Gabrielle Alioth «Die letzte Insel», Lenos

Gabrielle Alioth lebt und schreibt seit Jahrzehnten an der Ostküste Irlands. Die Insel, ein Sehnsuchtsort vieler, spielt einmal mehr die Hauptrolle in einem ihrer Bücher – diesmal in einer düsteren Perspektive, schonungslos und und ungeheuer stimmungsvoll. „Die letzte Insel“, ein Roman über das Ende.

Immer mehr Menschen erfahren die Konsequenzen dessen, was unverantwortliche Vergangenheit und Gegenwart anrichten. Seien es Dürren und Sturzfluten dort, wo man in der Vergangenheit niemals in der Intensität damit rechnen musste, Städte, die im Smog ersticken, Trockenheiten, die infernale Brände auslösen oder Altlasten aus der Vergangenheit, die uns in Gegenwart und Zukunft tödlich bedrohen; Abfälle, die in Fässern im Meer versenkt wurden, bis hin zu radioaktivem Material, Phosphor, das aus Bomben ausgestandener Kriege austritt und an die Strände gespült wird, um sich in Verbindung mit Sauerstoff unkontrolliert zu entzünden oder der steigende Meeresspiegel, der ganze Landstriche und Inseln unbewohnbar macht und letztlich noch mehr Menschen dazu zwingen wird, ihre Zukunft an einem scheinbar sicheren Ort zu suchen.

Warum ein Buch lesen, das einem weder schont noch einen Ausweg bietet, das ungeschönt schildert, was passieren wird, wenn die Mehrheit nicht zu einem Richtungswechsel bereit ist. Ist „Die letzte Insel“ ein moralisches Manifest zur Umkehr? Nein. Aber Gabrielle Alioth ist eine Schriftstellerin, die genau hinschaut, sich den Tatsachen nicht verschliesst, auch wenn die Fotografien, die sie dann und wann ins Netz stellt, glauben machen, sie lebe im Paradies. Noch ist es das. Aber es gibt wohl keinen Ort mehr, an dem nicht festgestellt werden muss, dass er auf die eine oder andere Weise, ganz direkt oder indirekt, von den Auswirkungen klimatischer oder umweltbelastender Veränderungen betroffen ist. Auch wenn politische Strippenzieher strategisch darüber hinwegsehen wollen.

Gabrielle Alioth «Die letzte Insel», Lenos, 2025, 229 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-03925-045-5

„Die letzte Insel“ erzählt von den Konsequenzen. Gabrielle Alioth spinnt weiter, was sie als aufmerksame Beobachterin nicht nur in ihrer Umgebung, sondern überall feststellen muss. Ihr Roman, der in naher Zukunft angesiedelt ist, ist weder realitätsfremder Sience-Fiction noch übertrieben dunkle Dystopie. In zwei Handlungssträngen erzählt die Autorin von Menschen, die im Leben an einen Punkt gekommen sind, an dem sie nur noch hinnehmen können, was übrig geblieben ist. Von zwei Menschen, die nicht nur in ihrem eigenen Leben, sondern auch in einer scheinbar freien Gesellschaft, im Traum von Glück an einen Endpunkt gekommen sind.

Im Nachhinein wurde Vieles zum Zeichen.

Holm ist Biologe und hat sich auf eine kleine Insel absetzen lassen. Nicht um Neues zu erforschen, sondern um das festzuhalten, was in absehbarer Zukunft durch den steigenden Meeresspiegel verschwinden wird. Völlig überrascht findet er dort eine kleine Gruppe Verbliebener, die Letzten, die trotz allem ausharren; eine kleine Gruppe Mönche. Nach einem nassen Einstand und dem Verlust eines Teils seiner Ausrüstung beginnt Holm seine Streifzüge auf der rauen, baumlosen Insel, einem Eiland, auf dem ihm sehr schnell bewusst wird, wie verloren er wäre, gäbe es die Männer in den Kutten nicht. Holm hat sich von einem totalitären System der Kontrolle und staatlich geführten Wissenschaft abgesetzt. Sein Wirken auf der Insel ist ein letztes Aufbäumen, sein letzter Kampf gegen die Resignation.

Zweite Protagonistin ist eine Schriftstellerin, die alleine und zurückgezogen mit ihrem Hund in einem Haus unweit der Küste lebt. Sie blickt von ihrem Schreibzimmer auf das, was vom grossen Garten übrig beglieben ist. Nicht enden wollende Regenfälle verursachten eine Sturzflut, überfluteten das Haus und rissen Teile des Gartens weg. Mit ihm ihren Mann Alexander. Sie trauert. Nicht nur über den Tod ihres Mannes und das Bewusstsein, wie schnell alles zu Ende sein kann. Sie trauert auch darum, in ihrem Leben nicht mit offenen Karten gespielt zu haben, um all das unrettbar Versäumte.

Beide, die Ich-Erzählerin und der Forscher, erinnern sich, lauschen den Stimmen, die sie heimsuchen, den Lieben, von denen sie lassen mussten. Beide klammern sich an das, was geblieben ist, was sie am Leben hält.

„Die letzte Insel“ ist ein leidenschaftlich erzählter Roman über das Enden. Aber nicht die Trauer darüber steht im Vordergrund, sondern die Liebe zur Natur, zu Pflanzen und Tieren, zum Wind, zum Regen und den Momenten grösster Vertrautheit mit dem, was die beiden Protagonisten und die Schriftstellerin selbst umgibt. „Die letzte Insel“ ist eine Liebeserklärung an das Leben, selbst dann, wenn nur noch wenig davon übrig bleibt, wenn man sich der Endlichkeit bewusst ist. „Die letzte Insel“ beschreibt nicht nur eine geographisch nachvollziehbare Kulisse (Gabrielle Alioth verriet mir, dass es für die Insel eine „Vorlage“ gibt: Inish Meain), sondern das, was an Erinnerungen bleibt, jene Insel, die bleibt, wenn alles andere untergeht. Vor allem die Erinnerungen an die Momente grössten Glücks, der Liebe, des Geborgenseins.

Interview

Wir leben alle auf einer Insel. Wenn ich im Sommer im Süden der Schweiz, im Tessin, zwei Wochen Ferien mache, dann bin ich auf einer Insel, die mich glauben lässt, noch wäre alles in Ordnung. Noch mehr, weil die Schweiz selber eine Insel ist, politisch und wirtschaftlich, wenn auch immer mehr in Bedrängnis. Du pendelst zwischen Irland und der Schweiz, hast im Gegensatz zu vielen Schweizer*innen den Blick von Aussen. Was beschäftigt dich am meisten als „Auslandschweizerin“?

Die Insel ist eine dankbare Metapher für unser Dasein, die Beschränktheit unserer Wahrnehmung, das Leben in einer wie auch immer gearteten „Blase» und vielleicht auch für unsere Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Paradies.

Irland und die Schweiz haben sich in ihrer „Inselhaftigkeit“ in den letzten vierzig Jahren angenähert. Beide sind europäischer geworden, wobei Irland ein viel dynamischeres Land bleibt. Als Auslandschweizerin staune ich oft über die – teilweise durch den Föderalismus bedingte – Langsamkeit der Prozesse in der Schweiz; und da ist das gesellschaftliche und private Klagen über die Zustände. Wenn ich Schweizer*innen zuhöre, denke ich manchmal, dass Jammern eine Art «bonding experience» sein muss. Dem gegenüber steht das schweizerische Bewusstsein, dass man halt doch etwas Besseres ist. Die Schweizer reisen ja gern in die ganze Welt, aber viele, so scheint es mir, nur, um sich selbst zu beweisen, dass die Schweiz halt doch der beste Ort auf der Welt ist.

Wie viel von dem ist in diesen Roman mit eingeflossen?

Einer der interessantesten Aspekte von Inseln, denke ich, ist ihre offenkundige Begrenztheit, denn an Grenzen, in der Konfrontation mit dem Fremden/Anderen, wird man sich seiner Voreingenommenheit, seiner (Vor)Urteile bewusst, beginnt sein Verhalten, sein Versagen in einem grösseren Kontext zu sehen. In früheren Romanen ging es mir oft um gesellschaftliche Grenzen, in diesem eher um eine Auseinandersetzung mit natürlichen, bzw. den Grenzen, die eine von Menschen beschädigte Natur uns setzt. 

Ich weiss, dass du gerne lange Spaziergänge am Meer entlang machst, dass du fotografierst und dich inspirieren lässt. Vieles auf diesen Spaziergängen scheint in den Roman eingeflossen zu sein, wahrscheinlich auch Erfahrungen mit Phosphor, Erfahrungen mit Überschwemmungen und Unwettern. Wie sehr ärgert dich die Gedankenlosigkeit vieler Menschen?

Der Abfall hier an den Stränden ist ein echtes Problem, und die Iren stehen da weit hinter den Schweizern zurück. Ich sehe aber, dass man sich bemüht und dass es schon sehr viel besser geworden ist. Weniger offensichtlich sind industrielle oder staatliche/militärische Verschmutzungen, z.B. die Munition, die die Briten nach dem Zweiten Weltkrieg im Beaufort’s Dyke versenkt haben und von der immer mal wieder was an den irischen Küsten angeschwemmt wird, als versuche die Vergangenheit sich an der Gegenwart zu rächen.

Ärgern tut mich das beides nicht. Ich nehme es zur Kenntnis, finde es streckenweise interessant. Eine meiner wichtigsten Erfahrungen hier in Irland war, dass die Natur immer gewinnt. Der Bach in dem Tal, in dem ich zuerst lebte, ist jedes Jahr über die Ufer getreten, nicht weil die Umwelt sich veränderte, sondern weil sich die Landschaft über Jahrtausende so entwickelt hatte. In den ersten Jahren versuchten wir den Überschwemmungen mit Mauern und Wällen beizukommen. Aber das Wasser war immer stärker, klüger. Das hat mich Demut gelehrt und ich bin dankbar für diese Lektion. In diesem Sinne denke ich auch, dass die Natur die Klimakrise auf ihre Weise überstehen wird, ob die Menschheit dazu auch in der Lage ist, ist eine andere Frage.

Dein Roman ist weder Manifest noch Kampfschrift, keine Abrechnung, kein moralisierender Zeigefinger. Aber manchmal sind deine Schilderungen und Aufzählungen doch haarscharf daran vorbeigeschrammt. Ich bin mir des Dilemmas bewusst. Einfache Unterhaltung allein – daran warst du nicht interessiert. Gibt es während des Schreibens einen Warnmechanismus oder muss man auf ein gutes Lektorat vertrauen, dass man nicht überbordet?

Den Leser*innen irgendetwas zu vermitteln, gehört nicht zu meinen Zielen, ich habe keine „Message“. Das würde ich mir nicht anmassen und es würde meinem Grundverständnis von dem, was Literatur kann und soll, fundamental widersprechen. 

Ich denke, das Ziel eines Romans ist es, ein Geschehen und die darin involvierten Personen in seiner/ihrer Komplexität und Ambivalenz darzustellen. Dabei geht es nicht darum, eine Wirklichkeit (oder gar Wahrheit) abzubilden, sondern Zusammenhänge zu erforschen, Konstellationen auszuloten, vielleicht zu einem möglichen Ende zu führen, vielleicht auch Alternativen zu entwickeln. Grundsätzlich denke ich, was Literatur/Kunst im besten Fall erreichen kann, ist, dass der Betrachter, die Leserin seine/ihre Wirklichkeit etwas anders betrachtet, dass sich seine/ihre Wahrnehmung ein klein wenig verschiebt.     

Tatsächlich hat mich der Verlag gedrängt, den Text in dem von Dir beschriebenen Sinn zu „schärfen“. Ich habe dem nachgegeben, aber vielleicht hätte ich doch mehr Widerstand leisten sollen.

Dein Roman spielt in nicht allzuferner Zukunft. Sind deine Schilderungen das Resultat einer sorgfältigen Recherche über mögliche Zukunftsszenarien oder vertraust du deiner Intuition, deiner Beobachtung, deiner Erfahrung?

Bevor ich ernsthaft zu schreiben begann, habe ich einige Jahre als Konjunkturforscherin gearbeitet und mit ökonometrischen Simulationen die wirtschaftliche Entwicklung einzelnen Branchen prognostiziert. Lange habe ich es als 180-Wendung in meinem Leben betrachtet, dass ich dann zu schreiben begann. Inzwischen beginne ich die Ähnlichkeiten zwischen Simulation und Fiktion zu verstehen. Beide werden dort eingesetzt, wo das Wissen an eine Grenze stösst, oder wie der frühere Rektor der Uni Basel Antonio Loprieno, sagte „die literarische Fiktion und die wissenschaftliche Simulation vermitteln Bilder alternativer Realitäten.“  Beides sind Versuche, die Grenze zwischen Wissen und Glauben zu bewältigen, in beiden wird die Grenze zwischen Faktischem und Möglichem in Frage gestellt. Beide entwerfen ein Bild von dem, was sein könnte. 

Recherchen bilden einen wesentlichen Teil meines Schreibens. Ich denke, ich bin sorgfältig dabei, aber nicht in der Absicht oder gar mit dem Anspruch, etwas möglichst Plausibles zu konstruieren. Genauso wie die Vergangenheit, über die ich in früheren Romanen geschrieben habe, ist auch die Zukunft eine Funktion eines sich laufend verändernden Zustandes, eine Reflexion der Gegenwart und sagt primär etwas über diese aus.   

Ein Haus ist eine Insel. Ein Garten ist eine Insel. Eine Klostergemeinschaft ist eine Insel. Eine Liebe ist eine Insel. Wir brauchen diese Inseln. Und doch sind die Bedrohungen manigfaltig. Der Forscher Holm und die Schriftstellerin erinnern sich an ihre Insel-, ihre Liebeserlebnisse. Bleibt man letztlich nicht doch allein, auf der letzten Insel seiner selbst?

Ja ist die einfache Antwort auf diese Frage. Natürlich gibt es Momente der Geborgenheit, der Liebe, in denen wir uns mit einem Menschen, der Welt verbunden fühlen. Aber ich denke, es ist eine (schöne) Illusion zu glauben, dass wir einen anderen Menschen verstehen können oder von ihm verstanden werden, fassen können, was und wie er/sie empfindet. Wir sind zwar nicht immer einsam, aber doch immer allein und dieser Roman ist auch einer über das Scheitern der Liebe.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet. Gabrielle Alioth ist Präsidentin des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

mehr von Gabrielle Alioth auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © privat

Über das Unsichtbare – Gianna Olinda Cadonau im Literaturhaus Thurgau

Wir leben zwar im Zeitalter der Information und Kommunikation und trotzdem leben wir in einem Zeitalter, in dem das Dialogische immer schwieriger zu werden scheint. Ob in der Politik, in Betrieben, in Familien, in Beziehungen, überall. In „Feuerlilie“ von Gianna Olinda Cadonau ist das eines der Themen, die angesprochen werden, aber eben in einer ganz eigenen, sehr oft verschlüsselten Art. 

«Gottlieben ist regenverhangen, in der Nacht soll es stürmen. Umso schöner ist es, in dieses alte Haus einzutreten, ins grüne Zimmer hinaufzusteigen, zusammen mit dir, Gallus, und einem sehr aufmerksamen Publikum über die Figuren, die Landschaft und alles Unsichtbare in meiner „Feuerlilie“ nachzudenken. Das Bodmanhaus ist einer dieser Orte, an den ich immer wieder zurückkommen möchte, den ich mitnehme, in meinen Alltag. Danke!» Gianna Olinda Cadonau

Gianna Olinda Cadonau ist in Scuol aufgewachsen, hat in Genf internationale Beziehungen und in Winterthur Kulturmanagement studiert und ist gegenwärtig an der Lia Rumantscha in Chur für die Kulturförderung verantwortlich. Vor ihrem belletristischen Debüt veröffentlichte Gianna Olinda Cadonau bereits zwei Gedichtbände mit den schönen Titeln „Letzte Stunde der Nacht“ und „wiegendes Land“. 
Kennengelernt habe ich Gianna Olinda Cadonau an der SAL, der Schule für angewandte Linguistik, in Zürich. Und vor fast einem Jahr lud ich eine kleine Gruppe jener StudentInnen hier ins Literaturhaus ein. Gianna Olinda Cadonau war eine von ihnen.

Heute, nachdem ihr Debüt mit dem Studer/Ganz-Preis ausgezeichnet wurde, liegt ihr erster Roman „Feuerlilie“ auf den Verkaufstischen und ist bereits heftig im Gespräch. „Feuerlilie“ ist ein Buch, dass sich nicht ganz so einfach einordnen lässt. Zum einen wegen seiner Erzählart, aber auch wegen seiner Sprache. Ich würde sogar behaupten, „Feuerlilie“ setzt einiges voraus. Wer bloss in einer konsumierenden Rolle unterhalten werden will, findet den Roman wahrscheinlich ziemlich anstrengend.

Drei Menschen. Die junge Journalistin Vera, die sich ins Engadin, ins Dorf ihrer Kindheit zurückziehen will, um an diesem Ort zu schreiben. Ihre ältere Schwester Sophia, die sie manchmal besucht, auch wenn sie in ihrer ganz eigenen Welt lebt und Kálmán, ein Fremder, der sich dort in einem alten geerbten Haus mit seiner Kriegsvergangenheit auseinandersetzen muss. Ein Berühungsroman, ein Roman um ein empfindliches Gravitationsfeld dreier Planeten, die es aus der Bahn zu werfen droht. Vera flüchtet, wenn auch im „Kleinen“ (vor ihrem Partner, dem Rummel, dem Stress), Sophia vor ihren Schwierigkeiten, ihre Psyche in den Griff zu bekommen, Kálmán vor einer Vergangenheit.

„Feuerlilie“ schert sich in seiner Machart nicht um aktuelle Strömungen, sehr wohl aber in seinen Themen; Isolation, Trauma, Auswirkungen von Gewalt… Cadonau erzählt von der Begegnung dreier Menschen, zweier Schwestern und eines Mannes in einem Ort im Engadin. Es kann nicht einmal gesagt werden, Cadonau erzähle die Geschichten, weil sie in ihrem Roman nicht ausleuchtet, nicht ausbreitet, nicht darlegt. Wer ihr Buch liest, ist bis zum Schluss mit Geheimnissen, Schatten und Leerstellen konfrontiert.

Es sind Räume, Häuser, Zimmer, Türen. Judith Hermann erzählte mir in einem Gespräch, Romane seien Häuser. Manchmal wie Puppenstuben. Mit versteckten, verborgenen Zimmern. Und eine Schriftstellerin jene, die mit Licht gerade soviel erhellt, dass sich Konturen zeigen, sprachliche Konturen. Gianna Olinda Cadonau geht es nicht um Klärung, nicht um Er-klärung, nicht um Durchsicht, nicht einmal um Einsicht. 
Vera will sich zurückziehen. Sie braucht Zeit, um in ihrer Arbeit voranzukommen. Und sie braucht Abstand von ihrem Partner. Umstände, die nicht weiter erläutert werden. Aber Umstände, die ausstrahlen. Denn ausgerechnet sie tritt in den Bannkreis eines Mannes, der eigentlich auch nur in Ruhe gelassen werden will.
Ob „Feuerlilie“ auch eine zarte Liebesgeschichte ist, darüber liesse sich diskutieren. Aber zwischen Vera und Kálmán knistert es, wenn auch nur zaghaft, verhalten und durchsetzt von Unsicherheiten, um nicht noch mehr „versehrt“ zu werden. 

Es sind Gegensätze; die Idylle eines Engadiner Ortes mit seinen schmucken Häusern, die menschlichen Abgründe, die tiefen Verletzungen, ein Ort in der Schweiz, Sinnbild für Konstanz und Standhaftigkeit, Menschen darin, die hypersensibel festen Untergrund zu finden versuchen. Die Wirkung verstärkt sich so.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Gianna Olinda Cadonau «Feuerlilie», Lenos

Selten bekam ich einen derart zarten Roman zu lesen wie diesen von der noch jungen Gianna Olinda Cadonau. Obwohl er klassisch aus der Sicht dreier ProtagonistInnen erzählt, geht es ihm nicht darum zu klären. „Feuerlilie“ ist eine literarische Symphonie von Bildern, Stimmungen, Stimmen und Träumen. Eine Reise in die Tiefe der menschlichen Psyche.

Ein Leben ist ein Haus mit vielen Türen und Zimmern. Die Geschichte, die Geschichten, die alle mit sich herumtragen, sind Häuser mit vielen Türen und Zimmern. Manche Türen sind angelehnt oder offen, andere geschlossen oder gleich mehrfach verriegelt. Noch andere Türen gar ausgehängt. So bleiben die einen Zimmer dunkle Geheimnisse, andere hell und aufgeräumt, noch andere leer und kalt. Türen sind in Gianna Olinda Cadonaus Debüt Symbol, Metapher und Bild zugleich. Ihr Roman ist voller solcher Bilder. Bilder, die mich förmlich einsaugen, die mich einwickeln und lange nicht loslassen. Wer es nicht mag, dass alles hell ausgeleuchtet, klar und unmissverständlich erzählt wird, für den ist die „Feuerlilie“ eine Blume, die sich niemals auftut.

«Das, was geschehen ist, ist unsichtbar, sie sind in Ritzen und Zwischenräumen, die Erinnerungen.»

Gianna Olinda Cadonau «Feuerlilie», Lenos, 2023, 171 Seiten, CHF ca. 26.00, ISBN 978-3-03925-031-8

Vera zieht sich in das Bündner Dorf ihrer Kindheit und Jugend zurück, weil sie glaubt, sich dort besser auf ihre Arbeit, das Schreiben, konzentrieren zu können als in der Stadt. Es ist das Haus, das sie und ihre ältere Schwester Sophia erbten. Ein altes Haus aus Stein. Aber Vera hat sich nicht nur für ihre Arbeit zurückgezogen, auch von ihrem Leben in der Stadt, von ihrem Mann. Ihre Schwester Sophia, immer wieder einmal in einer Klinik, besucht sie zuweilen, manchmal angekündigt, manchmal als müsste auch sie fliehen.

Schon im Zug hinauf ins Tal fiel ihr der junge Mann mit dunkler Haut und Narbe im Gesicht auf. Wie sie entsteigt er an der selben Station dem Zug, mit Koffer und sichtbar hinkend. Vera verliert ihn zwar aus den Augen. Aber in dem kleinen Ort begegnet man sich wieder, ganz behutsam, immer wieder, bis man sich mit zaghaften Gesprächen näher kommt. Auch er, Kálmán, ist ein Zurückgezogener. Irgendwann erfährt Vera, dass die Narbe und das Hinken Zeichen einer traumatischen Vergangenheit sind. Kálmán ist ein aus einem Kriegsgebiet Geflohener, Opfer von Misshandlungen und Folter, tief eingeschlossen von den Dämonen seiner Geschichte.

«Er hört zu, fragt nicht nach, und ich frage mich, was er macht mit dem, was ich ihm erzähle, wohin er es tut in seiner Ordnung, ob er einen Ort dafür hat.»

Der Roman bebildert aus der Sicht dieser drei Personen. Sie sind alle versehrt, verwundet, in ihren Geschichten eingesperrt. Vera fühlt sich von dem Mann mit der Narbe im Gesicht angezogen und Kálmán spürt, dass von Vera eine Kraft ausgeht, die Ordnung in sein Leben bringen kann. Sophia spürt das gegenseitige Hingezogensein, auch wenn sie sich selbst nur schwer aus ihrer Einkapselung winden kann. Gianna Olinda Cadonau begleitet ihr Personendreieck in ein Labyrinth aus Winkeln und Sackgassen, beobachtet die empfindsamen Annäherungen von Menschen, die sich wie bei den Fühlern von Schnecken sofort zurückziehen. Und so wie die Autorin erzählt, ist auch ihre Sprache. Eine Sprache, die nie erklären will, schon gar nicht dokumentieren.

Wäre dieses Buch, die Art und Weise wie Gianna Olinda Cadonau erzählt, ein Bild, dann wäre ich ein Betrachter, der lange davorsteht, um mal aus der Distanz, mal aus der Nähe zu ergründen versucht. Und genau die Tatsache, dass es ein Versuch bleibt, macht den Zauber dieses Romans aus.

«Es ist ein Garten. Das hier. Aber durcheinander. Ich weiss nicht wie. Wie ich die Ordnung zurückbringen kann.»

Aus der Jurybegründung des Studer/Ganz Preises: …Sprachlich überzeugend und mit starken Bildern unterläuft der Roman Erwartungshaltungen und schafft eine über das Heute hinausführende Aktualität.

Gianna Olinda Cadonau, geboren 1983 in Indien, wuchs im Engadin auf, studierte Internationale Beziehungen in Genf und Kulturmanagement in Winterthur. Bei der Lia Rumantscha ist sie für die Kulturförderung verantwortlich, darüber hinaus engagiert sie sich in verschiedenen Institutionen für die Kultur im Kanton Graubünden. Sie schreibt Lyrik und Prosa auf Romanisch und Deutsch. Bisher erschienen zwei Gedichtbände in der editionmevinapuorger. «Feuerlilie», der mit dem Studer/Ganz Preis ausgezeichnet wurde, ist ihr erster Roman. Gianna Olinda Cadonau lebt mit ihrer Familie in Chur.

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau von September bis Dezember 2023

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau, liebe Literaturinteressierte, liebe Leserinnen und Leser dieser Webseite

Mein letztes Programm für das schmucke Literaturhaus am Seerhein, wo ich während dreieinhalb Jahren das Programm gestalten durfte. Schon jetzt melden sich erste Vorboten der Wehmut, weil sich gewisse Arbeiten bereits nicht mehr wiederholen werden. Intendant dieses Hauses zu sein, bedeutet mir sehr viel. Vor vier Jahren wurde ich telefonisch angefragt und es war, als hätte man mich mit einem übergrossen Geschenk beehrt. Eine Aufgabe, in die ich hineinwachsen musste, die mir ganz und gar entsprach; Gastgeber im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben.

Am Samstag, 2. Dezember, 18.00 Uhr: „Frei(ab)gang“ Gallus Frei-Tomic verabschiedet sich mit Gästen: Alice Grünfelder, Urs Faes und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung werden es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künsterinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Wohnung des Literturhauses, die das Leben in den obersten beiden Stockwerken des Literaturhauses ausmachten, gewesen sein. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. 

Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein.

Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Ein Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk, fast ausschliesslich bei Suhrkamp erschienen, wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Schweizer Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Heute lebt Urs Faes in Zürich. Urs Faes nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren gemeinsamen Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten, bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.

Abgerundet wird die Veranstaltung durch einen reichen Apéro. Ein Anmeldung ist unbedingt erwünscht!

Eine Reise in die Tiefe – «Leoparda» von Anja Schmitter im Literaturhaus Thurgau

Anja Schmitters Romandebüt «Leoparda» erzählt den Alp einer jungen Frau. «Leoparda» ist Verwandlungsgeschichte, Beziehungsroman, Klima- und Gesellschaftskritik und Ausbruchsversuch. Eine Spiegelung über die Abgründe, aus denen man sich nur mit Übermenschlichem befreien kann.

Die Liebe – Die Hitze – Die Reise – Die Hoffnung

Die eigentliche Buchtaufe zu Anja Schmitters Debüt „Leoparda“ findet am 12. Oktober in der Buchhandlung Sphères in Zürich statt. Dass Anja Schmitter dem Literaturhaus Thurgau eine Vorpremière schenkt, verdankt das Haus nicht zuletzt der Tatsache, dass die Autorin nicht weit von Gottlieben in Landschlacht aufgewachsen ist (für Nichtthurgauer zwei eigenartige Ortsnamen, im Zusammenhang mit dem Buch der Autorin aber irgendwie passend!).

Anja Schmitter: «Die erste Lesung zum ersten Roman vergisst man wohl nie. Umso schöner ist es, dass meine Erinnerungen daran ein wunderbares Bild ergeben, gestaltet durch die herzliche Gastfreundschaft des Literaturhauses Thurgau, durch die Zimmer aus altem Holz, Holz, das tausend Geschichten erzählt, durch die spannenden Gespräche mit Gallus, durch den Spaziergang am graublauen Rhein, die Seeluft, durch mein allererstes, so freundliches Publikum, den Apéro mit Wein, Zopf, Lachen und Gesprächen. Und durch die Zugfahrt von meinem Heimatort nach Gottlieben, eine Zugfahrt, die nur 18 Minuten dauerte. Tausend Dank für diese schönen Erinnerungen!»

Was für Aussenstehende fast wie eine Inszenierung anmutetet; Anja Schmitter feiert in diesem Jahr einen runden Geburtstag, präsentiert sich mit ihrem ersten Roman, hat mitgemischt als Dramaturgin bei „Lysistrata“ beim diesjährigen Seeburgtheaterspektakel am Bodensee in Kreuzlingen – war beeindruckend. Zumal der Roman in vielen seiner Themen absolut in die Zeit passt und mit Sicherheit nicht fremd bleibt: Drohten sie auch schon einmal, aus der Haut zu fahren? «Moderner» könnte man das auch „austicken“ nennen. Mit Kleo, der Protagonistin in Anja Schmitters Debüt, passiert das einer jungen Frau wörtlich, ganz langsam, als schleichender Prozess. Es löst sich die alte Haut in Fetzen, keine harmonische Metamorphose – aus der jungen Frau wird ein Mischwesen, halb Mensch, halb Leopard. 

Kleo trennt sich von ihrem langjährigen Freund, sie hängt ihren Beruf als Lehrerin an den Nagel, sie muss feststellen, dass sie von der Welt ihrer Eltern mehr als nur abgenabelt ist und dass sie selbst den Draht zu ihrer besten Freundin Feli verliert. Eine Szenerie wie ein Abgrund. Und um sie herum flimmert eine unbarmherzige Hitze über einer nach Verwesung stinkenden Stadt.

Über und in Kleo, die eigentlich Kleopatra Frei heisst, eine elterliche Laune wegen einer Ägyptenreise, bricht die Welt zusammen. Kleo ist Lehrerin. Ihre Begeisterung, ihr Enthusiasmus und ihre Euphorie in ihrem Beruf sind arg abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts ganz bildlich gesprochen an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo propagiert in einer schwierigen Phase mit ihrem Freund Ernst die Vorzüge einer «offenen Beziehung», weil sie sich selbst aus der Enge befreien will. Als sie dann aber feststellen muss, dass sie Ernst völlig unerwartet im Bett mit einer andern finden muss, bleibt von der Proklamation „Offene Beziehung“ nicht mehr viel übrig. Kleo taucht ab, schliesst und igelt sich ein.

Anja Schmitters Roman ist zweigeteilt, auch wenn man erst im Laufe der Lektüre merkt, dass man im zweiten Teil des Romans angekommen ist. Kleo geht mit Feli, ihrer Freundin und Therapeutin, an die Limmat, oder zumindest dem, was in der Hitze des Sommers von ihr übrig geblieben ist, schwimmen, im brackigen Wasser, neben toten Fischen. Kleo holt sich einen Sonnenbrand. Vielleicht ist dieses „holt“ ganz wörtlich zu verstehen. Mit dem Sonnenbrand beginnt eine Transformation.

Im zweiten Teil ist Kleo nicht mehr jene, die sie einmal war. Sie gibt vor, irgendwo in den Ferien zu sein, weit weg. Dabei schläft sie in ihrem zur Höhle gewordenen Zuhause, wie eine Katze zusammengerollt auf dem Boden und streift nachts mit Leopardenfrisur und -haut durch die Stadt, faucht Menschen an, verliert sich immer mehr in einem Dazwischen. Es ist, als wäre «Leoparda»  ein Album der Alpträume.



Ganz besondere Bilder spielen in ihrem Roman tragende Rollen, sei es eine Amaryllis, die nicht mehr zu wachsen aufhört und sich irgendwann zu sehr aus dem Fenster lehnt, Möwen und Raubvögel, die alte Nachbarin am Rollator, das Lochergut, der Zoo kurz vor dem Kollaps, Eltern, Meister der Fassade. Kleos Mutter will nicht einmal das Burnout des Vater verraten, um die ins Wanken geratene Tochter zu «schützen» – und Männer: Ernst, der Verflossene, der tut, was Kleo nicht kann, Amir, ein Afghane, der sich durch einen Übergriff Kleos Nähe verwirkt und Adriano, ein angeblicher Bildkünstler, der ihr arg an die Haut will – und nicht zuletzt ein gebrochener Vater, der nur noch seine Sonnenblumen malt.

Beitragsbilder © Gallus Frei

Anja Schmitter mit ihrem Debüt «Leoparda» im Literaturhaus Thurgau

Es ist heiss. Flüsse trocknen aus, der Gestank von Verwesung hängt über der Stadt. Es ist überall heiss; in den Köpfen, in den Herzen, in Beziehungen, bei der Arbeit oder ganz privat. In Anja Schmitters Debüt kocht es über und eine junge Frau wird zum Tier.

Kleo Frei ist junge Lehrerin. Aber schon nach kurzer Zeit hat sich Begeisterung, Enthusiasmus und Euphorie in ihrem Beruf abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo steckt auch mit Ernst, ihrem Lebenspartner in einer Sackgasse. Und als sie ihn um mehr Raum bittet, die Vorzüge einer offenen Beziehung anpreist und wenigstens Türen schaffen will, „erwischt“ sie Ernst bei ihm zuhause im Bett mit einer anderen. Ausgerechnet ihn, von dem sie das Gefühl hatte, es gäbe für ihn nur sie. Auch in der Beziehung mit ihren Eltern, beide im Schuldienst, weiss sie sich seit ihrer Trennung von Ernst nicht mehr zu helfen. Da sind Erwartungen, die sie nicht abschütteln kann. Da spielt ein Schmierentheater, das nichts mit der Wirklichkeit gemein hat. Da wabern Beteuerungen, denen sie nicht mehr glauben kann. Und irgendwann ist das Mass voll.

Mit Sicherheit kennen sie solche Situationen. Solche, in denen ihnen alles über den Kopf wächst, in denen alle Fluchtwege abgeschnitten sind, es keine Alternativen mehr zu geben scheint. Man will aus der Haut fahren. Man spürt das Tier in sich. Man würde am liebsten in die Nacht hinausschreien, oder fauchen wie ein zorniges Raubtier.

Anja Schmitter «Leoparda», Lenos, 2022, 226 Seiten, CHF 26.50, ISBN 978-3-03925-025-7

Kleo heisst eigentlich Kleopatra. Eine Laune ihrer Eltern. Das Resultat einer Reise ins Land der Pharaonin. Aber Kleo ist keine Prinzessin mehr. Ernst hat sie entthront, vom Sockel gestossen. Den Kindern im Klassenzimmer fehlt es nicht nur am Respekt. Und die Eltern verkriechen sich hinter einer Fassade, die nichts von dem erzählt, was wirklich geschieht.
Einziger Halt ist Feli, Kleos Therapeutin, die längst zur Freundin geworden ist, sich aber in einer ganz anderen Welt befindet wie sie selbst; gebraucht in Beruf und Beziehung, offensichtlich verankert. 

Bis in Kleo etwas zu wachsen beginnt. Bis sich nach einem Sonnenbrand die alte Haut in Fetzen zu lösen beginnt. Bis die Amaryllis, die ihr Ernst wie jedes Jahr zu jedem Geburtstag schenkt, die jedes Jahr jämmerlich verreckt, wie Unkraut in die Höhe schiesst. Bis sie den Beruf mit Getöse an den Nagel hängt. Bis über der Haut ein Flaum wächst. Bis sie beim Friseur auch noch in ihre Haare ein Leopardenmuster legt. Bis es in ihrer Wohnung zu müffeln beginnt und aus der jungen Frau der Zorn, die Verzweiflung, Archaisches hervorbricht und Kleo die Reste einer heilen Welt mit ihren Krallen, ihrem Fauchen und ihrer Jagd zu demontieren beginnt.

„Leoparda“ ist eine Verwandlungsgeschichte, eine Metamorphose, die Geschichte eines Ausbruchs. Was im ersten Teil ihres Romans ganz eng an die Realität und mit Sicherheit auch aus der Welt der jungen Autorin geschrieben ist, nimmt im zweiten Teil immer surrealere Formen an. Als würde Anja Schmitter mit den Augen jenes Mischwesens, halb Frau, halb Leopardin sehen. Eine Wahrnehmung, die sich verschoben hat, nicht nur optisch. „Leoparda“ beschreibt nicht zuletzt die Perspektivlosigkeit einer Generation, die man mit einer ganzen Breitseite unlösbar scheinender Probleme konfrontiert, vom globalen bis ins ganz private Klima. „Leoparda“ liest sich im ersten Teil wie eine Dystopie, im zweiten Teil wie ein Alptraum, von der Verletzlichkeit einer ganzen Generation.
Anja Schmitter, geboren 1992 in Münsterlingen. Nach einem Studium der Germanistik und Komparatistik in Zürich, Bordeaux und Wien studierte sie im Master Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Anja Schmitter war als Autorin bei einem Gefängnistheater in Zürich tätig und als Dramaturgin beim See-Burgtheater in Kreuzlingen. Sie lebt in Zürich und schreibt Fiktion und literarische Reportagen, u.a. für das Magazin Reportagen. «Leoparda» ist ihr erster Roman.

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Oktober bis Dezember 2022

Liebe Besucherinnen und Besucher, Freundinnen und Freunde, Zugewandte und grundsätzlich Interessierte

Zwischen Oktober und Dezember 2022 knistert es im Literaturhaus Thurgau: Dramatische Verwandlungen in dystopischer Kulisse, Kunst und Familie im Schreiben vereint, ein Sommer mit Geschichte, ein Schicksal aus der Mitte heraus, eine Virtual-Reality-Reise, eine Widerstandsgeschichte vom Ufer des Bodensees und ein AutorInnenkollektiv, das sich stellt:

Mehr Informationen auf der Webseite des Literaturhauses

Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Man muss sich warm anziehen am 26. Literaturfestival in Leukerbad. Nicht nur wegen der zum Teil garstigen Temperaturen und des Wetters, das sich effektvoll über dem Tal inszeniert, sondern wegen der Themen, die sich unüberhörbar einmischen!

Nichts, aber auch gar nichts kann darüber hinwegtäuschen, dass sich auch das Literaturfestival in schwierigen Zeiten befindet. Da kann der Himmel noch so blau sein, die Kulisse noch so imposant, die Namen im Festivalprogramm noch so prominent und das Programm selbst den Zeiten angepasst.
 Sinnbildlich dafür war ein Gespräch im grossen Festivalzelt zwischen der ukrainischen Schriftstellerin Tanja Maljartschuk («Blauwal der Erinnerung», Kiepenheuer & Witsch 2019) und dem deutschen Historiker und Russlandkenner Karl Schlögel («Der Duft der Imperien», Hanser 2020). Während sich die beiden in einem Gespräch versuchten, das immer mehr zu einem verzweifelten Aufruf gegen das Vergessen und die gegenwärtige Gewöhnung eines nicht fassbaren Ausnahmezustands wurde, braute sich über dem Zelt ein infernalisches Gewitter zusammen. Während Tanja Maljartschuk von ihrer kollektiven und ganz persönlichen Verzweiflung berichtete und Karl Schlögel klarzumachen versuchte, dass die Katastrophe nicht erst am 24. Februar dieses Jahres begonnen hatte und das Land, dass im Bombenhagel eines Diktators und Geschichtsverdrehers in eine Trümmerwüste mit Millionen Vertriebener verwandelt wird, seit bald einem Jahrhundert zwischen den Fronten zerrieben wird, entlud sich das Gewitter, prasselte der Regen auf das Stoffdach, krachte der Donner. Man musste sich im Zelt warm anziehen, so wie sich ein ganzer Kontinent in den kommenden Monaten und Jahren warm anziehen muss, weil nichts mehr so sein wird, wie es einmal war – auch weit weg vom Krieg in der Ukraine.

Marie NDiaye

Schwierige Zeiten für die Literatur und ein Literaturfestival, wenn man sich nur noch mit Vorbehalt, einer gewissen Hemmung und latent ungutem Gewissen dem reinen Sprachgenuss hingeben kann. Taugt Literatur noch zum ungehemmten Genuss? Vielleicht ist deshalb Leukerbad genau der richtige Ort für ein solches Festival, denn der Ort Leukerbad selbst kann nicht leugnen, dass wir uns auf einem „absteigenden Ast“ befinden, dass punktuelle Korrekturen nicht mehr reichen, um das in Schieflage geratene Schiff auf Kurs zu halten. Schriftstellerinnen wie Hiromi Ito („Dornauszieher“, Matthes & Seitz 2021), die in Japan zu den wichtigsten literarischen Stimmen gehört oder die aus Frankreich angereiste Emmanuelle Bayamack-Tam („Sommerjungs“, Secession 2022) oder Marie NDiaye („Die Rache ist mein“, Suhrkamp 2021), eine Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur erzählen vom Schlachtfeld Familie, von den grossen und kleinen Katastrophen, die sich unter den Oberflächen abspielen und hervorbrechen. Schwierige Zeiten, weil neben dem Selbstverständnis Familie auch das Selbstverständnis Geschlecht zu wanken beginnt, weil Ordnungen permanent in Frage gestellt werden, Krusten durchbrochen, Ketten gesprengt und gewissen Fragen endlich zugelassen werden.

Alois Hotschnig

Vieles am diesjährigen Literaturfestival in Leukerbad setzte sich mit scheinbaren Wahrheiten, scheinbaren Ordnungen auseinander. Während man sich beim Bachmannwettlesen in Klagenfurt wundert, dass das blosse Erzählen nicht mehr reichen will, wird klar, dass die Literatur wie keine Kunstrichtung sonst in die Pflicht genommen wird, sich mit den aktuellen Fragestellungen der Gegenwart zu stellen. Kein Wunder, dass es die leiseren Stimmen sowohl am Festival wie auch auf den medialen Bühnen der Literatur überall schwerer haben, sich an ihrem Platz zu behaupten. So waren die Lesungen des Österreichers Alois Hotschnig („Der Silberfuchs meiner Mutter“, Kiepenheuer & Witsch 2021) oder des in Rom lebenden Schweizers Pascal Janovjak („Der Zoo in Rom“, Lenos 2021) Stimmen, die sich mit der Vergangenheit und Innenwelten beschäftigen. Sie beschäftigen sich mit den Spuren eines Lebens, mit Geschichten in der Geschichte, mit filigranen Erzählstrukturen, Fragestellungen, die mir als Leser aber gleichwohl gestellt werden, existenziellen Auseinandersetzungen, die mich mitnehmen, wenn ich bereit bin, mich ihnen zu stellen. Erzählt in einer Sprache, sie sich nicht am Effekt orientiert.

Das Literaturfestival Leukerbad stellt sich den schweren Zeiten.

Beitragsbilder © Internationales Literaturfestival Leukerbad

Gabrielle Alioth «Die Überlebenden», Lenos

Gabriele Alioth hat mit einem Teil ihrer eigenen Geschichte ihrem neuen Roman Leben eingehaucht. „Die Überlebenden“ klingt dramatisch, was es und er auch ist. Der Roman ist die Geschichte des Krieges, eines Kriegs, der von aussen auf die Protagonisten einwirkt, durch die Kriege dieses Jahrhunderts und eines Krieges von Innen, gegen seelische Gewalt, gegen das Vergessen, gegen das Schweigen.

Eine Familiengeschichte, die Geschichte dreier Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise unter den Auswirkungen von Gewalt zu leiden hatten. Gabriele Alioth erzählt in einem Interview, wie sie vor Jahren die Briefe einer Tante an ihren Mann in die Hände bekam, einer Tante, die die Briefe nach Jahrzehnten noch einmal gelesen hatte, die der Autorin sehr schnell offenbarten, dass da Stoff für mehr als eine Geschichte zu verarbeiten war. Und doch ist Gabriele Alioths Roman „Die Überlebenden“ keine Spiegelung von Tatsachen. Der Autorin geht es um die Fragen, die aus den Leben der Protagonisten resultieren, ob man dem biographischen Gencode einer Familie entfliehen kann, wie sehr das Schweigen in einer Familie durch die Zeiten wirkt, zerstörerisch über die Jahrzehnte. Gabriele Alioth will viel mehr als nacherzählen. Ihr Roman ist der Versuch einer Einordnung, vielleicht sogar einer versöhnlichen Klärung. 

„Wie die Geschichte jeder Familie ist auch die meiner erdichtet. Ich habe sie aus Erzähltem, Erinnerten, Erdachtem und Erträumten zusammengefügt, so wie es mir heute richtig erscheint.“

Gabriele Alioth «Die Überlebenden», Lenos, 2021, 269 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-015-8

Vera, die eigentliche Erzählerin im Roman, kommt aus einer Bäckerdynastie. Mina, eine Tochter jenes Grossvaters, heiratet Oskar, einen Mann, der selten zuhause ist, während und nach dem Krieg nicht nur seinen undurchsichtigen Geschäften nachgeht, sondern in der Ferne ein Leben führt, das mit dem seiner Familie, seiner Frau und seiner Kinder gar nichts zu tun hat. Mina, die gezwungen ist, ihre Familie in eigener Regie durch die Zeit zu manövrieren, wird mehr als deutlich von ihrem dominanten Mann aufgefordert, brieflich genauestens zu rapportieren, was zuhause abgeht. Mina formuliert in diesen Briefen krampfhaft beflissen und positiv, was zwischen den Zeilen mehr als deutlich ihren Kampf ausmacht. Den Kampf vieler Frauen in jener Generation, die in ihrem Alltag ihren „Mann zu stehen hatten“, während die Ehemänner an ganz anderen Fronten ihre breite Brust zeigten. Den Kampf einer Frau, die trotz Familie und Ehe alleine ist.

Irgendwann ist Mina gezwungen auch noch den Sohn ihrer Schwester in ihrer Familie aufzunehmen. Max aber ist kein leichtes Kind, viel mehr ein Rebell, ob in Minas Familie, ihrem Zuhause, in der Schule oder in der Ausbildung. Beide reiben sich aneinander, bis Max ausbricht und sich als Pilot im Vietnamkrieg seinen Feinden stellt.

Als er nach Jahren zurück an die Stadt am Rhein kommt, quartiert er sich bei seiner Cousine Vera ein, einer Frau, die Schmetterlinge züchtet, jene filigranen Lebewesen, die durch eine blosse Berührung fluguntauglich gemacht werden können. So wie die eine Tochter von Oskar, die durch einen sexuellen Übergriff ihres Vaters „fluguntauglich“ gemacht wurde, eine Tat, an der Mina ein Leben lang zu kauen hatte, nie darüber sprach, die sich wie ein Alp über die ganze Familie stülpte. Statt gegen den Mann anzutreten, kämpft sie gegen den Rebellen Max, den Pflegesohn, der seinen Kampf wiederum bis in den fernen Osten schleppt.

„Die Überlebenden“ ist keine Unterhaltungsliteratur. Auch kein Roman, der eine Geschichte linear nacherzählen will. So wie es im Nachdenken über die eigene Familiengeschichte nie um eine Chronologie der Ereignisse geht, mischt Gabriele Alioth die Ereignisse so, wie sie dem Nachdenken darüber erscheinen. Das macht es für mich als Leser nicht ganz einfach. Aber genau das entspricht der Wirklichkeit. Gabriele Alioth zeichnet in einer verdichteten Sprache, im Mäandern zwischen Briefen, Erinnertem und Erdachtem. Sie legt ein Mosaik aus Stücken zusammen, die erst aus der Distanz, nicht zuletzt aus der zeitlichen Distanz eine grosse Ordnung ergeben. Mag sein, dass die Lektüre nicht so einfach flutscht. Aber Wahrheiten flutschen selten.

Kein Buch über die «Heilige Familie».

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Für ihr Werk wurde sie 2019 mit dem Kulturpreis der Gemeinde Riehen ausgezeichnet.

Rezension des Gedichtbands «The Poet’s coat – Der Mantel der Dichterin» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Literaturtage Zofingen mit Pascal Janovjak und «Der Zoo in Rom»

Rolf Lappert, Regina Dürig, Silvia Tschui, Beat Sterchi, Philipp Tingler, Michèle Minelli oder Pascal Janovjak – um nur einige der vielversprechenden Namen aufzuzählen, die das Programm der diesjährigen Literaturtage Zofingen auszeichnet. «Der Zoo in Rom», mit dem Pascal Janovjak höchst verdient mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, war ein erster Höhepunkt.

Pascal Janovjak, der schon länger in Rom lebt, macht den Zoo in Rom zu einem Ort, der seine hundertjährige Geschichte erzählt. Die Geschichte der Tiere, der Menschen und des Ortes selbst. Auch wenn Tiere im Zoo auf den ersten Blick keine Geschichten erzählen, erzählen sie doch, durch ihren starren Blick, in den sich unsäglich viel hineininterpretieren lässt. So wenig, wie ein Zoo die Tiere «brauchen» sollte, so wenig sollte es die Literatur tun, nicht einmal als Träger für all die menschlichen Untaten, die an den Tieren begangen werden. «Der Zoo in Rom» ist eine Liebeserklärung. Weniger an die Institution Zoo, sondern an das Bemühen, dem Tier mit dem ihm gebührenden Respekt zu begegnen.

Clarissa John (Dolmetscherin), Pascal Janovjak und Moderator Hanspeter Müller-Drossaart

«Der Zoo in Rom», der vieles dokumentarisch erzählt, ist auch eine Kulturgeschichte des Zoos. Einer Institution, die noch vor wenigen Jahrzehnten Menschen- und Völkerschauen inszenierte, um Publikum zu generieren, einen finanziellen Gewinn, der niemals bis zu den Ausgestellten weiterging. Menschen und Tiere als Ware, austauschbar. Obwohl die Sensibilität heute eine ganz andere ist und man sich für einen Zoobesuch beinahe erklären muss, fasziniert die Institution und gleichermassen seine Geschichte. «Der Zoo in Rom» ist ein Fest der Tiere, nicht zuletzt weil der Autor sich die Freiheit nahm, Tiernamen zu erfinden, so wie es der Mensch über Jahrhunderte tat, damals als Zeichen der Unterwerfung, heute mehr und mehr im Bewusstsein einer Endlichkeit.
Zoos bleiben Gefängnisse, auch wenn ihre Absperrungen immer geschickter in der inszenierten Umgebung verborgen werden. Zoos sollen Abbild sein, damals ein Garten Eden, ein Stück Paradies, heute ein künstlicher Lebensraum. Selbst die Tierwelt, die Natur ist zu einem Bild, einem Mythos geworden, eine «reine, schöne Landschaft», die mit der Realität immer weniger zu tun hat. Erst wenn es dem Menschen gelingt, so der Autor, mit der Natur, den Tieren respektvoll, symbiotisch umzugehen, ist die Existenz der Natur gesichert. 

«Der Zoo in Rom» ist ein Kunstwerk erzählter Menschheits- und Tiergeschichte. Eine Geschichte im Hin-und-Her zwischen absoluter Respektlosigkeit und der feinen Berührung zweier Lebewesen auf Augenhöhe.

Besuchen sie Zofingen! Die Literatur lockt!

Rezension von «Der Zoo in Rom» auf literaturblatt.ch