Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche

Bleiben wir letztlich alle allein? Verspechen wir uns im Gefüge „Familie“ nicht viel zu viel? Katja Schönherrs Roman „Alles ist noch zu wenig“ erzählt aus dem „Kampfgebiet Familie“, von den Kollateralschäden permanenten Verdrängens und der Unfähigkeit, das Gegenüber zu akzeptieren. Ein Roman, der nichts beschönt!

Inge ist 84 Jahre alt und wohnt allein in einem Haus auf dem Land, in der ostdeutschen Provinz. Dass man sie fand, war dem Umstand zu verdanken, dass die Nachbarin Ulrike zwischendurch zum Rechten schaut. Oberschenkelhalsbruch. Inge liegt im Spital. Irgendwann wird sie zurückkehren müssen, in das Haus mit Treppe, zurück in ein Haus, das sie so für lange Zeit nicht halten können wird. Inge hat zwei Söhne, Jens und Carsten. Jens, zwei Jahre älter als Carsten, hat sich schon vor Jahren im Streit auf die andere Seite des Atlantiks abgesetzt, möglichst weit weg. Und Carsten lebt von seiner Ex getrennt in der Stadt und teilt das Sorgerecht für seine halbwüchsige Tochter.

Inge telefoniert Carsten. Sie braucht ihn. Auch wenn Carsten wie so oft eine Dienstreise vorschiebt, um dem zu entfliehen, was ihn an ein Leben kettet, dem er nicht wirklich entfliehen kann. Er lügt gegen seine Ex, seine Tochter Lissa, lästig werdende Liebschaften und seiner Mutter. Aber irgendwann steht er dann doch da, weil er der einzig Verbliebene ist und bringt seine Mutter zurück in ein Haus, das für Carsten zum Gefängnis wird. Zwischen ihm und seiner Mutter haben sich über die Jahrzehnte Mechanismen eingeschliffen, die nicht zu überwinden sind; sein permanent schlechtes Gewissen und ihre ewig schlechte Laune, sein linkisches Tun und ihre dauernde Unzufriedenheit.

„Mit Mutter zu reden, ist wie der Versuch, einen Beipackzettel nach dem Lesen wieder zusammenzufalten: Nie kriegt man es richtig hin.“

Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche, 2022, 320 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7160-2801-8

Carsten zieht während Lissas Ferien zusammen mit seiner Tochter ins Haus seiner Mutter, für ein paar Tage, höchstens einige Wochen. Weg von seiner Arbeit, einer Firma für Frischhaltefolien, einem perfekten Feindbild seiner zur Klimaaktivistin werdenden Tochter. Carsten spürt, wie sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zuzieht, eine Schlinge, die ihm den Atem nimmt, weil alles in seinem Leben zum Kampf geworden ist; die vergiftete Beziehung zu seiner handicapierten Mutter, zu seinem verlorenen Bruder, seiner hämischen Ex und seiner aufmüpfigen Tochter. Aber auch an seiner Arbeitsstelle spürt er eisigen Gegenwind. Erst recht jetzt, wo ihn seine Mutter zwingt, seinen Arbeitsplatz im Nirgendwo einzurichten, abgeschnitten von der Welt.

Was von Familie übriggeblieben ist, ist ein Trümmerfeld. Sein Bruder Jens haute damals ab, weil die Eltern nicht wahrhaben wollten, dass Jens anders war als die anderen Männer. Der Bruch seines Bruders damals war aber auch nur der letzte Schritt einer langen Leidensgeschichte, die sich auch in der Familie abspielte. Inge weiss um ihre Fehler, um ihre Schwächen. Carsten weiss es auch. Und Lissa spürt, dass nicht sie es sein kann, die die Felsbrocken und Trümmersteine ins Rollen bringt. Dass Carsten in seiner Verzweiflung und seiner beruflichen Not auch immer wieder die Hilfe der Nachbarin sucht, die mit einer sterbenden Mutter unter dem gleichen Dach genauso wenig vom Glück begünstigt wird, vertieft das Misstrauen zwischen Carsten und seiner Mutter Inge nur noch mehr. Nicht zuletzt darum, weil die Nachbarin einst ein Verhältnis mit ihrem Sohn hatte.

„Die Menschen bilden sich so viel ein auf ihr Sprechenkönnen, ihre Vorstellungskraft. Auf die Fähigkeiten, die sie angeblich wertvoller machen als jedes Tier. Und trotzdem bleibt ihnen ein wirkliches gegenseitigs Verständnis versagt.“

„Alles ist noch zu wenig“ beschreibt eine innerfamiliäre Pattsituation. Einen Ausnahmezustand, ohne sichtbaren Ausweg. Ein Kampfgebiet, das durch keine Friedenstruppe entwaffnet werden kann. „Alles ist noch zu wenig“ stellt die Frage, ob man als Sohn oder Tochter verdammt ist, um jeden Preis seinen „hinfällig“ gewordenen Eltern zu helfen. Ob man als Mutter oder Vater das uneingeschränkte Recht hat, Hilfe einzufordern, koste es, was es wolle. Niemand wählt sich seine Familie selber aus. Wie schafft man es, sich aus einer solchen Situation zu schälen? Reicht es, vom Gegenüber eine Veränderung, einen ersten Schritt, ein Entgegenkommen zu erwarten?

Katja Schönherr erzählt mit viel Empathie und grossem psychologischen Feingefühl. Sie schildert nicht auf Kosten ihrer Figuren, im Gegenteil. Ich als Leser leide mit. Man wünscht sich bei der Lektüre förmlich, die Protagonistïnnen anstossen zu können. Ihnen allen fehlt der Mut, über den eigenen Schatten zu springen, den ersten Schritt zu tun. Sie alle warten und harren, bis die Verwerfungen wie tektonische Platten Erdbeben verursachen. Sie alle stecken fest in ihrem Zorn.

Interview

Ihr Roman beschreibt auch den Knick innerhalb der Generationen. Inge wuchs in einer Zeit auf, in der es noch eine Selbstverständlichkeit zu sein schien, dass sich nachfolgende Generationen um die Verwandten kümmern. Inge sagt einmal „Wozu hat man denn Familie?“. Carsten und erst recht seine Tochter Lissa gehören der Generation an, die alles auf die Karten „Individualismus“ und „Selbstverwirklichung“ setzt. So wie Sippe einst eine Rückversicherung war, ist Familie heute bloss noch eine Form der Selbstverwirklichung?
Ich glaube, viele hadern damit, beispielsweise ihre pflegebedürftigen Eltern nicht selbst umsorgen zu können. Viele würden diese „Rückversicherung“ gerne sein. Aber die Lebensumstände machen es ihnen schlichtweg unmöglich: Man wohnt zu weit weg, man muss arbeiten, man zieht gerade die eigenen Kinder gross. Alle haben immer zu tun, niemand sieht Land in seinem Alltag.
Gleichzeitig sind die staatlichen Strukturen für die Versorgung bedürftiger Menschen alles andere als zufriedenstellend. Das Pflegepersonal ist zu knapp bemessen und unterbezahlt etc. 
Für Carsten ist klar, dass er seine Mutter nicht pflegen kann. Er ist dazu nicht bereit, und diese Abgrenzung steht ihm meiner Meinung nach auch zu. Aber er weiss auch, dass er das schlechte Gewissen gegenüber seiner Mutter nie wieder loswerden wird.

In Inge und Carstens Geschichte liegen Eiterherde verborgen, die nie aufbrachen, für die man nie den Mut aufbrachte hineinzustechen. Eiterherde, die zu Entzündungsherden wurden. Jens, Carstens Bruder, hat Reissaus genommen. Ein Schicksal vieler Familien, in denen sich Töchter, Söhne, Mütter oder Väter für ewig verabschieden. Was würden Sie jungen Eltern raten, wenn die Sie fragen, was sie tun müssten, um nicht in den Sümpfen einer Familiengeschichte steckenzubleiben?
Ich bin da nicht die beste Ratgeberin;-) Ich stecke ja selbst noch mittendrin in diesem Vorhaben, mit meinen Kindern nicht in irgendwelche ungesunden Muster zu verfallen.
Ich reflektiere zwar viel, aber das heisst nicht, dass es mir jedes Mal gelingt, innerhalb meiner Familie so besonnen zu handeln und geduldig zu reagieren, wie ich es eigentlich gerne möchte.
Das Wichtigste – wie in jeder Beziehung – dürfte aber eine offene Gesprächskultur sein. In der jede und jeder sagen kann, was sie oder ihn stört, was sie oder er braucht. Ausserdem sollte man sich entschuldigen können. Und: Ständiges Beleidigtsein (wie es Inge in meinem Roman tut, einfach, weil sie es nicht anders gelernt hat) ist etwas, das keine Beziehung zum Besseren verändert

„Niemand willigt in seine Geburt ein. Es handelt sich also um keinen Deal, den beide Seiten vorab untereinander ausgehandelt hätten. Deshalb schulden Kindern ihren Eltern nicht mehr, als sie jedem andern Menschen auch schulden: Respekt.“ Das proklamiert Lissa ihrem Vater Carsten gegenüber. Eine klare Ansage. So klar die Ansage oder auch ihre Absicht dahinter ist. Begriffe wie „Respekt“ können aber äusserst schwammig interpretiert werden. Oder nicht?
An diesen Punkt kommt ja auch Lissa: Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Was nützt es Lissas Grossmutter denn, respektiert zu werden, wenn gleichzeitig niemand in ihrem Umfeld bereit ist, so für sie zu sorgen, dass sie weiterhin daheim leben kann? Wenn alles darauf hinausläuft, dass sie in ein Heim muss, obwohl sie das überhaupt nicht will? Einen Wunsch, den wahrscheinlich alle nachvollziehen können.

Manchmal ruft meine Mutter an mit dem Kommentar, wenn ich nicht anrufen würde, dann müsse sie es eben tun. Ich gebe zu, ich rufe zu wenig an. Hier ein kleiner Funke permanent schlechten Gewissens, dort ein permanenter Funke leiser Enttäuschung. Ihr Roman erklärt nicht und will schon gar keinen „Lösungsweg“ präsentieren. Ihr Roman beschriebt und tut zuweilen weh. War das Schreiben ein Ordnen oder ein wilder Ritt ins Ungewisse?
Es war ein Ordnen. Ich wusste ziemlich genau, wo ich hinwill. Ich wollte diese drei Generationen (die 15-jährige Lissa, deren Vater Carsten und dessen Mutter Inge) nebeneinanderstellen. Wollte ihre Lebenswelten und Denkweisen zeigen, genauso wie das Fehlen einer gemeinsamen Sprache. Alle drei haben ihre Wünsche und Anforderungen, aber keine und keiner ist bereit, auch nur ein Stück davon abzuweichen. Kompromisse sind unmöglich.
Die Darstellung im Buch ist natürlich zugespitzt. Aber ich wollte damit aufgreifen, was ich gesamtgesellschaftlich beobachte: Dass jede Generation, jede Interessensgruppe nur an sich denkt, und das Aufeinanderzugehen immer schwieriger wird. 

„Alles ist noch zu wenig“ ist ein bestechend guter Titel. Wahrscheinlich hat Carstens Mutter in ihrem Leben alles gegeben. So wie Carsten. Sie wie seine Töchter Lissa es auch versucht. Bei den einen scheint es zu reichen. Bei den andern reicht es nie. Pech?
Der Titel war nicht meine Idee, sondern die des Verlags. Ich mag ihn auch und bin auch sehr glücklich damit, weil er für jede der drei Hauptfiguren steht. Für Inge ist es immer zu wenig Fürsorge, für Carsten ist es immer zu wenig Freiheit, und für Lissa ist es angesichts der Klimakrise und diverser internationaler Konflikte zu wenig Zukunftsperspektive.

Katja Schönherr, geb. 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie hat Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman «Marta und Arthur» wurde 2019 von der Presse hochgelobt. Er war in Deutschland für den Klaus-Michael-Kühne-Preis als bestes Romandebüt nominiert und in Frankreich für den Prix Les Inrockuptibles als bestes ausländisches Buch. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.

Beitragsbild © Suzanne Schwiertz

«Ameisen unterm Brennglas» Jens Steiner diskutierte mit und las.

Jens Steiner ist noch wenige Tage Stipendiat der Kulturstiftung Thurgau. Die Stiftung stellte ihm während zweier Monate die kleine Wohnung im Literaturhaus Thurgau zur kreativen Verfügung. So war die Kulturstiftung auch Trägerin der Lesung, die vom Literaturhaus Thurgau mit dem neuen Format «Literatur am Tisch» kombiniert wurde.

Bei anderer Gelegenheit schrieb Bettina Spoerri, Schriftstellerin, über das neue Format: „Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele AutorInnen genau für sie: für Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen … Dabei war es spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren.“

Vor der Lesung unterm Dach trafen sich so ein Dutzend Interessierte bei Wein, Käse und Brot, solche, die das Buch gelesen hatten und sich gerne mit dem Schriftsteller in eine Diskussion verwickeln liessen. Kein Schriftsteller schreibt nur für sich. Aber vielleicht lesen wirklich Literaturinteressierte auch nicht bloss für sich. Literatur ist mehr als Unterhaltung, sondern Auseinandersetzung. Und die geschieht nur, wenn man über das Gelesene spricht. Jens Steiner lies sich darauf ein und für das muntere Dutzend in der «Stube» des Literaturhauses war es eine Offenbarung.

Ameisen unterm Brennglas schmoren lassen? Taten sie es einst auch mit dem Vergrösserungsglas des Grossvaters? Ein bisschen göttliche Allmacht? Über Leben und Tod bestimmen? Alles sehen? Das kleine Individuum die Macht spüren lassen? Jens Steiners neuer Roman ist das Nachspüren einer Gesellschaft, die sich im Fieber befindet, an jener Grenze, an der das Bewusstsein verrückt zu spielen beginnt. Jens Steiner schält die von innen braun und matschig gewordene Zwiebel, Schicht für Schicht. Jens Steiners Roman bohrt in die Sedimentschichten der Gesellschaft, in die tiefen Schichten, dorthin, wo Hitze entsteht; Wut, Zorn, Frustration. Er verwendet sein Schreiben als Okular, als Vergrösserungsglas, das uns die Kleinigkeiten, die feinen Details vors Auge bringt.

Beitrag auf thurgaukultur.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Jens Steiner «Ameisen unterm Brennglas», Arche

Ameisen unterm Brennglas schmoren lassen? Taten sie es einst auch mit dem Vergrösserungsglas des Grossvaters? Ein bisschen göttliche Allmacht? Über Leben und Tod bestimmen? Alles sehen? Dem kleinen Individuum die Macht spüren lassen? Jens Steiners neuer Roman ist das Nachspüren einer Gesellschaft, die sich im Fieber befindet, an jener Grenze, an der das Bewusstsein verrückt zu spielen beginnt. Jens Steiner schält die von innen braun und matschig gewordene Zwiebel, Schicht für Schicht.

Wer bei «Literatur am Tisch» mit Jens Steiner bereits um 18 Uhr dabei sein will, sollte das Buch gelesen haben und sich unter sekretariat@bodmanhaus.ch anmelden. Die Platzzahl ist beschränkt!

Ob es die Autoposer sind in Hamburg oder Rorschach; vielleicht manifestiert sich auch in ihrem Verhalten die Lust nach Allmacht, nach unbegrenzter Kraft. Vielleicht auch ein bisschen bei all jenen, die sich eine Drohne anschaffen und irgendwo am Stadtrand mit zaghaften Flugversuchen beginnen; Verborgenes sehen, grenzenlosen Ein- und Durchblick. Bei all jenen, die sich ihr Brenn- und Vergrösserungsglas mit YouTube zu Nutze machen, denen man nichts mehr zu erklären braucht, weil sie die Allmacht ihres Wissens wie einen schwarzen Sack über die Welt stülpen.

Toni Manfredi wohnt in der 18. Etage in einem Hochhaus in Bethlehem. Dieses Bethlehem liegt nicht im Westjordanland, sondern im Westen Berns, eine Beton gewordene Ausgeburt der Nachkriegszeit. Toni lebt allein, seit seine Mutter gestorben ist. Und obwohl er schon eine ganze Weile in Rente ist und seine Mutter nicht mehr da, ist alles so geblieben, auch wenn das eine oder andere liegen bleiben darf. So wie die Holzspäne seiner Schnitzereien. Wenn er sich ein weiteres Mal an die heilige Familie macht, mit Ochs und Esel begonnen und final auf den Höhepunkt zusteuernd, wenn er sich an Maria mit dem Kindlein macht. Aufregen ist nicht seine Art. Aber er spürt sehr gut, dass sich da etwas zusammenbraut. Toni spürt das kommende Verderben. Auch wenn sein verkorktes Leben eines voller Fehltritte und Versäumnisse war. Ihm macht niemand mehr etwas vor. Nicht nach dem Banküberfall in Romanshorn, der Schiesserei in der Autobahnraststätte Würenlos und dem Verkehrschaos auf der Autobahn, nachdem bündelweise Banknoten auf die Fahrbahn flogen und der Verkehrsfluss zum Erliegen kam.

Auch Raffi spürt das, der Junge, der abhaut und den Weg der beiden kreuzt, die die Banknoten auf die Fahrbahn streuten. Er hat eine Mission. Er ist ein Abenteuerbeobachter, ein Nichtvergesser. Der Waldläufer und die Indianerin, bei denen er mit einem Mal auf der Rückbank des gestohlenen Autos sitzt, werden zu Figuren dessen, was ihm endlich die Welt erklären soll.
Regina taugt dazu nicht. Regina ist seine Mutter, eine, die nie Zeit hat, sich überall engagiert und nirgends richtig dabei ist. Nicht einmal als Mutter. Denn sie merkt erst nach zwei Tagen, dass der Inhalt des Kühlschranks unberührt bleibt und Raffis Bett kalt. Die Suche beginnt erst, als Raffi sich im Schweif des Waldläufers und der Indianerin eingerichtet hat. 

„Die Gegenwart hat sich darauf spezialisiert, aus jeder Mücke einen Elefanten zu machen. Und wenn sie dann merkt, dass der Elefant alles zertrampelt, ist es längst zu spät.“

Jens Steiner «Ameisen unterm Brennglas», Arche, 2020, 240 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7160-2790-5

Auch Jacques Rance spürt es, der alte Mann in seiner Villa über dem Genfersee, von den eigenen Kindern ebenso vergessen wie von der Geschichte. An den einen Tagen schafft er es noch von einem ins andere Zimmer, an anderen nicht einmal aus dem Bett. Einzig seine Haushälterin ist noch da. Die letzte in einer ganzen Reihe. Er hasst sie. So wie das Leben, das sich nicht mehr in Ordnung organisieren lässt. Trotz der Versuche, trotz seines Geldes, trotz aller Zahlungen. Er hat vor einer Weile einen Brief geschrieben. Aber weil ihn auch seine Erinnerung verlässt, weiss er nicht einmal mehr an wen und worum es ging. Er weiss einfach nur, dass es sein letzter Versuch war, Ordnung in sein Leben zu bringen.

So wie Martin versucht, Ordnung in sein Leben zu bringen. Zum Beispiel mit einer Einkaufstour ins nahe Ausland. Nach Konstanz. Shoppen mit seiner Frau und seinen beiden Kindern. Weg vom Chaos, das sich in seinem Leben auszubreiten beginnt. Bei der Arbeit, den Blicken auf den gespannten Stoff der Neuen im Büro. In der Familie, in der er seinen Sohn in einem ungewollten Moment in Frauenkleidern erwischt. In dem Moment, als sein Chef ein unerwartetes Mitarbeitergespräch einfordert. Und erst recht seit sich eine Blase in sein Gesichtsfeld drängt, ein undefinierbares Etwas, das ihm die Klarsicht raubt. Etwas ganz links, das immer zerspringt, wenn er danach sehen will.

Jens Steiner beginnt seinen Teppich von den Rändern her zu knüpfen. Vieles fügt sich erst mit fortschreitender Lektüre zusammen, Entscheidendes erst auf den letzten Seiten. Alles hängt mit allem zusammen. Zerrt man am einen Strang, wickelt sich die Schlaufe um einen andern. Und wie schon in seinen vorangegangenen Romanen webt Jens Steiner subtile Gesellschaftskritik und beissenden Witz in sein Erzählen. Ich liebe Jens Steiners Art zu erzählen. Er fordert mich heraus und nimmt mich gleichzeitig mit. Er spiegelt das Leben, aber spielt nicht mit mir als Leser. Und wenn er seinen Roman dann auch noch im meiner unmittelbaren Umgebung spielen lässt, von Romanshorn über Weinfelden in der Ostschweiz, am Würenloser Fressbalken und den Wohntempeln in Bethlehem vorbei bis in die nach Wohlstand stinkenden Hänge über dem Genfersee durch die ganze Schweiz zieht, bekommt die Lektüre noch eine Würze mehr.

Köstlich!

© privat

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Im Arche Literatur Verlag erschien 2017 sein Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» sowie 2018 der Kurzgeschichtenband «Weihnachten könnte so schön sein».

«Das Gleichgewicht der Welt», Kurzgeschichte von Jens Steiner

Rezension von «Mein Leben als Hoffnungsträger» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Jens Steiner «Das Gleichgewicht der Welt», Plattform Gegenzauber #SchweizerBuchpreis19/6

Jens Steiner, Buchpreisträger 2013, stellt der Plattform Gegenzauber seine Kurzgeschichte «Das Gleichgewicht der Welt» zur Verfügung. Besuchen Sie die Webseite gegenzauber.literaturblatt.ch, auf der neben Jens Steiner viele namhafte und noch unbekannte Namen mit eigenen Texten auf sich aufmerksam machen sollen.

Eine Ruhe ist das hier. Während vor seinen Füssen scharfer Dampf aufsteigt, grient Stampfermann zufrieden in Richtung Sonne. Herrlich, diese Ruhe! Stampfermann macht den Hosenschlitz zu und dreht sich um. Er weiss, bald ist’s aus mit der Idylle. Bald kommt der Bürokrat. Und wenn der Bürokrat kommt, macht man am besten möglichst viel Lärm. Also los!
Stampfermann tritt an seine Maschine, reisst das Anwerfseil. Der Dieselstampfer wackelt, wie eine junge Geiss, die Kapriolen macht, wackelt schneller, bis er zu schweben beginnt und in massloser Wut die Erde festtrampelt. Was für ein Berserker! Exakt arbeiten kann man trotzdem damit. Peilgenau den Schotter festgeklopft, und immer schön in die Ecken rein. Auch einer mit dicken Händen und einem Vierkantschädel kann das. Man ist schliesslich Profi.
Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, es bleibt drückend. Der Schweiss läuft Stampfermann auf den zitternden Armen zu Tröpfchen zusammen, die sich mit dem Staub zu einem schlickigen Film vermischen. Auch die Kollegen haben zu kämpfen. Schottergabelmann nimmt einen Schluck aus der Zweiliterflasche, Schaufelmann reibt sich mit der schrundigen Faust die Augen. Es riecht nach Coca-Cola und feuchtem Frischkies.
Von oben herab sieht das alles ganz lustig aus. Das Bild einer Schar knuffiger Männchen, die sich in kleinen Schritten hin- und herbewegen. Ja, wer oben ist, kommt sich vor wie ein Puppenspieler. Ein Zupfen an den Fäden und die Männchen unten zappeln und hopsen. Zupf und hops, zupf und hops. Kindisch, aber trotzdem lustig. Für den, der oben ist. Und oben ist immer einer.
Wer unten ist, versucht ruhig zu bleiben. Mehr liegt nicht drin. Schon gar nicht, wenn der Bürokrat kommt, mit seinen Papieren herumwedelt und einem die Ohren volljammert. Immer ist alles falsch. Und zu langsam. Und überhaupt. Trotzdem besser ruhig bleiben, denkt Stampfermann.
Als der titangraue Kadjar heranbraust, macht Stampfermann weiter, als ob er nichts gesehen hätte. Führt seine Höllenmaschine säuberlich in die Ecken rein, so, wie sich’s gehört. Ehrensache. Der Bürokrat steigt aus dem Wagen, schaut sich die herumstehenden Geräte an, Bitumenkocher, Rüttelplatte, Bodenfräse, registriert, was erledigt wurde seit gestern und was nicht. Und jeder weiss sofort Bescheid: Der Bürokrat ist sauer.
»Herkommen, Leute! Aber dalli!« Stampfermann hört es schon, selbstverständlich hört er es, auch im Lärm seiner Maschine hört er es, aber er will jetzt nicht. Schottergabelmann pfeift, Schaufelmann winkt ihm in den Tunnelblick hinein, aber Stampfermann will ums Verrecken nicht. Er und seine Dieselgeiss klopfen jetzt diesen Schotter fest, dafür sind sie da. Schaufelmann linst zum Bürokraten und zuckt mit den Schultern. Dieser dröhnt: »Herrgottsakrament! Abstellen die Maschine, aber hantli!« Stampfermann würgt seine Geiss ab.
Vögel pfeifen, die Sonne bummert. Hinter der Abschrankung wie immer der Alte mit Zahnstocher im Gesicht. Tagaus, tagein steht er da und schaut ihnen bei der Arbeit zu. Noch weiter hinten steht ein kleiner Rotzbub. Juniordasteher. Zahnstocheraspirant. Stampfermann fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn.
»Ihr müsst mir gar nichts erzählen«, fängt der Bürolist an und kramt in seiner Hemdtasche, »schon klar, dass die von der Stadt gern ein bisschen übertreiben. Aber!« Er zündet sich eine Zigarette an. »Aber glaubt ihr wirklich, dass ich dafür da bin, die Sauerei jeden Tag aufzuräumen, glaubt ihr das? Immer wenn’s ein Problem mit der Stadt gibt, kommt der Schöberli und macht Ordnung, hä?« Er zieht an der Zigarette. Seine Wangen werden zu länglichen Tälern. »Wenn ihr dieser Meinung seid, sagt es mir bitte und zwar jetzt auf der Stelle!« Während er spricht, quillt Rauch aus seinen Nasenlöchern. »Irgendwann«, sagt er und schüttelt den Kopf, »irgendwann.«
Hinten bei der Abschrankung noch immer der Alte. Macht keinen Wank. Nur der Zahnstocher im Gesicht. Wippt und wirbelt. Und der Rotzbub hinter ihm seilt in aller Seelenruhe schaumige Spucke auf den Boden ab.
Stampfermann prüft zum Zeitvertrieb die Schotterdichte vor seinen Füssen. Man muss ja schauen, dass man das, was jetzt kommt, einigermassen unbeschadet übersteht. Mit der Zeit hat jeder seine Tricks. Aber heute sieht er trotzdem ständig den Bürokraten im Augenwinkel. Als ob der Augenwinkel mit dem Bürokraten zusammenarbeiten würde. Egal, wie er auf den Schotter schaut, sein Augenwinkel reicht immer bis zum Bürokraten hin. Stampfermann weiss genau, der Bürokrat war immer ein Bürokrat. Trotzdem tut der Bürokrat gern so, als ob er irgendwann in seinem Leben kein Bürokrat gewesen wäre, und flucht wie ein Dreckshund im Strassenbau. Er war aber nie ein Dreckshund. Keine Sekunde seines Lebens. Stampfermann weiss das sehr wohl.
»Was glaubt ihr eigentlich, was ich mir tagaus, tagein den Arsch aufreisse wegen denen von der Stadt«, fährt der Bürokrat fort. »Und jetzt, was sehe ich hier? Da kommt mindestens noch ein Tag Verspätung dazu, ich weiss es genau. Dabei haben wir das alles Punkt für Punkt angeschaut zusammen, oder etwa nicht? Sagt’s mir, wenn ich einen Blödsinn erzähle!«
Weit oben ertönt ein einsames Räuspern. Alle heben den Kopf, auch der Bürokrat, und schauen zu den Balkons hoch. Keine Menschenseele. Trotzdem, denkt Stampfermann. Man sieht immer weniger Leute als tatsächlich da sind. Darum hin und wieder ein Husten aus dem Nichts. Manchmal auch ein Kanarienvogel oder eine Schlagersendung. Da und dort ist das Fenster permanent offen, Geräusche dringen nach draussen, aber wer da oben ist und was der da macht und so, das weiss der unten nicht. Immer ist weiter oben einer und zupft an den Fäden und kichert sich krumm, denkt Stampfermann. Und plötzlich spuckt man dem Bürokraten einen dicken Grünen vor die Füsse und fragt sich, war das jetzt ich oder der da oben am Faden? Eine Unfreiheit ist das, eine verdammte Unfreiheit.
Der Bürokrat hustet, die Zigarette landet am Aushubhaufen und qualmt dort weiter. »Also nochmal. Diese ganze Hälfte des Platzes, Männer, hört ihr mir zu? Die ganze Hälfte muss tiefergelegt werden, wegen der Drainage. Wasser muss abfliessen, und zwar in die Rinnen, wo ihr gelegt habt, klar? Geht das in euren Schädel rein?«
Stampfermann umkrallt in der Hosentasche das Zigarettenpäckchen. Er würde sich gerne eine anzünden, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Dann hört er erneut ein Räuspern. Er blickt hoch. Da, auf dem Balkon. Ein Mann in einem lindgrünen Bademantel, in der Hand hält er ein Glas Milch. Aus seiner offenen Balkontür dringt Trällermusik, eine Katze streckt den Kopf durch das Gitter des Geländers. Ist er es etwa? Ist er derjenige, der die Fäden in der Hand hält und sich Kringel in den Bauch lacht? Stampfermann presst die Lippen zusammen.
»He! Zuhören! Bei euch muss man sich ja schon fragen. Was da im Oberstübchen läuft den ganzen Tag. Habt ihr’s begriffen? Schräge Ebene, wie in der Schule, aber ihr habt ja nicht aufgepasst damals, sonst wärt ihr jetzt nicht hier. Wasser muss abfliessen können. Alles in die gleiche Richtung. Nämlich hierhin. Ich sag’s gern noch einmal, wenn ihr wollt, aber morgen sag ich’s nicht mehr.«
Klack-klack. Das Geräusch von Absätzen. Aber wo? Konzentrieren, denkt Stampfermann, konzentrieren. Drainage. Schräge Ebene. Abfliessen. Doch das Klack-klack der Absätze wird lauter, konzentrieren ist hier unmöglich. Stampfermann, Schottergabelmann und Schaufelmann wenden den Kopf. Da, an der Ecke, da kommt sie. Sonnenbrille in der Frisur. Basttasche. Blumenkleid. In den Hüften ein Wiegen, ein perfekt getaktetes Schlingern. Stampfermann scharrt mit den Füssen, eine Zigarette raucht verloren am Aushubhaufen, oben schlägt eine Balkontür zu. Und auf der anderen Strassenseite kommt das Schlingern näher und näher und die Absätze machen klack-klack, klack-klack, klack-klack. Stampfermann würde jetzt gerne ein Anwerfseil reissen. Eine Wut hat ihn gepackt, eine Wildheit, er will eine Schaufel werfen, einen der anderen Dreckshunde würgen, aber er bleibt still. Diese Frau. Ihr Blick, das Blumenkleid, das Schlingern. Sie biegt um die nächste Ecke und verschwindet. Das Klacken wird leiser. Verfluchte Welt, denkt Stampfermann und drückt das Zigarettenpäckchen in der Hosentasche zusammen.
Der Bürokrat hustet erneut und verwirft die Hände. »Ja, ihr könnt schon schauen, ihr. Und was mache ich unterdessen?« Wieder hustet er, sein Gesicht läuft rot an. »Ich sag’s euch: Rechnen! Wisst ihr eigentlich, was das Ganze…«, nochmals das Husten, »…und wieviel Tage wir wieder«, und nochmals, »dabei kalkuliere ich bereits jetzt am Rand des Abgrunds, aber was wisst ihr schon. Perlen vor die Säue!« Das Husten will nicht aufhören, und die Wut darüber treibt dem Bürokraten noch mehr Röte ins Gesicht. Da erblickt er den Alten hinter der Abschrankung. »Hat der Greis da vorne etwas gesagt? Der hat doch etwas gesagt. He, Sie! Ja, Sie! Abhauen! Weg hier! Für Unbefugte verboten. Ja, auch ausserhalb der Abschrankung, hopp jetzt. Können wir nicht brauchen hier, solche wie Sie!«
Der Alte dreht langsam ab und zottelt davon. Ein Geräusch ertönt aus seiner Richtung, ein kurzes Schluchzen, abgewürgtes Wimmern, es pflanzt sich fort, steigt zwischen den Hausmauern hoch und verschwindet im blassen Himmel. Der Rotzbub steht noch immer da. Als der Bürokrat ihn mustert, zuckt er zusammen, beginnt in der Luft zu wabern, zu flimmern.
»Gaffer!«, bellt der Bürolist und spuckt. Die Spucke landet auf Schaufelmanns Hose. Schaufelmann hat es nicht gemerkt, aber Stampfermann sieht’s. Im Augenwinkel. Dieser verdammte Augenwinkel zeigt alles. Der Bürokrat geht zu seinem Kadjar, öffnet die Tür. »Morgen früh kommt der Teer«, ruft er. »Macht von mir aus, was ihr wollt, aber morgen machen wir den Deckel zu und fertig.« Der Bürokrat fährt los.
Oben die Sonne, hier unten Vogelpfeifen und ein Kläffhund. Drainage, denkt Stampfermann und quetscht noch immer das Zigarettenpäckchen in der Hosentasche. Alles fliesst irgendwo zusammen. Erst langsam, dann schneller und schneller. Und dann, ja, dann! Wer weiss schon, was dann passiert.
Er dreht sich um und geht zu seinem Dieselstampfer. Als die Maschine losrabaukt, erscheint das Bild des Alten in seinem Augenwinkel. Beim Unterstand auf der anderen Strassenseite steht er, der schrullige Gaffgreis, im Mund der ewige Zahnstocher. Stampfermann lässt ihn im Augenwinkel, schön am Rand des Gesichtsfelds. Er sieht, der Alte ist nicht allein im Unterstand. Etwas Störrisches, Verstocktes klemmt in seiner Hand. Es reisst, das Störrisch-Verstockte, es schüttelt und windet sich, aber die Hand des Alten lässt es nicht los. Und der Zahnstocher in seinem Mund wippt und wirbelt. Dann holt die andere Hand des Alten aus und schlägt zu, haut zünftig drauf aufs Störrisch-Verstockte, dass es knallt.
Alles fliesst zusammen. Erst langsam, dann schneller und schneller. Und irgendwann passiert’s, denkt Stampfermann. Irgendwann knallt’s irgendwo. Feste haut der Alte beim Unterstand, feste versohlt er dem Rotzbuben den Hintern, und der Rotzbub weiss ganz genau, dass er am Ende der Kette steht und es keinen anderen gibt, der den Hintern versohlt bekommen kann, die Schläge auf seinen Hintern ergeben sich ganz natürlich aus dem Ganzen, die Ordnung besteht darin, dass am Schluss die Schläge auf seinem Hintern landen und das Gleichgewicht der Welt wiederherstellen. Irgendwann wird er nicht mehr der kleine Lümmel sein und am Ende der Kette stehen, aber er weiss, jetzt ist er es, und nichts lässt sich dagegen tun.
Stampfermann stampft und schaut sich verstohlen um. Keiner achtet darauf, wie der Alte die Ordnung herstellt. Wie das klatscht, ha! Das Gleichgewicht ist noch nicht erreicht, feste drauf auf diesen Lümmelhintern, weiter feste drauf!
Dann fällt aus heiterem Himmel ein leeres Milchglas hinab und zerschellt auf dem Schotter. Stampfermann schaut hoch, sieht leere Balkons, halb offene Fenster. Oben hat man die Fäden losgelassen, denkt er. Oben hat man die Zügel fahren lassen! Und prompt lässt er selber seine Maschine los. Sie hopst wütend auf ihrem einen Fuss davon, verlässt das kiesige Rechteck, wackelt wie ein besoffener Tanzbär über ein Rasenstück, durch eine Hecke hindurch und weg ist sie.
Stampfermann lächelt. Dann setzt er sich auf die Bordsteinkante und klaubt die letzte Zigarette aus dem zerfetzten Päckchen. Schaufelmann knabbert Sonnenblumenkerne, Schottergabelmann trinkt aus der Zweiliterflasche. Das Gleichgewicht der Welt, denkt Stampfermann und zündet sich eine Zerdrückte an. Hier ist es wieder. Man ist und bleibt ein Dreckshund, aber wenigstens ist das Gleichgewicht der Welt wieder hergestellt. Von dort, wohin seine wilde Geiss entschwunden ist, ertönen jetzt ein Rumpeln, ein paar Rufe und ein bisschen Geschrei. Zigarette anzünden, erster tiefer Zug. Herrlich!
Stampfermann blickt ein letztes Mal zum Unterstand. Der Rotzbub ist weg. Der Alte streicht sich die Haare glatt, furzt und zieht einen neuen Zahnstocher aus der Hemdtasche. Stampfermann nickt ihm zu. Der Alte schaut zurück, ohne die Miene zu verziehen. Und der Zahnstocher beginnt zu wippen und zu wirbeln.

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis Das zweite Buch der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sein letzter Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger» erschien bei Arche.

Interview mit Jens Steiner

Rezension von «Mein Leben als Hoffnungsträger» auf literaturblatt.ch

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Jochen Veit «Mein Bruder, mein Herz», Arche

Benno und Stephan sind Brüder. Als der 13 Jahre jüngere Benno an den Folgen eines Zeckenbisses erkrankt und sein Kopf, aber nicht sein Lebenswille durch den Schmerz zu zerreissen droht, wächst zwischen den Geschwistern ein Band, das selbst durch das Verschwinden der Eltern und einen schrecklichen Verdacht nicht durchschnitten wird.

Was der junge Jochen Veit als Erstling vorlegt, ist beeindruckend, in jeder Hinsicht. Jochen Veit erzählt eine Geschichte, viele Geschichten in einer, ohne eine der Geschichten zu Ende zu erzählen. Jochen Veit will mit seinem Erzählen nicht klären, schon gar nicht erklären. Es geht ihm um das Geheimnis an sich; das Geheimnis einer Bruderschaft, die durch schwierige Zeiten gestählt ist, das Geheimnis in einer Familie zwischen Kindern und Eltern, die sich voneinander entfernen, das Geheimnis von Mutter und Vater, die sich eines Tages ganz entfernen und verschwinden, das Geheimnis einer Gegend, in der Landschaft viel mehr ist als Kulisse, ein Baum nicht einfach ein Baum, ein Haus nicht bloss ein Haus. Jochen Veit spielt mit den Genres; dem Heimatroman, dem Krimi, dem Horror, der Traumgeschichte, die abzudriften droht, dem Rückkehrerroman. Und das alles in bestechender Sprache, den permanenten Zwiespalt erzeugend, ob man versteht oder nicht, mit grosser Geste in kleinen Räumen und Sätzen, die mich mit Entzücken zwingen, sie noch einmal zu lesen.

Stephan ist in die Stadt gezogen, hat sich Monate, Jahre nicht mehr bei seinem jüngeren Bruder gemeldet, mit dem ihn einst nicht nur Bruderschaft verband, sondern gemeinsam überstandener Schmerz, sei es jener einer einschneidenden Krankheit, oder der Schmerz, das zu vermissen, was die Eltern nicht zu schenken vermochten; Zuwendung, Liebe, Anwesenheit. Es ist nicht nur der Alp einer schlimmen Krankheit, der Keile in die Familie trieb. Irgendwann verschwanden die Eltern, blieben für immer weg, hinterliessen zwei Brüder zusammen mit Alfred, einem alten Freund der Familie, der sich den beiden Jungen annahm, hinterliessen ein Geheimnis, das Stephan nicht mehr mittragen wollte und konnte. Kaum erwachsen ertrug Stephan die mit Mühe aufrecht gehaltene Idylle des Schwarzwaldes nicht mehr. Die Schwärze des Waldes hatte seine Eltern geschluckt. Der Hund mit Namen Cadejo (in der zentralamerikanischen Folklore ein hundeähnlicher Geist aus der Nacht) vermochte die Brüder nicht mehr zu schützen.

Irgendwann kommt er aber doch zurück. Nicht zuletzt gerufen von Alfred, der sich immer mehr über den mittlerweile erwachsen gewordenen Benno wundert, über seine Ausbrüche, seine Anspielungen. Alfred bittet Stephan flehentlich, ins Haus seiner Eltern zurückzukehren, weil er glaubt, dass ein schreckliches Geheimnis aufzubrechen droht, zurück in ein Haus, einen Garten, ein immer offensichtlich leerer werdendes Dorf, in eine Landschaft, die Stephan vor Jahren zur Flucht zwang. In ein Leben, das seit dem Verschwinden der Eltern unmöglich geworden war.

Jochen Veit rüttelt mit seinem Roman „Mein Bruder, mein Herz“ an den Urängsten eines jeden; dass Eltern spurlos verschwinden, dass Eltern ihre Kinder willentlich zurücklassen, über die Unmöglichkeit Familienbande, Bruderschaft zu kappen. Was in der Kindheit wächst und durch Schicksal gehärtet wird, lässt sich nicht einfach vergessen, amputieren.

„Mein Bruder, mein Herz“ hallt unweigerlich im eigenen Erleben nach. Jochen Veit hat Sätze geschrieben, die sich eingraben, eine Geschichte, die erfrischend verunsichert, ein Buch, das wörtlich begeistert und eine Art des Schreibens, die viel für die Zukunft verspricht! Einen Roman, der vieles offen lässt, vieles bloss in eine Richtung zu rollen anstösst, der mir Leser einiges abverlangt.

„Wir sind alle endgültig alleine.“

Ein Interview mit Jochen Veit:

In ihrem Roman geht es letztlich um Familie und um das, was sie zusammenhält, selbst dann, wenn Eltern verschwinden. Sie spielen mit Gegensätzen; auf der einen Seite die Bilderbuchlandschaft des Schwarzwalds, ein Dorf, ein Haus, ein Garten – auf der andern Seite der verwilderte Garten als Metapher der Familie selbst, leere, verlassene Häuser, ein Hund mit Namen Cadejo. Die Krankheit von Benno, als er ein Kind war und an dieser zu sterben drohte und ein nicht einzuordnender Husten seines grossen, älteren Bruders, das Offenbare und das Verborgene. Wo liegt das Epizentum ihres Romans?

Als ich überlegt habe, wie ich auf diese Frage antworten soll, habe ich mich ein bisschen durchs Internet geklickt und gelernt, dass Erdbebenherde (Hypozentren) nicht eigentlich punktuelle Brüche der Erdkruste sind, sondern (Bruch-)Flächen. Bei besonders gravierenden Erdbeben können sich diese über etliche Kilometer erstrecken. Das Epizentrum wäre dann der Ort, an dem diese Bruchflächen ihre Wirkung an der Oberfläche zeigen. Das müsste die Konfrontation der beiden Brüder sein – während die Bruchflächen unter ihnen sich kilometerweit erstrecken und auch die Katastrophe nicht am Ort dieser Konfrontation eingesperrt werden kann.

Zeitlich ordne ich ihren Roman in nicht allzu ferner Zukunft an, ohne dass ich ihren Roman in die Schublade „Dystopie“ stecken könnte. Die beschriebene Gegenwart bröckelt. Und genau diese Tatsache fasziniert. Sie entziehen sich mit ihrem Buch einer Einordnung. Es scheint ihnen nur vordergründig um eine Geschichte zu gehen. Viel mehr um all das, was sich weder erzählen noch erklären lässt. War das von Beginn weg Plan?

Das ist eine sehr freundliche Einschätzung. Ganz zustimmen würde ich allerdings nicht, die Geschichte ist wichtig. Ich finde, man sollte im 21. Jahrhundert nicht so schreiben, als hätte es die Postmoderne nicht gegeben: Spannung kann auch faszinieren, insbesondere wenn sie nicht zu einfach gestrickt ist. Insofern war gerade diese Kombination von Beginn an der Plan, d.h. den ‹Plot› zu erzählen und zu den Bruchflächen vorzudringen.

Ihr Roman strotzt vor Andeutungen. Einmal fällt der Nebensatz „wie diese drecksverdammten Nazieltern es verdient hätten“. Eine Andeutung, die nie wieder aufgenommen wird, die mich als Leser stehen lässt, verunsichert. Eine Eigenschaft ihres Romans, die man ihnen leicht vorwerfen könnte, dabei aber nur die unmittelbare Nähe des Erzählers schildert, so wie jeder in seinem Erzählen dauernd andeutet und niemals alles zu einem Ende erzählen kann. Wie sehr war der Roman ein Kampf mit einer Lektorin oder einem Lektor?

Glücklicherweise gab es eigentlich gar keinen Kampf mit meiner Lektorin, es war viel mehr eine sehr gründliche Detailarbeit. Das lag wohl daran, dass sie das ästhetische Programm des Romans durchblickte und dann innerhalb dieses Rahmens ihre Anmerkungen vorgenommen hat. Der Nazi-Ausruf Bennos korrespondiert mit einigen anderen Textelementen, auch wenn diese Andeutung in Bezug auf die Eltern tatsächlich nicht auserzählt wird. Man muss aber auch bedenken, wie das Wort «Nazi», gerade wenn ein Jugendlicher spricht, heute verwendet wird.

Ein Prolog, zwölf Kapitel, ein Epilog. So wage manch ein Erzählstrang, so klar die Struktur. Sie scheinen jemand zu sein, der Ordnung liebt, auch wenn inhaltlich nicht „aufgeräumt“ wird. Ist Schreiben nicht stets eine Form des Aufräumens?

Ab einem gewissen Zeitpunkt: ja. Aber der Anfang ist chaotisch, weil Kreativität eine chaotische, zerstörerische Kraft ist. Irgendwann aber muss sie gelenkt werden, sonst kann kein stimmiger Text entstehen. Ich selbst habe den Roman nicht linear geschrieben, das Ende war sogar einer der Textteile, die ich schon relativ früh fertiggestellt hatte.

Die Erzählstimme berichtet von Stephans Rückkehr an den Ort seiner Kindheit. In dem Masse wie er zurückkehrt und eintaucht, verliert er den Kontakt zu seinem Leben in der Stadt, zu seiner Freundin Nina, mit der er nur auf einem Hügel über dem Dorf via Mobilephon Kontakt aufnehmen kann. Muss man sich entscheiden zwischen Familie und neuem Leben? Zwischen Altem und Neuem?

Ich habe eine Zeitlang behauptet, ich hätte meinen Studienort ausgewählt, indem ich einen Zirkel in mein Heimatdorf gesteckt und einen Kreis von 200km (im Massstab) darum gezogen hätte. Das habe ich natürlich nicht, aber ich denke, ein bisschen Abstand kann nicht schaden, um sich von seinen Wurzeln zu emanzipieren. Das gehört wohl zum Erwachsenwerden und kann eigentlich nur gut sein für das Verhältnis zur eigenen Familie. Stephan fehlt hier das Mass, erst stürzt er sich rücksichtslos ganz ins Neue, dann kehrt er zurück, gepeinigt von seinem schlechten Gewissen, weil er den Kontakt mit dem jüngeren Bruder hat schleifen lassen – und das führt ihn in den Untergang.

© Vera Thielen

Jochen Veit wurde 1992 geboren. Er studierte Philosophie und Komparatistik in Mainz und Wien. Im Jahr 2016 war er Stipendiat der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung in Edenkoben und 2018 nahm er am Literaturkurs in Klagenfurt teil. Seine Texte erschienen in mehreren Literaturzeitschriften und Anthologien, u.a. in KRACHKULTUR und STILL. Er lebt in Köln.

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Beitragsbilder © Jochen Veit

„Sodeli“, und dann wars vorbei, das 10. WORTLAUT-Literaturfestival St. Gallen

Auch wenn die Kälte noch immer im Schatten hockte und grosse grauschwarze Schneeberge mitten in der Stadt Saft liessen, war es neben der Sonne die Literatur, die am letzten Märzwochenende mein Herz erwärmte. Noch bevor an meinem Fenster zuhause der knorrige Aprikosenbaum zu blühen beginnt, schlug die Literatur aus, machte das Wort laut.

Die Zeichnungen, die diesen Text begleiten, sind von der Illustratorin Lea Frei, mit der ich an den kommenden Solothurner Literaturtagen die Veranstaltungen sowohl textlich wie zeichnerisch begleiten werde. Über die Resultate dieses spannenden Unternehmens wird auf literaturblatt.ch informiert.

Im Stundentakt schob sich Höhepunkt an Höhepunkt. Im grossen Saal im Waaghaus, fast versteckt im Splügeneck, mit Pastis in der Hauptpost, lautstark im Palace und der Grabenhalle. Da auch ich mich nicht zerreissen kann, war die Wahl zwischen „Laut“, „Luise“, „Rinks“ und „Lechts“, den vier zur Tradition und St. Galler Spezialität gewordenen Veranstaltungsreihen schnell gefällt. Von Tabea Steiner und Joachim Bitter souverän begleitet und moderiert, lauschte ich der Reihe „Luise“. Sechs Autorinnen und Autoren, die mit ihren Büchern eindrücklich bewiesen, dass Literatur fast alles kann; bezaubern, unterhalten, aufrütteln, verunsichern, beglücken und faszinieren!

Sechs Bücher, die es unbedingt zu lesen lohnt:

Auch in seinem zweiten Band zu den „Menschlichen Regungen“ von Tim Krohn begleitet mich bekanntes Personal aus dem ersten Band „Herr Brechbühl sucht eine Katze“. Herr Brechbühl wohnt noch immer alleine im Erdgeschoss eines Zürcher Mietshauses, wo ihm das kleine Mädchen aus der vierten Etage den Vorschlag macht, mit ihrer Familie die Wohnung zu tauschen, weil ihre Mutter im vierten Stockwerk keine Katze haben wolle. Er brauche die Wohnung im Erdgeschoss, die so praktisch wäre, doch gar nicht dringend, er könne ja auch ein paar Treppen weiter oben alt werden und sterben. Aber Herr Brechbühl will nicht in die vierte Etage, aber vielleicht eine Katze. Und auf der Suche nach einer solchen findet er Samira, eine Frau, die aus der Raupe Brechbühl einen Schmetterling zu machen versteht. Eine Frau, die Brechbühl nicht nur aus seinem Panzer schält, ihn regelrecht ins Leben zieht, in eines mit Geistern, Zeichen, Räucherstäbchen und Gestalten aus dem Reich der Toten. „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein Roman, der köstlich unterhält, geschrieben von einem Autor, der nicht einfach mit menschlichen Regungen spielt, sondern meisterlich konstruiert und fabuliert.

Jens Steiner hält der Gesellschaft einen Spiegel vor Augen. Auch ihrer Augenwischerei, wenn man sich mit einem Ranking der Recycelns den uneingeschränkten Konsum zu erleichtern versucht, um all jene Leerstellen, die das immerwährende Entsorgen bringt, möglichst schnell wieder mit „Neuem“ aufzufüllen. „Mein Leben als Hoffnungsträger“ ist aber mehr als ein Abenteuerroman auf einem Recyclinghof. Philipp, der junge Mann, der sich dort anstellen lässt, ist, so angepasst sein Leben und Tun an jenem Ort scheint, ein „Verweigerer“. Einer, der sich dem Würgegriff von Leistung, Besitz und Fortschritt verschliesst und verweigert, der einen Kampf auszustehen hat mit sich selbst und seiner Umgebung. Jens Steiner leuchtet das Kleinräumige aus.

In „Max“ lässt sich Markus Orths Zeit mit Erzählen. Er hangelt sich nicht von einem zu nächsten Cliffhanger, die man als Leser unbedingt aufgelöst haben will. „Max“ ist aber auch mehr als eine Künstlerbiographie über den Maler Max Ernst, ein Buch, das vergöttert und verehrt, einen Künstler auf einen steinernen Sockel hebt. „Max“ ist ein Sittengemälde einer verrückten Zeit, über einen „verrückten“, aber keineswegs entrückten Künstler. Sechs mit den Musen seines Lebens überschriebene Kapitel, sechs Frauen, die ein wildes Leben begleiteten. Vor Beginn seines Romanprojekts habe er nicht mehr als zwei, drei Bilder des Künstlers gekannt. Erst durch die Auseinandersetzung über einen Schreibauftrag wurde er der Fülle gewahr, die das Leben und Schaffen Max Ernsts ausmachte. Markus Orths las jene Szene aus seinem Roman, als der Medizinstudent Max Ernst an einer Ausstellung in einer Nervenheilanstalt mit Werken von Insassen Henrik begegnet, einem Mann, der aus Brot Plastiken formt, die immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Vater zeigen. Max Ernst geht nach Haute und schreibt: „Ich werde malen, sonst nichts!“

Wazlaw, ein nicht mehr junger Mann, ein Heimatloser, ein Arbeitsmigrant, folgt dem Drift, immer auf der Suche, einer unendlichen Heimatsuche. Ein Leben, das in der Schwebe bleibt, ein Roman, bei dem vieles in der Schwebe bleibt, keine einfache Geschichte, so wie das Leben nie einfach ist. Ein Bohren in tiefe Schichten, in die Sedimente des Lebens. Anja Kampanns grosse Kunst ist die Sprache, das, was sie in ihrem ebenfalls bei Hanser erschienen Gedichtband „Proben von Stein und Licht“ (Als wären die Gedichte Gesteinsproben des darauf folgenden Romans!) aufs eindrücklichste bewies. Eine Sprache, die sich dem chronologischen Erzählen verschliesst, viel mehr sein will als das Nacherzählen einer Idee, einer Geschichte. Es sind Bilder, die durch alle Sinne dringen, klar gezeichnet und doch mehr als nur abbildend. „Wie hoch die Wasser steigen“ ist ein Buch, das man nicht in allem zu verstehen baucht, genau so, wie man Schostakowitsch niemals als Ganzes verstehen kann. Es ist, als stünde man ganz nah an einem riesigen Gemälde. Man sieht Farben, Punkte und Linien, den Pinselstrich und weiss, das nichts dem Zufall überlassen wurde. Erst in der Distanz, mit der Dauer des langsamen Lesens wird das Ganze sichtbar, das viel mehr ist als eine Geschichte.

Fast voll war der Saal bei Dana Grigorcea! Sympathien stürmten wie Fruchtfliegen auf die Frau mit den Fingernägeln im gleichen Rot wie das schmale Büchlein, das von so viel Leidenschaft erzählt. Nach dem letzten Roman „Das primäre Gefühl von Schuldlosigkeit“, einem Stadtroman, einem Roman über Herkunft, episodisch erzählt, war es die Lust auf eine Liebesgeschichte mit viel „Zug“, eine Geschichte, die in Zürich spielt. Auch ein Experiment, ob die gewonnenen Leser/innen ihrer letzten beiden Romane, die miteinander verwandt sind, ihr mit einer Liebesgeschichte folgen würden. „Schreiben am Scheitern vorbei.“ „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, eine Tänzerin, die den Zenit ihres Erfolgs bereits überschritten hat, die einst mehr war, als sie zu erhoffen gewagt hatte, eine Ballerina. Eine Liebe zu einem Fremden, einem verheirateten Kurden, einem Mann, der sich sonst nicht in ihren Kreisen bewegt. Eine scheinbar leichtfüssige Novelle „in einer der schönsten Städte der Welt, mit freundlichen, sorglos wirkenden Menschen“.

Und zuletzt Nicol Ljubić. 1977 brennt Hartmut Gründler lichterloh. Ein Mann, der über lange Zeit unauffällig zur Untermiete im Haus der Familie Kelsterberg lebt. Eine Geschichte zum einen aus der Perspektive des zehnjährigen Sohnes der Familie und Jahrzehnte später aus der Rückschau desselben bei den Besuchen bei einer alt gewordenen Mutter. Damals, 1977, war Hanno Kelsterberg nicht nur Zeuge zunehmender Radikalisierung im Protest Hartmut Gründlers, sondern Zeuge einer «tektonischen Verschiebung» innerhalb der Familie, einer schmerzhaften Entfremdung der Eltern, der Emanzipation seiner Mutter, dem Abfallen seines Vaters. Drei Jahrzehnte später besucht Hanno seine greise Mutter. Die Katastrophe von Fukushima ist für die Mutter keine Keule einer falschen Atompolitik, sondern logische Konsequenz und damit lang erwartete Bestätigung für den Kampf Hartmut Gründlers, eines verkannten Messias. „Ein Mensch brennt“ ist provokant und mit politischem Ausrufezeichen geschrieben über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.

 

 

 

 

Den Organisierenden meinen grossen Dank und tiefen Respekt. Vor allem Joachim Bitter, Mitinitiant, Moderator und Literaturfreund aus Leidenschaft!

Wortlaut St. Gallen: Zum Beispiel Markus Orths und Jens Steiner!

Zwei Autoren, für die es sich schon lohnt, das 10. St. Galler Literaturfestival «Wortlaut» zu besuchen: Markus Orths erzählt in seinem grossen Roman «Max» vom wilden Leben des Malers und Lebenskünstlers Max Ernst, ein Leben in einem wahnwitzigen Jahrhundert in wahnwitziger Leidenschaft. Und Jens Steiner, der stille Grosse der Schweizer Literatur, in „Mein Leben als Hoffnungsträger“ vom kleinen Leben, in dem sich die Welt spiegelt.

Jens Steiner liest samstags um 14 Uhr im Raum für Literatur in der Hauptpost St. Gallen, Markus Orths am gleichen Samstag um 15 Uhr im Waaghaussaal. Zwei Termine, die man sich neben einer Fülle anderer merken sollte.

Ich freue mich auf die beiden Autoren. Aber am meisten freue ich mich auf eine eventuelle Zugabe von Markus Orts. Beim Verlag ars vivendi erschien in diesem Frühjahr das Buch „Aber sonst geht es mir gut“ von Markus Orths. Humoresken aus seinen bisher erschienen Büchern und speziell für dieses absolut lesenswerte Buch verfasste Schmankerl.

In vielen der in diesem Buch versammelten Geschichten erzählt Martin Kranich von seiner Mutter Ilse Kranich. Aber eigentlich schreibt Markus Orths über seine eigene Grossmutter. Ein Frau mit schwarzem Dutt, die den kleinen Markus oft in Schutz nahm, wenn er wieder was anstellte. Ein Frau, die unentwegt erzählen konnte und deren monologisierende Erzählkaskaden einem förmlich zudecken. Eine Frau aus einem anderen, fremd gewordenen Jahrhundert, in dem das mündliche Erzählen noch über lange Abende hinweghalf und einem über das Neueste in der direkten Umgebung auf dem Laufenden hielt. Eine Frau, die mit ihren Geschichten die Erinnerung an Menschen und Situationen lebendig hielt. Eine Frau, die sich noch nicht durch «Social Media» geschlagen geben musste, der man sich ergeben musste, um sich irgendwann wieder frei zu bekommen. Ein Büchlein, das perfekt fürs Nachttischen bestimmt scheint!

Markus Orts las vor ein paar Jahren schon einmal aus seinem Werk. Wer ihn erlebt hat, weiss, wie unterhaltsam, witzig, geistreich und frech seine Darbietungen sind. Obwohl Markus Orths alles andere als ein lustiger Schreiberling ist, weiss er um die Kunst des literarischen Humors. Markus Orths ist ein begnadeter Geschichtenerzähler!

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren, studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg und lebt als freier Autor in Karlsruhe. 2017 erschien sein elftes Buch, der Roman Max. Drei seiner Bücher sind in insgesamt sechzehn Sprachen übersetzt worden. Seine Texte wurden u.a. ausgezeichnet mit dem Telekom-Austria-Preis (2008) in Klagenfurt, dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld (2009) und dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar (2011). In Paris gewann das Stück Femme de Chambre den Prix Théâtre 13 und den Publikumspreis. Im Theater Baden-Baden wurde Die Entfernung der Amygdala uraufgeführt. Der Film Das Zimmermädchen Lynn (nach dem Roman Das Zimmermädchen) kam 2015 in die Kinos. Zudem schreibt Markus Orths Kinderbücher und Hörspiele.

Jens Steiner, 2013 mit seinem zweiten Roman „Carambole“ Gewinner des Schweizer Buchpreises, ist ein stiller Zeitgenosse, ein stiller Beobachter. Ein Beobachter der kleinen, unscheinbaren Dinge, die sich oft auf Nebenschauplätzen abspielen. Mit „Mein Leben als Hoffnungsträger“ verpackt der Autor auf subtile Weise Gesellschaftskritik, seinen ganz eigenen Humor und offenbart Sätze und Textstücke, deren Zauber sich wie guter Wein in Mund und Nase entfaltet.

„Was in die Häuser der Leute alles reinpasst und ständig wieder raus muss. Mein lieber Mann!“

Philipp ist noch jung und für seinen Vater eine Enttäuschung. Er scheint nicht fähig, sich den Anforderungen der Gesellschaft zu stellen, seinen Mann zu stellen. Da nützen auch Zückerchen oder versteckte Drohungen nichts. Und als Philipp seine Lehre als Mechatroniker schmeisst und ihn seine WG-Mitbewohner wegen seines Putzfimmels auf die Strasse spedieren, bleibt wenig. Aber Philipp lässt sich nicht entmutigen. Er hat der Welt nichts angetan. Und die Welt tut ihm nicht weh. Er fröhnt dem Müssiggang, findet Unterschlupf in einer kleinen Bleibe in einem Wohnsilo und verdient das bisschen, das er braucht, bei Gelegenheitsjobs. Eigentlich könnte alles so bleiben.
Bis Uwe ihn auf einer Bank am Ende einer Strassenbahnlinie entdeckt. Und weil es sich Philipp seit seiner Kindheit zur Gewohnheit machte, Silberpapier (Stanniolpapier) zu sammeln, macht Uwe Philipp zu seinem Hoffnungsträger. Zuhause döselt Philipp jedes einzelne Papierchen auf und glättet sie mit dem Fingernagel. Beeindruckend für Uwe, der hinter der Endschleife der Strassenbahn Chef eines städtischen Recyclinghofs ist, ebenfalls eine Endstation. Aber Uwe zweifelt an einer Menschheit, die nur zu kaufen scheint, um sich wenig später davon zu befreien. Der Recyclinghof, ein Ort, wo sich die Menschen ihren Überflüssigkeiten entledigen. Die einen still und schnell, die andern verschämt oder schamlos.
Mit einem Mal tritt Philipp in ein Gefüge aus Mensch und Material. Auf dem Recyclinghof arbeiten auch noch Arturo und João, zwei Portugiesen, der eine störrisch faul, der andere umtriebig und geschäftstüchtig. Philipp hat seinen Platz gefunden. Wieder könnte alles so bleiben.
Aber Philipp gewinnt Nähe, die ihn ins Geschehen und die Leben auf dem Recyclinghof verstrickt. Sowohl als Uwes Hoffnungsträger wie als Verbündeter in den undurchsichtigen Nebengeschäften Joãos. Ein Freilufttheater auf der Bühne eines Recyclinghofs. Während im Hintergrund der Schredder rattert, spitzt sich die Lage zwischen Containern, Mulden und dem mannshohen Zaun, hinter dem Jahrmarktfahrer den Winter verbringen zu. Welttheater zwischen den unnütz gewordenen Errungenschaften der Zivilisation. Spannend wie ein Krimi wird es, weil das Viergespann João aus der Klemme helfen muss.

„Was die Menschen hier wegwerfen würden, sind die Schuttmoränen ihrer Kaufräusche.“

Jens Steiner spart nicht mit mehr oder weniger sachten Seitenhieben an die Pfeiler einer funktionierenden Gesellschaft, die längst nicht mehr weiss, was sie mit all den Insignien von Wohlstand und Konsumkraft anfangen soll. Jens Steiner schreibt aber weder mit Moralkeule noch Drohfinger. Er tut dies mit seiner unaufgeregten, verschmitzten Art. Während Jens Steiner seine Protagonisten das Geschehen im Recyclinghof beschreiben lässt, türmen sich tiefe Eindrücke des Paradoxen auf der Seite des Lesers. Ein grossartiges Buch über die Schieflage der menschlichen Existenz!

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman „Hasenleben“ (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis »Das zweite Buch« der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Letzter Roman „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“ erschien noch bei Dörlemann.

Peter Stamm „Agnes“, Film (2016) und Buch, Arche (1998)

Diesen Monat erscheint Peter Stamms neuster Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“. Grund genug, seinen ersten Roman, der bei Erscheinen seines neuen vor 20 Jahren Kritiker und Leser ins Staunen versetzte, „Agnes“ noch einmal zu lesen. Damals war „Agnes“ eine literarische Überraschung. Heute ist „Agnes“ Schullektüre, so etwas wie ein Klassiker. Und der Film vom Regisseur Johannes Schmid?

Agnes ist Physikstudentin in Dallas. Sie schreibt an einer Dissertation über die «Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallen». In der gleichen Bibliothek der Universität recherchiert ein doppelt so alter Mann über amerikanische Luxuseisenbahnen. Eine Auftragsarbeit. Die beiden kommen sich schnell näher. Als Agnes erfährt, dass er sich einst auch mit Prosa versuchte, fordert ihn Agnes auf, eine Geschichte über sie zu schreiben. Mehr aus Gefälligkeit, vielleicht auch um Agnes Eindruck zu machen, beginnt er wirklich zu schreiben. Über Agnes, über sie beide, über das Aufkeimen einer Beziehung. Aber beide bleiben einander ein Geheimnis. Agnes bleibt fahrig, von Stimmungen getrieben, er ist mehr verunsichert als verliebt, angezogen von der Abenteuerlust eines kühlen Entdeckers. Eines Tages öffnet er mit Agnes Schlüssel ihre Wohnung, bleibt eine Weile, beginnt zu schreiben, kramt in den Sachen, sieht den einzigen Schmuck an der Wand, ein Poster mit einer Figur des Künstlers Kokoschka mit dem  Titel «Mörder, Hoffnung der Frauen», die Karte eines Freundes und in einer Schublade Tabletten. Während die Geschichte um Agnes auf Papier immer weiter gesponnen wird, er Idylle spriessen lässt, wird die Beziehung der beiden immer gereizter. Erst recht, als Agnes ihm erklärt, sie sei schwanger. Erst recht, als er darauf nicht mit Freude reagiert. Während sie enttäuscht und zornig seine Wohnung verlässt, sie, die schon von ihrer eigenen Familie abgeschnitten lebt, bleibt er, paralysiert, perplex. Er schreibt weiter, in verschiedenen Varianten. So, dass es für den Leser nie ganz klar ist, auf welche Seite die Geschichte nun wirklich kippt.

Der erste Satz im Roman ist: Agnes ist tot. Eigentlich gibt es keinen Zweifel. Und doch gelingt es Buch und Film, ein eigentliches Vexierbild entstehen zu lassen. Film und Buch schaffen es, viel mehr nicht zu erzählen und nur anzudeuten, als es bis in die Feinheiten auszumalen. Peter Stamm deutet vieles nur an, lässt mehr Leerstellen, Lücken, genug Raum für Mutmassungen und Interpretationen. Vielleicht liegt genau hier der Grund, dass der Erstling von Peter Stamm zur Mittelschul- und Hochschullektüre im In- und Ausland gehört.

«Agnes» erzählt von der Einsamkeit der Menschen. Da sind zwei, die lieben und doch nicht zueinander finden. Da sind zwei, die in einer Grossstadt  leben, aber weitgehend isoliert sind. Alles scheint sich nur um die Individuen zu drehen. Es bleibt spürbar kalt. Nicht nur weil Agnes nachts in den Schnee hinausgeht und sich entkleidet. Ein unterkühltes Erzählen, dass man Peter Stamm auch in seinen folgenden Büchern nachsagt.

Buch und Film lohnen sich auf jeden Fall. Ich mag es, wenn ich mit einer ordentlichen Portion Ratlosigkeit zurückgelassen werde. Warum sollen Geschichten alles erklären, alles zu deuten versuchen. Das Leben lässt genauso Lücken, Unerklärliches, Unfertiges, bloss Begonnenes.

Ich bin gespannt auf den neuen Roman von Reter Stamm!

Eine Inhaltsangabe des neuen Romans, der im kommenden Februar erscheinen soll: Christoph verabredet sich in Stockholm mit der viel jüngeren Lena. Er erzählt ihr, dass er vor 20 Jahren eine Frau geliebt habe, die ihr ähnlich, ja, die ihr gleich war. Er kennt das Leben, das sie führt, und weiß, was ihr bevorsteht. So beginnt ein beispiel­los wahrhaftiges Spiel der Vergangenheit mit der Gegenwart, aus dem keiner unbe­schadet herausgehen wird.
Können wir unserem Schicksal entgehen oder müssen wir uns abfinden mit der sanf­ten Gleichgültigkeit der Welt? Peter Stamm erzählt auf kleinstem Raum eine andere Geschichte der unerklär­lichen Nähe, die einen von dem trennt, der man früher war. (aus der Vorschau des Verlags)

160 Seiten, bei S. Fischer, ab 22. Februar im Buchhandel, am 21. Februar Buchtaufe im Kaufleuten Zürich, Moderation Jennifer Khakshouri

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt ›Agnes‹ 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane ›Nacht ist der Tag‹ und ›Weit über das Land‹ sowie unter dem Titel ›Die Vertreibung aus dem Paradies‹ seine Bamberger Poetikvorlesungen.

«Literatur am Tisch» mit Jens Steiner und seinem Roman «Mein Leben als Hoffnungsträger»

Am Montag, 15. Januar 2018, liest und diskutiert Jens Steiner. Alle Interessierten sind zu dieser ganz «privaten» Runde eingeladen. Um 19 Uhr zu Wein, Brot und Käse am grossen Esstisch an der St. Gallerstrasse 21 in Amriswil TG! Einzige Voraussetzung für eine Teilnahme: Sie sollten das Buch gelesen haben! Melden Sie sich an und seien Sie dabei. 30 CHF inkl. Konsumation. info@literaturblatt.ch.

Rezension auf literaturblatt.ch!

Unregelmässig findet an unserem grossen Esstisch «Literatur am Tisch» statt: Eine Autorin oder ein Autor wird zusammen mit seinem neusten Buch zu Tisch geladen, ebenfalls maximal 10 Gäste, die das Buch gelesen haben. Man trinkt ein Glas Wein (oder mehr), geniesst Häppchen aller Art und unterhält sich, setzt sich angeregt und manchmal auch kritisch mit dem Buch, dem Schreiben, dem Lesen und der Literatur auseinander. Kosten für Teilnehmende inkl. Nachtessen und Getränke mind. 30 Fr., Beginn 19 Uhr

«Literatur am Tisch» soll Leserinnen, Leser und Autorinnen und Autoren an einen Tisch bringen, die Möglichkeit bieten, sich in ein echtes Gespräch, einen für beide Seiten zum Gewinn werdenden Austausch einzulassen. Traditionelle Lesungen oder Gespräche lassen Lesende auf Distanz, bieten kaum die Gelegenheit, eigene Lesarten, Gedanken miteinzubringen.»

«Lesungen auf einer Bühne sind das eine. Im intimen Rahmen von Gallus› und Irmgards Literatur-am-Tisch-Abenden ist man der mitdiskutierenden Leserschaft ungleich ausgelieferter, da Künstlergarderobe als Rückzugsmöglichkeit, erhöhte Bühne als distanzschaffendes Element und blendende Scheinwerfer fehlen, welche die Fragestellenden anonymisieren. Im besten Fall – und so einer lag bei meinem Besuch vor – erlaubt so eine Konstellation ein vertieftes Eintauchen, eine angeregte, kritische Diskussion, bei der man als Autor gezwungen wird, sich wieder einmal ganz grundsätzliche Fragen zum eigenen Werk zu stellen. Besonders ergötzlich gestaltet sich so eine Auseinandersetzung bei gutem Essen und feinem Wein am Tisch der Gastgeber in Amriswil.» Frédéric Zwicker

«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen. Der Runde am 17. August war die bei vielen vorhandene jahrelange Erfahrung mit Diskussionen und Reflexion über Texte anzumerken. Mit Sorgfalt bitten die Gastgeber Gallus und Irmgard zu Tisch, und schon ganz bald ist man mitten in publizistischen und literarischen Fragen: Wer bestimmt das Cover eines Buches? Warum trägt es genau den Titel? Wie viel hatte die Autorin dazu zu sagen? Wie ist die Idee zum Text entstanden, wie erlebte ich die Schreibarbeit an einem Thema, das einem wohl nicht anders als unter die Haut gehen muss. Warum diese Erzählperspektive? Und wie spiegeln sich die Leser/innen im Text, den sie lesen? Diese und viele andere Fragen haben wir diskutiert. Dabei war es für mich immer wieder auch spannend, einfach zuzuhören, zu erfahren, wie unterschiedliche Menschen einen Text lesen und darauf reagieren. Ich bin reich beschenkt nach Hause gefahren. Danke!» Bettina Spoerri

Jens Steiner «Mein Leben als Hoffnungsträger», Arche

Philipps Mutter schärfte ihm einst ein, Silberpapier brauche hunderttausend Jahre, bis es verrotte, wenn überhaupt. Seither sammelt Philipp Stanniolpapier, dröselt es auf und streicht es mit dem Fingernagel glatt. Das gefällt Uwe. Uwe ist Leiter der städtischen Recyclinghofs und macht Philipp zu seinem «Hoffnungsträger».

Jens Steiner, 2013 mit seinem zweiten Roman «Carambole» Gewinner des Schweizer Buchpreises, ist ein stiller Zeitgenosse, ein stiller Beobachter. Ein Beobachter der kleinen, unscheinbaren Dinge, die sich oft auf Nebenschauplätzen abspielen. Mit «Mein Leben als Hoffnungsträger» verpackt der Autor auf subtile Weise Gesellschaftskritik, seinen ganz eigenen Humor und offenbart Sätze und Textstücke, deren Zauber sich wie guter Wein in Mund und Nase entfaltet.

«Was in die Häuser der Leute alles reinpasst und ständig wieder raus muss. Mein lieber Mann!»

Philipp ist noch jung und für seinen Vater eine Enttäuschung. Er scheint nicht fähig, sich den Anforderungen der Gesellschaft zu stellen, seinen Mann zu stellen. Da nützen auch Zückerchen oder versteckte Drohungen nichts. Und als Philipp seine Lehre als Mechatroniker schmeisst und ihn seine WG-Mitbewohner wegen seines Putzfimmels auf die Strasse spedieren, bleibt wenig. Aber Philipp lässt sich nicht entmutigen. Er hat der Welt nichts angetan. Und die Welt tut ihm nicht weh. Er fröhnt dem Müssiggang, findet Unterschlupf in einer kleinen Bleibe in einem Wohnsilo und verdient das bisschen, das er braucht, bei Gelegenheitsjobs. Eigentlich könnte alles so bleiben.
Bis Uwe ihn auf einer Bank am Ende einer Strassenbahnlinie entdeckt. Und weil es sich Philipp seit seiner Kindheit zur Gewohnheit machte, Silberpapier (Stanniolpapier) zu sammeln, macht Uwe Philipp zu seinem Hoffnungsträger. Zuhause döselt Philipp jedes einzelne Papierchen auf und glättet sie mit dem Fingernagel. Beeindruckend für Uwe, der hinter der Endschleife der Strassenbahn Chef eines städtischen Recyclinghofs ist, ebenfalls eine Endstation. Aber Uwe zweifelt an einer Menschheit, die nur zu kaufen scheint, um sich wenig später davon zu befreien. Der Recyclinghof, ein Ort, wo sich die Menschen ihren Überflüssigkeiten entledigen. Die einen still und schnell, die andern verschämt oder schamlos.
Mit einem Mal tritt Philipp in ein Gefüge aus Mensch und Material. Auf dem Recyclinghof arbeiten auch noch Arturo und João, zwei Portugiesen, der eine störrisch faul, der andere umtriebig und geschäftstüchtig. Philipp hat seinen Platz gefunden. Wieder könnte alles so bleiben.
Aber Philipp gewinnt Nähe, die ihn ins Geschehen und die Leben auf dem Recyclinghof verstrickt. Sowohl als Uwes Hoffnungsträger wie als Verbündeter in den undurchsichtigen Nebengeschäften Joãos. Ein Freilufttheater auf der Bühne eines Recyclinghofs. Während im Hintergrund der Schredder rattert, spitzt sich die Lage zwischen Containern, Mulden und dem mannshohen Zaun, hinter dem Jahrmarktfahrer den Winter verbringen zu. Welttheater zwischen den unnütz gewordenen Errungenschaften der Zivilisation. Spannend wie ein Krimi wird es, weil das Viergespann João aus der Klemme helfen muss.

«Was die Menschen hier wegwerfen würden, sind die Schuttmoränen ihrer Kaufräusche.»

Jens Steiner spart nicht mit mehr oder weniger sachten Seitenhieben an die Pfeiler einer funktionierenden Gesellschaft, die längst nicht mehr weiss, was sie mit all den Insignien von Wohlstand und Konsumkraft anfangen soll. Jens Steiner schreibt aber weder mit Moralkeule noch Drohfinger. Er tut dies mit seiner unaufgeregten, verschmitzten Art. Während Jens Steiner seine Protagonisten das Geschehen im Recyclinghof beschreiben lässt, türmen sich tiefe Eindrücke des Paradoxen auf der Seite des Lesers. Ein grossartiges Buch über die Schieflage der menschlichen Existenz!

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman „Hasenleben“ (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis »Das zweite Buch« der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Letzter Roman „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“ erschien noch bei Dörlemann.

Jens Steiner liest am 28. Oktober 2017 im Rahmen des Bücherfestivals «Zürich liest» in der Buchhandlung Bücherparadies im Zürcher Seefeld.

Jens Steiner ist am 15. Januar 2018 Gast bei «Literatur am Tisch» in Amriswil! Diskutieren Sie bei Wein, Brot und Käse über seinen neuen Roman, sein Schreiben und sein Leben als «Hoffnungsträger». Anmeldung unbedingt erforderlich!

Titelfoto «So nahte» © Philipp Frei