Margaret Atwood «Hexensaat», Knaus

Margaret Atwood, fasziniert und ergriffen von William Shakespeares Stück «Der Sturm» (The Tempest) schrieb mit «Hexensaat» einen wuchtigen und gleichzeitig verspielten Roman. Ich spüre die Freude, die Lust der Autorin, mit dem Inhalt, den Bildern des Dramas zu spielen. Dabei setzt sie den Inhalt des 1611 fertig gestellten Theaters nicht einfach in eine Gegenwart. Sie spielt mit dem Text, spielt mit Ebenen und zuweilen auch mit den ihr ausgelieferten Protagonisten.

Felix ist dort, wo er sein will. König in seinem Reich, Theaterdirektor des Makeshiweg-Festivals. Ein Ziel, für das er einen hohen Preis zu zahlen hatte. Zuerst verliess ihn seine Frau nach nicht einmal einem Jahr Ehe in Folge einer aggressiven Infektion. Und dann verlor er Miranda. Seine einzige Tochter starb mit drei Jahren an einer Meningitis. Und ausgerechnet seine Weggefährten, darunter sein Geschäftspartner Tony, der damals noch mit vielen Tränen am Grab seiner Tochter stand, katapultiert ihn von seinem Theaterthron. Felix, untröstlich, bis aufs Mark zerfressen von Wut, Zorn und Enttäuschung verbannt sich selbst «auf eine Insel». Er taucht ab in eine heruntergekommene Hütte, in der er sich in seinem Schmerz suhlt und nur langsam, versteckt hinter einem buschigen Bart und einem neuen Namen neuen Tritt gewinnt. Eine shakespearsche Intrige zwingt Felix auf «eine Insel», ihn allein mit seinen Erinnerungen an seine geisterhaft tote Tochter Miranda. «Seht her, ich leide!» Schnell wird deutlich, dass da auf einer zweiten Ebene das Drama des auf eine Insel geflüchteten Fürsten Prospero und seiner Tochter Miranda nacherzählt wird. Mehr als ein Jahrzehnt nach seinem selbst gewählten Exil bietet sich Felix eine Stelle an einer Justizvollzugsanstalt an. Schweren Jungs soll mit einem Bildung-durch-Literatur-Programm eine Möglichkeit mehr zur Resozialisierung geboten werden. Unter seiner Maske, von nun an Mr Duke genannt, studiert Felix mit der illustren Truppe Theaterstücke ein, die er nicht direkt vor Publikum aufführen lässt, sondern in einem multimedialen Projekt umsetzt. Bis in ihm der Plan reif genug ist, um sich mit dem Drama «Der Sturm» an seinen intriganten, ehemaligen Mitstreitern zu rächen.
«Hexensaat» ist aber mehr als der Roman einer Rache, eines Mannes, der sich an der Sehnsucht nach Vergeltung hoch hangelt. Margaret Atwoods Roman ist derart kunstvoll gestrickt und verwoben, dass ich den Eindruck bekomme, die Autorin hätte die Ideen zur Umsetzung ebenso lange mit sich herumgetragen wie Felix seinen akribischen Plan zur Rückkehr auf seinen Thron. Margaret Atwood erzählt Prosperos Rückkehr auf den Thron gleich auf mehreren Ebenen, auf der einen offensichtlich, auf den anderen versteckt, verborgen, bis zum grossen Finale wartend. Felix nennt sich im Gefängnis in seiner Arbeit mit den Häftlingen Mr Duke (Herzog). Dabei scheint alles auf die Inszenierung dieses einen Stückes «Der Sturm» hinzuweisen, ein Stück, das erst zur Umsetzung kommt, nachdem Felix sich in seiner neuen Umgebung, der Justizvollzugsanstalt, ganz sicher fühlt.
Ich nehme nicht nur teil am Absturz und der langsamen Rückkehr des Gedemütigten und Vergessenen. Ich nehme teil an einer grossen Inszenierung in einem Gefängnis, so wie Prospero auf der Insel. Margaret Atwood nimmt die Schar Häftlinge mit, macht sie zur Truppe, die Welttheater macht. Und dabei entwirft und erzählt sie so kunstvoll, so virtuos, dass die kanadische Meisterin aus dem sonst schon filigranen Stoff tektonische Platten aufeinander prallen lässt. Im Klappentext des bei Knaus erschienen Romans steht: «Der Sturm» ist eigentlich ein frühes Multimedia-Stück. Ich bin sicher: Würde der Barde heute leben, so würde er alle Special Effects nutzen, welche die Technologie inzwischen zu bieten hat. Ausserdem war das Stück für mich besonders verlockend, weil Shakespeare hier so viele Fragen einfach offen lässt. Was für ein – anstrengendes! – Vergnügen es doch war, sich damit auseinanderzusetzen.
Eine geniale Inszenierung des Dramas in meinem Kopf! Dämonen werden heraufbeschworen, um den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Unser Dasein ein mehrschichtiges und vielkammeriges Gefängnis, aus dem es auszubrechen heisst. Jedem seinen Plan, der irgendwann seine Blüten tragen soll.

Nichts an diesem Buch ist altbacken, spröde oder weltfremd. Margaret Atwood transformiert William Shakespeares Stoff gleich vielfach, ohne ihn unnötig aufzublasen. Grosse Literatur einer grossen Schriftstellerin. Ich verneige mich tief.

Margaret Atwood, geboren 1939, ist unbestritten eine der wichtigsten Autorinnen Nordamerikas. Ihre Werke liegen in über 20 Sprachen übersetzt vor und wurden national wie international vielfach ausgezeichnet. Neben Romanen verfaßt sie auch Essays, Kurzgeschichten und Lyrik. Margaret Atwood lebt in Toronto. «Hexensaat» wurde übersetzt von Brigitte Heinrich.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen: «Die steinerne Matratze»

Margaret Atwood «Die steinerne Matratze», berlin Verlag

Die grosse kanadische Schriftstellerin legt mit «Die steinerne Matratze» einen Erzählband vor, der unter ihrem Namen nicht überrascht. In gekonnt starker Manier, mit dem sicheren Gefühl für die Abgründe des menschlichen Seins und der Weisheit einer Grossen, die weiss, dass alle Erkenntnis auf Missverständnissen beruht, zeigt Margaret Atwood in neun starken Erzählungen, warum ihr ein wichtiger Platz unter den Grossen der Literatur gebührt.

Als ich vor fast 30 Jahren mit «Report der Magd» zum ersten Mal einen Roman der Kanadierin las, war ich tief beeindruckt. In ihrem düsteren Roman, der die Geschichte einer Gebärmagd erzählt, malt die Autorin eine dunkle Vision einer Zukunft, die wie in der Gegenwart mit der aufgeblähten Angst des neuen us-amerikanischen Präsidenten fast klaustrophobische Gefühle erzeugt. Eine Frau, die einem Kommandanten zugewiesen, seine Kinder austragen soll, erinnert sich an eine Welt, in der das Lesen noch nicht verboten war, in der Alte und Ungehorsame noch nicht in radioaktiv verseuchte Kolonien abgeschoben wurden, in der eine Frau noch nicht Besitz einer Nation werden konnte.

In ihren neuen Erzählungen schmeichelt Margaret Atwood den Menschen nicht. Die ersten drei Erzählungen bilden eine Einheit, bilden abgesetzt ein Ganzes. Sie erzählen aus drei verschiedenen Perspektiven drei verschiedene Leben, die einst, Jahrzehnte zuvor in einem Lokal in Toronto zur schreibenden Zunft gehörten. Der eine ernsthaft mit Gedichten, die andere belächelt mit ihren Fantasy-Geschichten, einem selbst erfundenen Universum, in dem sich Jahrzehnte später ganze Generationen tummeln. Drei Leben, die aus unterschiedlichen Gründen auseinanderdrifteten, drei verschiedene Wahrheiten. Drei Erzählungen darüber, wie unterschiedlich ganz bestimmte Schnitt- und Wendepunkte aus der Sicht verschiedener Existenzen gewichtet werden können, dass Wahrnehmungen nach Innen weit weg von Objektivität sein können, wie schlecht scheinbar verheilte Verletzungen vernarben und alte Wunden wieder aufgerissen werden können.

Margaret Atwood öffnet das Verborgene, Eingeschlossene.

Ist man die oder der, der oder die, die man von Aussen zu sein scheint? In einer Familie wächst ein Mädchen auf, eine lusus naturae, eine Laune der Natur. Aber ausgerechnet für eine Laune findet sich in der Welt der Menschen kein Platz. Was sich wie ein behaartes Monster immer in den Schatten zurückzieht, wird schlussendlich mit Gewalt hervorgerissen, um zu lodern wie ein Leuchtfeuer. Von einem «Antiquitätenhändler», der Möbel zweifelhafter Herkunft zusammen mit einem Partner auf Alt aufmotzt, um sie Nichtsahnenden zu verkaufen. Der Nachlässe aufkauft und eines Tages mit einem Schlüssel eine Lagereinheit öffnet, um ein ungebrauchtes, jungfräuliches Brautkleid zu finden, Kisten ungeöffneter Champagnerflaschen, eine noch nicht angeschnittene, riesige Torte und unter Frischhaltfolien, ganz hinten in der Lagereinheit der mumifizierte Bräutigam. Eine Geschichte um Abgründe der menschlichen Seele, der Gier nach mehr, wo selbst Gauner zu Opfern werden, bis zuletzt im Glauben, sie seien Herr und Meister der Situation. Und nicht zuletzt die titelgebende Erzählung «Die steinerne Matratze», eine Erzählung, die die Autorin auf einer Schiffsreise in die Arktis begonnen und den Mitreisenden zur Unterhaltung vorgelesen hatte, eine «Rachegeschichte» um den perfekten Mord. Von einer Frau, die eigentlich den Alltag zurücklassen will, auf einer Schiffsreise in die Kälte aber einen Mann aus ihrer Vergangenheit trifft, jenen Bob, der sie als junges Mädchen schwängerte und ebenso schnell und gedankenlos fallenliess.

Foto: Jean Malek

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Ihr «Report der Magd» wurde zum Kultbuch einer ganzen Generation. Bis heute stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis und dem Pen-Pinter-Preis. Margaret Atwood lebt in Toronto.

Monika Baark lebt seit 1998 als freie Übersetzerin für englischsprachige Literatur und Kinderbücher in Berlin. Bis 2013 veröffentlichte sie unter dem Namen Monika Schmalz. Geboren 1968 in Tel Aviv. Aufgewachsen in Toronto, New York, Moskau, Bonn, Antwerpen. Studium der Anglistik und Kunstgeschichte an der Universität Heidelberg. Gastsemester an der Wesleyan University. 1995 Abschluss mit M.A. Monika Baark übersetzte viele Roman von Margart Atwood.

Mitte April erscheint bei Random House Margaret Atwoods neuster Roman «Hexensaat».

Titelbild: Sandra Kottonau