literaturblatt.ch macht ERNST

Nach sieben Jahren geht ein grosses Abenteuer zu Ende: Im Januar 2023 stellen wir die Produktion von ERNST ein.

ERNST 4 / 22

ERNST 3 / 22

ERNST 2 / 2022

ERNST 1 / 2022

ERNST 3+4 / 2021

ERNST 2 / 2021

ERNST 1 / 2021

ERNST 4 / 2020

ERNST 3 / 2020

ERNST 2 / 2020

ERNST 1 / 2020

ERNST 4 / 2019

ERNST 3 / 2019

ERNST 2 / 2019

ERNST 1 / 2019

ERNST 4 / 2018

ERNST 3 / 2018

Susan Kreller „Pirasol“, Berlin Verlag

„Pirasol“ ist ein Haus, eine Fabrikantenvilla neben der Papierfabrik „Johann Suhr und Söhne“. „Pirasol“ ist Schauplatz vieler Kriege, einem Ehekrieg mit einseitiger Bewaffnung, einem Vater-Sohn-Krieg mit ungleichlangen Schwertern, dem Rachefeldzug einer Vertriebenen und einem Kampf einer Frau ein Leben lang mit sich selbst.

Gwendolin ist 84 Jahre alt und lebt mit Thea, die 15 Jahre jünger ist, in der Fabrikantenvilla „Pirasol“. Eigentlich hätte Gwendolin alles für ein sorgenfreies Leben; Reichtum als Alleinerbin eines Industriellen, eine Familie und jemanden, der sich um sie „kümmert“. Wenn da die Geschichte nicht wäre; eine apokalyptische Kindheit und Jugend ums Ende des letzten Weltkriegs, die Hölle einer Ehe, den Verlust eines Sohnes, zweier Familien und den Terror ihrer Mitbewohnerin Thea.

“Den Tod hat Gwendolin erkannt, der Tod beginnt sein Leben dann, wenn man vor die Gräber der anderen gerät. Dann geht das Sterben los, ein für alle Mal, und die Falten im Gesicht sind nichts als Friedhofswege, über die man geht.“

„Pirasol“ heisst die Villa, weil einst ein Verwandter aus Brasilien half, dass das Haus überhaupt fertig gebaut werden konnte. Ein Zeichen der Dankbarkeit, ein Schild an diesem Haus, in dem Dankbarkeit verloren ging.

Ein grosses, stattliches Haus, lange bewohnt vom Papierkönig Willem, Herrenhaus der Papierfabrik „Johann Suhr und Söhne“. Gwendolin mag dieses Haus, trotz allem, trotz der üblen Geister, die sich darin einnisteten. Allen voran eine Ehe lang Willem, der sie aus der grauen Kammer einer Haushälterinnenschule heiratete und Thea, die nach dem Tod des Despoten und Familienoberhaupts die Geschicke des Gemäuers an sich reissen will. Thea droht Gwendolin mit Gwendolins verlorenem Sohn, der nach Jahrzehnten in die Stadt zurückgekehrt sein soll, ein Krimineller, die Schande, der Grund, warum einst ein Teil der Fabrik einem gelegten Feuer zu  Opfer fiel. „Der Junge“, Gwendolins Sohn, von dem sie sich in ihrer unausgesprochenen Schuld nicht einmal traut, den Namen auszusprechen. Von seinem Vater mit Schlägen, Missachtung, allen Formen des Entzugs gestraft, von seiner Mutter schutzlos allein gelassen, weil er sie mit in den Abgrund gerissen hätte. Dorthin zurück, woher sie vor der Ehe mit Willem gekommen war: Traumatisiert vom Verschwinden ihrer Mutter während der Feuerstürme über Deutschland und ihres Vaters ins KZ Oranienburg bei Berlin. In den letzten Kriegstagen versteckte eine Nachbarin Gwendolin hinter einem Medizinschrank vor den einrückenden Russen. Danach irrte sie herum, bis ihr Vater auftaucht, ein Totgeglaubter, einst ein sprachgewaltiger Theaterkritiker. Ausgezehrt bis auf die Knochen vor ihrer Wohnungstür, nur noch ein Gespenst, ein stummes Überbleibsel dessen, was einst Familie war.

Gwendolin verliert ihre Familie noch ein zweites Mal durch die starke und unbeirrbare Hand ihres Ehemannes Willem. Dieser drangsaliert seinen aus seiner Sicht nichtsnutzigen Sohn so lange und grausam, dass dieser mit einem Seesack aus dem Haus flieht, Feuer in der Kantine der väterlichen Fabrik legt und verschwindet. Aus dem Haus verschwindet, aus der Familie, nie aber aus dem zu tiefst in Schuldgefühlen blutenden Herz seiner Mutter Gwendolin.

Als Willem stirbt, alle Zeit und alle Mittel dagewesen wären, um sich auf die Suche nach dem verlorenen Sohn zu machen, taucht Thea auf. Ein Racheengel aus der Vergangenheit, ein vielköpfiger Drache, der sich in Gwendolins Haus festkrallt. Es entflammt ein Krieg, bei dem sich Thea eine ganze Meute Verbündeter zulegt und Gwendolin auf scheinbar verlorenem Posten zum Rückzug gezwungen ist. Wenn da das Wort nicht wäre, die Bücher und ganz zum Schluss jener Mut, den es braucht, um die Kröte auszuspucken.

Es sind nicht nur zwei Frauen, die sich gegenüberstehen. Gwendolin kämpft gegen das Ertrinken in den Tsunamiwellen des Krieges, in einem Ehe- und Vater-Sohn-Krieg. „Pirasol“ ist ein „Zwiebelroman“. Während des Lesens stösst man Schicht für Schicht hin zum Zentrum der Geschichte. Überzeugend gebaut von einer Autorin, die Psychologie verbildlichen kann. Die Geschichte Gwendolins, die unfreiwillig von einer Front zur nächsten taumelt. Ein Roman, fein gesponnen, bis zu einem Finale, einem scheinbar kleinen Schritt mit grosser Wirkung. Ein Roman über Familie und die Sehnsucht nach einem wirklichen Zuhause.

Ein Interview mit Susan Kreller:

Väter und Mütter, die nicht da sind, wenn man sie braucht. Väter, die prügeln und ihre Kinder zu brechen versuchen. Mütter, deren Hände gebunden sind, die sich in Schuldgefühlen winden. Familien, die nichts von dem versprühen, was das Idealbild verspricht. Ihr Roman zeichnet ein düsteres Bild dessen, wonach sich fast jeder sehnt. Belügen wir uns mit dem Idealbild Familie?

Nun ja, der Roman zeichnet ja auch ein überaus helles Familienbild, nämlich immer dann, wenn es um Gwendolins Kindheit bis zur Inhaftierung des Vaters im Jahr 1943 geht. Gwendolin ist ein geliebtes Kind und hat Eltern, die über Gwendolin hinaus auch noch einander lieben. Heller geht es nicht, finde ich. Mein Buch suggeriert also durchaus, dass das Idealbild Familie nicht notwendig eine Lüge sein muss. Dass Gwendolins Kindheit und das heile Familienleben zerstört werden, ist rein äußerlichen Faktoren geschuldet. Das Glück dieser Kindheit lebt dennoch fort und beschützt Gwendolin ein Leben lang. Allen düsteren Familienszenen im Buch steht immer diese glückliche und geglückte Kindheit gegenüber.

Gwendolins Vater wird ins KZ Oranienburg weggesperrt. Ein Politischer. Ein Mann des Wortes. Aus dem Lager schreibt er nichtssagende Briefe, codierte Briefe, die nur die Tochter versteht und seiner Frau verschlossen bleiben. Briefe, die irgendwann ausbleiben und das Schlimmste vermuten lassen. Sprache ist immer codiert. Sprache ist ein Code. Was steckt hinter dem Code ihres Romans?

Man kann die Sprache des Buches auf denkbar viele Arten decodieren, einen einzigen, festgelegten Code kann es m.E. gar nicht geben. Eine Möglichkeit eines solchen Codes könnte sein, dass der Sprachduktus der personalen Erzählinstanz zwar ein sehr ernsthafter ist, aber die ganze Zeit von Lakonie und Ironie durchzogen ist – genau wie Gwendolins Leben, das auf den ersten Blick nur schwer wirkt, in dem aber immer wieder Leichtigkeit, Verschmitztheit und Hoffnung aufleuchten.

Gwendolin ist eine Erdulderin bis fast am Schluss ihres Romans. Wahrscheinlich ein Wesenszug der meisten Frauen ihrer Zeit, bevor Frauen sich das Recht nahmen, sich zu emanzipieren. Braucht es die Emanzipation der Geschlechter? Bräuchte es nicht vielmehr die Emanzipation all jener, die noch immer nur erdulden?

Für mich war „Pirasol“ nie nur die Emanzipationsgeschichte einer Frau, obwohl die spezifischen Geschlechterrollen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg natürlich eine große und für den Roman wesentliche Rolle spielen. Trotzdem geht es hier vor allem um die Emanzipation eines stillen Menschen, eines Menschen, der durch die unglücklichen Umstände seines Lebens nahezu verstummt ist und erst spät den eigenen Ton lauter dreht. Gwendolin befreit sich aus dem Gefängnis ihrer eigenen Stille. Und es geht auch um Tröstung. Der Roman zeigt einen Menschen, der zum ersten Mal im Leben getröstet ist und seine eigene Traurigkeit zwar nicht ablegt, aber endlich annimmt.

Nach mehreren Kinder- und Jugendromanen ist „Pirasol“ ihr erster Roman in der „Liga der Grossen“. Spürt man unter den Autoren eine Zweiklassengesellschaft? Und worin unterscheidet sich das Erzählen, wenn es denn verschiedene Ligen gibt?

Ich versuche es meist auszublenden, dass es im deutschsprachigen Raum eine strikte institutionelle Trennung zwischen der Kinder- und Jugendliteratur und der sogenannten Erwachsenenliteratur gibt. Für mich gibt es nur eine einzige Literatur, und ich gehe beim Schreiben für verschiedene Adressatenalter weitgehend gleich vor. Natürlich gibt es trotzdem Unterschiede, vor allem mit Blick auf die Erzählstruktur, auf das Alter der Protagonisten und auf die Perspektive, aus der ein Thema behandelt wird. Und ein wenig auch mit Blick auf die Sprache. Aber ich bleibe dabei: Für mich gibt es nur eine Literatur.

Eine der Schlüsselszenen in ihrem Roman ist der Moment, wo der Papierkönig Willem die kunstvoll gefalteten Papiertiere seines Sohnes, die er in den gemeinsamen Ferienwochen mit der Mutter gesammelt hatte, alle im offenen Kamin verbrennt. Willem tut alles, um seinen Sohn zu brechen. Aber er bricht ihn bloss auf. Väter und Mütter machen Fehler, immer wieder, die meisten ohne es zu wollen. Wo liegt der Unterschied zwischen Fehlern, die man verzeiht und solchen, die unheilbar verwunden?

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Das ist sicher eine der großen Lebensfragen, und ich weiß nicht, ob man sie überhaupt pauschal beantworten kann. Ob ein Fehler verziehen oder nicht verziehen wird, hängt ja nicht nur vom Fehler ab, sondern auch von dem Menschen, der den Fehler verzeihen soll. In meinem Buch geht es aber ohnehin nicht ums Verzeihen, sondern eher darum, dass man mit dem, was die Fehler anderer Menschen (und natürlich die eigenen Fehler) im Leben angerichtet haben, zu leben lernt.

Vielen Dank!

Susan Kreller, geboren 1977 in Plauen, studierte Germanistik und Anglistik und promovierte über englischsprachige Kinderlyrik. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sie 2012 mit dem Jugendbuch »Elefanten sieht man nicht« bekannt. Sie erhielt unter anderem das Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium, den Hansjörg-Martin-Preis (2013) und 2015 den Deutschen Jugendliteraturpreis für »Schneeriese«. Sie arbeitet als Schriftstellerin, Journalistin und Literaturwissenschaftlerin und lebt in Bielefeld. »Pirasol« ist ihr Roman-Debüt im Berlin Verlag.

Husch Josten «Hier sind Drachen», Berlin Verlag

Caren, eine Journalistin, sitzt auf einem Flughafen fest. Der Teil, in dem die Passagiere auf ihren Flug von London nach Paris warten, ist abgesperrt. Nichts geht mehr. Niemand scheint etwas über die Gründe zu wissen. Irgendwann werden sogar Mobiltelefone eingesammelt. In diesem Vakuum aus Ungewissheit und latenter Angst sitzt Caren und schwenkt mit ihrem Blick in die Gesichter der Wartenden und in die Windungen ihrer eigenen Erinnerung.

Husch Josten erzählt klug und vielschichtig. Sie lässt mich teilhaben bis tief in das Innenleben einer Frau, die zum Innehalten gezwungen ist und dadurch Zeit hat, ihren Dämonen nachzuspüren. Sind es Zufälle, die sie immer wieder an Terror und Gewalt vorbeischrammen lassen? Warum blieb sie «übrig»? Der Schrecken von lauernder Vernichtung nistete sich ein, denn mehr als einmal schien es blosser Zufall, der sie vor dem sicheren Tod rettete. Seit jenen Geschehnissen senkt sich der Alp immer wieder langsam auf sie nieder, droht sie zu ersticken. Trotzdem bleibt sie Journalisten, bleibt beruflich ganz nah an diesem allgegenwärtigen Schrecken.

Aber Husch Josten genügt ein Erzählstrang allein nicht. Caren, die Journalistin, ist befreundet mit Ben. Sie liebt Ben. Aber Ben ist liiert mit Adelle. Eine Dreiecksgeschichte, in der jeder von jedem weiss, in der man sich in Gewohnheiten und scheinbaren Sicherheiten eingerichtet hat. Das Resultat aus Vernunft und Entscheidung, weil Caren alles andere als überzeugt davon ist, dass Ehen ehrlich, lebbar und zeitgemäss sind. Ben ist der Tadellose. Und eben diese Pause auf dem Flughafen Heathrow zwingt Caren ungewollt, sich Gedanken zu machen.

Während die Zeit beinahe stillzustehen scheint, beginnt sie zu fragen, was Liebe ihr bedeuten soll, ob nicht zu viele unglücklich sind in ihrer «pasteurisierten Zweisamkeit, ihren scheinheiligen Konstruktionen, in erstarrten Bildern der Tadellosigkeit». Und im Gate, Caren gegenüber, auch einer der Harrenden, sitzt ein Mann, liest und spricht, als würde er den Text auswendig lernen. Das Buch in seinen Händen ist vom Sprachphilosophen Wittgenstein. Caren, die den Unbekannten für sich Wittgenstein nennt, kommt mit ihm ins Gespräch. Zuerst über den Zufall, an den beide nicht glauben, später über das Wesen von Geschichten. Darüber, dass Geschichten das sind, was Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet und letztlich alles sind, was Menschen «haben». Und dass sich hinter Geschichten andere Geschichten verbergen, unausgesprochene, der Schatten ihrer selbst. Beide, «Wittgenstein» und Caren, sind auf der Suche nach Geschichten, ihrer Geschichte. Es entwickelt sich zwischen den beiden ein Gespräch über Philosophie und Geschichten, ein Dialog, der packt und mitreisst. Ein Dialog, der zeigt, dass es Husch Josten beim Schreiben ebenfalls um weit mehr geht, als darum, eine Geschichte zu erzählen.

«Hier sind Drachen» ist ein Roman, in dem eine Lunte brennt. Bis es wirklich knallt und nichts mehr ist, wie es einmal war, nicht einmal Carens Liebe zu Ben. Husch Josten belohnt mich mit einem äusserst gescheiten und spannenden Buch über die Ohnmacht in der Liebe, über die Wirkung von Gewalt und die Macht von Geschichten. Ein gewichtiges Buch!

Husch Josten, geboren 1969, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Sie volontierte und arbeitete als Journalistin in beiden Städten, bis sie Mitte der 2000er Jahre nach London zog, wo sie als Autorin für Tageszeitungen und Magazine tätig war. 2011 erschien ihr Romandebüt »In Sachen Joseph«, das für den Aspekte-Literaturpreis nominiert wurde. 2012 legte sie den vielgelobten zweiten Roman »Das Glück von Frau Pfeiffer« vor und 2013 den Geschichtenband »Fragen Sie nach Fritz«. 2014 erschien der Roman »Der tadellose Herr Taft« und im Frühjahr 2017 »Hier sind Drachen« im Berlin Verlag. Husch Josten lebt heute wieder in Köln.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Margaret Atwood «Die steinerne Matratze», berlin Verlag

Die grosse kanadische Schriftstellerin legt mit «Die steinerne Matratze» einen Erzählband vor, der unter ihrem Namen nicht überrascht. In gekonnt starker Manier, mit dem sicheren Gefühl für die Abgründe des menschlichen Seins und der Weisheit einer Grossen, die weiss, dass alle Erkenntnis auf Missverständnissen beruht, zeigt Margaret Atwood in neun starken Erzählungen, warum ihr ein wichtiger Platz unter den Grossen der Literatur gebührt.

Als ich vor fast 30 Jahren mit «Report der Magd» zum ersten Mal einen Roman der Kanadierin las, war ich tief beeindruckt. In ihrem düsteren Roman, der die Geschichte einer Gebärmagd erzählt, malt die Autorin eine dunkle Vision einer Zukunft, die wie in der Gegenwart mit der aufgeblähten Angst des neuen us-amerikanischen Präsidenten fast klaustrophobische Gefühle erzeugt. Eine Frau, die einem Kommandanten zugewiesen, seine Kinder austragen soll, erinnert sich an eine Welt, in der das Lesen noch nicht verboten war, in der Alte und Ungehorsame noch nicht in radioaktiv verseuchte Kolonien abgeschoben wurden, in der eine Frau noch nicht Besitz einer Nation werden konnte.

In ihren neuen Erzählungen schmeichelt Margaret Atwood den Menschen nicht. Die ersten drei Erzählungen bilden eine Einheit, bilden abgesetzt ein Ganzes. Sie erzählen aus drei verschiedenen Perspektiven drei verschiedene Leben, die einst, Jahrzehnte zuvor in einem Lokal in Toronto zur schreibenden Zunft gehörten. Der eine ernsthaft mit Gedichten, die andere belächelt mit ihren Fantasy-Geschichten, einem selbst erfundenen Universum, in dem sich Jahrzehnte später ganze Generationen tummeln. Drei Leben, die aus unterschiedlichen Gründen auseinanderdrifteten, drei verschiedene Wahrheiten. Drei Erzählungen darüber, wie unterschiedlich ganz bestimmte Schnitt- und Wendepunkte aus der Sicht verschiedener Existenzen gewichtet werden können, dass Wahrnehmungen nach Innen weit weg von Objektivität sein können, wie schlecht scheinbar verheilte Verletzungen vernarben und alte Wunden wieder aufgerissen werden können.

Margaret Atwood öffnet das Verborgene, Eingeschlossene.

Ist man die oder der, der oder die, die man von Aussen zu sein scheint? In einer Familie wächst ein Mädchen auf, eine lusus naturae, eine Laune der Natur. Aber ausgerechnet für eine Laune findet sich in der Welt der Menschen kein Platz. Was sich wie ein behaartes Monster immer in den Schatten zurückzieht, wird schlussendlich mit Gewalt hervorgerissen, um zu lodern wie ein Leuchtfeuer. Von einem «Antiquitätenhändler», der Möbel zweifelhafter Herkunft zusammen mit einem Partner auf Alt aufmotzt, um sie Nichtsahnenden zu verkaufen. Der Nachlässe aufkauft und eines Tages mit einem Schlüssel eine Lagereinheit öffnet, um ein ungebrauchtes, jungfräuliches Brautkleid zu finden, Kisten ungeöffneter Champagnerflaschen, eine noch nicht angeschnittene, riesige Torte und unter Frischhaltfolien, ganz hinten in der Lagereinheit der mumifizierte Bräutigam. Eine Geschichte um Abgründe der menschlichen Seele, der Gier nach mehr, wo selbst Gauner zu Opfern werden, bis zuletzt im Glauben, sie seien Herr und Meister der Situation. Und nicht zuletzt die titelgebende Erzählung «Die steinerne Matratze», eine Erzählung, die die Autorin auf einer Schiffsreise in die Arktis begonnen und den Mitreisenden zur Unterhaltung vorgelesen hatte, eine «Rachegeschichte» um den perfekten Mord. Von einer Frau, die eigentlich den Alltag zurücklassen will, auf einer Schiffsreise in die Kälte aber einen Mann aus ihrer Vergangenheit trifft, jenen Bob, der sie als junges Mädchen schwängerte und ebenso schnell und gedankenlos fallenliess.

Foto: Jean Malek

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Ihr «Report der Magd» wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Bis heute stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Pen-Pinter-Preis. Margaret Atwood lebt in Toronto.

Monika Baark lebt seit 1998 als freie Übersetzerin für englischsprachige Literatur und Kinderbücher in Berlin. Bis 2013 veröffentlichte sie unter dem Namen Monika Schmalz. Geboren 1968 in Tel Aviv. Aufgewachsen in Toronto, New York, Moskau, Bonn, Antwerpen. Studium der Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Gastsemester an der Wesleyan University. 1995 Abschluss mit M.A. Monika Baark übersetzte viele Roman von Margart Atwood.

Mitte April erscheint bei Random House Margaret Atwoods neuster Roman «Hexensaat».

Titelbild: Sandra Kottonau