Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus – Solothurner Literaturpreis für das Gesamtwerk

Manchmal erscheinen im Meer der Neuerscheinungen Bücher, die wie Leuchttürme aus der schieren Unendlichkeit der grossen und kleinen Wellen ihre Strahlen bis in den Horizont werfen. «Partita» ist ein solcher Leuchtturm. Ein Schatz mit 77 Funkelsteinen, die mich rauschig machen!

1975 veröffentlichte Gertrud Leutenegger mit „Vorabend“ ihren ersten Roman – bei Suhrkamp. Eine beeindruckende Steilvorlage! Drei Jahre später gewann sie, nachdem sie bei Suhrkamp auch ihren zweiten Roman „Ninive“ herausgebracht hatte, dreissig Jahre alt, am Ingeborg-Bachmann-Wettlesen den Preis der Klagenfurter Jury. Seither veröffentlichte die Dichterin Gedichte, Romane und dramatische Poems stets im Suhrkamp Verlag – und nun mit „Partita“ ihre zweite Veröffentlichung bei Nimbus. Eine überaus erstaunliche und beeindruckende schriftstellerische Karriere, die sie schon lange zu einer der ganz Grossen der deutschsprachigen Literatur macht. Aber da sich der Zeitgeist wenig um Qualität kümmert und schon gar nicht um die grossen Leistungen eines ganzen Lebens, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich das Scheinwerferlicht allzu schnell von den dicken Stämmen im Literaturwald abwendet. (Lieber die bunten Büsche mit knallig leuchtenden Beeren und Blüten!)

«Meine Stimme nicht als ein Teil, sondern als eine Grenze der Welten.»

Aber schon der Umstand, dass auf der Nimbus Verlagswebseite zwei Rezensenten der Extraklasse aufgezählt werden, lässt erahnen, dass dieses scheinbar unspektakuläre Bändchen einen ganz besonderen Schatz birgt. Dass Charles Linsmayer und Michael Krüger sich vor dem Buch der Altmeisterin verneigen, beeindruckt mich so sehr, dass es mich zweifeln lässt, ob ich überhaupt noch etwas Relevantes zu diesem Kleinod beitragen kann.

Gertrud Leutenegger «Partita», Nimbus, 2022, 92 Seiten, CHF 22.00, ISBN 978-3-03850-089-6

„Partita“ ist ein Begriff aus der Musik und beschreibt einen Teil einer Tanzfolge oder einer Variationsreihe. Genau das tut Gertrud Leutenegger; sie tanzt in ganz verschiedenen Schrittfolgen durch die Welt ihres Tuns, durch das Schreiben, das Erschaffen, ihre Kreativität. Und ihr Tanz ist derart leicht, anmutig und graziös, dass die Lektüre einem demütig macht. „Partita“ sind 77 Notate, manchmal nur ein einziger Satz, ein andermal eine Betrachtung, sprachliche Meditationen, Schritte, Tanzschritte, Tanzfolgen nach Innen. Die 77 Sprachperlen entstanden wohl nicht, um sie irgendwann zu publizieren. Es waren, wie die Autorin in einem kurzen Nachwort beschreibt, Notate, die über viele Jahrzehnte im Kontext ihres literarischen Schaffens entstanden. Glücklicherweise lässt mich Gertrud Leutenegger an diesen Leichttürmen ihres Lebens teilnehmen.

«Echoraum werden für die geliebten Menschen.»

Fast alle diese Notate drehen sich vordergründig um das Schreiben, ihre Arbeit am Text, was Sprache mit ihr macht, wie sie ringt und ihr Schaffen prüft. Aber wenn man sich während der Lektüre einen Schritt zurück begibt und das Thema ihres Schreibens „verallgemeinert“, denn für Gertrud Leutenegger ist ihr Schreiben ihr Leben, ihr Sein, ihr ganzen Tun, dann werden diese Notate zu Aufforderungen an ein Tun ganz allgemein. Sie erinnern mich durchaus auch an Ermahnungen, dem Geschenk des Lebens, des Erschaffens jenen Respekt zu zollen, den dieses Geschenk einfordert. Gertrud Leutenegger reflektiert ihr Tun. Diese Notate sind die Prüfsteine, mit denen sie ihr Schaffen hinsichtlich ihrer Wahrhaftigkeit prüft. Schon alleine die Ernsthaftigkeit dieses steten Prüfens beeindruckt – und noch viel mehr die Leuchtkraft der Notate selbst. Der Dichterin geht es nie um Effekte, so wie „Partita“ in nichts nach Effekt hascht. Eine Seite – ein Satz. Als wären es die in den Leutenegger-Boden versenkten Mark- und Merksteine ihres Schaffens.

«Unter Tränen zum Leben verführen.»

„Partita“ ist ein Geschenk an all jene, für die Lesen auch Kontemplation sein soll.

Der Solothurner Literaturpreis geht in diesem Jahr an Gertrud Leutenegger.

Erst im letzten Jahr wurde der Preis neu aufgestellt; seither wird er vom Verein Solothurner Literaturtage getragen. Der Preis ist mit 15’000 Franken dotiert und zeichnet ein Gesamtwerk aus.

Die fünfköpfige Preisjury begründet ihren Entscheid für die 74-jährige Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger damit, dass sie in ihrem Werk Persönliches und Weltwahrnehmung miteinander verbinde. Sie erforsche «auf zeitlose Weise die menschliche Existenz», heisst es in einer Mitteilung von Mittwoch.
Der Solothurner Literaturpreis wird ihr am 21. Mai im Rahmen der Solothurner Literaturtage verliehen. Zu den bisherigen Preisträgerinnen und Preisträgern gehören unter anderem die deutsche Autorin Iris Wolff (2021), die Österreicherin Monika Helfer (2020), Peter Stamm (2018) und Lukas Bärfuss (2015).

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014) und «Späte Gäste» (2020).

Rezension von «Das Klavier auf dem Schillerstein» auf literaturblatt.ch

Thomas Dütsch «Zwischenhoch», Nimbus

Thomas Dütsch sieht in seinen Gedichten die Zwischenräume. Er hält sich an Alltäglichem und gibt ihm Glanz. Wer Thomas Dütschs neuen Gedichtband ersteht, ihn mit nach Hause nimmt und in einem ruhigen Moment das Buch zur Hand nimmt, sieht mehr!

Lesen sie Gedichte? Vielleicht wäre es an der Zeit. Jetzt erst recht, wo man uns glauben machen will, dass man mit Hyperschallraketen, Lügen und Kanonenfutter „Konflikte“ lösen kann; laut, mit einem Knall, Kollateralschäden inbegriffen, wenn es Wirkung erzeugt sowieso. Lyrik ist das genaue Gegenteil von dem, womit männliches Machtgehabe die Welt in Angst und Schrecken versetzt. Können sie sich Despoten Lyrik lesend vorstellen? Dass an Amtseinsetzungen von Staatsmännern von einer jungen, schwarzen Frau Lyrik vorgetragen wird, ist Augenwischerei, auch wenn das, was sie sagt, ernst genommen beeindruckend sein könnte. Aber was in der Politik Zwischentöne sind, hat mit den Zwischentönen in der Lyrik so gar nichts gemein.

 

Kleines Gedicht

Das dünnwandige Herz in den Garten tragen
und unter den Strahl der Sonne stellen
Das Morgenlicht einschiessen lassen
bis der blecherne Eimer randvoll ist 

Dann erst unter die Menschen gehen

 

Thomas Dütsch ist in seinem Brotberuf Deutschprofessor an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Mit „Zwischenhoch“ hat er einen Gedichtband vorgelegt, der zeigt, was Lyrik kann, mit Zwischentönen und ganz direkt. Gedichte wie die seinigen sind in jedem Fall konstruktiv, aufbauend, ermunternd, selbst dann, wenn sie sich nicht scheuen, Dinge beim Namen zu nennen. Nicht vorzustellen, dass all die Aufgepumpten abends vor dem Insbettgehen oder morgens als Beginn in den Tag ein Gedicht lesen, nach den gelesenen Zeilen das Buch für einige Minuten sinken lassen, um dem Nachhall der Zeilen nachzugehen. Lyriker wie Thomas Dütsch scheinen in ihrer Wahrnehmung all jenen etwas voraus zu haben, die uns beweisen wollen, die Welt sei in wert und unwert aufzuteilen, in dienlich und störend, gewinnorientiert und unnütz. 

«Meine Studierenden wissen nicht, dass ich Gedichte schreibe. Einzige Ausnahme: Während einiger Jahre konnte ich eine Werkstatt in Kreativem Schreiben leiten. Die Studierenden, welche diese Werkstatt besuchten, wussten, dass ich Gedichte schreibe. Aber ich glaube, es interessierte sie nicht gross, weil  ich kein Spokenword-Künstler oder Slam-Poet war.»

«Zu unterrichten, ist mein Beruf, den ich sehr gern ausübe. Wenn ich Gedichte schreibe, ist der Dozent ganz weit weg. Als Dozent bin ich Wissender, Sender – als Poet bin ich Suchender, Empfänger. Das Gedicht ist für mich eine sehr persönliche Form, um über meine Erfahrungen mit der Welt nachzudenken. Dabei werde ich von der Sprache geführt. Das lyrische Schreiben ist eine ganz andere Form, sich auszudrücken als das Berichten oder Erzählen. Ein Gedicht füllt etwa einen Drittel einer Buchseite mit Text, aber wenn das Gedicht gut ist, ist die Seite voll.»

 

Im Stadtpark

Von den Fingern der Frühlingssonne ins Freie gepuhlt
setz’ ich mich auf eine Bank im Stadtpark und dreh’
mir ein Gedicht Aus meinem Sprachbeutel klaub’ ich
losen Tabak drösle die luftgetrockneten Silben einzeln
in die Papierfalte und füge sie zu einem Wörterwurm
Filter und Sonntagslippe versiegeln das kleine Werk
Sacht’ zieh ich es stramm puste die Lautkrümel weg
und klappe in ungetrübter Vorfreude mein Etui auf
Ich wische noch die letzten Fäden beiseite da löst sich
aus einem Pulk von Kapuzengestalten ein Wintergesicht
und erschnort sich maulfaul die frischgedrehte Kippe

 

Thomas Dütsch «Zwischenhoch», Nimbus, 2022, 84 Seiten, CHF 22.90, ISBN 978-3-03850-087-2

Dichter wie Thomas Dütsch wissen, dass sie mit leisen Tönen, vollendeten Sprachmelodien Bilder erzeugen können, die nur ein feines Ohr hören kann. Dass ein Professor einer Pädagogischen Hochschule, an der zukünftige LehrerInnen ausgebildet werden, an die Kraft der Lyrik glaubt und sich dieser hohen Kunst bedienen kann, stimmt mich hoffnungsfroh, weiss ich doch, wie selten heute an Schulen Gedichte eine Rolle spielen.

«Ich weiss nie, vorüber ich mein nächstes Gedicht schreibe. Ich habe mein Notizbuch dabei, aber aus welchem Eintrag in einer ruhigen Stunde am Wochenende dann ein Gedicht wird, das kann ich nicht steuern. Ein Gedicht entsteht, wenn ich für eine konkrete Beobachtung oder Erfahrung, die ich gemacht habe, auch die Sprache zur Verfügung steht. Im besten Fall gerate ich dann in einen sogenannten Flow und ich kann eine erste Fassung des Gedichtes hinschreiben.»

«Vor sechzig Jahren gehörten LyrikerInnen wie Enzensberger, Eich, Jandl, Bachmann zu den führenden Köpfen der Literatur und ihre Werke wurde in den Feuilletons heftig diskutiert. Diese Zeiten sind vorbei. Umso mehr freut es mich, wenn Elke Erb den Büchner-Preis bekommt oder Louise Glück den Nobelpreis für Literatur.»

 

Eisen im Schnee

Wer Bilder malt hat die Wahl
zwischen Naturhaarpinsel Kreide
Spachtel Buntstift oder Kaltnadel
Wer Bilder malt beugt sich
über Kupferplatten Steintafeln
gerippte Bütten oder Leinen

Wer schreibt hat die Wahl
zwischen Federkiel Bleistift
Füllhalter Tintenroller Fineliner
oder ergonomischer Tastatur
Doch ob Nänie oder Quodlibet
zuletzt steht alles auf Papier

Auf Papier? – Mitnichten
Wenn ich schreib knie ich
im winterlichen Kasernenhof
bin frierender Rekrut und übe
das Zerlegen des Gewehrs bis
die Eisen sich reihen im Schnee

 

In seinem neuen Gedichtband „Zwischenhoch“ denkt der Dichter und Professor auch über das Schreiben nach, neben Betrachtungen, Ermunterungen, Einsichten und witzigen Wortspielereien, bei denen man unweigerlich ins Schmunzeln gerät und verwundert darüber sein kann, mit welcher frischen Jugendlichkeit dieser Dichter lustvoll Knoten lösen kann. Lyriker schreiben nach innen. Thomas Dütsch schärft den Blick.

 

Im Garten der Zeit

Endlich da sein
Wurzeln schlagen
gleich dem Kirschbaum
unter dem ich träume
gleich der Greisin
die minutenlang
den Tisch betrachtet
den sie mit Liebe
für uns gedeckt hat
gleich dem Mittagswind
der das Kirchengeläut
über die Mauer trägt
die weissen Servietten
mit flinken Fingern
fächert und glättet
und dabei ohne
Wurzeln auskommt

(Ich danke dem Autor für die Erlaubnis, Gedichte aus dem Gedichtband «Zwischenhoch» in diesen Beitrag einfügen zu dürfen.)

Thomas Dütsch, geboren 1958 in Zürich, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Zürich, Tübingen und Berlin. Auf Einladung des Berliner Kultursenats war er 1991 sechs Monate Stipendiat im Literarischen Colloquium Berlin (LCB). Für seinen ersten Lyrikband «Windgeschäft» (2001) und «Weißzeug» (2011) erhielt der Autor Anerkennungsgaben der Stadt Zürich. Thomas Dütsch lebt in Wädenswil.

Beitragsbild © Renate von Mangoldt

Eine geballte Ladung Poesie an den Brugger Literaturtagen

Eugen Gomringer, der über neunzigjährige Begründer der konkreten Poesie, ein nimmermüder Streiter für die Macht des einzelnen Wortes und seine Tochter Nora Gomringer, auf allen Kanälen wirkender Tausendsassa der Lyrik, sind eine Wand, wenn sie miteinander oder nacheinander auf der Bühne auftreten. Begleitet von Nora Gomringers Mutter, Nortrud Gomringer, Herausgeberin und Literaturwissenschaftlerin, schuf die Dichterfamilie eine ganz spezielle Atmosphäre im Salzhaus, jenem alten Lagerort, in dem sich die Urwürze bis tief in die eichenen Balken frass.

Eugen Gomringer, vor fast einem Jahrhundert in einer anderen Zeit in Bolivien geboren, in der Schweiz aufgewachsen und schon lange in Deutschland lebend, fühlt sich nicht nur diesen drei Sprachen im Speziellen verpflichtet. Schon früh, in der Zusammenarbeit mit Max Bill, dem grossen Künstler und Architekten, verbanden sich Sprache mit Mathematik, Kunst mit Form, schoben sich Gestaltung und Reduktion ins Zentrum seiner Arbeit.
 Nicht viel mehr als vier Wörter in verschiedenen Kombinationen schaffen es, dass eine Hauswand auf der ein Gedicht Eugen Gomringers zu globalem Gesprächsstoff wird.

avenidas
avenidas y flores

flores
flores y mujeres

avenidas
avenidas y mujeres

avenidas y flores y mujeres y
un admirador

Eigentlich ein Glück für die Poesie, ein Glück für Eugen Gomringer. Denn die zum Teil wilden Diskussionen und unmöglichsten Interpretationen beweisen die Kraft der Literatur, einzelner Wörter. Genau das, was Eugen Gomringer in seinem langen Wirken wirken will und kann. Die beste Werbung für ihn, auch wenn Ursache und Wirkung bisweilen bloss Kopfschütteln auslösen können, wohl verstanden nie in die Richtung des Erschaffers.

kein system im fehler
kein system mir fehlen
keiner fehl im system
keim in systemfehler
sein System im fehler
ein fehkler im system
seine kehl im fyrsten
ein symfehler im sekt
kein symmet is fehler
sey festh kleinr mime

Eugen Gomringer war 1944 zum ersten Mal in Brugg, damals knapp zwanzigjährig als Fliegerbeobachter. Heute, mehr als siebzig Jahre später, ist er der Flieger, der Überflieger, der brummende Koloss, der seine Ladung abwirft, begleitet von seiner Frau in weissen Handschuhen. Gomringers Gedichte sind metaphysische Sprach-Strichcodes, deren monolithischer Niederschlag sich manchmal um einen ganzen See verteilt.
 Gomringer gibt den Worten durch die Beziehung untereinander Gewicht, durch strenge Anordnung, lässt sie wirken, erst recht, wenn er sie selbst, klein geworden und gebeugt, auf der Bühne vorträgt. Gomringer versteckt sich nicht, in keiner Weise, auch wenn er vor lauter Buchzeichen nach dem richtigen Gedicht in der vorbestimmten Reihenfolge sucht. Er lässt sich Zeit, ein ganzes Leben lang. Aus Baum, Haus, Kind und Hund zeugt Gomringer einen ganzen Kosmos, den Kosmos seiner Kindheit. In der Lesung mit Witz kommentiert und neu kombiniert zeigen Gomringers Gedichte Zeitlosigkeit und Beständigkeit.

schwiizer

luege
aaluege
zueluege

nöd rede
sicher sii
nu luege

nüd znäch
nu vu wiitem
ruig bliibe

schwiizer sii
schwiizer bliibe
nu luege

Und Nora Gomringer? Seine Tochter, sprachlich längst abgenabelt und vogelfrei, zielt mit ihren Gedichten mitten ins Herz der Zeit, endgültig mit ihrer in den letzten Jahren geschaffenen Trilogie „Monster“ (2013), „Morbus“ (2015) und „Moden“ (2017). Während ihrer Lesung in Brugg fallen ihre Haare übers rechte Auge. Mit dem linken zielt sie, treffsicher und routiniert. Sie liebt wie ihr Vater das Konzentrierte, den „Espresso“ der Literatur. Im Geist, ganz und gar nicht im Windschatten ihres Vaters, sehr gut um die Wirkung des Konzentrats wissend, der Heilung, wie in der Medizin.

VERSIONEN

und
ein Boot legt an
Böcklin malt ein Boot, das anlegt,
umschattet,
soghaft.
Ein Bootsmann, namenlos,
allzu willig, sich preiszugeben.
Hitler besaß eine Version,
Utoya wurde eine
Insel
umschattet,
soghaft.
Ein Boot legt an,
an Bord ein Tod
ein Übergangsadvokat
Böcklin malt ein Boot, das anlegt.
Ein Bootsmann namenlos,
Versionen von Breivik.
An Bord ein Tod,
friedlos,
umsogen,
schattenhaft,
schemenlos,
eine Insel
und

(in: Nora Gomringer: Monster Poems. Voland & Quist 2013. S. 16)

Nora Gomringer ist genau das, was die Lyrik und damit die Literatur braucht; der lebende Beweis dafür, dass sich Lyrik seit ein paar Jahren mit neuem Selbstbewusstsein aus ihrer immer enger werdenden Nische zu befreien weiss. „Stand up“, „Slam Word“ oder „Poetry Slam“ beweisen, dass sich Lyrik nicht mehr abdrängen lässt in staubige, geriatrische oder schöngeistige Gefässe.

 

Semana santa

Als das Mädchen verschwand,
war es verschwunden ganz.
Tag 1 und alle fragten wen:
Wo ist es? Fragten sie und
wohin ist es denn so ganz?
Tag 2 und ein paar schlichen
verlegen aus den Häusern ein und aus.
Tag 3 und die Katzen saßen im Fenster.
Das war kein Zeichen.
Jeder weiß, dass Felidae
die Menschen hassen.
Tag 4 und eine Verwandte sprach ein Gebet
in der Ferne hinter vorgehaltener Hand.
Sehr leise, nachts, im Badezimmer
unter sehr grellem Licht.
Tag 5 und zwei, drei Schalen bargen Dinge
der Verschwundenen. Wer war sie noch?
Tag 6 und es stand eine Ersatzperson
im Garten, erschütternd plötzlich, unter einem Baum.
Tag 7 und es war eine Frau.
Und wie bei Frauen üblich trug sie einen Rock.
Und wie bei Frauen üblich trug sie langes Haar.
Und wie bei Frauen üblich trug sie einen Ring.
Unter ihrem Schleier
– wie bei Frauen üblich –
wurd sie unsichtbar.

(In: Nora Gomringer: Moden. Voland & Quist, Dresden & Leipzig. 2017.)

Nora Gomringer, die Medusa der neuen, deutschsprachigen (Lyrik)Welle, die Sirene, die lockt, schmeichelt und ohne Scham ihre Reize zeigt.

Eugen Gomringer, geb. 1925, ist bolivianisch-schweizerischer Autor und Begründer der Konkreten Poesie. Er war Max Bills Sekretär an der Hochschule für Gestaltung in Ulm, gab die Buchreihe «konkrete poesie – poesia concreta» her aus und war u.a. Professor für Theorie der Ästhetik an der Staatl. Kunstakademie Düsseldorf. 1984 eröffnet er das Kunsthaus Rehau im oberfränkischen Rehau, wo er bis heute lebt.

Nora Gomringer hat sieben Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Für Goethe Institut und Pro Helvetia reist sie um die (Literatur)Welt. Sie war Poetikdozentin an den Universitäten Koblenz-Landau, Sheffield und Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Lyrik 2015 (DVA). Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Berlin, Ahrenshoop, Krems und Novosibirsk wurde ihr 2011 der Jacob-Grimm-Preis als Teil des Kulturpreises Deutsche Sprache und 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Weilheimer Literaturpreis und im Juli den Ingeborg-Bachmann-Preis. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie seit 2010 das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia leitet.

Beitragsbild © Regula Gerber, vlnr: Gabi Umbricht (Moderation), Eugen Gomringer, Nortrud Gomringer, Nora Gomringer

Gertrud Leutenegger «Das Klavier auf dem Schillerstein», Nimbus

Titelgebender Text ist Gertrud Leuteneggers Rede zur Verleihung des Grossen Schillerpreises an den Tessiner Schriftsteller Giovanni Orelli, gehalten 2012. Mittlerweile ist der grosse Tessiner gestorben. Mit dem Text setzt Gertrud Leutenegger dem Dichter ein Denkmal. Einem Dichter, der sich wie Gertrud Leutenegger nicht um Strömungen bemühte, der nicht nach Exklusivität und Originalität suchte, sondern schon in der Art seines Schreibens zum Subversiven wurde.

Gertrud Leutenegger ist in ihrem Denken und Schreiben eine Schwester Giovanni Orellis. Sie kann etwas, was mir selbst vollständig entgeht. Ob sie sich mit den Schriften, dem Schreiben und Streben des Dichters Novalis auseinandersetzt, der untergegangenen Welt der stillen Dichterin Cathrine Colomb oder einer Fahrt im Postauto von Chiasso hinauf in die Berghänge weg vom Tessiner Mendrisiotto – Gertrud Leutenegger taucht in einer Intensität in Welten ein, der ich allerhöchstens in ihren Texten folgen kann. In dieser Feststellung offenbart sich eine Mischung aus Neid und Scham. Gertrud Leutenegger ist erfüllt, durchtränkt von Sprache, Klang und Textmusik. Es ist zu befürchten, dass sie wie der Dichter Giovanni Orelli zu einer aussterbenden Sorte Mensch gehört, die sich nicht betäuben wollen, die sich nicht einmal davor schützen müssen. Gertrud Leutenegger ist im menschlichen Spektrum diametral entfernt von all jenen, die sich in rasenden Zügen, mit Kopfhörern zugestöpselt und mit dem Finger über Minibildschirme wischend durchs Leben zerren lassen. Gertrud Leuteneggers Texte, auch ihre Romane, entschleunigen, zeigen, was Leben und Denken wäre, würde ich mich nicht dauernd wegtragen lassen. Die Schriftstellerin beschreibt im Buch «Das Klavier auf dem Schillerstein» auch eine Reise im Zug mit dem Dichter Gerhard Meier und seiner Frau Dorli nach Graz. Gerhard Meier, auch ein grosser Stiller, ein Massiv an Verborgenem und zu Entdeckendem, ein Gigant hinter der Maske des Kleinbürgerlichen, ein grosser Schweizer Schriftsteller. Ein einziger Satz auf jener Reise war es damals, vor Jahrzehnten, der die Dichterin noch immer umtreibt, der einen tiefen Krater in ihr Bewusstsein gerissen hat und genauso gut als Titel für dieses wunderbare Büchlein gepasst hätte:

«Man muss hysterisch an der Freiheit interessiert sein.»

Was Gerhard Meier genauso wie Gertrud Leutenegger unter Freiheit verstehen, unterscheidet sich erschreckend von dem, was uns die Gegenwart in Medien und Konsum einzubläuen versucht. Ohne es zu wollen ist Gertrud Leutenegger ein Hohelied auf die Langsamkeit gelungen, wider aller Betäubung und jedem hohlen Rausch.

Gertrud Leutenegger, geboren 1948 in Schwyz, studierte nach Aufenthalten in Florenz und Berlin an der Schauspielakademie Zürich Regie und arbeitete als Regieassistentin am Schauspielhaus Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie Romane, Theaterstücke und Essays. Sie lebte viele Jahre in der italienischen Schweiz, einige Zeit in Rom und Japan. Heute wohnt sie in Zürich. Ihre letzten Publikationen sind «Pomona» (2004), «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» (2006), «Matutin» (2008), «Panischer Frühling» (2014).

Am Freitag, den 1. Dezember 2017, um 20 Uhr, liest Gertrud Leutenegger aus „Das Klavier auf dem Schillerstein“ im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG, Moderation: Bernhard Echte, Verleger Nimbusverlag