Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche

Bleiben wir letztlich alle allein? Verspechen wir uns im Gefüge „Familie“ nicht viel zu viel? Katja Schönherrs Roman „Alles ist noch zu wenig“ erzählt aus dem „Kampfgebiet Familie“, von den Kollateralschäden permanenten Verdrängens und der Unfähigkeit, das Gegenüber zu akzeptieren. Ein Roman, der nichts beschönt!

Inge ist 84 Jahre alt und wohnt allein in einem Haus auf dem Land, in der ostdeutschen Provinz. Dass man sie fand, war dem Umstand zu verdanken, dass die Nachbarin Ulrike zwischendurch zum Rechten schaut. Oberschenkelhalsbruch. Inge liegt im Spital. Irgendwann wird sie zurückkehren müssen, in das Haus mit Treppe, zurück in ein Haus, das sie so für lange Zeit nicht halten können wird. Inge hat zwei Söhne, Jens und Carsten. Jens, zwei Jahre älter als Carsten, hat sich schon vor Jahren im Streit auf die andere Seite des Atlantiks abgesetzt, möglichst weit weg. Und Carsten lebt von seiner Ex getrennt in der Stadt und teilt das Sorgerecht für seine halbwüchsige Tochter.

Inge telefoniert Carsten. Sie braucht ihn. Auch wenn Carsten wie so oft eine Dienstreise vorschiebt, um dem zu entfliehen, was ihn an ein Leben kettet, dem er nicht wirklich entfliehen kann. Er lügt gegen seine Ex, seine Tochter Lissa, lästig werdende Liebschaften und seiner Mutter. Aber irgendwann steht er dann doch da, weil er der einzig Verbliebene ist und bringt seine Mutter zurück in ein Haus, das für Carsten zum Gefängnis wird. Zwischen ihm und seiner Mutter haben sich über die Jahrzehnte Mechanismen eingeschliffen, die nicht zu überwinden sind; sein permanent schlechtes Gewissen und ihre ewig schlechte Laune, sein linkisches Tun und ihre dauernde Unzufriedenheit.

„Mit Mutter zu reden, ist wie der Versuch, einen Beipackzettel nach dem Lesen wieder zusammenzufalten: Nie kriegt man es richtig hin.“

Katja Schönherr «Alles ist noch zu wenig», Arche, 2022, 320 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7160-2801-8

Carsten zieht während Lissas Ferien zusammen mit seiner Tochter ins Haus seiner Mutter, für ein paar Tage, höchstens einige Wochen. Weg von seiner Arbeit, einer Firma für Frischhaltefolien, einem perfekten Feindbild seiner zur Klimaaktivistin werdenden Tochter. Carsten spürt, wie sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zuzieht, eine Schlinge, die ihm den Atem nimmt, weil alles in seinem Leben zum Kampf geworden ist; die vergiftete Beziehung zu seiner handicapierten Mutter, zu seinem verlorenen Bruder, seiner hämischen Ex und seiner aufmüpfigen Tochter. Aber auch an seiner Arbeitsstelle spürt er eisigen Gegenwind. Erst recht jetzt, wo ihn seine Mutter zwingt, seinen Arbeitsplatz im Nirgendwo einzurichten, abgeschnitten von der Welt.

Was von Familie übriggeblieben ist, ist ein Trümmerfeld. Sein Bruder Jens haute damals ab, weil die Eltern nicht wahrhaben wollten, dass Jens anders war als die anderen Männer. Der Bruch seines Bruders damals war aber auch nur der letzte Schritt einer langen Leidensgeschichte, die sich auch in der Familie abspielte. Inge weiss um ihre Fehler, um ihre Schwächen. Carsten weiss es auch. Und Lissa spürt, dass nicht sie es sein kann, die die Felsbrocken und Trümmersteine ins Rollen bringt. Dass Carsten in seiner Verzweiflung und seiner beruflichen Not auch immer wieder die Hilfe der Nachbarin sucht, die mit einer sterbenden Mutter unter dem gleichen Dach genauso wenig vom Glück begünstigt wird, vertieft das Misstrauen zwischen Carsten und seiner Mutter Inge nur noch mehr. Nicht zuletzt darum, weil die Nachbarin einst ein Verhältnis mit ihrem Sohn hatte.

„Die Menschen bilden sich so viel ein auf ihr Sprechenkönnen, ihre Vorstellungskraft. Auf die Fähigkeiten, die sie angeblich wertvoller machen als jedes Tier. Und trotzdem bleibt ihnen ein wirkliches gegenseitigs Verständnis versagt.“

„Alles ist noch zu wenig“ beschreibt eine innerfamiliäre Pattsituation. Einen Ausnahmezustand, ohne sichtbaren Ausweg. Ein Kampfgebiet, das durch keine Friedenstruppe entwaffnet werden kann. „Alles ist noch zu wenig“ stellt die Frage, ob man als Sohn oder Tochter verdammt ist, um jeden Preis seinen „hinfällig“ gewordenen Eltern zu helfen. Ob man als Mutter oder Vater das uneingeschränkte Recht hat, Hilfe einzufordern, koste es, was es wolle. Niemand wählt sich seine Familie selber aus. Wie schafft man es, sich aus einer solchen Situation zu schälen? Reicht es, vom Gegenüber eine Veränderung, einen ersten Schritt, ein Entgegenkommen zu erwarten?

Katja Schönherr erzählt mit viel Empathie und grossem psychologischen Feingefühl. Sie schildert nicht auf Kosten ihrer Figuren, im Gegenteil. Ich als Leser leide mit. Man wünscht sich bei der Lektüre förmlich, die Protagonistïnnen anstossen zu können. Ihnen allen fehlt der Mut, über den eigenen Schatten zu springen, den ersten Schritt zu tun. Sie alle warten und harren, bis die Verwerfungen wie tektonische Platten Erdbeben verursachen. Sie alle stecken fest in ihrem Zorn.

Interview

Ihr Roman beschreibt auch den Knick innerhalb der Generationen. Inge wuchs in einer Zeit auf, in der es noch eine Selbstverständlichkeit zu sein schien, dass sich nachfolgende Generationen um die Verwandten kümmern. Inge sagt einmal „Wozu hat man denn Familie?“. Carsten und erst recht seine Tochter Lissa gehören der Generation an, die alles auf die Karten „Individualismus“ und „Selbstverwirklichung“ setzt. So wie Sippe einst eine Rückversicherung war, ist Familie heute bloss noch eine Form der Selbstverwirklichung?
Ich glaube, viele hadern damit, beispielsweise ihre pflegebedürftigen Eltern nicht selbst umsorgen zu können. Viele würden diese „Rückversicherung“ gerne sein. Aber die Lebensumstände machen es ihnen schlichtweg unmöglich: Man wohnt zu weit weg, man muss arbeiten, man zieht gerade die eigenen Kinder gross. Alle haben immer zu tun, niemand sieht Land in seinem Alltag.
Gleichzeitig sind die staatlichen Strukturen für die Versorgung bedürftiger Menschen alles andere als zufriedenstellend. Das Pflegepersonal ist zu knapp bemessen und unterbezahlt etc. 
Für Carsten ist klar, dass er seine Mutter nicht pflegen kann. Er ist dazu nicht bereit, und diese Abgrenzung steht ihm meiner Meinung nach auch zu. Aber er weiss auch, dass er das schlechte Gewissen gegenüber seiner Mutter nie wieder loswerden wird.

In Inge und Carstens Geschichte liegen Eiterherde verborgen, die nie aufbrachen, für die man nie den Mut aufbrachte hineinzustechen. Eiterherde, die zu Entzündungsherden wurden. Jens, Carstens Bruder, hat Reissaus genommen. Ein Schicksal vieler Familien, in denen sich Töchter, Söhne, Mütter oder Väter für ewig verabschieden. Was würden Sie jungen Eltern raten, wenn die Sie fragen, was sie tun müssten, um nicht in den Sümpfen einer Familiengeschichte steckenzubleiben?
Ich bin da nicht die beste Ratgeberin;-) Ich stecke ja selbst noch mittendrin in diesem Vorhaben, mit meinen Kindern nicht in irgendwelche ungesunden Muster zu verfallen.
Ich reflektiere zwar viel, aber das heisst nicht, dass es mir jedes Mal gelingt, innerhalb meiner Familie so besonnen zu handeln und geduldig zu reagieren, wie ich es eigentlich gerne möchte.
Das Wichtigste – wie in jeder Beziehung – dürfte aber eine offene Gesprächskultur sein. In der jede und jeder sagen kann, was sie oder ihn stört, was sie oder er braucht. Ausserdem sollte man sich entschuldigen können. Und: Ständiges Beleidigtsein (wie es Inge in meinem Roman tut, einfach, weil sie es nicht anders gelernt hat) ist etwas, das keine Beziehung zum Besseren verändert

„Niemand willigt in seine Geburt ein. Es handelt sich also um keinen Deal, den beide Seiten vorab untereinander ausgehandelt hätten. Deshalb schulden Kindern ihren Eltern nicht mehr, als sie jedem andern Menschen auch schulden: Respekt.“ Das proklamiert Lissa ihrem Vater Carsten gegenüber. Eine klare Ansage. So klar die Ansage oder auch ihre Absicht dahinter ist. Begriffe wie „Respekt“ können aber äusserst schwammig interpretiert werden. Oder nicht?
An diesen Punkt kommt ja auch Lissa: Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Was nützt es Lissas Grossmutter denn, respektiert zu werden, wenn gleichzeitig niemand in ihrem Umfeld bereit ist, so für sie zu sorgen, dass sie weiterhin daheim leben kann? Wenn alles darauf hinausläuft, dass sie in ein Heim muss, obwohl sie das überhaupt nicht will? Einen Wunsch, den wahrscheinlich alle nachvollziehen können.

Manchmal ruft meine Mutter an mit dem Kommentar, wenn ich nicht anrufen würde, dann müsse sie es eben tun. Ich gebe zu, ich rufe zu wenig an. Hier ein kleiner Funke permanent schlechten Gewissens, dort ein permanenter Funke leiser Enttäuschung. Ihr Roman erklärt nicht und will schon gar keinen „Lösungsweg“ präsentieren. Ihr Roman beschriebt und tut zuweilen weh. War das Schreiben ein Ordnen oder ein wilder Ritt ins Ungewisse?
Es war ein Ordnen. Ich wusste ziemlich genau, wo ich hinwill. Ich wollte diese drei Generationen (die 15-jährige Lissa, deren Vater Carsten und dessen Mutter Inge) nebeneinanderstellen. Wollte ihre Lebenswelten und Denkweisen zeigen, genauso wie das Fehlen einer gemeinsamen Sprache. Alle drei haben ihre Wünsche und Anforderungen, aber keine und keiner ist bereit, auch nur ein Stück davon abzuweichen. Kompromisse sind unmöglich.
Die Darstellung im Buch ist natürlich zugespitzt. Aber ich wollte damit aufgreifen, was ich gesamtgesellschaftlich beobachte: Dass jede Generation, jede Interessensgruppe nur an sich denkt, und das Aufeinanderzugehen immer schwieriger wird. 

„Alles ist noch zu wenig“ ist ein bestechend guter Titel. Wahrscheinlich hat Carstens Mutter in ihrem Leben alles gegeben. So wie Carsten. Sie wie seine Töchter Lissa es auch versucht. Bei den einen scheint es zu reichen. Bei den andern reicht es nie. Pech?
Der Titel war nicht meine Idee, sondern die des Verlags. Ich mag ihn auch und bin auch sehr glücklich damit, weil er für jede der drei Hauptfiguren steht. Für Inge ist es immer zu wenig Fürsorge, für Carsten ist es immer zu wenig Freiheit, und für Lissa ist es angesichts der Klimakrise und diverser internationaler Konflikte zu wenig Zukunftsperspektive.

Katja Schönherr, geb. 1982, ist in Dresden aufgewachsen. Sie hat Journalistik und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig studiert sowie Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Ihr erster Roman «Marta und Arthur» wurde 2019 von der Presse hochgelobt. Er war in Deutschland für den Klaus-Michael-Kühne-Preis als bestes Romandebüt nominiert und in Frankreich für den Prix Les Inrockuptibles als bestes ausländisches Buch. 2020 nahm Katja Schönherr am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil. Sie lebt als Journalistin und Schriftstellerin in der Schweiz. Der Kanton und die Stadt Zürich haben ihre Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet und gefördert.

Beitragsbild © Suzanne Schwiertz