren erzählt, etwa anhand einer rechtschaffenden Familie, die ein Einfamilienhaus abbezahlen muss und schulpflichtige (vielleicht sogar noch herzkranke) Kinder hat und deren Familienoberhaupt nun in die Abgründe der Arbeitslosigkeit fällt. Die Versuchung lag nahe, das Thema in dieser Art anzugehen, über ein Ensemble fester Figuren, mit denen man sich identifiziert und mit denen man mitleiden kann. Stattdessen ent- wickelt der Roman das Thema Arbeitslosigkeit weniger psychologisch denn vielmehr gestisch und soziologisch als strukturelle Gewalt (sprachliche Gewalt, diskursive Gewalt, normative Gewalt) herrschender ideologischer Systeme über entpersonalisierte Individuen, die zu fast keiner Sprache oder Gegenwehr mehr fähig sind, die sich allenfalls stammelnd oder in kleinen Gesten zur Wehr setzen können gegenüber einer allmächtigen gesellschaftlichen Grund- und Kollektivhaltung: nämlich der Obsession von Arbeit als Sinnzentrum unserer Zeit.
Man könne sich zu wenig mit den Figuren identifizieren. Man könne mit ihnen nicht warm werden. So der erste Einwand gegen den Roman. Und: Der Roman habe zu wenig Handlung. Er zeige auch keine wirklichen Lösungen. So der zweite Einwand. In diesen Einwänden vereinigen sich in nuce die gängigen Erwartungshaltungen gegenüber der zeitgenössischen Literatur: Handlung, Figuren, Botschaften und Lösungen – genau das, was von der klassischen Moderne (von Kafka bis Döblin, von Beckett bis Pinter, von Ionesco bis Camus) immer wieder in Frage gestellt wurde. Man kann die urskeptische Haltung der Moderne mit dem Satz von Camus resümieren: „Wenn die Welt klar wäre, gäbe es keine Kunst.“

In den letzten zwei Jahrzehnten ist uns die Moderne zunehmend abhanden gekommen. Sie wich in den achtziger Jahren der Postmoderne, der dann keine Nachpostmoderne oder Post- postmoderne mehr folgte als vielmehr eine diffuse Vormoderne, in der einerseits die Errungenschaften der Moderne verlorengegangen sind bzw. schlichtweg vergessen wurden, in der andererseits mit der größten Geläufigkeit sehr traditionelle, vormoderne, geradezu biedermeierliche Forderungen und Erwartungshaltungen an die Literatur herangetragen werden. Der Grundimpetus der Moderne, die allumfassende Skepsis, weicht zunehmend einer Haltung nicht mehr reflektierter Gewissheiten. Als hätte es die Moderne nie gegeben. Als wären Handlung, Figuren, Botschaften und Lösungen zu allen Zeiten gültige Konstanten der Literatur. So als gäbe es kei-nerlei Zusammenhang zwischen gegenwärtiger gesellschaftlicher Ich-Fixierung, Ich- Verantwortung, individueller Leistungs- und Erfolgsethik und der Forderung des Buchmarktes nach hinreißenden, heldenhaften oder zumindest unterhaltsamen literarischen Figuren.

Wenn ich gefragt werde, welche Autoren ich denn schätze oder welche Autoren mich literarisch beeinflussen, dann nenne ich Autoren wie Oscar Wilde, Harold Pinter, Franz Kafka und einige andere – alles übrigens Autoren der Moderne. Doch gibt es für den schreibenden Autor auch noch eine andere Kategorie von Büchern, nicht nur belletristische Einflussbücher, sondern auch literaturwissenschaftliche Bücher, die für mich eine große historische und theoretische Rückversicherung darstellen. Die Struktur der modernen Literatur von Mario Andreotti ist ein solches Buch. Es bietet gerade jenen Autoren eine Handhabe, die aus einer tiefsitzenden, stummen Reserve gegenüber den aktuellen Forderungen an die Literatur eben nicht so schreiben, wie sie sehr leicht schreiben könnten: in Kategorien eingängiger Handlungen, Figuren, Botschaften und Lösungen. Es ist ein Buch für alle Autoren, die sich darüber freuen, dass Literatur nicht ewig gültigen Gesetzen und Gewissheiten folgt, sondern dass diese Gewissheiten hinterfragbar und veränderbar sind – ein Grundprinzip der Moderne. Es ist ein Buch für alle Autoren, die sich heutzutage deplaciert und historisch überholt fühlen, die aber dennoch in einem stummen oder verstummten Wissen noch an den Errungenschaften der Moderne festhalten oder festzuhalten versuchen. Es ist ein Buch, das mir immer wieder geholfen hat, mir über eigene (oft auch nur halbbewusste) Maßstäbe des Schreibens klar zu werden. Manchmal wünschte ich, ein solches Buch würde nicht nur von Autoren, sondern vermehrt auch von Kritikern und Lektoren gelesen.

Veröffentlicht in: Literaturblatt Baden-Württemberg. Heft 6, 2010, 12-13.

Literatur:
Mario Andreotti, „Die Struktur der modernen Literatur“, vierte überarbeitete Auflage. Bern, 2009.
Joachim Zelter, „Schule der Arbeitslosen“, Tübingen, 2006.
Gotthart Wunberg, Hrsg. „Die Wiener Moderne: Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und
1910“, Stuttgart, 1981.
Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe, Hrsg. „Postmoderne: Zeichen eines kulturellen Wan-
dels“, Hamburg, 1986.
Lothar Fietz, „Strukturalismus: Eine Einführung. Literaturwissenschaft im Grundstudium 15“, Tü-
bingen, 1982.
Lothar Fietz, „Funktionaler Strukturalismus: Grundlegung eines Modells zur Beschreibung von Text und Textfunktion“, Tübingen, 1976.

Joachim Zelter wurde in Freiburg im Breisgau geboren. Von 1990 bis 1997 arbeitete er als Dozent für englische und deutsche Literatur an den Universitäten Tübingen und Yale. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller, Autor von Romanen, Theaterstücken und Hörspielen. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Mit dem Roman „Der Ministerpräsident“ war er 2010 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 war er Hausacher Stadtschreiber (Gisela-Scherer-Stipendium).

Rezension auf literaturblatt.ch zu «Im Feld» von Joachim Zelter

Webauftritt des Autors

Joachim Zelter „Im Feld“, Klöpfer & Meyer

Joachim Zeiters neuer Roman «Im Feld» trägt den Untertitel «Roman einer Obsession». Obsession ist mehr als Leidenschaft. Frank Staiger fährt in seiner Freizeit Rad. Durchaus mit Leidenschaft. Zusammen mit anderen, im Peloton aber über sich hinauswachsend, mit dem Tunnelblick nach vorn. Ein Roman wie ein Tauchgang in die Untiefen der menschlichen Seele. Dorthin, wo die Sicht begrenzt ist, das Gegenüber zum Umriss wird. Ein Buch, das vielleicht nur versteht, wer einen Teil dieser Obsession mit sich trägt.

Franz Staiger ist mit seiner Frau nach Freiburg im Breisgau gezogen, näher an die Berge. Um die Gegend mit dem Rad zu erobern, schliesst er sich am Radsporttreff unter dem Heideggerdenkmal einer Radsportgruppe an, hält sich anfangs noch diskret im Hintergrund, fährt im hinteren Teil mit, lauscht in Bummelphasen den Gesprächen seiner Mitfahrenden. Bis Landauer dazustösst, die Legende. Er, dem alles zuzutrauen ist, er, der alles in sich birgt. Aus der Tour wird Tortour. Schweiss fliesst in Strömen. Und nichts, fast nichts, nicht einmal die totale Erschöpfung bremst jene in Landauers Gruppe, diesem Peloton, der über alle Grenzen des Möglichen hinausfährt.

Wer jenen Zug an sich selbst nicht kennt, jene Ergebenheit in der Gruppe, jene totale Verausgabung, die ohne Gruppe unmöglich wäre, jene absolute Leistungsbereitschaft, bei der es nur darum geht, gegen sich selbst zu siegen, wird dieses Buch nur schwer verstehen. Joachim Zelter will aber mehr als nur eine Radfahrt in die Tiefen der menschlichen Seele beschreiben. „Im Feld“ ist Metapher für ein Gesellschaft im Overdrive, über der anaeroben Schwelle. Keine Verteufelung, keine Anklage, denn der Autor kennt aus eigener Erfahrung den Lockruf jenes Zustandes, wenn der Körper weit über sich hinauswächst. Ein Zustand, der in kaum einem andern Moment besser zu er-fahren ist, als in einem Peloton (von franz.: pelote = Knäuel, im Radsport das geschlossene Hauptfeld der Radrennfahrer).

Frank Staiger «leidet» unter «Cyclomanie», Radsportbesessenheit. So wie andere der Spielsucht, irgendeiner Sucht verfallen sind, ist es beim ihm die Lust, auf dem Fahrrad die Grenzen seiner selbst auszuloten. Erst recht in einem Rudel, einer Radsportgruppe. Ihr Roman ist Sinnbild für vieles, manch einer Dynamik, die nur im Rudel funktioniert. Wie «weit» dachten Sie beim Schreiben Ihres Romans daran oder war es schlicht die Lust, eigene Erfahrungen, diese besondere Form des Eintauchens zu beschreiben? Welche Motivation stand ganz am Anfang Ihres Schreibens?

In vielen Rad(sport)romanen steht das Rennen im Mittelpunkt. Beispielhaft hierfür steht Tim Krabbés sehr lesenswerter Roman «Das Rennen». Dem wollte ich nicht nacheifern. Mich interessierte von Anfang an die Idee des Pelotons als Inbegriff einer Gruppe: Welche Dynamik, welche Zwänge und welche Sogwirkungen sich dabei auftun können. Auch: Wie man ohne Stacheldraht und Schießbefehl einen Einzelnen (oder viele Einzelne) in einer Gruppe halten kann. Dem wollte ich in meinem Roman nachgehen, das Radfahren als Parabel und gesellschaftliche Metapher sowie als eine eigenständige Wirklichkeitsordnung. Eigene Er-fahrungen spielen hier durchaus eine Rolle. Seit Jahren fahre ich in einem Radverein und kenne die vielschichtigen Prozesse von Gruppenfahrten aus eigenem Erleben (oder genauer: Er-fahren). Als ich die ersten Male mit dem Verein mitfuhr, bekam ich plötzlich ein Gefühl dafür, wie allein man im sonstigen Leben eigentlich steht, zumal im Leben eines Schriftstellers, aber nicht nur dort. Das Peloton war eine schlagartige Gegenwelt zu der üblichen Einsamkeit. In modernen Gesellschaften leben Individuen ziemlich alleine. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen, sich und anderen fremd in einer Welt der Vereinzelung. „From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood“ ist der Titel eines Essays, der diesen Vorgang der Moderne ziemlich gut auf den Punkt bringt. Mein Roman erzählt nun die atavistische Gegenbewegung eines solchen Vorgangs: „From Universal Otherhood to Tribal Brotherhood.“ Ich räume ein, dass ein solcher Vorgang durchaus auch problematisch und zwiespältig ist.

Frank Staiger ist umgezogen. Vom gänzlich flachen Norden in den gebirgigen Süden Deutschlands, von Göttingen nach Freiburg im Breisgau. Früher war Staigers Frau Susan noch mitgefahren. Früher. Aber für diese eine Tour an Christi Himmelfahrt, dieses Himmelfahrskommando, bleibt Susan zuhause. In Ihrem Roman, dessen Fokus fast ganz auf den Strampelmarathon auf dem Fahrrad liegt, spielt Susan kaum eine Rolle. Ist Besessenheit in dieser Form ein ausschliesslich männliches Phänomen, diese Lust, sich zu beweisen, alles aus sich herauszupressen, den absoluten Herrn über den inneren Schweinehund zu demonstrieren?

Ich glaube nicht, dass diese Besessenheit eine männliche Domäne ist. Ein gutes Drittel der Mitfahrenden in Radvereinen sind (zumindest nach meiner Erfahrung) Frauen. Sie fahren mit derselben Ergebenheit wie Männer, vor allem aber: Sie sind die besseren Radfahrenden, sind technisch besser, haben einen runderen Tritt, teilen sich ihre Kräfte klüger ein. Bei schwierigen und langen Ausfahrten halte ich mich mit Vorliebe in der Nähe von Frauen auf. Sie kommen die richtig harten Alpenpässe besser hinauf als viele Männer, die überdrehen, zu impulsiv sind und ihr Pulver zu früh verschießen. In meinem Roman fahren bis ganz zum Schluss einige Frauen mit. Der Punkt ist nicht eine Geschlechterdifferenz. Vielmehr ist der Radsport in meinem Roman (und nicht nur dort) eine Art der Kompensation für das Scheitern: Sei es nun das Scheitern im Beruf oder das Scheitern einer Beziehung.

Fahrradfahren als Form des Fliegens, des Abhebens. In der Begeisterung des Protagonisten fliege ich als Leser mit bis tief ins Leiden, kann mich sehr gut hineinversetzen, weil ich diesen Moment kenne. Ist das ein Gegensatz zum Schreiben? Oder gibt es beim Schreiben genauso diesen Rausch, bei dem man über sich hinauswächst, sich selbst vergisst? Wenn auch kaum je im Rudel? Oder ist es genau dieses Rudel, die Formation, der Peloton, der den Rauschzustand noch multipliziert?

Dies ist der entscheidende Punkt: Das Abheben hinein in das Leiden, und in

die 3. Auflage!

welchem Verhältnis dieser Vorgang zum Schreiben steht. Beides entspricht sich, steht in Beziehung zueinander. Das Schreiben ist (jedenfalls für mich) ein Abheben, eine wunderbare Schwerelosigkeit, aber auch ein Taumeln, eine gefährliche Fallhöhe. In meinem Roman versuchte ich verschiedene Bedeutungsebenen zu entfalten. Die wichtigste für mich ist: Es ist auch ein Künstlerroman. Der eigentliche Held ist der unverstandene (Rad)Künstler Landauer, der eine Ausfahrt wie ein Kunstwerk, wie eine Sinfonie inszeniert, in aller Konsequenz und Radikalität, der darin aber eigentlich von niemandem verstanden wird. „Herr Beethoven, bitte in die Nachschulung“, heißt es ganz zum Schluss. Welcher Autor oder Künstler kennt dieses Unverstanensein nicht.

Obwohl sich Staiger an diesem Donnerstag unter dem Denkmal Heideggers für die mittlere der drei Leistungsgruppen entschliesst, gerät er an Landauer, eine Legende. Einen, dem es ganz offensichtlich gelingt, mehr als das Letzte aus seinem Gefolge herauszupressen. Diese Landauer gibt es überall, wo sich Begeisterung mit Fanatismus paart, Gruppendynamik mit über“staiger“tem Ehrgeiz. „Im Feld“ beschreibt jene Lebenssituation, in der man völlig kanalisiert und fokussiert selbst Körpersignale überhört und Vernunft ausschalten kann. Das Bild einer Gesellschaft, die die Selbstkontrolle verliert?

Ich bin schon zusammen mit Ärzten in einer Gruppe gefahren, die selbst am kleinsten Berg über ihre Grenzen gegangen sind, gegen jede medizinische Vernunft, nur um nicht abreißen zu lassen. Vielleicht ist dies ein Kontrollverlust, ein individueller und gesellschaftlicher. Nietzsche würde sagen: Man darf den Menschen nicht beschämen, und er will sich auch nicht beschämen lassen. Deshalb gehen die meisten Fahrer in einem Peloton ans Limit, und darüber hinaus.

Vor vielen Jahren lief ich etliche Marathons. Einmal stand nach der Ankunft im Ziel in einem Duschraum mit vielen anderen verschwitzten Männern, die kurz vor oder nach mir über die Ziellinie gelaufen waren. Dort unter den Duschen waren es nicht Stolz und Zufriedenheit, Glück und Befriedigung, die lautes Argumentieren und Lamentieren im Dampf der Duschen provozierten. Es war lautes Schimpfen; übers Wetter, die Streckenführung, die Minuten und Sekunden, die man liegen gelassen hatte, den Veranstalter, den Trottel vor und hinter einem. Freizeit als Quadratur der sonst schon bis an die Grenzen ausgereizten Leistungsgesellschaft? Wird Müssiggang irgendwann wieder avantgardistisch?

Müßiggang ist eine Kunst. «Lob des Müssiggangs» ist das Motto und ein Buchtitel des englischen Philosophen Bertrand Russel. Oder in Oscar Wildes Worten: „It is awfully hard work doing nothing.” Das ist keine Koketterie, sondern eine Wahrheit. Wer kann das schon: einfach Nichts zu tun. Wobei gerade der Radsport durchaus eine Form von kontemplativen Nichts sein kann. Eine ständige Bewegung, die Kreisform (Cyclomanie), die ewige Wiederkehr des Gleichen als hochenergetisches Nichts. Oder als eine Variante des Sisyphos im Sinne von Albert Camus. Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Radfahrer vorstellen. Soweit so gut. Doch alles steht und fällt mit der Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Radfahrers. Für einen starken Fahrer mag eine Ausfahrt ein Vergnügen sein, eine Kontemplation, ein meditatives Loslassen; für einen Schwächeren ist es sehr schnell die Hölle. Genau wie in unserer Leistungsgesellschaft. Für manche ist es wunderbar, für andere ein Grauen. Eigentlich noch schlimmer als in einem Peloton. Der Roman versteht sich deshalb auch als einen Beistand für die Schwächeren. Ich bin einer von ihnen – trotz allen Radfahrens.

Joachim Zelter wurde in Freiburg im Breisgau geboren. Von 1990 bis 1997 arbeitete er als Dozent für englische und deutsche Literatur an den Universitäten Tübingen und Yale. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller, Autor von Romanen, Theaterstücken und Hörspielen. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Mit dem Roman „Der Ministerpräsident“ war er 2010 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 war er Hausacher Stadtschreiber (Gisela-Scherer-Stipendium).

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Titelfoto: Sandra Kottonau