Jochen Veit «Mein Bruder, mein Herz», Arche

Benno und Stephan sind Brüder. Als der 13 Jahre jüngere Benno an den Folgen eines Zeckenbisses erkrankt und sein Kopf, aber nicht sein Lebenswille durch den Schmerz zu zerreissen droht, wächst zwischen den Geschwistern ein Band, das selbst durch das Verschwinden der Eltern und einen schrecklichen Verdacht nicht durchschnitten wird.

Was der junge Jochen Veit als Erstling vorlegt, ist beeindruckend, in jeder Hinsicht. Jochen Veit erzählt eine Geschichte, viele Geschichten in einer, ohne eine der Geschichten zu Ende zu erzählen. Jochen Veit will mit seinem Erzählen nicht klären, schon gar nicht erklären. Es geht ihm um das Geheimnis an sich; das Geheimnis einer Bruderschaft, die durch schwierige Zeiten gestählt ist, das Geheimnis in einer Familie zwischen Kindern und Eltern, die sich voneinander entfernen, das Geheimnis von Mutter und Vater, die sich eines Tages ganz entfernen und verschwinden, das Geheimnis einer Gegend, in der Landschaft viel mehr ist als Kulisse, ein Baum nicht einfach ein Baum, ein Haus nicht bloss ein Haus. Jochen Veit spielt mit den Genres; dem Heimatroman, dem Krimi, dem Horror, der Traumgeschichte, die abzudriften droht, dem Rückkehrerroman. Und das alles in bestechender Sprache, den permanenten Zwiespalt erzeugend, ob man versteht oder nicht, mit grosser Geste in kleinen Räumen und Sätzen, die mich mit Entzücken zwingen, sie noch einmal zu lesen.

Stephan ist in die Stadt gezogen, hat sich Monate, Jahre nicht mehr bei seinem jüngeren Bruder gemeldet, mit dem ihn einst nicht nur Bruderschaft verband, sondern gemeinsam überstandener Schmerz, sei es jener einer einschneidenden Krankheit, oder der Schmerz, das zu vermissen, was die Eltern nicht zu schenken vermochten; Zuwendung, Liebe, Anwesenheit. Es ist nicht nur der Alp einer schlimmen Krankheit, der Keile in die Familie trieb. Irgendwann verschwanden die Eltern, blieben für immer weg, hinterliessen zwei Brüder zusammen mit Alfred, einem alten Freund der Familie, der sich den beiden Jungen annahm, hinterliessen ein Geheimnis, das Stephan nicht mehr mittragen wollte und konnte. Kaum erwachsen ertrug Stephan die mit Mühe aufrecht gehaltene Idylle des Schwarzwaldes nicht mehr. Die Schwärze des Waldes hatte seine Eltern geschluckt. Der Hund mit Namen Cadejo (in der zentralamerikanischen Folklore ein hundeähnlicher Geist aus der Nacht) vermochte die Brüder nicht mehr zu schützen.

Irgendwann kommt er aber doch zurück. Nicht zuletzt gerufen von Alfred, der sich immer mehr über den mittlerweile erwachsen gewordenen Benno wundert, über seine Ausbrüche, seine Anspielungen. Alfred bittet Stephan flehentlich, ins Haus seiner Eltern zurückzukehren, weil er glaubt, dass ein schreckliches Geheimnis aufzubrechen droht, zurück in ein Haus, einen Garten, ein immer offensichtlich leerer werdendes Dorf, in eine Landschaft, die Stephan vor Jahren zur Flucht zwang. In ein Leben, das seit dem Verschwinden der Eltern unmöglich geworden war.

Jochen Veit rüttelt mit seinem Roman „Mein Bruder, mein Herz“ an den Urängsten eines jeden; dass Eltern spurlos verschwinden, dass Eltern ihre Kinder willentlich zurücklassen, über die Unmöglichkeit Familienbande, Bruderschaft zu kappen. Was in der Kindheit wächst und durch Schicksal gehärtet wird, lässt sich nicht einfach vergessen, amputieren.

„Mein Bruder, mein Herz“ hallt unweigerlich im eigenen Erleben nach. Jochen Veit hat Sätze geschrieben, die sich eingraben, eine Geschichte, die erfrischend verunsichert, ein Buch, das wörtlich begeistert und eine Art des Schreibens, die viel für die Zukunft verspricht! Einen Roman, der vieles offen lässt, vieles bloss in eine Richtung zu rollen anstösst, der mir Leser einiges abverlangt.

„Wir sind alle endgültig alleine.“

Ein Interview mit Jochen Veit:

In ihrem Roman geht es letztlich um Familie und um das, was sie zusammenhält, selbst dann, wenn Eltern verschwinden. Sie spielen mit Gegensätzen; auf der einen Seite die Bilderbuchlandschaft des Schwarzwalds, ein Dorf, ein Haus, ein Garten – auf der andern Seite der verwilderte Garten als Metapher der Familie selbst, leere, verlassene Häuser, ein Hund mit Namen Cadejo. Die Krankheit von Benno, als er ein Kind war und an dieser zu sterben drohte und ein nicht einzuordnender Husten seines grossen, älteren Bruders, das Offenbare und das Verborgene. Wo liegt das Epizentum ihres Romans?

Als ich überlegt habe, wie ich auf diese Frage antworten soll, habe ich mich ein bisschen durchs Internet geklickt und gelernt, dass Erdbebenherde (Hypozentren) nicht eigentlich punktuelle Brüche der Erdkruste sind, sondern (Bruch-)Flächen. Bei besonders gravierenden Erdbeben können sich diese über etliche Kilometer erstrecken. Das Epizentrum wäre dann der Ort, an dem diese Bruchflächen ihre Wirkung an der Oberfläche zeigen. Das müsste die Konfrontation der beiden Brüder sein – während die Bruchflächen unter ihnen sich kilometerweit erstrecken und auch die Katastrophe nicht am Ort dieser Konfrontation eingesperrt werden kann.

Zeitlich ordne ich ihren Roman in nicht allzu ferner Zukunft an, ohne dass ich ihren Roman in die Schublade „Dystopie“ stecken könnte. Die beschriebene Gegenwart bröckelt. Und genau diese Tatsache fasziniert. Sie entziehen sich mit ihrem Buch einer Einordnung. Es scheint ihnen nur vordergründig um eine Geschichte zu gehen. Viel mehr um all das, was sich weder erzählen noch erklären lässt. War das von Beginn weg Plan?

Das ist eine sehr freundliche Einschätzung. Ganz zustimmen würde ich allerdings nicht, die Geschichte ist wichtig. Ich finde, man sollte im 21. Jahrhundert nicht so schreiben, als hätte es die Postmoderne nicht gegeben: Spannung kann auch faszinieren, insbesondere wenn sie nicht zu einfach gestrickt ist. Insofern war gerade diese Kombination von Beginn an der Plan, d.h. den ‹Plot› zu erzählen und zu den Bruchflächen vorzudringen.

Ihr Roman strotzt vor Andeutungen. Einmal fällt der Nebensatz „wie diese drecksverdammten Nazieltern es verdient hätten“. Eine Andeutung, die nie wieder aufgenommen wird, die mich als Leser stehen lässt, verunsichert. Eine Eigenschaft ihres Romans, die man ihnen leicht vorwerfen könnte, dabei aber nur die unmittelbare Nähe des Erzählers schildert, so wie jeder in seinem Erzählen dauernd andeutet und niemals alles zu einem Ende erzählen kann. Wie sehr war der Roman ein Kampf mit einer Lektorin oder einem Lektor?

Glücklicherweise gab es eigentlich gar keinen Kampf mit meiner Lektorin, es war viel mehr eine sehr gründliche Detailarbeit. Das lag wohl daran, dass sie das ästhetische Programm des Romans durchblickte und dann innerhalb dieses Rahmens ihre Anmerkungen vorgenommen hat. Der Nazi-Ausruf Bennos korrespondiert mit einigen anderen Textelementen, auch wenn diese Andeutung in Bezug auf die Eltern tatsächlich nicht auserzählt wird. Man muss aber auch bedenken, wie das Wort «Nazi», gerade wenn ein Jugendlicher spricht, heute verwendet wird.

Ein Prolog, zwölf Kapitel, ein Epilog. So wage manch ein Erzählstrang, so klar die Struktur. Sie scheinen jemand zu sein, der Ordnung liebt, auch wenn inhaltlich nicht „aufgeräumt“ wird. Ist Schreiben nicht stets eine Form des Aufräumens?

Ab einem gewissen Zeitpunkt: ja. Aber der Anfang ist chaotisch, weil Kreativität eine chaotische, zerstörerische Kraft ist. Irgendwann aber muss sie gelenkt werden, sonst kann kein stimmiger Text entstehen. Ich selbst habe den Roman nicht linear geschrieben, das Ende war sogar einer der Textteile, die ich schon relativ früh fertiggestellt hatte.

Die Erzählstimme berichtet von Stephans Rückkehr an den Ort seiner Kindheit. In dem Masse wie er zurückkehrt und eintaucht, verliert er den Kontakt zu seinem Leben in der Stadt, zu seiner Freundin Nina, mit der er nur auf einem Hügel über dem Dorf via Mobilephon Kontakt aufnehmen kann. Muss man sich entscheiden zwischen Familie und neuem Leben? Zwischen Altem und Neuem?

Ich habe eine Zeitlang behauptet, ich hätte meinen Studienort ausgewählt, indem ich einen Zirkel in mein Heimatdorf gesteckt und einen Kreis von 200km (im Massstab) darum gezogen hätte. Das habe ich natürlich nicht, aber ich denke, ein bisschen Abstand kann nicht schaden, um sich von seinen Wurzeln zu emanzipieren. Das gehört wohl zum Erwachsenwerden und kann eigentlich nur gut sein für das Verhältnis zur eigenen Familie. Stephan fehlt hier das Mass, erst stürzt er sich rücksichtslos ganz ins Neue, dann kehrt er zurück, gepeinigt von seinem schlechten Gewissen, weil er den Kontakt mit dem jüngeren Bruder hat schleifen lassen – und das führt ihn in den Untergang.

© Vera Thielen

Jochen Veit wurde 1992 geboren. Er studierte Philosophie und Komparatistik in Mainz und Wien. Im Jahr 2016 war er Stipendiat der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung in Edenkoben und 2018 nahm er am Literaturkurs in Klagenfurt teil. Seine Texte erschienen in mehreren Literaturzeitschriften und Anthologien, u.a. in KRACHKULTUR und STILL. Er lebt in Köln.

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Beitragsbilder © Jochen Veit