Annette Mingels «Der letzte Liebende», Penguin

Eine Frage, mit der sich die Literatur wie keine andere Kunstgattung immer und immer wieder beschäftigt; Was ist wichtig im Leben? Wonach streben wir? Wo liegt der Kern unseres Daseins. Annette Mingels beschäftigt sich in ihrem neuen Roman „Der letzte Liebende“ einmal mehr ganz direkt mit diesen Fragen. Mit Fragen, die wir uns irgendwann fast alle stellen werden.

Annette Mingels Roman erzählt die letzten Monate der Ehe von Helen und Carl Krüger – Helen ist todkrank und wird im Laufe des Romans sterben – und die ersten Monate nach ihrem Tod. «Der letzte Liebende“ erzählt aus der Sicht des eremetierten Professors, der mit seinem Ruhestand alles andere als seine innere Ruhe gefunden hat. Von einem Mann, der mit existenzieller Not konfrontiert wird und mit der Tatsache, dass gewisse Dinge uneinholbar verloren sind, Türen verschlossen bleiben.

Die Ehe zwischen Helen und Carl war schon lange nicht mehr das, was man sich unter einer funktionierenden Ehe vorstellt. Schon früh begann das Fundament zu bröckeln, nicht nur weil vorest der Kinderwunsch verwehrt blieb, sondern vor allem deshalb, weil Carl es nicht lassen konnte, aussereheliche Beziehungen entstehen zu lassen, nicht zuletzt in der Machtposition eines Professors einer Uni. Beziehungen, die sich nicht verheimlichen liessen. Selbst als sich mit dem Adoptivkind Lisa doch noch so etwas wie Familie einstellte. Irgandwann wurde Helens Leidensdruck so gross, dass sie Carl vor ein Ultimatum stellte. Aber selbst Carls Entscheidung gegen seine Geliebte rettete weder Ehe noch Familie. Helen zog sich in die oberen Stockwerke des grossen Hauses zurück. Man traf sich höchstens noch zufällig. Und als Helen krank wurde und ihre Ablehnung ihrem Ehemann gegenüber immer mehr zur Aversion, kippte auch Carls längst ramponierte Beziehung zu seiner Tochter Lisa in blanke Abneigung. Helens Sterben, ihr Tod gab Carl keine Möglichkeit mehr, an etwas Konstruktives anzudocken. Er hatte es verpasst.

«Ob das, was er fühlte, Einsamkeit war oder nur Erschöpfung, wusste er selbst nicht.»

Annette Mingel «Der letzte Liebende», Penguin, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-328-60295-8

Was sich nach dem Tod seiner Frau in Carl ausbreitet, hat schon lange zuvor begonnen. Eine lähmende Einsamkeit. Er weiss um seine Fehler, aber die Adressatin für eine aktive Wiedergutmachung, wenn sie dann überhauptmöglich wäre, ist tot. Carl weiss um seine Versäumnisse. Die Autorin beschreibt subtil, wie sehr sich Carl nur mühsam aus seiner Egozentrik herausschälen kann. Wäre da nicht Lisa, die selbst mit ihrem eingeschlagenen Berufsweg ihre Abneigung Carl gegenüber verdeutlicht; nur ja keine akademische Karriere! Helen stirbt und Carl droht damit noch viel mehr zu verlieren, als „nur“ eine Weggefährtin.

Bis ihm ein ehemaliger Kollege ein Romanmanuskript in die Hand drückt, in dem die Hauptperson ziemlich genau die Züge von Carl trägt. Ein Roman, den Karl mit ebensoviel Ekel wie Entrüstung liest. Bis Carl dem Sohn seiner Tochter, seinem Enkel, eine Reise in Carls Herkunftsland verspricht und sich auf dieser Reise in die Vergangenheit Perspektiven verschieben. Bis allen Teilnehmenden dieser anstrengenden Reise klar wird, dass sich hinter den Geschichten andere Geschichten verbergen und nur diese Geschichten klären können.

«Womöglich hatte er sein ganzes Leben lang etwas Entscheidendes übersehen.»

Annette Mingels erzählt nicht einfach von einem „alten, weissen Mann“, von Rollenbildern, die zaghaft aufbrechen und von Szenen einer kaputten Ehe. Es braucht unsäglich viel, bis Carl seine alte Schale aufbricht. Und von genau diesem langsamen Aufbrechen erzählt dieser Roman. Als Leser schüttelte ich immer wieder einmal den Kopf, tat mich schwer mit den Reaktionen dieses Mannes. Aber genau das will Annette Mingels; Auch wenn sie dem alten, weissen Mann dann doch noch entgegenkommt, will die Autorin keine rührselige Geschichte erzählen. Wann werden Schalen zu Rüstungen? Warum kann man sich nicht mehr aus seiner Rolle befreien, auch wenn man offenen Auges in die Katastrophe schreitet?

Ich mag den Protagonisten, weil Annette Mingels ehrlich und unmittelbar erzählt. Weil sie den Mann in seiner grenzenlosen Einsamkeit nicht schont. Und weil sie selbst diesen Mann mag. Ein absolut lesenswertes Buch!

Das Haus, das die Autorin von 2009 bis 2012 bewohnte, Myrtle Lane, NJ

Interview

Es hätte doch auch eine emeritierte Professorin sein können. Oder bot sich der „alte weisse Mann“ als ideale Projektionsfläche an?
Tatsächlich wurde ich zur Figur des Carl durch eine konkrete Begegnung inspiriert; für ein anderes Projekt interviewte ich einen emeritierten Professor, der auf verblüffende Weise gleichzeitig modern und in alten Privilegien verhaftet war. Es hätte tatsächlich auch eine emeritierte Professorin sein können – nur wäre es dann ein anderes Buch geworden, eines über eine „alte weisse Frau“, die ja tatsächlich auch das Gegenstück zum „alten weissen Mann“ ist und in vielfältiger Weise in Interaktion zu selbigem steht. Sie kommt im Roman nur indirekt vor – in Form von Carls Ehefrau Helen. Ihre Geschichte zu erzählen, könnte tatsächlich spannend sein.

Es muss im langen Leben von Carl unendlich viele Signale gegeben haben, die seine Egozentrik verdeutlichten. Aber er wollte sie weder sehen, hören oder spüren. Er wollte sein Leben leben, geniessen, seine Möglichkeiten ausschöpfen. Erst die Gewissheit der Endlichkeit, zuerst das Sterben und dann der Tod seiner Frau, dann die Angst vor totaler Einsamkeit bringen Carl dazu, sich millimeterweise aufzutun. Leben wir nicht in einer Zeit, in der die eigene Befindlichkeit alles andere relativiert? Hätten wir wirklich ein gemeinschaftliches Bewusstsein, würde uns die Gegenwart nicht grün und blau schlagen.
Ja, Carl hat die Signale gesehen und bewusst ignoriert, weil sie ihm dabei im Weg standen, das zu tun, was ihn glücklich machte. Er selbst würde sofort zugeben, dass er ein Egozentriker (gewesen) sei, aber dies sofort mit dem jedem Menschen zustehenden individuellen Glücksstreben entschuldigen. Erst als seine Möglichkeiten im hohen Alter immer geringer werden und ihm ausserhalb seiner Familie nicht viele Menschen bleiben, lässt er die Erkenntnis und auch ein Bedauern darüber zu, wie rücksichtslos er gewesen war. Was allerdings nicht bedeutet, dass er es – gäbe es ein nächstes Mal – besser machen würde. Trotzdem mag ich Carl – vor allem, weil er sich nicht einredet, es gut gemacht zu haben. Er ist sich seiner Fehler bewusst und weiss, dass die Zuneigung und Fürsorge seiner Tochter Lisa unverdient ist.

Carl, die Familie, sie machen eine Reise. Auch wenn die Reise nicht das brachte, was sich jeder erwartete, war die Reise, schon die Entscheidung dazu, ein erster Schritt, einer aus der Komfortzone. Eigentlich ist doch Mut der Schlüssel zu so vielem! Ist man als Schriftstellerin mutig? Man kann ja seine ProtagonistInnen agieren lassen.
Ja, das sagen Sie sehr richtig: man lässt seine ProtagonistInnen agieren – und das im ganz wörtlichen Sinne: Wenn ich einmal zu schreiben angefangen habe, entwickeln sich die Figuren oft in einer auch für mich unvorhergesehenen Weise und bekommen so etwas wie ein Eigenleben. Von daher ist mein Schreiben, glaube ich, oft mutiger als ich selbst.
Den Mut, den es dann von mir als Autorin noch braucht, ist der, mich mit einer Veröffentlichung der Kritik auszusetzen. Darüber hinaus bin ich, fürchte ich, nicht besonders mutig. Aber es gibt natürlich überall da, wo eine solche Veröffentlichung tatsächlich Mut erfordert, weil nicht nur Kritik, sondern auch Bestrafung droht – in repressiven Systemen – durchaus sehr mutige Autorinnen und Autoren.

„Schon seit einigen Jahren hatte er das Gefühl, dass er kaum noch gesehen wurde“, steht ziemlich am Anfang ihres Buches. Nicht ungewöhnlich für einen Mann, der sich während seiner Berufszeit stets im Mittelpunkt sah. Aber zugleich ein symptomatischer Satz für unsere Zeit, in der sich eine Influenzerin die Lippen zu Ballons aufblasen lässt und man um jeden Preis den Mount Everest besteigt, in der man dauernd Selfies von sich macht oder es zum Lebensziel werden kann, wenigstens einmal im Fernsehen zu erscheinen. Carl zieht sich nicht zurück, er wird abgedrängt. Brauchen wir um jeden Preis Aufmerksamkeit? Wo bleibt die Bescheidenheit?
Carl hatte durch seinen Beruf und durch seine relative Attraktivität eine Position, in der ihm fast automatisch Aufmerksamkeit zuteil wurde; sie war sogar wesentlicher Bestandteil dessen, was er an seinem Beruf liebte. Die ungeliebte Emeritierung und das Alter nehmen ihm nun das, was ihm viel bedeutete. Für mich ist er nicht jemand, der um jeden Preis auffallen will und seine 15 Minuten Ruhm braucht, aber er ist durchaus angewiesen auf Anerkennung und positive Resonanz, vielleicht auch, weil er diese innerhalb seiner Familie – auch selbstverschuldet – nicht erhält. Bescheiden muss er sich zwangsläufig; Bescheidenheit ist aber nicht seine stärkste Tugend. In diesem Punkt steht er wohl im Einklang mit unserer Gesellschaft.

Mit ihrem Roman setzen Sie die Familie auf ein Podest. Als Familienmensch sollte mir das gefallen. Und doch bröckelt dieses Fundament, dieses Ideal. Nicht zuletzt deshalb, weil dieses Ideal aus dem Fokus geraten ist. Nicht verwunderlich bei all den grassierenden Problemen, die sich nicht mehr ausblenden lassen. Wo Carl am Ende ihres Romans steht, ist in der Schwebe. Wo ich am Ende meines Lebens stehe, weiss ich nicht. Aber das Wissen um die Kraft der Familie werde ich dann brauchen. Ist das Schreiben eine Schärfung des Bewusstseins um die Frage: Was ist wichtig?
Ja, ich glaube, die Frage nach dem, was uns wichtig ist, bildet für die meisten Schriftsteller und Schriftstellerinnen den Resonanzboden ihres Schreibens und tritt in diesem in verschiedenster Weise immer wieder zutage. So liegt eigentlich all meinen Büchern eine grundsätzlich humanistische Betrachtung des Individuums zugrunde –  seiner Möglichkeiten und Grenzen, seiner Liebesbegabung und seiner Fehlbarkeit. Der enge Kosmos der Familie lässt all dies in besonderer Weise zutage treten; wie unter einem Brennglas zeigen sich hier die menschlichen Stärken und Schwächen.

Annette Mingels wurde 1971 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg und schloss mit einer Promotion in Germanistik ab. Von 1997 bis 2009 lebte sie in der Schweiz; neben der deutschen besitzt sie die schweizerische Staatsbürgerschaft. In der Schweiz hatte sie Lehraufträge an den Universitäten Neuenburg und Fribourg, ausserdem am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Von 2009 bis 2011 lebte sie in Montclair (USA), anschliessend in Hamburg. Von 2018 bis 2021 lebte sie in San Francisco, seitdem bei Berlin. Für ihre Bücher erhielt Annette Mingels zahlreiche Stipendien und Werkbeiträge. Für ihr Buch “Was alles war” (Knaus, 2017) ausserdem den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Hendrik Lüders 

Dörte Hansen «Zur See», Penguin

Eine Insel in der Nordsee. Es sind nicht mehr die Gezeiten, nach denen sich das Leben auf dieser Insel richtet, sondern nach den Touristenströmen, die sich mit den Fähren auf die Insel ergiessen. Man fischt nur noch für die Gäste, Gastrozulieferer bringen vorgefertigte Kost, in den Läden verkauft man Souvenirs und jedes Zimmer, das vermietet werden kann, bedeutet Kasse.

Wie sehr wir uns vom Idyll gezogen fühlen, beweist die Tatsache, dass von der vorübergehenden Flugscham wenig bis gar nichts geblieben ist. Ob Alpenidyll, Lagunenidyll, ob Dschungelidyll, Safariidylll oder Inselidyll – nur für jene Idyllen, die mit fettem Portmonee und sicherem Rückreisedatum jenen Mythen huldigen, die von Hochglanzbildern, InfluenzerInnen und Werbestrategien dem gestressten Zeitgenossen jenen Teil des Lebens durch die Nase ziehen wollen, der sich beinahe paradiesisch anfühlen soll.
Zugegeben, dieser Sehnsucht nach einem solchen Idyll bin auch ich schon unzählige Male erlegen, ob nun ganz weit oben in den Kärntner Bergen mit Sicht nach Slowenien mir Aussicht auf bewaldete Täler, schroffe Berge und einen immensen Himmel oder in einem Landhaus im Burgund unter dem Dach eines Freundes.

Von einem solchen Idyll erzählt Dörte Hansen, die sich mit „Zur See“, ihrem dritten Roman, fulminant im Literaturzirkus zurückmeldet. Nach „Altes Land“ und „Mittagsstunde“, die beide preisgekrönt viel Resonanz erfuhren, schrieb Dörte Hansen mit „Zur See“ einen Roman, der in nichts, seinen Vorgängern nachsteht, ganz im Gegenteil.

Dörte Hansen «Zur See», Penguin, 2022, 256 Seiten, CHF 34.90, ISBN -3-328-60222-4

Vordergründig erzählt die Autorin die Geschichte der Familie Sander, die seit Generationen auf der kleinen Nordseeinsel lebt. Einer Insel, die sich über Jahrhunderte vom Fisch- und Walfang ernährte, einer Insel, von der ihre BewohnerInnen nur in den seltensten Fällen ungezwungen den Weg zum Festland wählten.
Im Haus von Hanne Sander ist es ruhig geworden. Obwohl ihr Mann und ihre drei erwachsenen Kinder alle auf der Insel geblieben sind, treffen sich ihre Wege nur noch dann, wenn es nicht zu vermeiden ist. Jens, der Vater, hat sich nicht nur von der Seefahrt verabschiedet, sondern gleich auch von seiner Familie. Er hockt viel lieber in den Dünen, beobachtet Vögel oder stopft welche aus. Ryckmer Sander, der Älteste, einst Kapitän auf einem Frachter, dem Alkohol verfallen, mogelt sich durch ein Leben, das alles zur Fassade macht. Eske, die Tochter, arbeitet als Altenpflegerin auf der Insel, sieht, was bleibt, wenn aus ehemaligen Nachbarn Geister werden, dröhnt sich ihre Wut mit lauter Musik weg und macht ihre Haut mit Tätowierungen zur Kampfansage. Zufrieden mit sich selbst scheint einzig des Jüngste, Henrik, der aus Strandgut Dinge zusammenbaut, die andere als Kunst kaufen, der genügsam in seiner Hütte lebt, den Dingen mehr verbunden als allem, was lebendig ist.

Als auf der Insel der Tourismus begann, änderte sich alles. Auch im Haus von Hanne. So still es in den Wintermonaten war, ausser es lärmten Stürme, so hektisch wurde es in den warmen Monaten, wenn die Kinder ihre Zimmer für Gäste räumen mussten, wenn sich alles, jeder Gegenstand im Haus, in den Dienst der Gäste zu stellen hatte, wenn Hanne etwas bekam, was sie von niemandem sonst bekam. Aber nicht nur im Haus der Sanders drehte der Wind. Auch überall sonst; in den Gasthäusern, den Läden, der Schifffahrt, am Strand, ja selbst in der Kirche. Alles bettelte um die Aufmerksamkeit der zahlenden Gäste. Es war unendlich viel einfacher, als täglich zur See zu fahren, um dem Meer den einen oder andern guten Fang abzutrotzen, immer mit dem Risiko, Leben draussen zu lassen.

Hintergründig erzählt Dörte Hansen die Gegenwart der Insel, eines Touristenorts. Von den Menschen, die geblieben sind, an einem Ort, an dem nichts so geblieben ist, wie es einmal war und alles nur noch Geschichte erzählt. Hannes Haus ist zu einem Museum geworden, Ryckmer, ihr Ältester zur Karikatur eines Seefahrers. Eine Insel, die sich verkauft hat, nicht zuletzt weil sich viele Inselbewohner selbst das Leben auf der von aggressiver Imobilienpekulation heimgesuchten Idylle nicht mehr leisten können. Sie arbeiten noch auf der Insel, leben aber auf dem Festland.

Bis eines Tages ein ausgewachsener Pottwal am Ufer der Insel strandet. Ein riesiges Tier, das vor den Augen der Inselleute verendet, das man auf den Parkplatz zieht und von Menschen zerlegt wird, die nicht von der einstigen Fisch- und Walfängerinsel kommen. Ein Tier aus den Tiefen der See, das zu stinken beginnt. Hanne versuch mit aller Kraft, in Besitz des Skeletts zu kommen, als Attraktion für ihr Museum.

Was für Touristen wie Idylle aussieht, ist wie ein toter Wal am Strand, stilles Spektakel. Dörte Hansen beschreibt den langsamen Kippvorgang, jenen in der Familie Sander, jenen auf der Insel selbst. Jenes Kippen, das keinen Touristen interessiert. Er will bespasst werden. Dörte Hansen erzählt vielschichtig, feinmaschig und äusserst emphatisch. Man kann vom Roman exzellent unterhalten werden. Aber „Zur See“ ist auch ein Statement, ein überaus kraftvolles und überzeugendes!

Dörte Hansen, geboren 1964 in Husum, arbeitete nach ihrem Studium der Linguistik als NDR-Redakteurin und Autorin für Hörfunk und Print. Ihr Debüt «Altes Land» wurde 2015 zum «Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels» und zum Jahresbestseller 2015 der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihr zweiter Roman «Mittagsstunde» erschien 2018, wurde wieder zum SPIEGEL-Jahresbestseller und mit dem Rheingau Literatur Preis sowie dem Grimmelshausen Literaturpreis ausgezeichnet. Dörte Hansen, die mit ihrer Familie in Nordfriesland lebt, war Mainzer Stadtschreiberin 2022.

Beitragsbild © Sven Jaax

Abdulrazak Gurnah «Nachleben», Penguin

Der 2021 mit dem Literaturnobelpreis gekürte Abdulrazak Gurnah schrieb mit seinem Roman „Nachleben“ ein Panorama einer Familiengeschichte, eines Stücks Kolonialgeschichte und erweist sich als brillanter Geschichtenerzähler, dem man gebannt bis in die feinsten Verästelungen folgt.

„Nachleben“ ist die Geschichte zweier Askari, jenen einheimischen Soldaten, die sich im 20. Jahrhundert in den Dienst ihrer Kolonialmächte stellten und sich als „Schutztruppen“ in Afrika als elitär und privilegiert sahen, obwohl die meisten von ihnen im Kampf umkamen, an Krankheiten und Entbehrungen starben, desertierten und verschwanden.

Ilyas ist noch ein Kind, als er sein Zuhause in Ostafrika verlässt, in eine deutsche Missionsschule gerät, dort Lesen und Schreiben lernt und schlussendlich in den Dienst eines Kaufmanns gestellt wird. Aber Ilyas, der sich der deutschen Sprache mehr als verbunden fühlt, lässt sich in den Wirren zu Beginn des ersten Weltkriegs in Afrika zu eben diesen Schutztruppen anheuern, obwohl er eine kleine Schwester, die einzig Übriggebliebene seiner Familie in der Obhut jenes Kaufmanns zurücklässt. Ilyas wird Soldat, ein Askari und taucht trotz seines Versprechens an seine kleine Schwester nie mehr auf. Afyia wächst als Zurückgelassene auf, führt ein Schattendasein im Haushalt des Kaufmanns, von dessen Frau mit Argwohn beobachtet und drangsaliert.

Abdulrazak Gurnah «Nachleben», Penguin, aus dem Englischen von Eva Bonné, 2022, 384 Seiten, CHF 37.90, ISBN 978-3-328-60259-0

Hamza kehrt als Verwundeter aus dem Krieg an der afrikanischen Front zurück. Als Askari gelang es ihm nur knapp, dem Gräuel, dem Tod zu entkommen. Lebensgefährlich verletzt wird er weitab vom kriegerischen Geschehen von einem deutschen Missionarenpaar gesund gepflegt, bevor er Jahre später verunsichert, scheu und traumatisiert an jenen Ort zurückkehrt, der einst sein Zuhause war. Er findet neben Arbeit bei eben jenem Kaufmann auch dessen Vertrauen. Nicht nur weil er lesen und schreiben kann und Deutsch versteht, sondern weil Hamza in seiner vertrauensseligen, ruhigen Art den unruhigen Kaufmann zu faszinieren versteht. Hamza wird zu einer Stütze in den vielfältigen Geschäften des Kaufmanns und lernt die junge Frau kennen, die wie ein Schatten im Haus seines Patrons wohnt.

Hamza und Afyia werden ein Paar. Und obwohl beide nichts als nur sich selbst besitzen und nichts in ihrem Leben in Richtung Glück zeigt, gewinnen die beiden immer mehr das Vertrauen ihres Umfelds, ziehen nach der Heirat gar ins Haus des Kaufmanns und gründen nach schmerzhaften Fehlgeburten eine kleine Familie. Der kleine Junge heisst Ilyas, so wie der verschollene Bruder seiner Mutter. Ein Umstand, der den Verschollenen in Erinnerung halten soll, so wie die Hoffnung, er würde dereinst doch noch auftauchen. Aber mit dem Namen legt sich auch ein „böser“ Geist auf den kleinen Jungen, der sich immer mehr in sich zurückzieht und von einer Stimme heimgesucht wird. Irgendwann wird klar, dass Hamza sich darum bemühen muss, nach Klarheiten um das Verschwinden seines Schwagers zu suchen, um Ruhe in seine Familie zu bringen. Aber erst als der junge Ilyas, mittlerweile selbst erwachsen zu Weiterbildungen in Deutschland unterwegs sich für seine Familie auf die Suche nach seinem gleichnamigen Onkel macht, kehrt jene ersehnte Ruhe in die Familie von Hamza und Alyia ein.

Was am Roman des Nobelpreisträgers fasziniert, ist seine Sicht auf die Geschichte, sein Erzählton und wie er mit Akribie bis in die feinsten Verästelungen hineinerzählt. Was unter Kolonialisierung auf den verschiedensten Kontinenten in den vergangenen Jahrhunderten Länder, Völker, Schicksale zerriss, ist von keiner dieser Kolonialmächte mit Ernsthaftigkeit und den entsprechenden Konsequenzen aufgearbeitet worden. „Nachleben“ ist ein Nachbeben. Er erzählt von einem gewaltsamen und blutigen Stück Geschichte, das viel zu wenig ins Bewusstsein Europas eingedrungen ist und viel lieber verdrängt wird. Abdulrazak Gurnah erzählt ohne Verurteilung, ohne Groll. Nicht einmal den Schrecken des Krieges schildert er so, wie man ihn der Geschichte entsprechend hätte schildern können, brutal und vernichtend. Abdulrazak Gurnah konzentriert sich auf die Verwundungen der Seele. Dass jede Grausamkeit ein Nachleben hat, eines, dem man sich stellen muss. 

Und dann diese Meisterschaft bis ins Kleinste. Abdulrazak Gurnah beschreibt ein Panorama, aber stets mit der Perspektive hinein in das Kleine, Feine, ohne dass er das Innenleben seiner Protagonistïnnen aufbläht. Selbst Gefühle zeichnet er durch die feinen Beschreibungen ihres Tuns. Mag sein, dass man seinen Erzählstil etwas altmodisch empfindet. Für mich schreibt da einer mit grösster Sorgfalt und unendlichem Respekt für sein Personal.

Abdulrazak Gurnah (geb. 1948 im Sultanat Sansibar) wurde 2021 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er hat bislang zehn Romane veröffentlicht, darunter «Paradise» (1994; dt. «Das verlorene Paradies»; nominiert für den Booker Prize), «By the Sea» (2001; «Ferne Gestade»; nominiert für den Booker Prize und den Los Angeles Times Book Award), «Desertion» (2006; dt. «Die Abtrünnigen»; nominiert für den Commonwealth Writers› Prize) und «Afterlives» (2020; dt. «Nachleben»; nominiert für den Walter Scott Prize und den Orwell Prize for Fiction). Gurnah ist Professor emeritus für englische und postkoloniale Literatur an der University of Kent. 

Eva Bonné, 1970 geboren, studierte amerikanische und portugiesische Literaturwissenschaft in Hamburg, Lissabon und Berkeley. Seither übersetzt sie Literatur aus dem Englischen, unter anderem von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie lebt in Berlin.

Beitragsbild © Anna Weise

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin

Die Frage nach dem Glück stellt sich immer wieder, mit Sicherheit in jeder Lebensphase anders, aber permanent. Coordt hat ein genaues Bild davon, was Glück sein könnte, gemeinsames Glück, das mit seiner Familie, seiner Frau, seinem kleinen Sohn. Wie sehr sich vermeintliches Glück ins Gegenteil verschieben kann, erzählt Natalie Buchholz subtil und gekonnt.

Ganz persönliches Glück kann sich grundsätzlich von familiären Glück unterscheiden. Coordt selbst glaubt sehr genau zu wissen, was es dazu bräuchte. Coordt ist glücklich verheiratet, auch wenn sich Schatten in seine Ehe geschlichen haben. Coordt ist glücklicher Vater, auch wenn der Kleine zu oft schreit und alle Energie seiner Frau zu binden scheint. Coordt ist glücklich in seinem Beruf, auch wenn es da noch Spielraum gäbe, nicht zuletzt in Sachen Salär. Grund für das latente Unglück ist ihre Wohnung; zu klein, zu eng, zu laut, zu stickig. Aber in München für eine junge Familie bezahlbaren Wohnraum zu finden, grenzt an Zufall. Und wenn sich dann vor einem solchen Objekt der Begierde eine lange Schlange bildet, lauter junge Leute, Familien einen Blick in Wohnraum werfen wollen, der in der Annonce fast unglaubhaft schien, macht sich Mutlosigkeit schon vor der Absage breit. Aber Coordt bleibt in der Reihe, bis ihm eine adrett gekleidete Dame, die sich als Besitzerin vorstellt, die Wohnung zeigt; alles wie aus dem Hochglanzprospekt – grosszügig, noch nicht lange renoviert, der Boden wie frisch gebohnert, flächenmässig mehr als doppelt so gross, wie das kleine Verliess, in dem er mit seiner unglücklichen Familie haust.

Natalie Buchholz «Unser Glück», Penguin, 2022, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60188-3

Eine Sache sollten sie wissen. Das eine Zimmer bleibt untervermietet. Mein Ex-Mann. Er will nicht ausziehen. Mein Ex-Mann wird sie nicht stören. Coordt hatte eine Ahnung. Alles wirklich Gute muss einen Haken haben.Wohl auch der Grund dafür, dass alle vor ihm die Wohnung mit verzerrten Gesichtern verliessen. Und als dieser eine Mann dann urplötzlich im Flur steht, um die siebzig, gross, adrett gekleidet und den Satz parkiert Ziehen Sie hier ein, mache ich ihnen das Leben zur Hölle, scheint die Sache gegessen, wenn da die Not nicht wäre, das Wissen, dass die alte Bleibe seine Frau wie ein Mühlstein in dunkle Tiefen zieht.

Coordt geht nach Hause und erzählt seiner Frau. Wenig später ziehen sie tatsächlich ein. Aber während sich mit einem Mal das Familienglück zurückfindet, seine Frau Franziska regelrecht aufhellt und der Kleine seine Ruhe findet, nistet sich der unsichtbare Untermieter in Coordts ramponiertes Seelenkostüm ein. Noch viel mehr, als er feststellen muss, dass sich der Untermieter in seiner Abwesenheit seiner Familie ganz langsam annähert. Erst recht, als er ihnen ein Angebot macht. Er, Coordt, solle ausziehen, so lange, bis er, der kranke Untermieter, verstorben sei und die Wohnung als Geschenk an sie überginge, weil ich die Illusion brauche, eine Tochter zu haben, so wie ich sie mir immer gewünscht habe. Ein unmoralisches Angebot. Coordt solle unsichtbar werden zum Preis einer Wohnung, die sie sich nie würden leisten können.

Weil Coordts Frau Franziska mit Feuer und Flamme an diese Chance glaubt, willigt Coordt ein. Er zieht tatsächlich aus, mietet sich in einer kleinen Zweizimmerwohnung ein, trifft sich nur noch ausserhalb der Wohnung und an den Wochenenden mit seiner Familie und wartet. Aber kann man auf das Glück warten? Lässt sich das Glück versprechen? Während der seltsame Untermieter sein Glück gefunden hat, entfernt es sich von Coordt immer mehr. Statt sich in diese eigentümliche Situation hineinzugeben, verliert sich Coordt in seinem Unglück, der Art und Weise, wie sich der alte, scheinbar kranke Mann in ihr Leben drängt. Der Mann wird zur Obsession.

Natalie Buchholz Roman ist eine eigentliche Versuchsanordnung. So wie Literatur sehr oft ein „Was wäre wenn“ ist. Obwohl Coordts Frau Franziska wieder zu der wurde, die sie einmal war, die Coordt geheiratet hatte, obwohl das Glück in absehbarer Nähe wartet, obwohl Franziska mit der aufgezwungenen Situation sehr wohl zu recht kommt, reitet sich Coordt in sein eigenes Unglück. Und um die Geschichte noch zu komplizieren, wird nach dem Tod des Untermieters nichts so, wie man es sich vorstellte.
Ich erinnere mich an den Film „Ein unmoralisches Angebot“. Letztlich geht es auch bei diesem Roman um die Verlockungen sicheren Geldes. Dass das Glück nicht käuflich ist. „Unser Glück“ setzt sich nicht nur mit Rollen auseinander, der ewigen Ungleichheit der Rollen. „Unser Glück“ ist ein Roman darüber, wer und was Grenzen ziehen muss und soll. Spannend!

Interview

Ich weiss, dass die Mietwohnungsnot in deutschen Städten gross ist, dass immer mehr Immobilien zu unbezahlbaren Kapitalanlagen gemacht werden. Auch in der Schweiz ist in grossen Städten Gleiches feststellbar. Trotzdem ist Ihr Roman ja nicht einfach ein Roman um dieses Problem, sondern eine eigentliche Versuchsanordnung. Was würde passieren wenn. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Wohnraum wird unbezahlbar. Das betrifft nicht nur München, sondern die meisten Metropolen. Was mich an diesem Thema am meisten interessiert hat, ist der immense Druck, den die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Menschen, den Alltag, die Beziehungen – einfach alles – haben. So entstand die Idee, ein Psychogramm einer jungen Familie zu entwerfen. Was passiert, wenn das Zuhause zu einer wirtschaftlichen Verhandlungssache wird? Im Roman ist es Bobo, ein ominöser Mitbewohner, der der Familie ein Angebot macht, das es in sich hat: es kann ihre Zukunft sichern oder sie für immer spalten. Woran liegt uns mehr, an unserer Unabhängigkeit oder an einem repräsentativen Zuhause, das Raum zur Entwicklung bietet? Mir war es wichtig zu zeigen, dass es die eindeutige und für alle richtige Entscheidung nicht gibt. Wie in einem Vexierbild ergibt sich aus der Perspektive jeder Figur eine andere Sicht auf Bobos Angebot.

Die beiden haben in Liebe geheiratet und eine Familie gegründet. Aber weil die erste Wohnung eher ein Loch war, die Rollenverteilung nie wirklich ausdiskutiert wurde, das Glück sich zu verabschieden drohte und man sich plötzlich in Sachzwängen verstrickt fühlte, wurde aus einem „schrägen“ Angebot ein möglicher Weg zurück ins Glück. Lassen wir Menschen uns zu leicht mit Versprechungen betäuben?
Es gibt einen wunderbaren Satz des Schweizer Künstlerduos Fischli & Weiss: «Sucht mich das Glück am falschen Ort?» Das trifft für mich den Kern der Frage nach dem Glück, weil es das Glück an sich nicht in Frage stellt, sondern die äusseren Begebenheiten, die auch mal aus einer betäubenden Versprechung bestehen können. Aber wer sagt denn, dass Versprechungen nicht zum Glück verhelfen können? Das auszuprobieren ist für manchen verwerflich, für andere vernünftig. Und wie so oft liegt die Wahrheit, und damit das Glücksversprechen, wohl irgendwo in der Mitte.

Müsste man sich zu Beginn einer Beziehung, des Abenteuers Familie nicht erst einmal ganz genau darüber unterhalten, was eigenes und familiäres Glück bedeutet?
Glück ist wandelbar – und was einst wichtig ist, muss für später nicht mehr gelten, weil ganz anderes an Bedeutung gewonnen hat. Vielleicht kann ein gemeinsamer Blick auf die Wandelbarkeit von der Vorstellung von Glück ein interessanter Abgleich sein. Und wahrscheinlich schadet eine offene Kommunikation, welche Vorstellung von Glück und Leben man hat, keiner Beziehung. Doch die Karten werden ständig neu gemischt – wäre es nicht vielleicht doch besser gewesen, den Joker zu legen und ihn nicht für später aufzubewahren?   

Dieser eine Mann, der sich in Franziska eine Tochter auf Zeit erzwingt, ist ebenfalls auf der Suche nach dem Glück. Ein Glück, das er sich letztlich erkauft. Und wenn man Ihren Roman liest, scheint ausgerechnet er der einzige zu sein, der sein Glück finden konnte. Hat Geld und Glück, Glück und Geld eben doch einen kausalen Zusammenhang?
Ja, den gibt es. Ich weiss, es würde weitaus sympathischer klingen, da weniger kapitalistisch, wenn ich antworten würde, dass man sich Glück und glücklich sein nicht erkaufen könne. Das kann man bekanntlich auch nicht. Aber was Geld kann: einem grundlegende Sorgen nehmen wie die Miete, den Kredit, die Kita, die Versicherungen und so weiter. Und damit kann Geld mehr Spielraum zur Entfaltung geben. Also eine gute Basis schaffen, auf der sich aufbauen lässt. Bobo weiss, dass er sich etwas erkaufen kann, weil er Macht hat. Dadurch gewinnt er Glück – wenn auch nur auf Zeit.

Ihr Roman ist auch ein Roman über Wahrnehmung. Coordt sieht die Situation ganz anders als seine Frau Franziska. Coordt sackt förmlich ab in den Interpretationen seiner Wahrnehmung. Wie soll man sich davor schützen? Wie schützt sich Natalie Buchholz davor?
Coordt ist jemand, der alles für seine Frau und seinen Sohn tun würde, damit sie zufrieden sind. Er ist insgesamt eher von passiver Natur, lässt andere die Entscheidungen fällen, statt zu sagen, was er möchte. Keine Entscheidung zu fällen ist allerdings auch eine Entscheidung. Das ist sein Dilemma. Coordt lässt sich in Situationen hineinsteuern und versucht erst im Nachhinein, Entscheidungen, die ihm widerstreben, zu revidieren, indem er sie untergräbt. Darin verliert er sich. Wie sich Coordt davor hätte schützen können und wie ich mich selbst davor schütze? Kopf und Herz zusammenzubringen, ist wohl die Königsdisziplin des Lebens. Im Zweifelsfall: geradeaus dem Herzen folgen, denn der Kopf hinkt ihm hinterher.

Natalie Buchholz, 1977 in Frankreich geboren, studierte Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis an der Universität Hildesheim und an der Université Aix-Marseille. 2018 erschien ihr Romandebüt «Der rote Swimmingpool». 2020 wurde sie mit dem Spiegelungen-Preis für Minimalprosa ausgezeichnet. Die Autorin lebt und arbeitet in München und im Inntal.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Peter v. Felbert

Annette Mingels «Nymphe», Plattform Gegenzauber

Sie kam zu spät, die anderen hatten schon mit dem Essen begonnen. Es war nur noch ein Platz frei, zwischen einem Mann und einer Frau. Wenn die Frau lächelte, wirkte es, als würde sie eine Übung durchführen, deren Ablauf sie beherrschte, an deren Sinn sie aber zweifelte. Der Mann war zierlich mit strähnig blondem Kinderhaar und schnurgeradem Scheitel. Auf dem Tisch standen große Schüsseln mit Miesmuscheln, jemand füllte ihren Teller, ein anderer ihr Glas. „Entschuldigung“, sagte sie nochmals, aber außer dem Mann neben ihr schien es niemand zu hören. Er sagte, „angenommen“, und hob sein Weinglas. „Pavel.“ „Mona“, sagte sie. Dann tranken sie.

Es ging um Politik, den Flüchtlingsstrom, der sich durch Mexiko zog, eine Wanderung von zweitausend Menschen. Viertausend, korrigierte einer. Und da kommen noch mehr, versprach ein anderer.
„Da war diese Mutter“, erzählte die Frau, die Mona schräg gegenüber saß. Ein beeindruckender Afro über einem ebenmäßigen Gesicht, irgendwie kostbar, dachte Mona, wie eine dieser kunstvoll geschnitzten Holzmasken. „An einem Seil kletterte sie von der Brücke auf ein Floß, um den Grenzfluss zu überqueren. Und ihr hinterher ihre Kinder, ganz fassungslos vor Angst.“ „Habe ich auch gesehen“, warf jemand vom anderen Tischende ein. „Und dann das Interview mit ihr!“
„Ja“, sagte die Frau. „Als der Reporter zu ihr sagt: Trump schickt Militär an die Grenzen, und sie nur entgegnet: Gott hat das letzte Wort, nicht Trump.“ „Zu flüchten, ist so unvernünftig. Aber zu bleiben auch“, sagte ein Mann mit grauen, millimeterkurzen Haaren. Er trug eine dickrandige Brille, wie sie vor einigen Jahren modern gewesen war. Ein asketisches Gesicht, schmaler Clark Gable Schnurrbart. Bestimmt Künstler, tippte Mona, vielleicht bekannt. Oder verkannt. Auf jeden Fall der Älteste hier. Sie zählte lautlos die Anwesenden, mit Felix, dem Gastgeber, waren sie dreizehn. Die dreizehnte Fee, dachte sie. Die zu spät kam. Wütend, weil für sie kein goldener Teller mehr da war.
„Das ist es, was Trump nicht kapiert“, fuhr der Künstler fort. „Dass seine Härte gegen die Verzweiflung nichts ausrichten wird.“
„Ist das ein Krieg?“, fragte die Frau neben Mona. „Eine Invasion?“
„Da hat wohl jemand zu viel Fox News gesehen“, sagte Pavel verächtlich. Muscheln durchreichen. Die Weinflasche. Das Klirren der leeren Muschelschalen, als sie zurück in die Schüssel geschoben wurden. Die Teller behalten, das Besteck auch, die Spülmaschine streikt, ihr versteht?, zustimmendes Nicken, dann erhoben sich zwei, nahmen die Schüsseln mit, gingen mit Felix in die Küche, Mona hörte sie lachen.
„Pavel“, sagte sie. „Ist das tschechisch?“
„Korrekt“, sagte Pavel. „Der Kleine. Das passt doch.“
„Mona… Vielleicht von Mönch abgeleitet?“
„Und? Passt das? Lebst du mönchisch?“
„Ach je.“ Mona lachte. „Kommt vor.“
„Selbst schuld.“ Pavel klang plötzlich gelangweilt. „Du lebst nur einmal, kleine Nonne. Denk dran.“
Der nächste Gang. Kalbsfilet durchreichen. Die Schüssel mit Kartoffeln, klein und rund und gelb. Erbsen. Bohnen. Ein Sonntagsessen. Das Gespräch war inzwischen zur Kunst gewechselt. Eine Ausstellung in der Bronx. Die Kunstsammlung von König Charles dem Ersten. Tizian, Holbein, Tintoretto, you name it. An der Wand der Lebenslauf des Königs, mit 49 hingerichtet, und davor neun Kinder, von denen nur eines älter als 35 wurde.
„Wenn du in den ersten Raum kommst, ist es wie in einem Albtraum: all die weißen Männer mit ihren Halskrausen und strengen Blicken, die dich anstarren.“ Die Frau neben Mona verzog angewidert das Gesicht.
„Starrst nicht viel eher du sie an?“, fragte ein Mann, den Mona bisher noch nicht bemerkt hatte. Sie musste sich vorbeugen, um ihn zu sehen: Vollbart, braune, etwas zu eng stehende Augen, nicht viel älter als sie, achtundzwanzig vielleicht, der oberste Knopf des weißen Hemdes geschlossen, was ihm etwas Verklemmtes gab.
„Das eine schließt das andere nicht aus“, sagte die Frau. Mona schätzte sie auf Ende dreißig. Sie hatte etwas Kindliches an sich, stupsnasig im Profil. Sie stocherte in den Erbsen herum, stach dann und wann ein paar auf, ihre Stimme klang fast trotzig.
Kim Jong-Un. Der Islam. Natürlich sei der Koran nicht gewalttätiger als die Bibel. Du sprichst vom Alten Testament? Weil beim Neuen sieht das dann doch etwas anders aus. Okay, aber wer war nicht alles Christ. Truman, Reagan, Bush, Trump. Oha. Jemand erzählte von einem neuen Gesellschaftsspiel, das natürlich nicht neu war, sondern genau wie Wahrheit oder Pflicht. Das hatte Mona schon mit ihren Freundinnen gespielt. Also: Was ist für dich persönlich Erfolg? Spaß am Beruf. Die Liebe. Taxifahren in Manhattan. Wie bescheiden! Eine eigene Wohnung. Die Privatschule für die Kinder. Das war der Mann mit den grauen Haaren gewesen, offenbar der einzige mit Kindern, da niemand darauf reagierte. Das charakterlich Mieseste, was du in letzter Zeit gemacht hast. Meine Mutter ausgeladen. Einen Kollegen gemobbt – aber hey, er hatte es verdient, glaubt mir. Wählt niemand die Pflicht? Was ist die denn? Alles außer Telefonscherze! Küsse eine der anwesenden Personen. Partner ausgenommen. „Ich überleg’s mir noch“, sagte der bärtige Mann.
„Und du, was hast du Schlimmes getrieben?“, fragte Pavel leise.
Mona trank einen Schluck Wein. „Eine Freundin belogen“, sagte sie dann. „Und was ist daran schlimm?“, fragte Pavel ungläubig. „Ich lüge jeden Tag.“ Er wechselte die Tonlage, leutseliger Gesichtsausdruck: „Aber nein, Liebling, natürlich bin ich dir treu, wo denkst du hin? Meinst du etwa, dass ich in deiner Wohnung, deinem Bett…? Wie kannst du nur!“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum muss er auch dauernd verreisen, n’est pas?“
„Bist du Schauspieler?“, fragte Mona. Sie merkte, wie sie innerlich ein Stück von ihm abrückte.
„Nein.“ Er sah sie prüfend an. „Bin ich nicht.“
Apple, Facebook, Tesla. Die Nerds sind Milliardäre geworden, und die großartige Idee vom guten Konsum verpufft. Wäre ja auch zu schön gewesen, so einfach sich und gleich noch der Welt was Gutes zu tun, indem man in einen neuen Laptop investiert oder ein Bild von seinem Lunch hochlädt. Und ist euch aufgefallen, dass wir alle gleich eingerichtet sind? Sogar dann, wenn wir die Sachen vom Flohmarkt holen, damit sie schön abgeschabt aussehen. In einer Ecke steht immer auch ein Eames Chair rum. Vielleicht müsste man aufhören zu konsumieren – hinaus ins Freie, ins abgeschiedene Leben, die Glückseligkeit an frischer Luft. Hat eigentlich jemand dieses Interview mit Sean Penn gesehen? Egal, was er gesagt hat, egal was er tut: alle reden nur über seine Raucherei und dass er auf Ambiant war. Als ob er der Einzige wäre! Als ob wir uns nicht alle aufputschen und runterholen müssten. Wer hat in der letzten Woche alles Drogen konsumiert?
„Okay“, sagte der Bärtige. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, jemanden zu küssen.“
Alle lachten, keiner hob die Hand, auch Mona nicht. Und der Bärtige blieb sitzen und küsste niemanden. Alles fake, dachte Mona.
„Und du bist Deutsche?“, fragte Pavel.
„Hört man das?“
„Nein. Oder vielleicht doch: ja. Aber Felix hatte dich angekündigt: seine deutsche Freundin.“ Pavel lächelte spöttisch und lieb.
„Eigentlich bin ich Amerikanerin.“ Das war immer ihr Ass im Ärmel: Eigentlich bin ich Amerikanerin. Auch wenn sie ihre Staatsangehörigkeit nur dem unwahrscheinlichen Umstand zu verdanken hatte, dass ihre Eltern ein Jahr in Houston gelebt hatten, wo ihr Vater als Ingenieur beim amerikanischen Ableger des bayrischen Mutterkonzerns arbeitete und ihre Mutter, von der texanischen Sonne belebt, unerwarteter Weise doch noch einmal schwanger geworden war. Sodass nicht ihre Tochter, die zwecks Abitur in Deutschland geblieben war, sondern sie nach ihrer Rückkehr mit einem Baby dastand. Immerhin gab es Mona jetzt die Gelegenheit, in Amerika zu studieren und sich hier wie alle anderen Studenten bis zum Hals zu verschulden.
Das erzählte sie Pavel. Nicht aber, dass sie sich immer nach Amerika gesehnt habe. Dass sie sich nie ganz heimisch gefühlt hatte in Deutschland. Das war zu albern, fast so sehr wie dieses dämliche Gesellschaftsspiel.
„Und“, sagte Pavel. „Gefällt es dir hier?“
Er hatte jetzt nichts Spöttisches mehr an sich. Schien ganz zugewandt, nur an ihr interessiert.
„Vieles“, sagte sie, „gefällt mir. Die Atmosphäre, die Uni, die anderen Studenten. Anderes verunsichert mich: ich habe den Eindruck, als könnte ich jeden Moment versagen. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich mitten in einem Strudel und ganz allein.“
„Das kenne ich“, sagte Pavel und Mona lächelte ihn dankbar an. Er sah nachdenklich auf seine Hände, dann sagte er: „Drogen. Mir helfen da immer Drogen.“
„Welche?“
„Ecstasy, Speed, Koks, je nachdem.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und Sex.“ Er warf ihr einen belustigten Blick zu. „Sei nicht schockiert, kleine Nonne.“
„Keine Sorge“, erwiderte Mona. „Bin ich nicht.“
Sie nahm seinen und ihren Teller, stellte sie aufeinander, dazu die Schüssel mit den restlichen Kartoffeln und trug sie in die Küche. Der bärtige Mann stand vor dem Fenster, drehte sich kurz nach ihr um und winkte sie dann zu sich heran.
„Schau mal“, sagte er leise und nickte mit dem Kinn zum Fenster. Eine Amsel saß direkt davor auf der Fensterbank, im Schnabel einen Wurm, ihr zuckender Kopf mit dem runden schwarzen Auge.
„Ein Männchen“, flüsterte er. „Erkenn ich am gelben Schnabel.“ Die Amsel flog weg, und er sagte: „Wie schön, dass wir uns jetzt endlich kennen lernen.“
Mona wandte ihm ihr Gesicht zu, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Finde ich auch.“
„Wollen wir das Abspülen übernehmen?“
„Wie romantisch.“ Mona lachte leise.
„Oh, unterschätz das nicht. Die Hände im warmen Wasser, das Reiben und Polieren. Und vielleicht kommt die Amsel noch mal zu uns, vom Spülbecken aus könnten wir sie sehen. Übrigens mag ich dein Kleid, dieses schillernde Grün, du siehst darin aus wie eine Nymphe.“
„Ich bin eine“, sagte Mona. „Geboren aus Schaum, einer Muschel entstiegen.“
Er nickte. „Jetzt, wo du’s sagst.“

Er hieß Alex. Er kam aus Michigan und studierte Medizin an der Columbia. Mit dem Schwamm rieb er die Teller sauber, dann hielt er jeden unter warmes fließendes Wasser, bevor er ihn ihr gab. Schmale lange Hände, fast wie die einer Frau, sie stellte sich vor, wie er ein Skalpell hielt, wie er Körper öffnete, wie er darin herumbastelte, geschickt und sicher und unbeeindruckt.
„Nein“, sagte er. „Ich will kein Chirurg werden.“
„Sondern?“
„Frauenarzt.“
„Wie schrecklich“, sagte sie. „Diese Entzauberung, meine ich.“
„Eigentlich nicht.“ Er hielt mit dem Spülen inne und sah sie an. „Der Zauber bleibt.“
„Dann ist ja gut.“
Sie nahm den Stapel mit Tellern. „Wohin damit?“
„Kinder, Kinder, Kinder!“, rief Felix, der in die Küche kam. „Ihr seid hier doch nicht zum Arbeiten. Raus mit euch, gleich gibt’s den Nachtisch.“ Er holte eine große Glasschale mit Vanillecreme aus dem Kühlschrank.
„Nein“, sagte er streng, als Mona die Schale mitnehmen wollte. „Da müssen noch Verzierungen drauf. Kirschen, Krümel, der ganze Kram, du weißt schon. Raus jetzt mit dir.“
„Schon gut“, sagte Mona. „Ich geh ja schon.“
Im Bad sah sie sich im Spiegel an. Nur wenn sie lächelte, war sie schön. Ansonsten sah sie mürrisch aus. Auf ihrem Kleid Wassertropfen in gerader Linie, wie eine Markierung. Bevor sie die Tür öffnete, wusste sie, dass Alex davor stehen würde.
„Er will mir nicht seinen Platz überlassen“, sagte er. „Ich habe ihm fünfzig Dollar geboten, aber er weigert sich.“
„Hast du nicht ernsthaft“, sagte Mona. Sie hatte Lust, ihn zu küssen. „Doch.“ Alex nickte. „War das zu wenig?“
„Wahrscheinlich“, sagte sie und ging zu ihrem Platz.

Also, sagte Pavel, jetzt da sie sich in der Küche amüsiert und ihn hier allein gelassen habe, müsse er ihr offenbaren, dass sie etwas versäumt habe, einen Streit nämlich, und wofür, wenn nicht dafür, gehe man schließlich zu einem Abendessen. Der Streit sei entbrannt zwischen zwei Frauen. Er deutete unauffällig auf die Frau mit dem Afro und auf eine zierliche Blonde, die am anderen Ende des Tisches saß und von einem bulligen Glatzkopf fast verdeckt wurde. Sie war die Einzige, die wie eine Geschäftsfrau aussah: Bluse, Blazer, Goldkette, der akkurat geschnittene Pagenkopf. Sie sah klug aus, fand Mona, und so, als wisse sie das auch.
„Es ging um Emanzipation“, sagte Pavel. „Um sexuelle Belästigung, gleiche Bezahlung, Frauenquote – nichts Neues unter der Sonne. Das Witzige war, dass sie eigentlich einer Meinung waren und sich dann doch anfeindeten. Oh je“, unterbrach er sich. „Da kommt dein Verehrer.“
Alex hatte eine Schale in der Hand und einen Löffel. Er sagte, „ich setz mich dazu, falls das okay ist“, und Pavel sagte: „Nur zu, wackerer Kämpe, du lässt dich ja eh nicht abhalten.“
Alex holte einen Stuhl und setzte sich so neben Mona und Pavel, dass sie einen Halbkreis bildeten.
„Es ging gerade um den Streit, den ihr verpasst habt“, sagte Pavel. „Zwei Frauen, die sich wegen MeToo und all dem Scheiß anfeindeten, ganz wunderbar.“
„Warum Scheiß?“, fragte Mona.
Pavel sah sie abschätzig an. „Weil’s Scheiß ist, darum. Wir steuern auf prüde Zeiten zu, das kann ich dir verraten, meine Liebe.“
„Das sagt dir deine lange Lebenserfahrung, nicht wahr?“
Mona war auf einmal wütend, es überraschte sie beinahe selbst. Bis eben hatte sie Pavels Blasiertheit noch unterhaltsam gefunden. Wie alt war er überhaupt? Fünfunddreißig, vierzig?
„Da hast du wohl recht.“ Pavel ignorierte ihre Wut. „Und ich für meinen Teil muss sagen: wenn mich Kevin Spacey betatscht hätte, hätte ich mich nicht wirklich aufgeregt.“
„Aber darum geht’s doch gar nicht“, sagte Mona. „Ob es dir persönlich gefallen hätte oder nicht. Sondern ob du dich hättest wehren können, wenn du in einer abhängigen Position gewesen wärst.“
„Hör mal, Süße. Das ist doch ein Nehmen und Geben. Ich meine, schau dir doch die Frauen mal an, Titten und Ärsche, wohin man sieht, und das alles nur, weil sie sich Vorteile damit verschaffen wollen. Aber dann dieses ‚nur gucken, nicht anfassen‘, eiteitei, die Unschuld vom Lande plötzlich! Dabei ist das doch ein Tauschgeschäft, von alters her und so bekannt wie der Katechismus.“
„Und damit ist jede Belästigung, sogar wenn es dann eine Vergewaltigung wird, in Ordnung?“ Mona sah fassungslos von Pavel zu Alex. Alex aß seine Vanillecreme, ohne den Blick zu heben.
„Ach, Vergewaltigung.“ Pavel schnaubte spöttisch. „Wer da nicht alles vergewaltigt worden sein will.“ Mit hoher Stimme sagte er: „Also ich bin da nur so mit ins Hotelzimmer und hab mir nix dabei gedacht und plötzlich liegt der auf mir. – Merkst du nicht, was das für ein Mist ist?“
„Dann gibt’s für dich also gar keine Vergewaltigung?“
Mona sah hilfesuchend zu Alex, der ihren Blick erwiderte und kurz eine Grimasse komischer Ratlosigkeit schnitt.
„Doch“, sagte Pavel. „Klar, im Park, von irgend einem Triebtäter. Aber der Begriff wird einfach inflationär gebraucht.“
„Nein“, sagte Mona. „Nein, nein, nein.“ Sie merkte selbst, dass ihre Stimme mit jedem Nein lauter geworden war. Für einen Moment schien ihr, als verstummten die Gespräche um sie herum. Aber vielleicht kam es ihr nur so vor, weil sie ganz auf Pavel konzentriert war, und auf das, was sie sagen wollte. Pavel sah sie abwartend an, sie amüsierte ihn offensichtlich.
„Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung.“ Sie bemühte sich geduldig zu klingen – geduldig und herablassend. „Sie liegt dann vor, wenn Sex an jemandem vollzogen wird, ohne dass der- oder diejenige das will.“
„Und woher weiß man immer so genau, was der andere will?“, fragte Pavel. „Jetzt stell dich nicht dumm.“
„Wenn also beide den Sex wollen, ist er okay?“ Pavel legte die Stirn in Falten und stützte sein Kinn in die Hand. Er schien sich überwinden zu müssen, um die nächste Frage zu stellen, aber etwas in seiner Stimme – diese Naivität vielleicht: zugewandt und unschuldig -, verriet Mona, dass das ganz und gar nicht so war. „Wenn es also so ist, wie es in meinem Fall war: dass jemand mit acht Jahren das erste Mal Sex hat, mit einem Vierzigjährigen, und das ganz einfach, weil beide es gerne wollen, dann ist das okay, nicht wahr?“
„Nein“, sagte Mona.
Sie fühlte eine Kälte, die sich plötzlich in ihr ausbreitete, eine dumpfe Trostlosigkeit.
„Nein“, wiederholte sie. „Das ist nicht okay.“
„Und warum nicht?“
„Weil das Kind“, sie sprach jetzt leise, „also du, ausgenutzt wurde: weil dein Bedürfnis nach Liebe oder Zuneigung oder was auch immer sexuell ausgenutzt wurde.“
Pavel schob sein Gesicht nah an ihres und sah sie forschend an. Sie hielt seinem Blick stand, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. „Mehr hast du nicht zu bieten?“, fragte Pavel. „Mehr nicht als diese Küchen-Psychologie? Und was, wenn ich dir verriete, dass ich derjenige war, der ihn bedrängte? Ganz einfach, weil ich geil auf ihn war?“
Jetzt nicht weinen, dachte Mona, und dann dachte sie, dass das lächerlich war: dass sie hier saß und um diesen Pavel – um das Kind, das er gewesen war, und vielleicht auch um ihn, wie er heute war, so freundlich und grausam und falsch – trauerte. Aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Herz sich zusammenzog bei dem Gedanken daran, wie dieses Kind sich anbiederte und benutzt wurde.
„Ist ja gut“, sagte sie leise. Sie stand auf. „Du hast gewonnen.“

Sie hatte ihre Jacke vergessen, darum fror sie nun in ihrem dünnen grünen Kleid. Dem Meerjungfrauenkleid. Egal, sie würde morgen bei Felix anrufen und sich entschuldigen, dass sie einfach so gegangen war. Und irgendwann in den nächsten Wochen würde sie ihre Jacke holen gehen. Dann fiel ihr ein, dass es Duncans Jacke war, und dass sich in der Innentasche die silberne Pillendose befand, die er ihr vorsorglich überlassen hatte, bis die Prüfungen vorbei waren. „Mist“, fluchte sie, „Mist, Mist, Mist.“ Wenn sie jetzt wieder zurückging und ihre Jacke holte, würde das mehr Aufsehen erregen als ihr eiliger Aufbruch von vorhin. Und Pavel würde sie lächelnd beobachten, voll mitleidiger Verwunderung. Einen Block vor Felix’ Haus kam ihr Alex entgegen, ihre Jacke über seinem Arm.
„So bekam ich wenigstens deine Adresse raus.“ Er hielt ihr die Jacke hin und sie zog sie an und tastete nach der Pillendose.
„Okay“, sagte sie. Sie war immer noch wütend auf Alex, weil er sie nicht unterstützt hatte. Aber sie war auch froh, dass sie nicht zurück in Felix’ Wohnung musste. „Danke.“

Am Morgen strich Alex mit seinen langen, schmalen Fingern über ihre Hüfte und ihr Bein, und es nervte sie nicht: sie ließ sich weiter streicheln und küssen und drehte sich irgendwann zu ihm um. Ihr Schlafzimmer war ein Chaos, nicht nur seine und ihre Kleider lagen auf dem Boden, auch zwei Weinflaschen standen da, die sie mit Duncan geleert hatte, und eine Baseballkappe lag auf dem Stuhl, von der sie nicht mehr wusste, wem sie gehörte.
Es war alles etwas viel im Moment, aber es war auch schön: wenn, wie jetzt, die Sonne durch das Fenster fiel und Streifen von Staub in die Luft zauberte, die so breit und massiv aussahen, als könnte man sich auf sie setzen und geradewegs in den Himmel über New York reiten. Natürlich würde man fallen. Aber für einige Momente wäre es wunderbar. Man brauchte nur Mut.

2019

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin, 2020, 352 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60100-5

Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.

Rezension von «Dieses entsetzliche Glück» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Was alles war» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anneke Novak

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin

Annette Mingels schrieb mit „Dieses entsetzliche Glück“ einen Episodenroman. Fünfzehn Geschichten, fünfzehn Leben. Leben, die oftmals ganz nah aneinander vorbeischrammen, sich für kurze Zeit mehr oder weniger begegnen. Leben, denen man aus verschiedenen Perspektiven begegnet, als würde man von Person zu Person springen und sich durch den Kosmos einer Kleinstadt tragen lassen. Grossartig gezeichnet!

Hollyhock liegt irgendwo in Virginia. Aber Hollyhock liegt überall, genauso in Schlesien oder im Thurgau, irgendwo, etwas abseits, ziemlich weit weg von der nächsten grossen Stadt und in der letzten Zeit ganz ordentlich gewachsen. Eine Kleinstadt, in der alle alle kennen, in der nur wenig verborgen bleibt, und wenn es aufbricht, dann weil es ein Leben lang moderte. 

«Ich bin zurück», flüsterte er, und als ihre Augenlider flatterten, lehnte er sich dicht neben sie, einen Arm um sie geschlungen, als könnte er sie beide auf diese Weise retten.»

Man lebt während Jahrzehnten in einer Beziehung, um dann irgendwann festzustellen, dass es das falsche Leben war, dass man austreten will. Nicht weil Hass, Enttäuschung oder Verzweiflung alles verändert, sondern weil mit dem Auszug der Kinder die alles bestimmende Aufgabe genommen wurde, die Aufgabe, die alles zusammenhielt.
Man lebt sein Leben lang ein Leben, dem man eigentlich eine andere Richtung geben will.
Man lebt ein Leben, in das man hineinrutschte, dass irgendwann wie ein fremder Mantel zu seinem eigenen wurde, der aber doch nie passte, zu gross, zu klein, oder einfach falsch.
Eine Ehe zerbricht, weil die eine Seite sich von der andern Seite abwendet, weil man im Bruch von Konventionen Auffrischung erhofft, die dann aber mehr zerstört als zulässt.

«Und nachdem sie einige Minuten auf dem Sofa gesessen und geweint hatte, verliess sie das Haus, das ganz so aussah, als wäre nichts geschehen.»

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin, 2020, 352 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60100-5

Annette Mingels beschreibt die amerikanische Mittelschicht. Man lebt in guten Berufen, verdient gutes Geld, lebt in grossen, manchmal auch viel zu grossen Häusern. Die Strassen sind sauber und in den Gärten wehen die Wimpel zu den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren. Trotzdem fehlt den Menschen die Zufriedenheit, das Glück. Es sind bloss ganz kurze Momente, die das Glück ausmachen und sie stehen in keinem Zusammenhang mit Status, Erfolg, nicht einmal mit der Liebe zu anderen Menschen. Annette Mingels beschreibt Menschen, die nicht angekommen sind, die sich in Umlaufbahnen verlieren.

«Sie stellte ihn sich vor: einsam und nass. Den Kopf vorgereckt, irgendetwas witternd, bereit zur Flucht.»

Wer eine in sich geschlossene Geschichte erhofft, wird enttäuscht sein. Aber genau dieses scheinbar Zufällige macht den Reiz dieses Romans aus. Er zeigt genau das; wie jeder von uns in seinem Leben eingespannt ist. Man begegnet Menschen und ihren Geschichten. Die einen haben mit den anderen zu tun, die Getroffenen selbst sehen sich nur aus der Distanz. Ich mache mir mein Bild, mache mir Geschichten, mache mir meinen Reim. Keine einzige Geschichte, nicht einmal die eigene, erzählt sich chronologisch. Die Chronologie zwingt sich durch unseren Ordnungswillen auf.

«Hinein ins Helle und Warme. Wenigstens für kurze Zeit.»

Was bei Annette Mingels Erzählen beeindruckt, ist ihre Nähe zu den Personen und ihr Geschick, sich nicht durch Deutung und Psychologie aufzudrängen. Jede Episode hat das Zeug zu einem ganz eigenen Drama; Dramen, die ausbrechen, Dramen, die sich anbahnen, Dramen, die sich abwenden oder ersticken. Jede dieser Episoden hätte das Potential zu einem eigenen Roman.

Manchmal, wenn nachts der Zug in einer Vorstadt stehen bleibt und man mit einem Mal die Gelegenheit hat, in die hell erleuchteten Wohnungen hineinzublicken, sucht der Blick nach den kleinen und grossen Theatern, die sich im Scheinwerferlicht der Normalität abspielen. Annette Mingels tut genau dies. Sie blickt hinein. Sie tut es ohne Voyeurismus, tut es mit aller Behutsamkeit. Der Titel des Romans „Dieses entsetzliche Glück“ beschreibt genau jenen Kippzustand, jenen Moment, der je nach Perspektive in ganz anderm Licht steht, dann ist der Titel zu diesem äusserst gelungenen Kunstwerk perfekt.

«Dieses entsetzliche Glück, hier zu stehen und Kenji wieder nah zu sein.»

Und dann sind da die letzten Sätze zu den Geschichten, von denen einige hier in die Rezension eingefügt sind. Wie die leuchten!

Interview

Sie lebten in Deutschland und in der Schweiz und seit ein paar Jahren in San Francisco. Warum ist Ihr Roman ausgerechnet in Virginia angesiedelt?

Vor einiger Zeit wohnte ich für zwei Jahre in der Nähe von New York – es war eine Gegend, die ich von meiner Kindheit her kannte; meine Verwandten lebten dort und ich hatte sie mehrere Male besucht. Mir waren von damals viele Erinnerungen geblieben und eine Vorliebe für die kleinen Städte im Osten des Landes. Virginia habe ich während einer Reise kennen gelernt, und als ich nach einem Ort in Amerika suchte, an dem mein Roman spielen könnte, kam mir eine Kleinstadt dort in den Sinn. Hollyhock ist eine Mischung aus Realem, Erinnertem und Imaginiertem geworden.

Ihr Roman ist aufgebaut wie ein „Episodenfilm“. Als ich vor bald zwanzig Jahren den Film „L.A. Crash“ sah, war der Film eine Offenbarung. Auch wenn die Dramen in ihrem Episodenroman viel subtiler und stiller sind – was reizte Sie an dieser Erzählform?

Ich habe zwei literarische Vorlieben, die Eingang in das Buch fanden: in stilistischer Hinsicht liebe ich sowohl den weiten Bogen des Romans als auch die Pointiertheit der Kurzgeschichte; ein Episodenroman kann beides wunderbar verbinden. Und in inhaltlicher Hinsicht liebe ich die Darstellung konkreter Personen, konkreter Lebensumstände, die den Fokus eher auf den Einzelnen als auf das grosse Ganze richtet. Ich mag es sehr, Personen in kurzen Episoden nahe zu kommen – es sind Einblicke in verschiedene Leben, nichts ist auserzählt. Den Film „L.A.Crash»  kenne ich nicht, aber den Film „Shortcuts“ habe ich damals sehr gemocht.  

Ihr Roman spiegelt das Leben einer gehobenen Mittelschicht in den USA. Ist er jene Gesellschaft, weil Sie ein Teil dieser sind oder weil es eine wegbrechende Spezies ist?

Es ist nicht nur die gehobene Mittelschicht, die vorkommt, sondern auch eher einfache Leute, wie eine Drogeriemitarbeiterin oder ein Schreiner. Aber es stimmt schon: Ich habe nicht über Leute am Rand der Gesellschaft geschrieben, und auch die meisten Probleme, die ich darstelle, sind nicht extrem – auch wenn sie sich für den Einzelnen bisweilen so anfühlen können. Ich gehe beim Schreiben nicht so rational vor, dass ich mir vorher überlege, über welche Gesellschaftsschicht ich schreiben möchte. Es ist mehr so, dass mir ein Bild, eine Situation, eine Figur in den Kopf kommt, und sich daraus eine Geschichte entwickelt, die mich bisweilen selbst überrascht. Und das sind dann vielleicht tatsächlich eher Themen und Personen, die mir irgendwie vertraut sind. Zudem habe ich gewisse Hemmungen, über Dinge zu schreiben, die ich nur von aussen beobachtet oder mir angelesen habe.

Obwohl Sie ganz nah gehen, verlieren Sie sich nie in Details. Trotz der Nähe bleibe ich als Leser auf Distanz, weil sie weder deuten noch erklären, schon gar nicht psychologisieren. Wie sehr mussten Sie sich während des Schreibens vor allzu grosser Nähe zu Ihrem ProtagonistInnen „schützen“?

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man über eine Figur, über die man schreibt, viel mehr wissen muss, als man dann in der Geschichte selbst beschreibt. So ist das bei mir auch: viele meiner Figuren, eigentlich alle, sind mir sehr vertraut, aber nicht alles an ihnen breite ich für den Leser oder die Leserin aus, es schwingt eher mit. Die Konkretion, mit der ich die Figuren in ihrem Handeln vor mir sehe, verhindert vielleicht, dass ich als Erzählerin zu sehr erkläre und erläutere: es ist mehr so, dass ich das, was ich vor meinem geistigen Auge sehe, hinschreibe. Am ehesten kann man das vielleicht mit einem Film vergleichen, in dem ja auch mehr gezeigt als erklärt wird. 

Und doch spürt man wenig von dem, was man als Europäer nach den vergangenen Präsidentschaftswahlen beinah befürchtete; diesen Riss durch die Gesellschaft, der ein Land zu spalten droht. Ist das nur die Sicht aus der Ferne oder Realität?

Ich glaube durchaus, dass es diesen Riss gibt – und nicht erst seit Trump. Es gibt zahlreiche politische und soziale Gründe dafür – angefangen beim Zweiparteiensystem über ein insuffizientes Gesundheitssystem bis hin zu den Bildungseinrichtungen, die je nach finanzieller Situation der Eltern ganz unterschiedliche Möglichkeiten bieten. In meinem Buch gib es schon ein paar Hinweise auf ethnische, ökonomische und soziale Gefälle, aber diese sind meist auf den Kosmos der Kleinstadt beschränkt. Eine Analyse der amerikanischen Gesellschaft zu geben, war nicht mein Anspruch – ich traue es mir als Europäerin auch nicht zu. Ich beschränke mich in meinem Schreiben auf die privaten Konflikte und Nöte der Figuren, wobei diese ja durchaus von gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst sind. Hätte ich dieses Buch in den letzten Monaten und nicht schon im vergangenen Jahr geschrieben, würden politische Themen jedoch wohl mehr Eingang gefunden haben, ganz einfach, weil die Politik und ökonomischen Nöte in 2020 ein dominanteres Thema für jeden Einzelnen hier in den USA waren. 

Welches Buch aus Ihrem Bücherregal lässt sie momentan nicht los?

Ich lese gerade das neue Buch von Ali Smith, „Winter», und die neue Erzählsammlung von Richard Ford „Irische Passagiere“. Beide liebe ich sehr – Ford für seine Eleganz, die er in Kurzgeschichten viel eher hat als in seinen viel zu langen Romanen. Und Smith’ Bücher liebe ich dafür, dass sie so seltsam sind; sie haben stets etwas leicht Skurriles an sich, das man nicht so recht zu fassen bekommt.  

Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.

Rezension von «Was alles war» von Annette Mingels auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Hendrik Lüders

«Schreibende Paare» mit Dana Grigorcea und Perikles Monioudis

„Schreibende Paare“ heisst eine der neuen Veranstaltungsreihen im Literaturhaus Thurgau. Im Falle von Dana Grigorcea und Perikles Monioudis hätte man den Abend auch „Eine Literaturfamilie“ nennen können, denn die beiden reisten mit ihren Kindern an und einer ganzen Kiste voller Bücher.

Das Leben, der Alltag der Familie Grigorcea Monioudis ist durchsetzt von Literatur, ihr Haus ein Ort, an dem alles durch eine papierene Lunge atmet. Das Paar ist sich Inspiration, Kritik, Motivation. Der jeweils andere der Erstleser, man trägt sich gegenseitig, selbst ihre beiden Kinder tun es an diesem Abend im Literaturhaus Thurgau.

Dana Grigorcea gab Kostproben aus ihrem letzten Buch, der Novelle „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ und ihrem Roman „Die nicht sterben“, der im kommenden Frühling erscheinen wird. Dana Grigorcea erzählte, dass „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ nicht zuletzt auch ein Versuch war, sich von dem Thema zu emanzipieren, mit dem man sie mit ihren letzten beiden Büchern, vor allem mit dem Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, immer wieder zu reduzieren versuchte; Rumänien. Nicht dass sich die Autorin ablösen wollte, denn in ihrem neuen Roman spielt ihr Herkunftsland wieder eine zentrale Rolle, die Macht totalitärer Regierungen, der Wunsch vieler nach einer starken Führung, einem Phänomen, das sich trotz aller historischen Erfahrungen nicht ausrotten lässt. Aber kein Schriftsteller, keine Schriftstellerin will in eine Schublade gezwängt werden. Dana Grigorcea wollte mit „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ „austesten“, ob man sie auch liest, wenn Rumänien kein Thema ist. Ein Versuch, der sie nur bestärkte. „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ war und ist sehr erfolgreich.
„Die nicht sterben“ ist die Geschichte einer jungen Bukarester Malerin, die sich nicht nur mit dem totalitären kommunistischen Machthaber Rumäniens konfrontiert sieht, sondern auch mit dem langen Schatten Graf Vlad des Pfählers, der der Welt als Dracula bekannt ist.

Dana Grigorcea und Perikles Monioudis wollen mehr als „bloss“ schreiben. Sie wollen nicht nur ihre eigenen Bücher zu Geschenken machen, sondern auch jene anderer Autorinnen und Autoren. Solchen, die ihre Manuskripte schon Jahrzehnte mit sich herumschleppen und nirgends in ein Verlagsprogramm zu passen scheinen. Texte, die zu vergessen drohen. Ihr Leben als Schriftstellerpaar ist untrennbar mit jenem eines Verlegerpaars verbunden. Ihr beider Leben in allem Schreiben, Auseinandersetzung, Buch, Papier, Gestaltung, Kunst und täglich Brot.

Perikles Monioudis, der schon bald dreissig Jahre schreibt und ein weigefächertes Werk präsentiert, will sich mit jedem Buch neu erfinden, Perspektiven ausloten, Textarten auskosten. „Azra und Kosmàs“ ist eine Liebesgeschichte und doch keine Liebesgeschichte. „Azra und Kosmàs“ ist eine Erzählung, die aufgebaut ist wie eine liegende Acht, als könne ich als Leser überall und immer in die Erzählung einsteigen und mich von den Geschehnissen um die beiden wegtragen lassen. Perikles Monioudis setzt sich in seiner Erzählung mit grossen Themen auseinander, sei es die Flüchtlingskatastrophe am Mittelmeer oder der Wunsch, sich aus seinem Leben abzusetzen, zu verschwinden. Ein Thema, das nicht nur für Menschen, die sich im Brennpunkt der Öffentlichkeit befinden, existenziell werden kann, sondern sich als Phänomen durch sämtliche westliche Gesellschaften zieht. Für Perikles Monioudis ist literarisches Schreiben alles andere als Handwerk. Er gibt sich in seine Stoffe hinein. Schreiben ist Kunst!

Der Abend war tief beglückend.

«Wer einen handfesten Beweis dafür braucht, dass uns die Literatur zu genussfähigeren, glücklicheren Menschen macht, sollte zu Gallus Frei-Tomic ins Literaturhaus Thurgau. Den Abend, den inspirierenden Gedankenaustausch, das goldene Licht im Dachbodenlesesaal des Bodmann-Hauses und das grossartige Publikum werden wir nie vergessen.» Dana Grigorcea

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau