5 Bücher, 5 Namen #SchweizerBuchpreis 21/1

Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?

Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!

Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf.
(Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)

Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung. 
Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft.
(Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)

Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur!
(Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)

Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen.
Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.»
Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)

Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.»
(Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)

Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».

Illustrationen © leafrei.com

Pascal Janovjak «Der Zoo in Rom», Lenos

Zoos sind Spiegel ihrer Gesellschaft. In Zoos sind nicht einfach nur Tiere zur Besichtigung eingesperrt. Zoos sind viel mehr. Ein Zoo ist ein künstlicher Kosmos. Und dass man in einem solchen gänzlich abtauchen kann, davon erzählt Pascal Janovjak in seinem preisgekrönten Roman „Der Zoo in Rom“.

Dass es Zoos in der Gegenwart immer schwerer haben, wenn sie sich nicht ganz offensiv das Mäntelchen des aktiven Tierschutzes, des Bewahrers bedrohter Arten überstreifen, ist spätestens dann klar, wenn man als Besucher:in sieht, wie stark Zoos gezwungen sind, in möglichst artgerechte Haltung möglichst viel zu investieren. Je mehr Lebensraum unersetzbar zerstört wird, desto mehr werden Zoos zu Archen. Noch immer sind Zoos Visitenkarten, Prestigeobjekte. Aber was in den vergangenen hundert Jahren in und um Zoos passiert ist, ist eine eigentliche Kulturgeschichte. Die Kulturgeschichte des Objekts „Tier“, dass vom reinen Material, das einzig und allein der Huldigung menschlicher Vermessenheit diente zum geduldigen „Objekt“ selbst wurde. So wie einst das Tier zu dienen hatte, dient heute der Mensch – verspricht es zumindest.

Pascal Janovjak «Der Zoo in Rom», Lenos, 2021, 232 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-003-5

Pascal Janovjak will viel mehr als die Geschichte eines Zoos erzählen, die hundert Jahre des Zoos in Rom, von seiner Gründung 1911 bis in die Gegenwart. Pascal Janovjak erzählt die Geschichte eines Biotops, jener Menschen und Tiere darin, die sich hinter Gitter oder Glas, von Gräben getrennt gegenüberstehen. Und die Geschichte einer jungen Frau und eines jungen Mannes, die sich in diesem Geviert zaghaft zu lieben beginnen und sich wieder verlieren, alle beide auf die ihr ganz eigene Art und Weise. Hundert Jahre nach seiner Gründung soll die neue Kommunikationschefin Giovanna für den Zoo eine PR-Strategie entwerfen, um den sinkenden Einnahmen durch sinkende Besucher:innenzahlen entgegenzuwirken. Gleichzeitig streift im Zoo der junge algerische Architekt Chahine herum, der eigentlich einen baulichen Auftrag hätte, sich aber vielfach fasziniert in den Wegen des Zoos verliert. Schlussendlich ist es der letzte einer Ameisenbärenart, der die beiden bindet, aber nicht nur die beiden, sondern mit einem Mal überrennen Besuchermassen den Zoo, weil man Zeuge sein will eines letzten Überlebenden, des Dramas des Aussterbens.

In seinem Erzählen stösst Pascal Janovjak tief in den feuchtheissen Kosmos jenes Zoos ein, der vor hundert Jahren nicht nur Tiere vorführte, koste es was es wolle, sondern auch Menschen, ganze Dörfer, die in Kulisse vor kultivierten Besucher:innen zeigen sollten, wie weit man von den Primitiven entfernt ist. Eskimos neben Damwild, Nubier neben Antilopen und Tigern, perfekt inszeniert, auch wenn mit Verlusten gerechnet werden musste. Eine Landschaft wie auf einer lebendigen Postkarte. Tiere wurden von überall her eingefangen, hergekarrt, verschifft und transportiert, auch wenn nur eines von fünf Tieren die Strapazen überlebte. An den Ufern des Tibers muss es mordsmässig gestunken haben, nach Kot, Urin und Verwesung, als man in Empfang nahm, was jämmerlich überlebte.
Pascal Janovjak schildert, als ob er dabei gewesen wäre. Ein Zoo, der hundert Jahre zwischen Konkurs und Euphorie schwankt, immer wieder, je nachdem woher wirtschaftlich und politisch der Wind wehte.
Die Düfte scheinen aus den Seiten aufzusteigen und sich um die eigenwillige Liebesgeschichte zwischen Giovanna und Chahine zu ranken, so sehr, dass sich Chahine in den Dünsten verliert, nicht nur seinen ursprünglichen Auftrag, nicht nur seine Liebe, sondern auch sich selbst.

„Der Zoo in Rom“ ist unschweizerisch opulent erzählt, als hätte der Autor ein südamerikanisches Erzähl-Gen. Und dazwischen der Ameisenbär, ein Tier aus tiefster Vergangenheit, ein Wesen, das sich aufmacht zu verschwinden.

© Laura Salvinelli

Pascal Janovjak, geboren 1975 in Basel als Sohn einer französischen Mutter und eines slowakischen Vaters, studierte Komparatistik und Kunstgeschichte in Strassburg. Er lehrte Französisch an der Universität Tripoli (Libanon), leitete 2002–2005 das Büro der Alliance française in Dhaka (Bang­ladesch) und unterrichtete anschliessend Literatur in Ramallah (Palästina). 2011 Schreibaufenthalt am Istituto Svizzero di Roma. Seither lebt er in Rom. «Le Zoo de Rome» ist sein dritter Roman. Er wurde mit dem Schweizer Literaturpreis, dem Publikumspreis von Radio Télévision Suisse und dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet.

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der französischen Philologie und Neueren Deutschen Literatur an der Freien Universität Berlin und an der Université de Lausanne. Übersetzt aus dem Französischen und dem Englischen, schreibt Prosa und Szenisches. Moderiert Veranstaltungen und ist Mitglied der Theaterkompanie mikro-kit.

Beitragsbild © Guy Buchheit

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos

Mag sein, dass Reisen abenteuerlich werden können. Dann, wenn man bekanntes Terrain verlässt, wenn man diesen einen Schritt über den Rand hinaus wagt. Wenn man nicht mit Sicherheit weiss, was sich jenseits des Bekannten befindet. Was für Reisen gilt, gilt noch viel mehr für Beziehungen. Werner Rohner schreibt in seinem neuen Roman „Was möglich ist“ über Menschen, die den Schritt über solche Grenzen wagen, meist in mehrfacher Hinsicht.

Werner Rohner hätte am Wortlaut St. Gallen vor Publikum gelesen, wenn es geklappt hätte. Wenn Sie trotzdem online verfolgen wollen, was Wortlaut digital anzubieten hat, dann besuchen Sie die Webseite hier.

„Was möglich ist“ lotet aus. Werner Rohner beweist sich als Seismograph. In seinem Roman erzählt er drei Geschichten von Frauen und Männern, die in ihren Beziehungen diesen einen Schritt wagen. Den Schritt über die Grenze, über die Konvention, über die Vernunft hinaus, in unbekanntes Terrain. Dabei geht es Werner Rohner nicht um die Frage, ob der Schritt glückt, nicht einmal darum, ob er nachvollziehbar ist. Werner Rohner begibt sich ganz nah an sein Personal, spürt ihnen nach, dem Mut, der Hoffnung, der Verzweiflung, dem Zweifel. „Was möglich ist“ zeigt, was möglich ist, dass in Beziehungen Abenteuer stecken, reisen in unbekanntes Terrain, weit über Grenzen hinaus.

Edith ist über sechzig und arbeitet eine Ewigkeit im selben Café. Dort sitzen Menschen und erzählen ihre Geschichten. Einer davon ist Christoph, jünger als sie, Bademeister. Christoph versuchte einer leblos im Wasser treibenden Frau das Leben in den Brustkorb zurückzupumpen. Es sollte nicht sein. Die Frau blieb liegen. Aber nicht nur auf dem Betonboden der Badeanstalt, sondern auch in den Bildern in Christophs Kopf. Edith, eine Frau mit feinem Gespür, kommt Christoph näher. So nah, dass das Zusammensein mit dem Mann Türen wieder aufreisst, von denen Edith glaubte, sie hätten sich für den Rest ihres Lebens geschlossen. Christoph gibt ihr zurück, was sie aufgeben hatte, obwohl da vor Jahrzehnten einmal eine Familie war. Chris und Edith fahren weg, in ihrem alten Saab über Spanien bis nach Marokko, wo Chris mit Ediths Erspartem ein Haus in einem kleinen Dorf gekauft hat. Eine neue Existenz, ein neues Leben. Was sich für beide paradiesisch anfühlt, entpuppt sich aber doch als Fata Morgana, zumindest für Edith, die das neue Leben zwar geniesst, ihre Rolle als Geliebte, als Hausbesitzerin und Gastgeberin. Aber Edith fährt zurück, zurück in ihr altes Leben.

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos, 2020, 379 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-007-3

Vera ist schwanger. Eingeladen an eine Kongress in New York nimmt sie ihre Freundin Nathalie mit. Nathalie hat zwei Kinder, die sie für die paar Tage bei ihrem Mann zurücklässt und Vera ebenfalls einen Ehemann, der nicht verstehen kann, dass sich Vera schwanger in ein Flugzeug setzt. Was aus der Ferne wie eine Geschäftsreise aussehen soll, ist aber schon bei den Vorbereitungen zur Reise und im Flugzeug erst recht ein Versprechen für viel mehr. Vera und Nathalies Freundschaft ist mehr. Vera fühlt, dass zusammen mit ihrer Freundin etwas aufbricht, das bisher nur schlummerte. In der monumentalen Stadt auf der anderen Seite des Ozeans beginnt eine leidenschaftliche Affäre, die im Rausch alles auszublenden vermag, lässt ein Leben aufkeimen, das sich aber mit dem Flugzeug zurück nicht ins alte Leben zurücktransportierten lässt. Die Versprechen bröckeln.

Michael ist Schriftsteller. Sein Freund Lorenz bittet ihn, seine Frau Lena, die ohne ihre Kinder mit einem Mal, wie aus dem Nichts, nach Neapel abgehauen ist, zur Rückkehr zu bewegen. Mit einem Typen. Lena und Michael kennen sich schon lange. Und weil Michaels Schreibe ins Stocken geraten ist, fährt er in die Stadt am Vulkan. Lena zu finden ist nicht schwierig. Sie versteckt sich nicht, auch nicht den Mann mit Bauch an ihrer Seite. Auch der eine alte Geschichte. Michael wird zu einem Verbindungsmann. Lena ist ausgebrochen, in der Schwebe. Sie weiss genau, dass das Angefangene in Neapel keine Dauer hat und das Alte zuhause so keine Zukunft. Michael bietet ihr und ihren beiden Kindern eine vorübergehende Bliebe in seiner Wohnung an. Bloss ein Zimmer, aber immerhin. Und mit einem Mal steht Michael mitten drin.

Drei Frauen, die es wagen, alles aufzugeben, allen Sicherheiten zu entsagen, die einen Neuanfang provozieren, ausreissen und abreissen lassen. Die Geschichten sind nicht nur thematisch miteinander verbunden. Sie spiegeln sich ineinander. Und sie treffen sich sogar ganz kurz im Café, in dem Edith während Jahrzehnten servierte. Aber die Geschichten spiegeln sich auch in mir, mit Sicherheit in allen, die sich auf diesen äusserst gelungenen Roman einlassen. Denn diesen einen Schritt, zumindest die Möglichkeit, den Gedanken darum, den Traum, die Idee tragen die meisten mit sich herum. Dass Werner Rohner daraus kein abgehobenes Abenteuer macht, ist die grosse Qualität dieses Romans.

Interview:

War da von Anfang an ein Plan? Ein Buch mit drei Geschichten, die sich auf verschiedene Arten berühren und spiegeln? 

Da war kein Plan zu Beginn, da war Edith, die zu erzählen begonnen hat. Dabei hat sie im Café Uetli gesessen. Um sie herum andere Menschen, denen sie ab und zu einen Café brachte. Und auch die hatten ihre Geschichten. Und manche davon haben sie mir dann auch noch erzählt.

Edith, Vera und Lena brechen aus. Sie tun das, was viele als Plan, Absicht, Vorsatz, Wunsch und Traum ein Leben lang unerfüllt mit sich herumtragen. Als ich einmal während einiger Monate im Spital arbeitete und eine Frau fragte, warum sie das Foto ihres eingesargten Mannes auf dem Nachttischen stehen habe, sagte sie: „Heiraten sie spät oder nie. Tun sie erst alles andere!“ Warum tun wir uns so schwer auszubrechen und nehmen lieber Magengeschwüre und Burnouts in Kauf?

Es fehlt an Vorbildern (im Gegensatz zu Magengeschwüren und Burnouts), an Geschichten, die anders erzählt, anders gewertet und verstanden werden.

Außerdem brauchen Ausbrüche Anlauf – das dauert –, Gelegenheit und Mut. Glück halt. Und nicht zuletzt ein Umfeld, welche die Ausbrüche mitträgt, oder zumindest nicht dagegen angeht.

Und dann ist ein Ausbruch ja je nachdem auch nicht eine einmalige Sache. Muss man wieder und wieder tun, durchhalten, aushalten, Unsicherheit zu- und den Ausgang offenlassen können.

Alle deine Protagonistinnen leben in der Angst, dass sie für ihr Glück büssen müssen. So sehr, dass sie den Ausbruch auf die eine oder andere Weise „ausklingen» lassen. Muss man sich mit dem Konfuziuszitat „Der Weg ist das Ziel“ trösten?

Also nach Konfuzius versteh ich das das ja nicht als Trost, sondern als Glück. Und ich glaub, das haben auch Edith und Vera und Lena unterwegs gefunden. Sind dann aber oft wo gelandet, wo sie nicht damit umgehen konnten.

Aber ihre Geschichten sind ja nicht zu Ende. Ich hab nur aufgehört, sie weiter zu erzählen.

Es sind Ausbrüche und es sind Varianten eines Kontrollverlusts, die du beschreibst. Dabei lernen wir schon kleinen Kindern im Kindergarten, Ausbrüche und Kontrollverlust zu vermeiden. Büssen wir damit auch einen Teil unserer Kreativität ein, weil Kreativität immer Ausbruch und Kontrollverlust ist?

Fällt mir Patrick Findeis ein, der gesagt hat, Schreiben sei eine Mischung zwischen totalem Kontrollverlust und alle Fäden in den Händen halten. Kreativität trägt immer beides mit, sonst ist es Chaos.

Ist „Schreiben“ ein kontrollierter Ausbruch?

Ich glaub, es ist eher eine Möglichkeit mehr. Es ersetzt ja nichts, aber es fügt was hinzu. Sowohl für mich als Schreibenden, als auch für die Lesenden. Und hat eine Wechselwirkung mit dem anderen Leben – und diese Wirkung ist, glaub ich, kaum voraus- oder abzusehen, und damit auch kaum kontrollierbar.

Welches Buch hat sich in jüngster Vergangenheit tief in dein Herz eingebrannt und warum?

„Ich hab› gelebt Mylord“ von Simone Berteaut. Es ist eine Art Biografie von Edith Piaf, geschrieben von ihrer Halbschwester, die vielleicht auch einfach eine Bekannte war. Das aber ist egal; das Buch hat so einen tollen Sound, und im Hintergrund Edith Piafs Musik, dass man das Leben so stark spürt, dass ich oft weinen musst. Manchmal so sehr, dass ich die Buchstaben nicht mehr sehen konnte.

© Christoph Oeschger

Werner Rohner, geboren 1975, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Längere Schreibaufenthalte in Rom, Langenthal und Los Angeles. Er veröffentlichte Texte in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, für die er mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde, und schrieb drei Theaterstücke. Sein erster Roman «Das Ende der Schonzeit» erschien 2014 und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert. Zusammen mit Katja Brunner veröffentlichte er 2018 das Buch «Wie weit du genetisch vom Raubtier entfernt bist». «Was möglich» ist ist sein zweiter Roman.

Werner Rohner mit «Was bleibt» auf der «Plattform Gegenzauber»

Beitragsbilder © Werner Rohner

Werner Rohner «Was bleibt»

Licht im August: William Faulkner

Ich hab das nie verstanden: Sommerbücher. Leicht und luftig. Da hat man endlich mal Zeit am Stück um zu lesen, sich den Büchern ganz auszusetzen, dass sie über einen hereinbrechen, alles umkrempeln; und dann wählt man eines, bei dem man nach jedem halben Satz auf-, und aufs Meer schauen kann und trotzdem den Faden nicht verliert. Oder noch schlimmer, bei dem es gar keine Rolle spielt, ob man mal kurz ein paar Sätze abschweift. Dafür brauche ich doch kein Buch. Dafür reicht das Meer (und wie weit es reicht).
Wenn da aber kein Meer ist. Und trotzdem Zeit. Dann und drum: Licht im August. Faulkner! Das rückt einem den Kopf mal wieder zurecht. Weil es alles an sich bindet, das Licht eben, die Landschaft, das Leben und nicht selten den Tod. Und das mit einer Sprache, die mir beim Lesen permanent ein wenig Hühnerhaut verursacht, so fein und gleichzeitig mit einer Wucht, dass kein Gedanke mehr daneben Platz hat. Weil diese Sprache auch mich mit Gewalt an sich bindet. Und Gewalt ist auch im Buch selbst genug. Und kein Trost, kein bisschen; aber da ist mehr Leben drin als – da ist das Leben drin.
(übersetzt von Susanne Höbel und Helmut Frielinghaus)

Maggie Nelson: The Argonauts

Da ist zuerst mal die Form. Im Amerikanischen läuft das unter Non-Fiction, bloß weil da jemand (nach-)denkt, ohne sich gleich mit der Figurenrede aus der Verantwortung zu stehlen. Und wie Maggie Nelson denkt! Kreuz und queer. Und gleichzeitig an ihrem Leben entlang erzählt, ihrer Beziehung mit Harry, seinem Sohn, wie dann noch ein neues Kind dazu kommt – und was das bedeutet, für die Liebe, für den Sex und eben fürs Denken. Wie sich das alles durch einander und durcheinander verändert. Viel auch über Kunst und Kunstbetrachtung. Über Alltag und Politik und Perversionen. Wie viele Nerven im Anus sich befinden und welche Beziehung wir zum Wort Radikalität finden könnten.
Es ist diese Mischung, welche die Theorie nicht vom Fiktiven trennt, ohne das eine immer gleich allzu offensichtlich das andere erklären zu lassen, die ich so toll fand. Die Spannung, die zwischen den Teilen entsteht. Man kann zuschauen, wie das Nachdenken über etwas gleichzeitig zur Erzählung über den Gegenstand wird. Und wie es Maggie Nelson gelingt, auf endgültige Schlüsse und Zuordnungen zu verzichten und gerade dadurch genau zu bleiben. Und wie emotional all das Denken ist und wie intelligent die Erzählungen vom Alltag. Und nicht selten habe ich mir bei der Lektüre gewünscht, dass mir dieses Buch jemand in der Schule zum Lesen gegeben hätte – ich glaube, es hätte mein Leben und Denken ein klein wenig freier gemacht.
(im Original)

Ben Lerner: 10:04

Immer mal wieder, wenn ich in einem Buch lese und irgendwas nicht stimmt – mit dem Buch oder mir – nehme ich 10:04 von Ben Lerner hervor, schlage irgendwo auf und es passt immer. So ein Buch ist das. Mit einer Geschichte, mit einer Dramaturgie, das auch, aber ich könnte es auch rückwärts lesen und jedes zweite Wort überspringen, irgendwas würde es immer noch in mir auslösen.
Es ist ein Buch, bei dem ich mich ständig frag, wie entscheidet der Autor, was alles dazugehört? Weil irgendwie alles dazu gehört, weil der Erzähler die meiste Zeit irgendwohin abschweift, in Gedanken und Geschichten (auch ein paar Bilder und bereits veröffentlichte Essays gehören dazu), um dann wieder irgendwo aufzutauchen und den Faden der Hauptgeschichte (der Freundschaft zu Alex, die ein Kind von ihm will, ohne unbedingt mit ihm zu schlafen) wiederaufzunehmen.
Und wie das dann auch noch immer etwas über unsere Zeit erzählt und dabei auch noch wirklich witzig ist. Ja, witzig und gleichzeitig ziemlich intelligent, eine Kombination, die ja nicht allzu oft vorkommt. Und ich frage mich, wie oft ich es noch wieder lesen kann, bevor es seine Wirkung auf mich verliert, oder inwieweit sie sich verändern wird. Und wann endlich sein nächstes Buch rauskommt.
(einmal im Original, oft übersetzt von Nikolaus Stingl)

Werner Rohner, geboren 1975 in Cala D’or. 2014 erschien sein Debüt «Das Ende der Schonzeit» bei Lenos. Der Roman wurde mit einem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet, war für das beste deutschsprachige Debüt beim Rauriser Literaturpreis nominiert und erschien 2017 auf Französisch unter dem Titel «Fin de Trêve» bei Les Editions de l´Aires.

 

Gabrielle Alioth «But you don’t really care for music, do you? – Szenen zu Leonard Cohen»

It’s time that we began to laugh and cry and cry and laugh

Ich bin dreizehn Jahre alt, meine ältere Schwester liest Salut les Copains und hört Jacques Brel. Wir haben die Maiunruhen, den Prager Frühling und den Vietnamkrieg am Fernsehen gesehen. An diesem Morgen stehe ich an der Haltestelle und warte auf den Bus, mit dem ich in die Stadt zur Schule fahren werde. Das rote Beret trage ich nicht mehr, es verrutscht auf meinem glatten braunen Haar. Dolly hat blondes gewelltes Haar, und ich bewundere sie. Sie kennt sich aus, auch mit Männern. An diesem Morgen singt sie den Refrain eines englischen Liedes. Ich verstehe fast alles, obwohl ich in der Schule nicht Englisch, sondern Altgriechisch lerne, und summe mit. Bis sie inne hält: „Du weißt natürlich, dass es laugh heißt, lachen und nicht lieben?“
„Natürlich“, lüge ich.

Many loved before us, I know that we are not new

Ich bin fünfzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester hat mir ihr Moped geliehen. Es ist Samstagabend, und ich fahre an das Sommerfest auf dem Hügel am Stadtrand. Es dauert nicht lange, bis ich Urs finde. Er hat blaue Augen und gewelltes Haar. Er ist auf dem Weg zu einem Konzert und überrascht, als ich frage, ob ich mitkommen dürfe. Das Konzert findet in einem Gemeindesaal statt. Die erste Band spielt schon, als wir ankommen, und es ist dunkel, aber ich sehe Dolly in einer Ecke in den Armen ihres Freundes. Wir hocken uns auf den Boden zwischen die anderen. Urs küsst mich. Ich überlege, was er mit seiner Zunge in meinem Mund sucht, aber ich weiß es nicht.

I will help you if I must, I will kill you if I can

Ich bin siebzehn Jahre alt, und meine ältere Schwester wohnt nicht mehr zu Hause. Es ist Herbst, und ich fühle mich gut, aber ich kann es nicht länger verbergen. Ich muss etwas tun. Es macht überhaupt nicht weh, und als in der Nacht das Wasser bricht, hänge ich das nasse Leintuch über den Stuhl und lege mich wieder schlafen. Ich schlafe so gut in diesem Jahr. Am übernächsten Morgen bestellt meine Mutter ein Taxi. Ich schreie während der Fahrt und im Treppenhaus vor der Arztpraxis. Ich weiß, dass es Frauen gibt, die ihre Kinder allein im Urwald gebären. Eine Woche später gehe ich wieder in die Schule.

Just win me or lose me

Ich bin neunzehn Jahre alt, meine ältere Schwester ist nach Salzburg gezogen. Richard hat blaue Augen und blondes gewelltes Haar. Ich öffne den Mund, als er mich küsst. Richard ist aus gutem Haus und kennt sich aus. Ich erzähle ihm von dem Kind, aber er weiß, was er will. Nach dem Studium heiraten wir.

Waiting for the miracle to come

Es ist Sonntagnachmittag, und wir spazieren den Rhein entlang. Richard spricht über die Arbeit an seiner Dissertation. Ich denke an die Servietten, die ich noch bügeln muss, und die Kurzgeschichte über die toten Katzen, die ich gern schreiben würde. Wir setzen uns auf eine Bank. Richard erklärt mir, wer von seinen Verwandten in den Patrizierhäusern am gegenüberliegenden Ufer wohnt, und ich weiß, dass ich das nicht ein Leben lang aushalten werde.

And is this what you wanted, to live in a house that is haunted, by the ghost of you and me

Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, und wir haben ein Haus in Irland gekauft. Es hat keine Heizung, kein Bad, die Fenster sind zerbrochen, aber es liegt am Hang eines Tales durch den ein Bach fließt. An einem Morgen im ersten Winter stehe ich am Ufer, als die Sonne aufgeht, und sehe den Tau in den Spinnweben zwischen den Schilfhalmen glitzern. Ich weiß, dass ich so lange hier bleiben werde, wie ich kann.

Give me back the Berlin wall

Im Sommer 1987 fahren wir zum ersten Mal nach Berlin. Die Grenzposten sehen so aus wie in Irland, nur dass die Soldaten ihre Gesichter nicht mit Tarnfarbe beschmiert haben. Während Richard Zeitungsredaktionen besucht, fahre ich mit der U-Bahn in den Osten und kaufe günstige Buchausgaben von Goethe, Fontane, Heinrich Mann. Unter den Linden muss ich an das Lied von Hildegard Knef denken.

And no one knows why the wine is flowing

Wir haben uns in dem Haus über dem Tal eingerichtet und mehr Land gekauft, nun gehört uns auch der Bach. Ich habe meinen ersten Roman veröffentlicht und beschlossen, weiterzuschreiben anstatt Kinder zu haben. Richard ist erfolgreich als Journalist; wenn es nötig ist, helfe ich ihm. Manchmal gehe ich gegen Abend an den Bach hinunter und schaue dem Wasser zu. In den kleinen Buchten am Ufer dreht es sich in Wirbeln. Das Tal ist ein Teil von mir, aber ich weiß es noch nicht.

Everybody knows that the war is over

Am 31. August 1994 gehe ich wie jeden Morgen mit den Hunden am Strand spazieren. Am Abend zuvor hat die IRA eine unbefristete Waffenruhe erklärt. Es wird noch vier Jahre dauern, bis das Karfreitagsabkommen unterzeichnet wird. Der Kormoran, der an diesem Morgen in der Mündung des Flusses sitzt, hat seine Flügel zum Trocknen ausgebreitet. Er sieht aus wie ein Wappentier.

Dance me to the end of love

Am Montagabend fahren wir in die Stadt für die Tanzstunden. Es ist kalt in dem großen Saal, wir sind allein mit der Lehrerin, und sie muss uns die Schritte immer wieder zeigen. Richard wird wütend, wenn er Fehler macht. Wir wissen beide, dass wir den Tango niemals lernen werden. Ich würde gern Rumba tanzen können. Es heißt, Rumba sei der Tanz der Liebe.

That’s how the light gets in

Ich arbeite an meinem vierten Roman. Es ist der hermetischste, den ich je schreiben werde, und ich weiß, dass ich am Ende eines Weges bin. Für drei Monate lebe ich in Santa Monica. Die Jacarandas blühen. Gegen Abend spaziere ich manchmal zum Meer hinunter, um den Sonnenuntergang zu sehen.

If you want a lover

Ich bin dreiundvierzig Jahre alt, als ich Dich wieder treffe. Ich weiß sofort, dass ich Dich liebe. Du sagst, es ist genauso wie damals. Ich bin glücklich, ich sehe es, als ich in den Spiegel schaue. Ich nehme mir vor, die zweite Chance nicht zu vertun.

There ain’t no cure

In unserer ersten Nacht klingelt Dein Telefon. Ein Notfall, Du musst ins Krankenhaus zurück. Vom Fenster des dunklen Zimmers aus sehe ich, wie Du auf dem Hotelparkplatz ins Auto steigst und den Motor startest. Bevor Du los fährst, blendest Du den Schweinwerfer für einen Augenblick auf. Die Zärtlichkeit des Lichts schnürt mir die Kehle zu.

It don’t matter how you worship as long as you’re down on your knees

Wir sehen uns heimlich, und oft muss ich auf Dich warten. Aber es ist besser, als nicht zu warten, und wenn Du da bist, ist es nicht mehr wichtig. Es fällt mir leicht, ein Doppelleben zu führen, und manchmal macht es auch Spaß. Ich schreibe über die Liebe.

The odds are there to beat

An einem Abendessen nach einer Lesung in Dhaka liest mir mein Tischnachbar aus der Hand. „There was an accident in your life“, sagt er. Ich weiß, wovon er spricht. „And there is another one to come.“ Die Gespräche am Tisch verstummen. Als ich am Tag darauf in einer Maschine der Bangla Airlines nach Kalkutta zurückfliege, überlege ich, ob ein Flugzeugabsturz ein accident ist. Aber natürlich stünde der nicht in meiner Hand.

If it be your will

Nach zehn Jahren erfährt Richard, dass ich ihn betrüge. Er sagt, er habe immer gewusst, dass ich eine Lügnerin sei. Der Scheidungstermin ist Ende Dezember. Die Verhandlung dauert nur ein paar Minuten, dann wünscht die Richterin uns Glück. Ich sehe Richard in seinem Regenmantel die Straße hinuntergehen und denke, dass er Dir dankbar sein sollte.

And thanks, for the trouble you took from her eyes, I thought it was there for good so I never tried

Ich gewöhne mich an das Alleinleben; an den Verlust des Tales werde ich mich nie gewöhnen. Ich richte mich in einem kleinen Haus auf einem Hügel ein, und jeden Morgen gehe ich mit dem Hund am Strand spazieren. Ich treffe Dich alle paar Wochen für zwei, drei Nächte, meist in einer fremden Stadt. Es ist nicht wichtig wo.

Everything depends upon, how near you sleep to me

Ich bin dreiundsechzig Jahre alt, Leonard Cohen ist vor zwei Jahren gestorben, meine Schwester lebt immer noch in Salzburg. Ich dachte stets, dass ich lieber ein interessantes als ein glückliches Leben hätte; es ist so schwer, über Glück zu schreiben. Heute scheint mir, dass wir unsere Möglichkeiten, über unser Leben zu entscheiden, maßlos überschätzen. Das Meiste passiert einfach – Liebe, Tod – und wir wissen nicht warum.

The story’s told, with facts and lies.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland. Ihr neuster Roman «Gallus, der Fremde» erschien bei Lenos. Im Waldgut Verlag erscheint im März erstmals ein Gedichtband «Der Mantel der Dichterin».

Rezension von «Gallus, der Fremde» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Gabrielle Alioth «Gallus, der Fremde», Lenos

Ich heisse Gallus, weil ich vor 56 Jahren in der Stadt St. Gallen zur Welt kam. In meiner Geburtsstadt ist Gallus kein ungewöhnlicher Name. Je weiter man sich aber von St. Gallen entfernt und dabei vielleicht sogar über die Grenzen in die Nachbarländer, kann es passieren, dass man der Ernsthaftigkeit meines Namens zu misstrauen beginnt. Dabei gab vor 1400 Jahren ein von Irland kommender Mönch mit diesem römischen Namen der Buchstadt St. Gallen ihren Namen.

In der Gallus-Stadt aufgewachsen und zu Schule gegangen bin ich durchsetzt von Legenden, die sich um meinen Namensgeber ranken. Der Mann, der um 600 n. Chr. im Wald an einem Bach, unweit des Bodensees eine Klause gründete, habe nur mit Hilfe eines Bären in der unwirtlichen Umgebung überlebt (der Bär im Wappen der Stadt St. Gallen). Er sei vielleicht sogar adeliger Herkunft gewesen und man habe ihn krank auf dem Weg nach Rom zurückgelassen.

Gabrielle Alioth, die sich nicht erst mit diesem Roman historischen Stoffen annäherte, gelingt von der ersten Seite weg, was ich vor der Lektüre kaum zu hoffen wagte. Sie verfällt nicht der Versuchung, dort weiter zu erzählen, wo die Legenden enden. Sie schmückt nicht aus, was in meinen Kindheitserinnerungen an Halbwahrheiten und «Übermalungen» hängengeblieben ist. In der Kirche St. Martin in St. Gallen, jener Kirche, in der ich zur Erstkommunion ging und gefirmt wurde, in der ich zwischen Vater und Mutter nicht zu weit vorne, aber auch nicht zu weit hinten jeden Sonntag zur Messe ging, prangt an der rechten Seite ein übergrosses Mosaik meines Namensvetters. Ein alter, kräftiger Mann mit stechendem Blick mit einem jungen Bären zu seinen Füssen, der zu ihm aufschaut.

Gallus war damals mit einer Gruppe Mönche vom irischen Bangor auf dem Weg in den heidnischen Süden. Columbanus, ein charismatischer Führer leitete zwölf Brüder auf eine Reise, bei der es kein Zurück geben konnte. Eine Reise in eine Fremde, die so unwirtlich und unbekannt erscheinen musste wie heute ein fremder Planet. Eine Reise, die permanente Lebensgefahr bedeutete, die an sich Martyrium genug war, auf der der Tod in vielerlei Gestalt lauerte und Misstrauen uns Feindschaft nicht nur von aussen drohte, sondern mit Sicherheit ein Teil des Gepäcks war.

Gabrielle Alioth, die viele Jahre in Irland lebte und wohl immer wieder mit der Geschichte dieses Mannes aus dem irischen Bangor konfrontiert wurde, dessen römisch klingender Name irgendwie nicht zu seiner scheinbaren Herkunft passt, hat nicht einfach ein mögliches Abenteuer nacherzählt, die Legende eines «Heiligen» noch einmal bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen, was in der Vergangenheit immer wieder passierte, sondern Fragen gestellt, einem Leben, einem Entscheid, eine Reise ins vollkommen Ungewisse nachgefühlt und nachempfunden. Die Autorin erzählt auf mehreren Ebenen; Als unmittelbare Begleiterin auf der Reise bis an den Ort, an dem er nach der Legende krank geworden hängen blieb. Als Frau, die den alt gewordenen Man zwanzig Jahre später im Kreise seiner neuen Gefährten in der Siedlung unweit des Bodensees besucht und erfahren will, was den Mann damals von seinen Begleitern unumkehrbar Abschied nehmen liess und von der der Frau in der Neuzeit, die den Weg einmal weg aus der Schweiz nach Irland machte und Jahre später, in einer ganz anderen Zeit als Gallus, wieder zurück.

Gabrielle Alioth verknüpft die drei Erzählebenen kunstvoll, spürt nach und zeichnet mit wagen Strichen. Das Leben ist eine Reise. Gallus machte sich damals mit seinen Gefährten um Columbanus auf eine Reise ins Ungewisse, eine Reise an die Grenzen des Möglichen, an den Rand des sicheren Lebens, weg von aller Geborgenheit, weg von aller Gewissheit. Gabrielle Alioth zeichnet weniger ein Leben nach, als das, was aus den Konsequenzen einer Entscheidung entsteht. In «Gallus, der Fremde» bleibt Gallus fremd. Und das ist gut so, denn das wenige, dass aus gesicherten Quellen überliefert wäre, reicht nicht für eine Nacherzählung seines Lebens. Aber der Mann von der grossen Insel im Norden hat etwas mitgebracht, etwas bewirkt. Geblieben ist eine Stadt, die seinen Namen trägt, ein weltbekanntes Kloster – und ein rätselhafter Name.

«Gallus, der Fremde» nimmt einem mit auf eine Reise ins Unbekannte, im Wissen darum, dass man nie ankommt.

Ein Interview mit der Schriftstellerin:

Sie wanderten einst aus nach Irland, ins Land Ihrer Sehnsüchte. Gallus wanderte 1400 Jahre zuvor auch aus, vielleicht zuerst nach Irland, dann mit Columbanus und seinen Gefährten auf den europäischen Kontinent. Ein Abenteuer ohne Rückkehr. Wohl kaum eine Auswanderung ins Land der Sehnsüchte. Wie weit ist die Figur Gallus zu einem Spiegel geworden?

Ich denke, man darf Gallus und Columbanus neben allen religiösen Motiven, der Peregrination etc., auch eine gewisse Abenteuerlust unterstellen, und es gibt ja auch Historiker, die (etwas zynisch) meinen, die irischen Mönche hätten Irland vor allem deshalb verlassen, weil es ihnen in Irland zu langweilig war. D.h. ich denke schon, dass sie auch ihren „Sehnsüchten“ folgten; und so wie Gallus das Land, in das er auswanderte nicht kannte, habe auch ich Irland nicht gekannt, als ich beschloss, dorthin zu übersiedeln. 

Grundsätzlich denke ich, dass Romanfiguren stets Aspekte des Autors/der Autorin spiegeln. Schreibt man über die Gegenwart, wird oft automatisch unterstellt, man/frau schreibe über sich selbst. In sog. historischen Romanen kann man sich als Autorin besser „verstecken“, auf jeden Fall hat mich noch nie jemand gefragt: Wie war’s denn im Kloster? Oder: Haben Sie immer noch ein Verhältnis mit Otto von Schwaben?

Was mich an ihrem Roman beeindruckt ist die Tatsache, dass sie nicht noch weitere Schlaufen um die Legenden des Stadtgründers ziehen. Sie halten sich an die wenigen Fakten und schmücken viel mehr die Umgebung, das Umfeld des Protagonisten als seine Heiligenschein. Brauchte es Überwindung oder war es von Beginn weg Absicht?

Ich finde es stets interessant und beim Schreiben natürlich auch ganz unterhaltsam, Legenden (oder andere vorgegebenen Vorstellungen) zu entlarven bzw. nach Gründen für Legendenbildung zu suchen und deren Entstehungsprozess nachzuzeichnen. Es ist Teil des Perspektivenwechsels, das in einem Roman erlaubt, möglich und auch spannend ist. 

Zudem wird Gallus bereits in den Viten als recht widerspenstiger Heiliger dargestellt. Um Gegensatz zu Columba ging es ihm wohl nicht so sehr um seinen eigenen Ruhm und Namen, sondern viel mehr darum, sein Leben so zu führen, wie er es für richtig befand. 

 Sie fügen in ihren Roman starke Frauenfiguren ein. Zum Beispiel die Frau, die sich 20 Jahre nach Gallus Ankunft im Steinachtobel hartnäckig an die Versen der Mönche heftet, um mehr vom Leben des Siedlungsgründers zu erfahren. Oder ihre Stimme als Erzählerin, als Forscherin. Sieht der weibliche Blick auf eine Zeit, die so patriarchisch geprägt ist, anders?

Ich weiss nicht, ob jene Zeit tatsächlich so „patriarchalisch geprägt“ war. Columba und Gallus kamen aus Irland, in dem zu jener Zeit die Brehon Laws den Frauen eine Gleichberechtigung einräumte, die wohl keltische Wurzeln hatte. Und auch im Burgund war z.B. Brunichilde weit mächtiger und wichtiger als ihre Grosssohn Theuderich.

Ich weiss auch nicht, was „der weibliche Blick“ ist? Ich denke, wir schreiben aus der Summe all unserer Erfahrungen, d.h. alles was wir erleben und erfahren fliesst in unserer Schreiben ein. Das Geschlecht, das im übrigen bekanntlich sehr unterschiedlich erlebt werden kann, ist somit nur einer von vielen Faktoren, die unsere Sicht formen, und ich würde meine eigene Sicht lieber nicht auf meine Weiblichkeit reduzieren lassen.    

„Gallus, der Fremde“ ist bei weitem nicht der erste historische Stoff, dem sie sich literarisch annähern. Wo lag die Motivation, dieses Buch zu schreiben? Worin liegt der Reiz, sich immer wieder auf einen neuen historischen Horizont einzustellen?

Die Historie gibt Fakten vor, eine Art Skelett. Die Herausforderung beim Schreiben eines Romanes mit historischem Hintergrund ist es, die Lücken zwischen diesen Fakten mit einer glaubwürdigen Fiktion zu füllen. Gleichzeitig ist dies  auch das Privileg der Romanschreiberin: Dort, wo der Historiker schwiegen muss, weil ihm die Fakten fehlen, hat sie die Freiheit, über das zu spekulieren, was gewesen sein könnte.

Ein weiterer Reiz ist sicher die unter 1) genannte Möglichkeit, sich als Autorin in der Historie zu verstecken.

Und konkret zu Gallus: Diese sehr frühe Zeit hat den Vorteil, dass wir nur wenige Fakten haben, d.h. wir wissen bald einmal, was man weiss und was man nicht weiss. D.h. das Ausmass der Spekulation ist breiter als in anderen Epochen.

Grundsätzlich aber, denke ich, sind es stets einzelne Schicksale, bzw. Fragen, die diese Schicksale aufwerfen, die mich (unabhängig von der Epoche) gepackt und fasziniert haben. Bei Gallus war es die Frage nach dem, was ihn mit Columbanus verband. Was hält diese beiden willensstarken, eigensinnigen Männer über 20 Jahre zusammen, und warum trennen sie sich dann doch ? Was ist in Bregenz zu Ende gegangen? Was hat Gallus die Freiheit gegeben, sich gegen Columbanus aufzulegen? Was hat ihm die Kraft gegeben, Columbanus› Strafe und die Trennung zu ertragen?  

Ist „Gallus der Fremde“ ein Fremder geblieben?

Sicher ist, dass er sich nicht vereinnahmen liess. Er weigerte sich, Bischof zu werden, beharrte darauf, in seiner „Einsiedelei“ (die – so Cornel Dora –  ja eigentlich eine Mehrsiedelei ist) zu bleiben.

Zudem denke ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen – und ich lebe nun seit 34 Jahren in Irland, also länger als ich in der Schweiz gelebt habe –,  dass Exilierte, Emigranten und Migranten jenseits aller Integrationswünsche und -bestrebungen und unabhängig davon, wie «zuhause“ sie sich an einem Ort fühlen, fremd sind und fremd bleiben und dass dies ein ehrlicherer Zustand ist, als eine oberflächliche oder künstlich geschaffene Zugehörigkeit. Und es ist auch ein durchaus erstrebenswerter Zustand. Er hat Gallus erlaubt, im Steinachtal zum dem zu werden, was er war, u.a. dem Namensgeber für Kloster, Stadt und Kanton. Denn es war Gallus› Vergangenheit, der Weg, den er zurückgelegt hatte, sein Fremdsein, das ihn speziell machte. Wäre er aus Arbon oder Steinach gekommen, hätte sich niemand um ihn gekümmert. Und das Fremdsein und -bleiben hat mir erlaubt, über ihn zu schreiben, weil ich selbst weder hier noch da hin gehöre.

Gabrielle Alioth, geboren 1955 in Basel, war als Konjunkturforscherin und Übersetzerin tätig, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. 1990 publizierte sie ihren ersten, preisgekrönten Roman «Der Narr». Es folgten zahlreiche weitere Romane, Kurzgeschichten, Essays sowie mehrere Reisebücher und Theaterstücke. Daneben ist sie journalistisch tätig und unterrichtet an der Hochschule Luzern. Seit 1984 lebt Gabrielle Alioth in Irland.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Andrea Gerster «Alex und Nelli», Lenos

2016 gab es in Deutschland 335 000 Obdachlose. 35 % mehr als 2010. (In der Schweiz gibt es sie auch – aber keine Zahlen!) Wer in Berlin oder irgendeiner andern Stadt durch die Gassen geht, sieht sie. Sie nicht zu sehen, ist unmöglich. Andrea Gerster erzählt in ihrem neuen Roman „Alex und Nelli“ die Geschichte von Alexander Steiner, der sich irgendwann nur noch Alex, noch später Ale nennt. Und von Nelli, die von Alexanders Verschwinden nicht losgelassen wird. Ein Roman über die Reduzierung mehrerer Leben.

Dem Roman ist ein Zitat von Elfriede Jelinek vorangestellt: „Wenn einer ein Schicksal hat, dann ist es ein Mann. Wenn einer ein Schicksal bekommt, dann ist es eine Frau.“
Alexander Steiner liebt seinen Jaguar, das Raubtier, 500 PS, Acht-Gang-Automatik. Vielleicht liebte Alexander auch Nelli. Aber Alexander liebt sich selbst nicht, genauso wenig wie seine Hände, die er lieber in Lederhandschuhen versteckt. Als die Geschäfte bei Architektur Steiner & Berger schlechter gehen, sein Partner an ihm vorbei aus dem Fenster in den Tod springt, er mit seinem Raubtier eine Frau zu Tode fährt und Nelli ihn verlässt, bleibt nichts mehr übrig. Nichts. „Steiner schrumpft.“ Alexander Steiner taucht ab, nach Deutschland, nach Berlin. Zuerst mit der Absicht, es noch einmal zu versuchen, diesmal als Alex. Was nicht gelingt. Von Alexander Steiner bleibt Ale. Ale ist einer der Obdachlosen in der Millionenstadt, einer von vielen, ein Mann mit Schicksal. Ein Mann, der seine Vergangenheit auszulöschen versucht.

Bei Nelli, die bei Alexander Steiner auszog, waren es weder die kleinen noch die grossen Gemeinheiten, die sie aus der gemeinsamen Wohnung trieben. Nelli war schwanger und Alexander überzeugte sie davon, dass es besser sei, das Kind wegzumachen. Was man aus Nelli wegmachte, war aber viel mehr als das ungeborene Kind. Und weil dieses ungeborene Kind Nelli nicht loslässt, es sich im Laufe des Romans immer deutlicher als Vorstellung Nellis manifestiert, macht sich Nelli auf die Suche nach Alexander. Auf die Suche nach dem Verlorenen.

„Alex und Nelli“ ist keine Liebesgeschichte. Aber die Geschichte verlorener Liebe. Alexander glaubt sich von aller Liebe verlassen, lässt alles zurück, kappt alles. Nelli sucht nicht nur nach Alexander, auch nach dem was er ihr genommen hatte, nach dem, was ihr das Leben doch versprochen hatte, die Liebe. Alexander taucht ab, verschwindet, wird zusammengeschlagen, bleibt liegen als Haufen Elend. Was ihn am Leben lässt, ist die wiedergefundene Liebe zum Leben, das absolut reduzierte Sein.

«Man kann so oder so glücklich werden, muss aber nicht.»

Der Handlungsverlauf des Romans strapaziert die Grenzen des Konstruierten arg. Zufälligkeiten, die ich nur schwer nachvollziehen kann und Szenen, deren Glaubwürdigkeit meine Vorstellungskraft zu sehr ausreizt. Trotzdem überzeugt der Roman, die knappe Sprache, wie sehr sich die Autorin auf das Wesentliche fokussiert. Andrea Gerster spiegelt die Gesellschaft, lotet Gegensätze aus, packt jedoch viel in die Geschichte hinein. Allein Alexanders Herkunft, die Geschichte seiner frühsten Kindheit, erinnert an Bilder aus dem Film Trainspotting. Und das traumhafte Erscheinen des ungeborenen Kindes bei Nellis Suche nach dem nicht gewordenen Vater trägt das Geschehen an den Rand des Realen. Das Ungeborene, das sich einmischt. Nellis Kind, dass sie damals hatte abtreiben lassen, ohne wirklich darüber nachzudenken.

„Alex und Nelli“ ist die Geschichte von Lügen. Alex selbst belügt sich lange genug, bis die dünne Schicht nicht mehr trägt und er einbricht. Nelli lügt nicht weniger. Sie trennt sich mit einer Lüge von ihrem neuen Freund Len, reist mit einer Lüge nach Berlin und lockt Alex mit einer Lüge aus seinem abgewandten Dasein. Andrea Gerster offenbart, was Lebenslügen anrichten, dass Wahrhaftigkeit und Wahrheit vielleicht doch nicht ohne Lüge auskommen, dass Glück nicht immer dort liegt, wo man sucht. Weder Nelli noch Alex wollen die Konfrontation, obwohl sie Zufall und Absicht mehrfach aneinander vorbeischrammen lassen. Zufälle und Absichten, die mir nicht immer glaubhaft erscheinen.

Andrea Gersters sechster Roman, der vom Lenos Verlag als „tragikomisch“ angepriesen wird, will viel, schafft aber nicht alles. Lesenswert, unterhaltsam, herausfordernd und gut geschrieben ist er aber allemal. Ein Roman, der den Nerv der Zeit trifft. Ein Roman über die Einsamkeit und Zerrissenheit des Menschen.

Andrea Gerster, geboren 1959, lebt als freie Journalistin und Schriftstellerin in der Ostschweiz. Die mehrfach ausgezeichnete Autorin hat Romane, Erzählbände sowie weitere Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffenlicht. Andrea Gerster ist zudem Progammverantwortliche im Literaturhaus Lichtenstein.

Buchvernissage «Alex und Nelli»
Dienstag, 24. Oktober 2017, 19 Uhr, Hauptpost, Raum für Literatur, st. Leonardstrasse, St. Gallen, Buchfest mit Lesung und Apéro, Moderation Rebecca C. Schnyder, Büchertisch Buchhandlung Comedia, St. Gallen.

Webseite der Autorin

gedruckt im Kulturmagazin „Saiten“, Oktoberausgabe 2017

Titelfoto: Sandra Kottonau

Tom Zürcher «Der Spartaner», Lenos

«Ich habe Flügel. Zu grosse, wie sie hier sagen, aber ich bin froh um sie. Dank ihnen können sie mich nicht festhalten, selbst hier nicht, wo sie mich gefangen halten.»

Er ist im Hotel ohne Fenster, das Essen gut, mit Einzelzimmer. Mit Frau Doktor unterhält er sich, manchmal morgens, manchmal nachmittags. Frau Doktor ist hübsch und hat eine karamellige Stimme. Er würde lieber ein Bier trinken oder mehr, weil ihn Bier nüchtern macht, statt sich dauernd darüber zu unterhalten, was im Mörder geschehen ist, warum es Tote gab und aus blöden Häppchen Tote wurden. Er mag Frau Doktor, erst recht als sie nicht mehr kommt und ein anderer gegenüber sitzt und ihm nicht verraten will, was mit Frau Doktor ist, die nämlich rausgefunden hat, dass er ein guter Küsser ist, ihm aber noch immer nicht glaubt, dass er nicht lesen kann, dafür nach jeder Sitzung die Gespräche mit einer alten Schreibmaschine in die Tasten haut und übers weisse Papier fliegt, weil das Geräusch der Maschine all die anderen Geräusche im Kopf übertönt. Dabei war alles einmal perfekt, zusammen mit Kuss, Gerpolder, Fetti und dem Spartaner. Als der Spartaner noch lebte, war er sein einziger wirklicher Freund.
Tom Zürchers Buch und Sprache ist nicht Mainstream; ein brauner Korridor mit feuchter Beleuchtung, ein Zimmer riecht wie eine feuchte Keksdose. Aber das macht sein Buch zum Ganzen, denn auch der Protagonist ist nicht Mainstream, mal mehr, mal weniger neben der Realität, immer auf Konfrontation mit der Welt, sei es in den witzigen und queren Dialogen mit der Therapeutin des «Hotel ohne Fensters», seinem Blick auf die Gesellschaft oder in der entglittenen Freundschaft zum «Spartaner».
Der Genuss des Buches vergrössert sich, wenn man es laut liest und die eigene Stimme irgendwann den verzweifelten Ton der Therapeutin oder den scharfzüngigen des Protagonisten annimmt. Ein Kammerstück, ein Blick in die Schatten!
f87e6db5d667d9a977e39670e1f206117a7a5ebfTom Zürcher (1966) ist Zürcher, freier Texter und Schriftsteller. Vor bald 20 Jahren erschien bei Eichborn sein erster Roman «Högo Sopatis ermittelt», von dem im Klappentext steht: «Eine durchgedrehte Schweizer-Qualitäts-Detektivgeschichte…» und von der Zürcher Kantonalbank: «Wir wünschen allen Schriftstellern viel Erfolg und ein reiches Leben.» Ich auch. 😉

Interview von Bruno Bötschi mit dem Autor