Rebecca Gisler «Vom Onkel», Atlantis

Ein neuer Name auf der literarischen Bühne – ein Name, den ich mir merken werde – ein Name, mit dem sich Grosses entfalten kann. Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!

Klar, ein Debüt soll verblüffen. Schliesslich nimmt man mit jedem neuen Namen, der ein Buch ziert die Hoffnung mit, einem aufsteigenden Stern zuzusehen. Keiner Sternschnuppe, sondern einem neuen Fixstern im Meer der vielen kleinen und grossen Lichter am Bücherhimmel. Manchmal, aber eher selten passiert das. So erinnere ich mich an die Erstlektüre von Markus Werners Debüt „Zündels Abgang“ (1984), der mich als Lehrer doppelt bewegte, oder an Ruth Schweikerts „Erdnüsse. Totschlagen“ (1994) Erzählungen aus dem Epizentrum Familie, den ich als Vater einer wachsenden Familie mit einer ordentlichen Portion Verunsicherung las.

„Vom Onkel“ ist als Geschichte schnell erzählt. Der Onkel, noch nicht einmal sechzig, wohnt in einem kleinen Haus an der französischen Nordküste. Weit ab vom Schuss. Der Onkel ist aber nicht nur örtlich weit ab vom Schuss, sondern in seiner ganzen Art, wie er das Leben nicht meistert. Es geht ihm schlecht. Und weil Nichte und Neffe, als sie Kinder waren und die Grossmutter noch lebte, immer wieder Ferien in dem Haus am Meer machten, entschliessen sich die beiden, mehr oder weniger ungefragt in das weisse Haus mit den blauen Läden zu ziehen. Sie ins Zimmer neben dem Onkel, er in einen Teil der Garage. Eine Art Wohngemeinschaft an der bretonischen Küste. 

Rebecca Gisler «Vom Onkel», Atlantis, 2022, 144 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-7152-5003-8

Das Leben des Onkels ist ein einfaches. Seine Arbeit als Gärtner hat er aufgegeben. Er sitzt in seinem Haus, schaut fern, ernährt sich von Schokokeksen und Wurstschnitten, bewegt sich allerhöchstens mit seinem Mofa bis zum nächsten Supermarkt und reisst sich auch zur Körperhygiene kein Bein mehr aus. Nichte und Neffe beginnen eine langsame Annäherung an einen Onkel, der sich eigentlich schon lange verabschiedet, aufgegeben hat. Ebenso ist es für Nichte und Neffe eine Annäherung an sich selbst, an die Frage, was aus ihrem Leben noch werden soll, was im Leben wichtig ist, wofür es sich lohnt. „Vom Onkel“ erzählt von einem Mann, dem das Tempo des Lebens immer zu schnell war, der sich abhängen liess, der es nie schaffte „auf eigenen Füssen zu stehen“. Solange Grossvater und Grossmutter noch da waren, hatte er seinen Platz, später zieht er sich immer mehr in ein Leben zurück, dass mit den anderen und mit anderem nichts mehr zu tun haben will. Bis der Gesundheitszustand des alten Mannes dramatische Dimensionen annimmt.

Aber eben – es ist nicht die Geschichte. Das hätte auch für eine Erzählung gereicht. Was den alles überragenden Reiz dieses Buches ausmacht, ist die überbordende Kraft der Sprache. Die langen Sätze, die sich wie Schlingen um mich als Leser winden, die aber nie krampfhaft einem Plan folgen, einer Absicht, die nichts beweisen müssen. Dass es Rebecca Gisler schon mit ihrem Debüt schafft, mich derart zu verblüffen, in vielfacher Weise hochstehend zu unterhalten, ist selten genug. Mag sein, dass die einen bemerken: Lange Sätze komplizieren nur! Aber bei Rebecca Gislers Erstling eben nicht. Sie schmeicheln mir. Es sind spielerisch, leichte Satzgirlanden, die mich manchmal veranlassten, einen Abschnitt ein zweites Mal zu lesen, um es noch einmal zu geniessen.

Ein erstaunliches Debüt in einem Verlag, der sich mit diesem Buch vielversprechend bemüht aus der Asche seiner grossen Geschichte zu steigen!

Interview

Waren zu Beginn einzelne Bilder, gar Textpassagen, die sich erst mit dem Schreiben zu einem grösseren Gebilde fügten? Oder war das ganz banal auch der Wunsch, „eine Geschichte zu erzählen“?
Tatsächlich war zu Beginn vor allem die Figur des Onkels. Mehr als den Wunsch, eine Geschichte zu erzählen, gab es den Wunsch, den Onkel zu erzählen, ohne genau zu wissen, wohin das führen soll. Was mich persönlich am meisten interessiert beim Schreiben und am Lesen, sind die emotionalen Eindrücke, die ein Text hinterlässt, Sprachbilder, die aneinandergereiht so etwas wie eine Geschichte ergeben können und weniger der Wunsch danach, etwas (nach) zu erzählen. Ich denke, dass ein Text seine Sprache erfindet, genauso wie die Sprache den Text erfindet. In „Vom Onkel“ widerspiegelt die Sprache die Figur des Onkels und umgekehrt: Eine Psychologie, die vor allem durch Gesten und Körper entsteht, eine Abfolge von beobachteten Tatsachen in einfacher Sprache. 

Lange Sätze, die schmeicheln, die sich wie Sprachmelodien über eine ganze Seite ziehen. Ich erinnere mich an einen meiner Deutschlehrer, der uns stets ermahnte, kurze Sätze zu schreiben, uns nicht zu verheddern. Genau dieses Verheddern passiert Ihnen nie. Gelingt Ihnen das leicht? Wie arbeiten Sie an solchen Sprachgefügen, damit sie so leicht bleiben?
Ich glaube, dass diese langen Sätze viel damit zu tun haben, dass ich das Buch zuerst auf Französisch geschrieben habe. Der Wechsel der Schreibsprache, das Übertragen ins Deutsche aus dem Französischen, das meine Muttersprache ist, eine Familiensprache und damit vor allem eine mündliche Sprache, hat, glaube ich, viel dazu beigetragen, dass diese Figur und diese Sprache entstanden sind. Ich fühlte mich anfangs beim Schreiben auf Französisch viel weniger wohl als beim Schreiben auf Deutsch. Die französische Sprache, die ich in gewisser Weise auf eine naivere Art benutze, hat mir geholfen, mich von einer „korrekten Grammatik“ zu befreien, mit der ich das Deutsche verband, mit der Sprache als Material zu spielen, sie zu einer wirklich subjektiven Erfahrung zu machen, die manchmal roh, manchmal unkorrekt ist und eine grosse Anzahl von Einflüssen mit sich bringt. 
Als es dann darum ging, den Text ins Deutsche zu übertragen, habe ich versucht die Sprache so gut wie möglich anzupassen. Wobei ich sagen muss, dass ich die Sätze in der deutschen Fassung teilweise kürzer halten musste, wahrscheinlich ebenfalls aus dem Grund, dass die deutsche Sprache meine Schulsprache ist und war, die ich anders gelernt habe als die französische. 

Der Onkel ist ein Sonderling, das, was man heute Messie nennt. Ein Mann zieht sich zurück, schliesst sich ein, müllt sich zu. Ein Phänomen, das ganze TV-Dokus füllt und ZuschauerInnen mit Gänsehaut zusehen lässt. Der Onkel in Ihrem Roman offenbart sein Geheimnis nicht. Ihnen geht es nicht um Erklärungen. Dabei ist in einer Zeit wie dieser der Rückzug zumindest aus meiner Perspektive nicht die letzte Option. Ist Schreiben auch ein Rückzug?
Definitiv. Ich merke selber, dass Schreiben und Lesen, fast die einzigen Orte in meinem Alltag sind, in denen ich frei imaginieren kann. In diesem Sinne ist Schreiben ein Rückzug, aber keineswegs ein Rückzug von der Realität oder von menschlichen Kontakten, sondern viel eher ein Ort des Denkens und des Beobachtens von Realitäten. Teilweise, und das ist der Punkt, an dem ich tatsächlich das Gefühl habe, zu schreiben, verschwinde ich hinter dem Schreiben, als ob sich der Text von alleine schreiben würde. Vielleicht ist das mit der Figur der Ich-Erzählerin vergleichbar, deren Rolle es ist, den Onkel zu beobachten, während sie selbst hinter diesem Beobachten verschwindet. Der französische Autor Jean-Pierre Martinet meinte sogar, dass die Literatur ein Zufluchtsort für Nichtsnutze sei. Das finde ich auch schön.

Der Onkel ist auch ein „Pendler“, sein Pendel das einzige, was er bei seinem unfreiwilligen Verlassen des Hauses mitnahm. Nimmt einem das Handeln die Last der Entscheidung? Hat sich der Onkel je entschieden? Etwas, was man von uns in der Gesellschaft permanent abverlangt.
Ich denke, der Onkel ist eher unversöhnlich, oder besser gesagt; er hat sich nie versöhnt (mit der Gesellschaft, wohlgemerkt). Das macht ihn wahrscheinlich zu einem glücklichen Charakter. Weil sein ungewöhnlicher Charakter ihn vor einigen allgemeinen Formen der Entfremdung schützt. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob sein Schicksal beneidenswert ist, und ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um nicht in das Klischee des glücklichen Verrückten zu verfallen. Zunächst einmal habe ich darauf geachtet, mich an die Beobachtung zu halten, und dabei kam heraus, dass die Handlungen des Onkels, selbst die irrationalsten, einer ziemlich unerbittlichen Logik folgten, nämlich seiner eigenen, die in keiner Weise weniger logisch ist als unsere. In dieser Hinsicht stellt er meiner Meinung nach eine Herausforderung an die Norm dar. Er ist gleichzeitig sehr isoliert in der Gesellschaft und sehr nah an ihr dran. 

Warum haben Sie es vermieden, ihren Figuren Namen zu geben?
Figuren, die keine Namen haben, tragen etwas Ungreifbares mit sich und leben von ihren Funktionen in dieser freien Familienlegende, in der die Rollen nicht klar definiert sind. Ich glaube, dass diese Freiheit hier zum grossen Teil von der Verwandtschaftsbeziehung zwischen dem Onkel und seinem Neffen bzw. seiner Nichte herrührt. Es ist ein Verhältnis, das man im Gegensatz zu dem, das uns beispielsweise an unsere Eltern bindet, nicht aufrechterhalten muss und das daher weniger psychologisch belastet ist. Das hat mir eine gewisse Loslösung ermöglicht. Wenn man sich von den Affekten befreit, kann man sich auf das konzentrieren, was vom Klatsch übrig bleibt, der übrigens immer fragwürdig ist und daher, wie mir scheint, die Imagination begünstigt. 
Zu Beginn des Schreibens von «D’oncle» habe ich oft über das Thema der Verantwortung nachgedacht, die die Nichte und der Neffe gegenüber ihrem Onkel haben würden, aber ich habe schnell festgestellt, dass dies eine falsche Fährte war: Die Nichte und der Neffe haben in Wirklichkeit keinerlei Verantwortung gegenüber ihrem Onkel, sie sind völlig frei, nicht bei ihm zu bleiben. Ich hatte dieses Gefühl, dass die Verwandtschaftsbeziehungen erschüttert oder ausgelöscht wurden, und es war, als hätte der Onkel die Erzählerin letztlich zum Leben erweckt.

Dieses Haus am Meer. An der bretonischen Küste. Ein Sehnsuchtsort, ein Ort, an dem sich alles niederschlägt, alles liegen bleibt. Ein kleines, weisses Haus, mit blauen Fensterläden. Und doch hat das Haus in Ihrem Roman so gar nichts Romantisches. Das Haus als Kontrast zu Ihrer Sprache?
Ich weiss nicht, ob ich meine Sprache in „Vom Onkel“ als romantisch bezeichnen würde. Vielmehr widerspiegelt sie die Figur des Onkels, wie auch das Haus und die Umgebung, in denen der Onkel lebt. Ein rissiges mit Efeu überwachsenes Haus, welches im Gegensatz zu den anderen Häusern im Dorf, durch seine „unschöne“ Art heraussticht. 
Die Sprache musste sich einfach an den allgegenwärtigen organischen Rhythmus anpassen. Das ist ein Grundprinzip der Erzählung und daher ist es auch kein Zufall, dass sie mit der Szene des Verschwindens in der Toilette beginnt. Mich interessieren diese unterschwelligen, viszeralen Rhythmen, die sich zwangsläufig irgendwo in der Sprache wiederfinden. Aber schlussendlich kann man auch sagen, dass all das Unromantische oder Unschöne, sollte es ein Gefühl für die Welt hervorrufen, für mich das Gefühl ihrer Schönheit wäre, der Schönheit ihrer Wildheit und manchmal auch ihrer Grausamkeit. 

Rebecca Gisler, geboren 1991 in Zürich, studierte von 2011 bis 2014 am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und absolvierte anschliessend den Master-Studiengang Création littéraire an der Universität Paris. Sie schreibt auf Deutsch und auf Französisch; Veröffentlichungen von Lyrik und Prosa in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien; Mitorganisatorin der Reihe «Teppich» im Literaturhaus Zürich. Ihr Debütroman «Vom Onkel», den sie auf Französisch und auf Deutsch verfasst hat, erschien im Herbst 2021 unter dem Titel «D’oncle» in Frankreich und wurde für mehrere Literaturpreise, u.a. für den Prix Les Inrockuptibles, nominiert. Mit einem Auszug aus der deutschen Fassung gewann sie 2020 den Open Mike in Berlin. Rebecca Gisler lebt in Zürich und Paris.

Beitragsbild © René Ruis

Julia Schoch «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau», dtv

Sind Sie sich sicher? Beschleicht Sie manchmal der Zweifel? Hatten Sie als Kind auch jenen Moment, an dem sie mit einem Mal die Sicherheit verloren, ob jene Frau und jener Mann wirklich Mutter und Vater sind? Julia Schoch beschreibt in „Das Vorkommnis“ einen Moment, der das Gravitationsfeld eines ganzen Lebens verschiebt.

Ihre Protagonistin ist Schriftstellerin, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Das Leben nimmt seinen Lauf, ist geregelt, auch wenn ihr Vater im Krankenhaus liegt und es den Anschein macht, als würde er nicht von dort zurückkehren. Nach einer Lesung im Kulturhaus einer norddeutschen Stadt tritt eine Frau an ihren Tisch, schiebt ihr Buch zum Signieren hin und während die Schriftstellerin zu schreiben beginnt, fällt der Satz: „Wir haben übrigens denselben Vater.“ Der Füller entgleitet und zieht eine Line quer durch die Seite. Ein Schock. Aber statt in Starre zu verfallen angesichts jener, die noch auf eine Signatur warten, steht sie auf und fällt der wildfremden Frau schluchzend um den Hals.

«Familie ist Fiktion.»

Eine Zäsur. Julia Schochs Roman dreht sich um diesen einen Moment, erzählt von den Kurzzeit- und Langzeitfolgen, beschreibt die Tsunamiwelle und deren Auswirkungen, wie sehr sich Sicherheiten in Verunsicherungen drehen, wie ein Leben im Konjunktiv zu wanken beginnt, wie sich ein einziger Satz zu einer Wolke verdichtet, die alles einnimmt. Obwohl sie wusste, dass ihr Vater vor seiner Heirat mit ihrer Mutter eine Beziehung hatte, aus der ein Kind hervorging, erschüttert sie die Begegnung bis ins Mark. Obwohl da vor langer Zeit einmal ein Zettel war, den die Mutter in der Jacke des Vaters fand, ein Zahlungsnachweis für Alimente, reisst der Satz einen schweren Vorhang herunter, den man in der Familie mit Bedacht über dieses eine Kapitel gehängt hatte. Aber wie in allen Biographien, in allen Leben; das eine macht man zur Familiengeschichte, immer und immer wieder erzählt und zelebriert. Und anderes schiebt man in dunkle Winkel, bemüht darum, dass sie nie mehr in den Lichtschein einer unbedachten Aufmerksamkeit geraten.

Julia Schoch «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau», dtv, 2022, 192 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-423-29021-0

Gegen Aussen bleibt sie die Alte, nimmt eine Einladung einer us-amerikanischen Universität an uns fliegt mit den beiden Kindern und der Mutter in die Staaten. Mutter und Vater sind längst geschieden. Sie doziert, schreibt und lebt sich im Campus ein. Aber innerlich brodelt es, nimmt die Tatsache, dass sich jene Frau aus dem Dunkel des Vergessens traute, jede einzelne Faser ihres Denken und Handelns ein. Da ist ein Leben, das ihr verborgen bleibt. Eine Halbschwester. Eine andere Mutter, die dieses Kind damals zur Adoption freigab, es weggab. Ein Vater, ihr Vater, der sich dem Kind verweigerte. Ein Vater, den sie nicht mehr stellen konnte, der sich von ihr durch seine Krankheit, sein Alter entfernte. Julia Schoch beschreibt diese Familie als Quadrat mit ziemlich langen Seiten. Aber mit einem Mal ist dieses Quadrat aufgerissen, ein Fundament ihres Seins weggerutscht. Während sich ihre Eltern auf ganz eigene Art der Auseinandersetzung entziehen, werden die Erzählende und ihre Schwester durch Zustände getrieben, die alle Sicherheiten zerbröseln lassen.

Wir verdrängen und vergessen permanent. Wie beschönigen die Vergangenheit, verklären die Sicht auf unsere Herkunft. Ein Vorgang, der bei der Nachkriegsgeneration durchaus verständlich und vielleicht sogar zum Weiterleben notwendig war. Julia Schochs Protagonistin ist Schriftstellerin, per se eine Person, die zwischen Realität und Fiktion changiert. Und wenn dann ein Ereignis hereinbricht, dass Selbstverständlichkeiten erschüttert, dann bricht ein Sturm los.

Julia Schochs Roman ist kein Protokoll der Geschehnisse. Auch keine Suche nach der Herkunft, ein Geschichte, die klären will. „Das Vorkommnis“ ist eine Auseinandersetzung mit der Auseinandersetzung. Sie spiegelt unseren Umgang mit Vergangenheit, mit Wahrheit, mit Sicherheiten. Julia Schochs Roman reisst mich mit und überzeugt mit der Intensität dieser Auseinandersetzung, ohne irgendwann theoretisch oder abgewandt zu sein. So nah ihr Roman der Protagonistin, ihrer Innenwelt bleibt, so seltsam fern bleiben ihre Kinder, ihr Mann, ihre Mutter und ihr Vater. „Das Vorkommnis“ ist eine Spiegelung, ein Kaleidoskop!

Interview

Da ist dieses Ereignis, diese Frau bei jener Lesung, die Offenbarung, das Geheimnis, das nicht wirklich eines ist. Aber auf dem Buchumschlag des ersten Teils ihrer entstehenden Trilogie steht auch noch „Biographie einer Frau“. Der Titel als Hinweis auf die Handlung, der Untertitel darauf, dass der Hintergrund absolut kein singulärer ist?
In allen drei Büchern geht es um Frauen, die Abschied nehmen von bestimmten Vorstellungen von Familie und sich arrangieren müssen mit einer neuen Version ihres Lebens. So, wie man das Leben, die Liebe oder andere Menschen bisher gesehen hat, ist es nicht mehr – die eigene Geschichte muss revidiert werden. Das ist ein oft schmerzhafter Prozess. Man begreift, wer man bisher war, was einen ausgemacht hat, was man für selbstverständlich hielt und was nun nicht mehr selbstverständlich ist und wovon man sich lösen muss. Manchmal geschieht so etwas abrupt, manchmal auch allmählich. Dann ist man wie zu Gast im eigenen Leben. Ich glaube, früher oder später ist jeder Mensch in so einer Situation: Plötzlich sieht man klarer. Die Frage ist, wie wir das einbauen in unser Bild von der Welt oder von uns selbst. Wenn es speziell um das Thema Familie geht, sind es oft Frauen, die sie bauen, sie zusammenhalten, bestimmte Vorstellungen weitertragen und vielleicht auch abhängiger sind von dieser Konstruktion, weil sie so viel Anteil daran haben. 

Ich kenne diesen Moment, wenn durch eine tektonische Verschiebung innerhalb einer Familie das Gravitationsfeld durcheinandergerät. Meist stirbt jemand weg. In Ihrem Roman taucht jemand aus dem Vergessen auf. „Familie ist Fiktion“, schreiben Sie. Ein Satz, der Wirkung zeigt. Wo wir doch noch immer mit dem Statement leben „Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft“. Ist Familie überbewertet?
Egal, ob wir sie als überbewertet empfinden oder nicht, sie schreibt sich von der Geburt an in unser Leben ein. Unsere Herkunft macht uns klar, was wir erwarten dürfen im Leben, worauf wir uns verlassen, welche Wünsche sich lohnen, was wir unter keinen Umständen wiederholen wollen etc. Wir können uns natürlich lösen, wir können es leugnen, verdrängen, wir können das Gegenteil machen, eigene Modelle entwickeln. Aber auf jeden Fall legt sie Spuren in die Zukunft, mal sind es Schnellbahnen, mal holpriges Pflaster. Der Satz im Buch bezieht sich auch darauf, dass wir bestimmte Vorstellungen von den einzelnen Mitgliedern der Familie haben. Wir weisen ihnen Funktionen zu, haben bestimmte Erwartungen an sie, wir malen uns ein Bild. Das alles sagt oft mehr über uns selbst aus als über die anderen. Was den ‚Grundpfeiler‘ betrifft: Manchmal habe ich den Eindruck, in Ermangelung anderer sinnstiftender Gruppen oder „Verbände“, die Visionen in uns entfachen könnten, sind wir oft sehr zurückgeworfen auf die Familie. Es gibt ja auch ganz andere Modelle in der Welt, wie der/ die Einzelne in einem positiven Sinn geprägt und gehalten werden kann. Aber nach den unterschiedlichsten Zusammenlebensutopien des 20. Jahrhundert ist in der westlichen Welt die Familie als Kernzelle „irgendwie übriggeblieben“.   

Ihr Roman setzt sich sehr mit dem Prozess des Schreibens auseinander. Einmal lassen Sie Ihre Protagonistin sagen: „Schreiben ist eine Art der Verdrängung, immer.“ Stimmt Julia Schoch der Protagonistin zu?
Ja, die Gedanken kommen natürlich aus mir. Es gibt die eine Wahrheit nicht, die man schreibend zutage fördern könnte. Ich nähere mich an, weiss immer schon, dass es auch wieder nur eine Version ist. Die eine geschriebene verdrängt sozusagen hundert andere.

Alle leben in einer Geschichte, in der Geschichte. Wir hüten sie, wir bauen sie. Und wir korrigieren, oft unbewusst. Vielleicht ist der Begriff „Wahrheit“ noch nie so durchscheinend gewesen wie in der Gegenwart. Erschütterungen lassen wir nur ungerne zu. „Das Vorkommnis“ ist die Auseinandersetzung mit Erschütterungen. Warum stellt sich der Mensch solchen so ungern?
Wir richten uns ein in bestimmten Geschichten von uns selbst. Sie stabilisieren uns. Familiengeschichten sind eine Art ‚symbolische Verankerung‘ in der Welt, ganz unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sind. Sogar abwesende Familien haben Prägungskraft. Diese symbolische Verankerung ist weitaus bedeutender als eine materielle. Weil sie etwas darüber erzählt, wer wir sind. Diese Erzählungen sind ein Urbedürfnis des Menschen. Aus dem Grund halten wir es auch für fatal, wenn wir unser Erinnerungsvermögen verlieren. Wir verlieren ohne diese Geschichte, also eine erinnerte Konstruktion, fast jeden Halt.

Das Personal in ihrem Roman bleibt blass. Eine Feststellung, die ich bei anderen Romanen als Kritik aussprechen würde. Bei Ihrem Roman ist das anders. Selbst die Kinder der Protagonisten haben nicht einmal Namen. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Eine heikle Erzählrichtung, weil ich Nabelschauen nicht mag. Aber Ihr Roman ist auch bei weitem keine Nabelschau. Wie sind sie beim Schreiben vorgegangen und welches waren die Eckpfeiler des Erzählens?
Ich war selbst verwundert, warum mich das Thema so aufgewühlt hat. Auch das wollte ich erforschen. Da taucht ein neues Familienmitglied auf – wieso wirft einen so was aus der Bahn? Schliesslich leben wir in einer Zeit, in der es fast keine Tabus mehr gibt in Sachen Liebe oder Familie. Unabhängig von meiner persönlichen Geschichte wollte ich herausfinden, mit welchen Vorstellungen von Familie, also von Verwandtschaft und Herkunft, wir leben. Und als ich anfing, darüber nachzudenken, und auch andere dazu befragt habe, bestätigte sich für mich die Notwendigkeit, über mein Unbehagen zu schreiben, denn andere hatten es auf ihre Weise auch. Mir ist beim Schreiben des Buches auch nochmal klar geworden, wie sehr Familien, also kleine Gesellschaften, gewebe-artig zusammenhängen, da ist nichts isoliert, alles ist mit allem verwoben, wir können diese Tatsache eine Zeitlang ausblenden, aber dadurch wird sie nicht hinfällig. 

Das Buch ist aber kein klassisches Familienepos und auch keine Abrechnung. Ich wollte einfach sehr genau beschreiben, was dieser Vorfall mit einem macht. Die einzelnen Stufen dieser Erkenntnis genau sezieren. Was ist los, wenn man feststellt: mein bisheriges Bild von mir, meiner Vergangenheit, den Personen, mit denen ich zusammenlebe, stimmt nicht mehr. Dabei bin ich wie über eine Treppe zurück durch mein Leben gegangen und habe mich gefragt: In welcher Situation war ich denn noch blind? Wo bin ich noch getäuscht worden? Das nahm manchmal schon obsessive Formen an. Am Ende ist mir sogar die Liebe selbst verdächtig geworden. Das Phänomen Familie an sich erschien mir absurd. Und das ist natürlich eine Katastrophe. So kann man nicht auf Dauer leben. Deshalb musste ich darüber schreiben, weil ich nicht auf Dauer damit leben konnte. 

Julia Schoch wurde 1974 in Bad Saarow geboren und wuchs in Mecklenburg auf. Von 1992 – 98 studierte sie Romanistik und Germanistik in Potsdam, Paris und Bukarest. Sie lebt seit 2003 als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und den André-Gide-Preis. Zuletzt erschien ihr Roman Schöne Seelen und Komplizen bei Piper.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Jürgen Bauer 

Chloé Delaume „Das synthetische Herz“, Liebeskind

Adélaïde lebt in der Grossstadt. Sie ist unglücklich. Gepeitscht im Beruf und unerfüllt in der Liebe. Und weil sie sich selbst als Teil eines grossen Fressens sieht, ist alles eine Kampfansage, ob gegen das drohende Alter, den Misserfolg im Beruf oder die bohrenden Einsamkeitsgefühle, wenn sie mit sich selbst bleibt. „Das synthetische Herz“ ist ein literarischer Film noir.

Adélaïde ist frisch geschieden, endlich, befreit. Ausgezogen aus der gemeinsamen Wohnung in ein kleines Appartement mit 35 Quadratmetern; ein paar BILLY-Bücherregale, ein 120cm breites Bett, ein Tisch, vier Stühle, nicht einmal ein Sofa. Nach den zehn Jahren mit Élias eine Befreiung. Adélaïde ist bald fünfzig, noch vier Jahre, erfolgreich als Pressefrau in einem mittelgrossen Verlag und müde von einer Beziehung, aus der sie sich nur noch herausreissen konnte. Mit Élias war sie am längsten zusammen.

Aber statt dass ihr die Befreiung wieder alle Optionen öffnet, schleicht sich schnell Zweifel ein. Nicht zuletzt, weil die Befreiung nach drohender Einsamkeit riecht. Adélaïdes Familie ist inexistent, ihre Eltern kamen, als sie acht war, bei einem schrecklichen Ereignis ums Leben. Adélaïde ist noch immer Waise, bleibt Waise, wartet, dass jemand unerwartet an der Türe klingelt. Ihre Freundinnen sind fest eingespannt und die Beziehungen bei der Arbeit sind zweckgebunden, wenn mehr, dann leicht einem Wettbewerb ausgesetzt, der tatsächliche Nähe verunmöglicht. Der sich anbahnenden Panik zu entgehen stürzt sich Adélaïde in ihre Arbeit, der Betreuung „ihrer“ Autoren, die nach Preisen lechzen, gefüttert und gehätschelt werden wollen. Aber irgendwann reicht es nicht mehr, wächst die Sehnsucht nach einem Gegenüber, einem echten Zuhause, einer Liebe, nach Leidenschaft. Aber was tun, wenn die Klingel ruhig bleibt, wenn man an seiner Attraktivität zu zweifeln beginnt, das Alter im Spiegel nicht mehr abzustreiten ist und man nicht mehr ins Beuteschema all jener zu passen scheint, die sich in langen Nächten auf die Jagd machen.

„Adélaïde wird richtig wütend, würde so gerne auf eine Partnerschaft verzichten können. Sie wäre gern autonom, sich selbst genug. Statt dessen quält sie die Sehnsucht.“

Bis sie eines Abends mit ihren Freundinnen zusammen ist und man aus Jux die Zukunft zu beschwören versucht, nur vordergründig aus Spass, ganz tief aus purer Verzweiflung. Und tatsächlich, nur drei Tage später lernt Adélaïde auf einer Party Martin kennen, Dokumentarfilmer, einer ohne Turnschuhe. Einer, mit dem man sich unterhalten kann, der geistreich ist, Blumen bringt. Mit einem Mal spürt Adélaïde jenen Frühling im Herzen, Euphorie. Plötzlich ist nicht mehr nur der Monat Wonne. Wenn da nur die Adélaïdes Katze nicht wäre. Wenn nur Martin Katzen nicht hassen würde. Wenn nur das „Heiratsjucken“ nicht wäre. Wenn nur seine Gier beim Essen und Trinken nicht wäre und die Ladehemmung.

Chloé Delaume «Das synthetische Herz», Liebeskind, aus dem Französischen von
Claudia Steinitz, 2022, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-95438-143-2

Adélaïde befreit sich aus der einen Enge, um sich in eine neue zu stürzen. Obwohl sie Vladimir begleitet, ein Omen, ein Geist, ein Traumbild. Vladimir ist ihre Sehnsucht. Er taucht immer dann auf, wenn sich das herbeigesehnte Idealbild in der Realität als Zerrbild entpuppt. Adélaïde, bald fünfzig, sehnt sich nach einem Zustand, der unerreichbar bleibt. Sehnt sich nach einem Ideal, das durch die verlorenen Familie dauernd nach Erfüllung schreit. Kämpft sich durch ein Leben, dass sich bei der Arbeit an Zahlen orientiert, an Aufmerksamkeit, Publicity – im Privaten am Schmerz, nie das zu finden, wonach sie sich im Tiefsten sehnt.

Chloé Delaume schildert Ausweglosigkeit gnadenlos. Da ist zum einen die Situation einer Einsamen, einer Frau, die sich auf Schlachtfeldern behaupten muss, sei es im Beruf oder im Privaten. Alles ist atemloser Kampf. Eine Frau, nicht mehr jung, aber doch noch lange nicht alt im einsamen Labyrinth eines Lebens, in der man die Richtung schon lange nicht mehr aussuchen kann. Zum andern sind es Sätze, die mir bei der Lektüre in die Kniekehlen schlagen, messerscharfe Analysen in einem Satz. Chloé Delaume fühlt einer entleerten Gesellschaft auf den immer schwächer werdenden Puls. „Das synthetische Herz“ schmerzt zuweilen bei der Lektüre, ist realistischer Gegenentwurf zu all den schmalzigen Geschichten auf Papier oder Zelluloid, die nur betäuben.

Chloé Delaume, 1973 in Versailles geboren, verliert als Kind bei einem Familiendrama ihre Eltern und wächst anschließend bei Verwandten auf. Sie studiert Literaturwissenschaften, verlässt die Universität aber, um sich dem Schreiben zu widmen. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit dem Roman «Das synthetische Herz», der in Frankreich ein großer Publikumserfolg war, gewann sie 2020 den renommierten Prix Medicis. Chloé Delaume lebt in Paris.

Claudia Steinitz, 1961 in Berlin geboren. Sie übersetzte u. a. Nancy Huston, Claude Lanzmann, Yannick Haenel, Virginie Despentes und Emma Becker aus dem Französischen. Ausgezeichnet mit dem Johann-Friedrich-von-Cotta-Übersetzerpreis der Landeshauptstadt Stuttgart und dem Jane-Scatcherd-Preis.

Beitragsbild © Hermance Triay

Esther Kinsky «Rombo», Suhrkamp

Im Mai und September 1976 erschütterten mehrere Beben das Friaul im Nordosten Italiens. Mehrere hundert Menschen kamen damals ums Leben, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht. Symbol dafür war die Kirche von Venzone, von der nur ein paar Mauerreste übrig blieben. Ein Ereignis, das einen ganzen Landstrich traumatisierte und die Zukunft einer ganzen Gegend erschütterte. Ein Ereignis, dem die Dichterin Esther Kinsky literarisch nachfühlt!

Heute steht die Kirche von Venzone wieder, Stein für Stein wieder aufgebaut. Als man die Steine und Brocken auf dem Platz vor der Kirche auslegte, fand man Markierungen, die zu einem Fresko im Chor der Kirche gehörten. Zeichen, die Pilger über Jahrhunderte in die Mauer der Kirche ritzten; ein Band von Zeugnissen. Die Abbildung dieser Zeichen findet sich nicht nur auf dem Cover des neuen Romans „Rombo“ der vielfach preisgekrönten Dichterin Esther Kinsky, sondern auch zu Beginn eines jeden Kapitels. Zeugnisse, Hinterlassenschaften von Menschen, die einmal dort waren. Pilger auf dem Weg. All jene Menschen, die ihr Leben 1976 als Folge der Erdbeben verloren haben, oder die Hab und Gut einbüssten, hinterliessen ebenfalls Zeichen. Zeichen, die sich flüchtigen Besuchern dieser Gegend, der Dörfer dort nicht auf die Schnelle erschliessen. Zeichen, die sich in die Seelen der Menschen eingeritzt haben, unauslöschlich. Zeichen, die die Menschen in die Armut, in den Wahnsinn oder in den Tod trieben. Zeichen, die von der Zeit überwuchert, nie verschwanden.

Esther Kinsky «Rombo», Suhrkamp, 2022, 267 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-518-43057-6

Wäre Esther Kinsky nicht Esther Kinsky, hätte man sich den Beben damals und seiner Nachwirkungen auch journalistisch annähern können; als Sensationsbericht, Überlebensbericht. Man hätte über die verschwundenen Hilfsgelder schreiben können, über misslungene Hilfsprojekte. Über Menschen, die trotz allem geblieben sind. Über solche, die ihre Heimat möglichst weit hinter sich lassen wollten. Aber Esther Kinsky geht es nicht um Sensationen, Enthüllungen, um Verdrängtes. Esther Kinsky spürt dem Geschehen und seiner Nachwirkungen seismographisch nach. Als ob sie all ihre Sinneswahrnehmungen über dieser Gegend auslegen würde, behutsam, zart, um dem Grollen, das solche Beben begleitet, dem „Rombo“ nachzuspüren.

Der Protagonist in ihrem Roman ist die Gegend selbst, die Menschen als Kollektiv, die Landschaft, die Flanken der Berge, die Tiere, die Vögel, die Schlange, der Wind, das Wetter. Zwischen den poetischen Landschaftsbeschreibungen, die sich lesen wie zarte Annäherungen, Liebkosungen, sprechen die Menschen, die damals die Beben erlebten, denen sich die Erlebnisse von damals unauslöschlich ins Bewusstsein einätzten. Menschen, denen das Beben sehr oft viel mehr als nur ein Haus, eine Existenz wegnahm. Menschen, die durch die Beben bis in ihr Allerinnerstes erschüttert wurden, die die Wunden von damals wie helle Narben mit sich herumtragen. „Rombo“ ist die Anamnese einer ganzen Gegend. Esther Kinky hört den Menschen zu und hört hin; hinein in die Gegend, die Landschaft, als würde sie mit ihrer Hand die Erde berühren und mit geschlossenen Augen nach- und mitfühlen, tastend, schauend, horchend.

Erhaltenes Fragment des Fresko in der Apsis der Chiesa di Sant’Andrea Apostolo, Venzone. Foto: Esther Kinsky

„Rombo“ ist ein Erinnerungsbuch, ein Buch das ganz eigen ist, kein Roman, keine Erzählung, kein Bericht. „Rombo“ ist ein Album der Erinnerungen, manchmal mit real beschriebenen Fotos angereichert, mit Erzählungen, Erinnerungen. Erstaunlicherweise nie verbittert, dafür mit viel Liebe. Esther Kinsky spürt nach, lässt sich ein, verbindet sich mit einer tiefen Erschütterung, die ihre Nachwirkungen bis in die Gegenwart zeigt, wenn Menschen noch heute mit dem Gefühl von Staub im Mund aus ihren Träumen aufschrecken. „Rombo“ ist Literatur gewordene Empathie!

Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und wuchs im Rheinland auf. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnischen, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie mit zahlreichen namhaften Preisen ausgezeichnet.

Beitragsbild © Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Marie-Hélène Lafon «Geschichte eines Sohnes», Rotpunktverlag

Die „Geschichte eines Sohnes“ ist die Geschichte einer Familie über ein ganzes Jahrhundert, von 1908 bis 2008, zwischen Figeac in Südfrankreich und Paris, eine Geschichte zwischen Alltäglichem und Geheimnissen, über die geschwiegen wird, die sich aber wie ein Alp über die Familiengeschichte legten. Marie- Hélène Lafon schreibt höchst poetisch, in einer ganz eigenen Sprache, in einer eigenartigen Mischung aus Unmittelbarkeit und Respekt.

1908, in einer Zeit, als der Kontinent vor dem grossen Auseinanderbrechen steht, schüttet die Haushalthilfe Antoinette ohne Absicht dem dreienhalbjährigen Armand heisses Wasser aus dem Waschtopf über den Körper, unglücklich, weil sich der Kleine an die Beine Antoinettes wirft. Armand stirbt nach einigen Tagen und alles in dieser Familie wird anders, als hätte Armands Schrei nicht nur seinen Zwillingsbruder Paul geweckt, sondern eine ganze Familie, einen ganzen Haushalt aus der Bahn gekippt. Mutter und Tante retten sich in religiösen Übereifer, der Vater in Ehrgeiz.

Marie-Hélène Lafon «Geschichte des Sohnes», Rotpunkt, 2022, 152 Seiten, CHF 26.00, ISBN 978-3-85869-940-4

Paul schickt man in ein Internat, wo er sich in ein erotisches Abenteuer mit einer Angestellten stürzt. Gabrielle ist 15 Jahre älter als Paul, wird schwanger, will ihr Kind gebären, arrangiert sich selbstbewusst mit ihrer Familie zuhause, bringt ihre Schwester dazu, das Kind in ihre Obhut zu nehmen. Die Vaterschaft muss ein Geheimnis bleiben, weil Gabrielle überzeugt ist, der viel jüngere Paul tauge nicht zur Vaterschaft. André kommt zur Welt und spürt bald, dass das Geheimnis um seinen Vater Geheimnis bleiben wird. Erst am Abend seiner eigenen Hochzeit erfährt André den Namen seines Vaters, ein Name, der aber noch über Jahrzehnte Geheimnis bleiben wird, weil André die Konfrontation fürchtet. Bis das Geheimnis aufbricht.

Marie-Hélène Lafon erzählt die Familiengeschichte in zwölf ineinander verwobenen Kapiteln, eine Geschichte, die sich mir erst in der zweiten Hälfte des Buches ganz erschliesst, weil Marie-Hélène Lafons Roman nicht chronologisch erzählt ist und Schicht um Schicht das Geheimnis einer Familie erst nach und nach lüftet. Auch nicht ganz einfach, sich in den Namen und Familienkonstellationen zurecht zu finden. Marie-Hélène Lafon geht es nicht um Enthüllung. Geheimnisse offenbaren sich nicht mit einem Mal, oft nicht überraschend, viel mehr nach und nach wie ein leckes Fass. Was mich als Leser viel mehr fasziniert als die Geschichte, ist die Sprache. Eine Sprache, die sich mit unter mit einem Mal ganz ohne Satzzeichen aufzulösen scheint, einer Sprache, die nicht in erster Linie Geschehnisse nacherzählen, rapportieren will, sondern Stimmung erzeugen, Klang erzeugen will, ihre Eigenwilligkeit entfalten.

Nach „Die Annonce“ der zweite Roman von Marie-Hélène Lafon, der bei Rotpunkt erscheint, von einer Autorin, die von einem anspruchsvollen Publikum zu entdecken wäre!

Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die in mehrere Sprachen übersetzt vorliegen, spielen im Cantal des Zentralmassivs, in der abgeschiedenen, von Landwirtschaft geprägten Bergwelt, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den interessantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la nouvelle. «Die Annonce», 2020 beim Rotpunktverlag erschienen, wurde mit dem Prix Pages des libraires ausgezeichnet und von Arte verfilmt. Für «Geschichte des Sohnes» bekam Lafon 2020 den Prix Renaudot.

Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Beitragsbild © Philippe Matsas

Julia von Lucadou mit «Tick Tack» am Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

„Tick Tack“ ist ein Roman, der mir das Blut in den Kopf treibt, der mich schwindlig macht, der mich hin- und herschlägt zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, in der Gegenwart der Hölle ein schönes Stück näher gekommen zu sein.

Almette ist 15, hochbegabt, mit dem Gefühl, jener Welt, in die sie hineingeboren wurde, alles andere als zugehörig zu sein. Nach einer Aktion, die als Suizidversuch gewertet werden musste, sitzt sie einer Psychologin gegenüber, nach ihrer Mutter die einzige Möglichkeit, die „Sache“ an den Nagel hängen zu können. Mette selbst hatte die Aktion in den sozialen Medien inszeniert, weil der Konsum solcher Videos jenes Prickeln verursacht, das einem Leben beweist. Almette fühlt sich nicht nur der Psychologin überlegen. Alles was sie sieht, was passiert, ist die permanente Bestätigung dessen, dass die Welt ihrer nicht gewachsen ist. Eigentlich will Mette nichts mehr, als sich aus dem ganzen Theater ausklinken. Einzige Vertraute ist Yağmur, ihre Freundin mit türkischen Wurzeln, Tochter eines Ärzteehepaars, das kaum je Zeit zuhause verbringt. Auch eine intellektuelle Überfliegerin, wenn auch nicht derart zur Kompromisslosigkeit bereit wie Mette, die mit 15 nichts mehr will, als aus dem Dunstkreis ihrer Bemutterung und dem aufgesetzten Feminismus ihres Vaters entfliehen.

Almette ist das beklagenswerte Opfer einer entstellten Gegenwart, die ihr Sein nur noch auf Bildschirmen und Displays gespiegelt sieht, die in „Existenzängste“ gerät, wenn sie die „Natur zu radikal an sich heranlässt“. Almette und Yağmur wollten die Macht jenen entreissen, die das „Schicksal der Menschheit in den Händen von geriatrischen, testosterongesteuerten, geldgierigen CEOs lassen“. Almette führt gar ein Fake-Tagebuch, um darin eine alternative Storyline ihres Lebens zu ziehen, für den hundertprozentigen Fall, dass ihre Eltern dieses lesen und glauben, was sie lesen. Alles, was Almette tut, schreit nach Bestätigung im Netz, nach FollowerInnen. Die Resonanz im Netz spiegelt ihre Existenz. Almette ist die Verkörperung dessen, was passiert, wenn individualisierter Hochmut und selbst befeuerte Arroganz die einzigen Waffen werden, um gegen den Strom anzukämpfen, den letzten Rest Selbstwahrnehmung zu retten.

Julia von Lucadou «Tick Tack», Hanser Berlin, 2022, 256 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27234-7

Almette lernt Jo kennen, den älteren Bruder von Mia aus ihrer Klasse. Almette bestimmt Mia zu ihrer Musterfreundin, aber wieder nur, um falsche Fährten zu legen. Denn fasziniert ist sie von Jo, eigentlich Joshua, 10 Jahre älter als sie. Er liegt in seinem ehemaligen Kinderzimmer, von seinem „Muttertier“ umsorgt, weigert sich, an dem teilzunehmen, was sich vor seiner Tür abspielt. Jo ist ein Radikaler. Exmatrikuliert, was aus der Sicht seines Muttertiers nur ein grosses Missverständnis sein kann. Einer, der auch mit Unverpacktläden und Lastfahrrädern nicht an ein Überleben der Spezies glaubt. Für Jo ist die Menschheit verloren, einziger Ausweg; der Massensuizid. Einer, der nur mit absoluter Radikalität an einen Systemwandel glaubt und all das, was in den sozialen Medien kocht zu seinen Gunsten nutzen will, nicht zuletzt das Inszeniertalent der Freundin seiner kleinen Schwester.

Jo und Mette freunden sich an. Wobei bis fast zum Schluss des Buches nicht klar ist, ob diese scheinbare Freundschaft Mittel zum Zweck ist oder die sanfte Annäherung zweier sich von der Gravitation verabschiedeter Fremdkörper. Beide sind der Überzeugung, sich der grossen Lüge entziehen zu müssen. Und als Corona all jenen in die Hände spielt, die schon immer ahnten, dass die Allmacht der Verborgenen die unsichtbaren Fäden zieht, wird es der Kampf gegen all die Lemminge, die fremdgesteuert gegen den Abgrund rennen. Jo wird Mettes Priester, Mette Jos Messias, der die Botschaft in die Welt bringen soll. Eine Lunte, die zu brennen beginnt, aber eigentlich nichts anderes will, als den grossen Knall am Ende dieser Lunte. Jo hat seine Lunte gefunden. Mette brennt lichterloh.

In den 70ern und 80ern war die Hippiebewegung der Kampf gegen das Establishment, das Spiessbürgertum, gegen Konvention und Verknöcherung. Jo und Mette wollen, dass kein Stein auf dem andern bleibt. Ihr Kampf ist einer gegen die Welt ihrer ErzeugerInnen.

Julia von Lucadou erzählt in zwei ineinander verwobenen Strängen. Aus der Sicht der 15jährigen Mette, einer Sicht, die den ganzen Kampf der jungen Frau schmerzhaft nachvollziehbar zeichnet. Und die nur schwer durchschaubare Sicht von Jo, der sich wie ein Hikikomori im Zimmer seiner Kindheit suhlt, um von dort den Flächenbrand zu zünden, der das Blatt wenden soll. Julia von Lucadous Roman „Tick Tack“ ist von einer sprachlos machenden Unmittelbarkeit. Als wäre sie mit dem Stoff unmittelbar aus der zähen Suppe der Pandemie entstiegen. Die Autorin spiegelt genau das, was mich viel zu oft zu Sprachlosigkeit verdammt angesichts der Argumentlawine, die mich niederwalzt, wenn ich mich naiv den Priestern und Aufklärern der digitalen Gegenwelt entgegenstemme.

Nach dem ersten Lockdown fragte mich einmal ein Schriftsteller: „Worüber schreiben, wenn sich alles versteckt.“ Warum nicht so wie Julia von Lucadou und die Hand mitten ins Feuer halten!

Am Wortlaut Literaturfestival St. Gallen 2022 © Wortlaut

Julia von Lucadou wurde 1982 in Heidelberg geboren und ist promovierte Filmwissenschaftlerin. Sie arbeitete als Regieassistentin, Redakteurin beim Fernsehen und als Simulationspatientin; sie lebt in Biel, New York und Köln. Ihr erster Roman «Die Hochhausspringerin» (2018) stand auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis und wurde mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Guido Schiefer

Angelika Klüssendorf «Vierunddreißigster September», Piper

Das Buchcover erlaubt eine dunkle Vorahnung: Der abgebildeten, durchaus noch im Leben stehenden Taube fehlt der Kopf. Kopflose Wesen kennt man aus Horrorfilmen, doch so schlimm kommt es dann doch nicht. Das Leben der Toten ist in Angelika Klüssensdorfs neuestem Roman «Vierundreissigster September» ein eher beschaulicher Ort. 

Gastbeitrag von Cornelia Mechler, Leiterin Verwaltung und Marketing im Kunstmuseum Thurgau, Moderatorin im Literaturhaus Thurgau

Der Roman beginnt mit einem Mord: «Sie hätte das Gewehr nehmen können, entschied sich aber für die Axt. Hilde liess sie auf Walters Kopf niedersausen, als wollte sie ein Holzscheit spalten.» Mit dieser Tat endet eine unglückliche Ehe, die zum Leidwesen der Frau nach einer Fehlgeburt auch noch kinderlos geblieben war. Hilde verschwindet im Schneesturm und gilt ab jenem Moment als vermisste Person. Walter aber kommt ins Reich der Toten und wohnt erst mal seiner eigenen Beerdigung bei. Schon hier zeigt sich der lakonische Witz der Autorin. Die folgenden Sequenzen schwanken zwischen schwarzem Humor, etwas Melancholie und einer Prise Heiterkeit.

Walter lebt nun auf dem Friedhof und trifft zahlreiche Bekannte wieder, die bereits vor ihm verstarben. Alle Verstorbenen sind in dem Zustand in ihre neue «Welt» eingezogen, den sie zuletzt innehatten. Bei Walter bedeutet dies: Er wandelt mit einem gespaltenen Schädel unter den Toten umher und hat nun viel Zeit, das Leben der Lebenden zu beobachten. Er wird zum Berichterstatter, zum Chronisten, wobei sich sein Bewegungsradius auf die Dorfgrenzen beschränken. Ihn selbst treiben drei entscheidende Fragen um: Wer war er früher? Wieso wurde er ermordet? Und wo ist eigentlich Hilde abgeblieben?

Angelika Klüssendorf «Vierundreißigster September», Piper, 2022, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05990-9

Im Dorf ist Hildes Verschwinden kaum ein Thema mehr. Einige Bewohner beschäftigt in diesem Sommer vor allem der angekündigte Besuch von Steven Spielberg, der im Ort einen Film drehen möchte. Das Warten auf die Ankunft des Starregisseurs beginnt, und da werden auch die pessimistischsten Träumer nochmals wach. Überhaupt ist auch das lebende Personal in diesem Buch ein sehr besonderes. Da gibt es die dicke Huber, das Rollschuhmädchen, Eisenalex und Bipolarchen. Jede und jeder im Dorf trägt eine mal mehr mal weniger schwere Lebenslast mit sich herum. Die eindrücklichen Charakterbeschreibungen werden getragen durch eine Grundsympathie der Autorin für ihre Figuren.

Der Wechsel der Erzählperspektiven ist sehr gut gewählt, das Leben der Toten steht damit immer in engem Bezug zu dem der noch Lebenden. Auch wenn Letztere nichts von ihren Schatten ahnen, so ist es für die allwissende Leserschaft ein äusserst kurzweiliges Lektürevergnügen.

Speziell auch dies: Die Toten können die Träume der Lebenden sehen, wenn diese schlafen. Da ist ein spannendes Nachtprogramm geboten, das vor allem Walter äusserst gelegen kommt. Aber auch in den Träumen der anderen kommt bei niemandem Hilde vor. Doch dann findet er eine wage Spur – und er muss erkennen, dass seine Frau ein ganz anderes Leben führte, als er es zu kennen meinte…

«Ein hintersinniges Meisterwerk über eine Zeit der Wut, Melancholie und Zärtlichkeit», so heisst es im Klappentext. Wahrlich, das ist nicht zu hoch gegriffen. Es gilt: Lesen und staunen!

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Roman-Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später«, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet.

Illustration leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Yael Inokai «Ein simpler Eingriff», Hanser Berlin

Dass mit Yael Inokai eine gewichtige literarische Stimme schreibt, bewies die junge Autorin schon mit ihren ersten beiden Romanen, aber sicher mit „Mahlstrom“, mit dem sie 2018 den Schweizer Literaturpreis gewann. Ihr neuer Roman „Ein simpler Eingriff“ setzt noch einen drauf und geht tief unter die Haut!

Meret ist ein junge, verantwortungsbewusste Krankenschwester. Jemand, der nicht einfach seinen Job macht, der die Menschen, die sie umsorgt, ans Herz gehen. Ihr Chefarzt weiss um die Fähigkeiten der jungen Frau und nimmt sie mit in seinen Operationssaal, wo Meret bei einem neuartigen Verfahren assistieren soll, bei dem Patienten bei vollem Bewusstsein am offenen Schädel mit einem gezielten Eingriff genommen werden soll, was sie unfähig macht, als produktives Glied einer Gesellschaft zu funktionieren. Ein kleiner Schnitt, ein gezieltes Abklemmen und Unkontrollierbarkeiten der Patienten lassen sich beheben. Merets Aufgabe bei diesen Eingriffen; Sie kommuniziert mit den Patienten während des Eingriffs, um dem Operierenden die Wirksamkeit des Eingriffs sofort spiegeln zu können.

Meret fühlt sich in ihrer Aufgabe, in den immer häufiger werdenden Treffen im Büro des Chefarzt geschmeichelt, bis eine der Patientinnen, der sie sich schon bei der Einweisung auf ganz spezielle Weise verbunden fühlt, nach der Operation nicht mehr aufwacht. Meret bleibt an der Seite Mariannes, besucht sie, bleibt an ihrem Bett sitzen. Marianne ist eine Frau aus reichem Haus, von ihren Eltern mehr oder weniger zum Eingriff gedrängt.

Yael Inokai «Ein simpler Eingriff», Hanser Berlin, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-27231-6

So wie Meret Marianne immer weiter in einen komatösen Zustand entgleitet, so unmittelbar wird die Nähe zu Sarah, einer Mitkrankenschwester, die im Schwesternhaus das Zimmer mit Meret teilt. Ebenfalls eine junge Frau, wie Meret seltsam eingeschlossen in einen Klinikkosmos, in dem sich die Schwestern eingekleidet bewegen, diesen nur selten und seltsam ärmlich gekleidet verlassen und kaum Möglichkeiten zu haben scheinen, Beziehungen nach Aussen zu pflegen, selbst zu ihren Familien.

Zwischen Meret und Sarah beginnt sich ganz zaghaft eine Liebe zu entwickeln, eine Liebe, die nicht sein darf, die in diesem einen Zimmer eingeschlossen bleiben muss. Eine Liebe, die in ihrer Leidenschaft und Körperlichkeit aber diametral zur Eingeschlossenheit auf den andern und in das eigene Leben ein- und übergreift. So sehr jene Liebe, jene Zugewandtheit zur Patientin Marianne an der medizinischen Wirklichkeit zu scheitern droht, so sehr wird die leidenschaftliche Liebe zu Sarah zu einem Sturm, den Meret immer mehr mit- und wegreisst. Bis Meret, die bislang bedingungslos hinter den Behandlungsmethoden ihres Chefs stand, Widerstand zeigt.

Da ist diese eigenartige, nur schwer in Zeit und Raum zu verortende Krankenhausgeschichte. Diese seltsame Methode, mit der man unbequeme Zeitgenossen mit einem Schnitt zu nützlichen Mitgliedern einer Gesellschaft machen kann. Dieser in sich geschlossene Krankenhauskosmos, in dem junge Frauen so lange erfolgreich dienen, bis sie zu alten Schwestern werden, stets folgsam, immer sauber und makellos. Das Setting des Romans erzeugt eine eigenartig beklemmende Stimmung. Junge Frauen, die ihr Gesicht nicht zeigen dürfen, ihr wahres Sein verstecken, einer Linie zu gehorchen haben.

Yael Inokais neuer Roman ist auf eine seltsam eigenartige Weise gesellschaftskritisch. Nicht nur der Eingriff im Kopf der meist unfreiwillig Eingewiesenen scheint simpel. Auch die Welt, in der sich das Personal bewegt. Yael Inokais Roman schleicht sich unmerklich in meinen Kopf, spiegelt eine Welt, die eine komplizierte Welt simpel machen will. Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.

Der jungen Autorin ist ein ausserordentlicher Roman gelungen, etwas ganz Eigenes. Nicht zuletzt in einer Sprache, die wie die seltsame Geschichte aus seltsam unaufgeregte Weise von den grossen Regungen des Lebens erzählt.

Yael Inokai liest und diskutiert am Wortlaut Literaturfestival in Sta. Gallen am Samstag, den 26. März um 11 Uhr im Stadthaus, Festsaal, Gallusstrasse 14. Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Literaturhaus Wyborada. Moderation: Anya Schutzbach

Yael Inokai, geboren 1989 in Basel, studierte Philosophie in Basel und Wien, anschliessend Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. 2012 erschien ihr Debütroman «Storchenbiss». Für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2018 ausgezeichnet. Sie ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift «PS: Politisch Schreiben» und lebt in Berlin.

«Wo die Musik spielt» Yael Inokai 2018 in St. Gallen

Beitragsbild © Ladina Bischof

Hansjörg Schertenleib «Die grüne Fee», Kampa

Ein schmaler Roman – aber alles andere als schmalbrüstig! Hansjörg Schertenleibs neuster Streich ist starke Kost, sprachlicher Hochgenuss und „herrliches“ Vergnügen. Ein dunkel irisierendes Kammerstück in einem abgelegenen Landhaus im Norden Irlands. 

Eigentlich sind Feen gute, freundliche und doch mächtige Wesen. Dass Absinth, jene grün schimmernde Spirituose, „grüne Fee“ genannt wird, kann nur mit deren Wirkung in Verbindung gebracht werden, auch wenn die grüne Fee keine Wünsche, ausser ganz kurzfristige, zu erfüllen vermag. Und trotzdem passt der Titel zu Hansjörg Schertenleibs neuem Sprachkunstwerk, denn der Rausch, den eine Flasche Absinth hervorrufen kann, ist wie der Sprachrausch, in den sich Hansjörg Schertenleib geschrieben hat und in den man Seite an Seite mit ihm in die Geschichte um Freundschaft abtauchen kann – nur hier garantiert ohne schlechte Nebenwirkungen, ohne morgendlichen Kater.

Arthur Dold ist Sonderling und Einzelgänger, ohne Familie, ohne Verwandtschaft. Schon längst im Pensionsalter handelt er noch immer mit dem, womit er schon ein Leben lange sein Geld verdiente; alte Landkarten, Atlanten und Globen. Er tut es, weil es sein Leben ist, weil es nichts anderes gibt. Zu den wenigen Menschen, zu denen er in seinem Leben Freundschaft fand, zählte Christian Aplanalp, den er während ihrer gemeinsamen Schulzeit kennenlernte, den er zwar immer wieder einmal aus den Augen verlor, vor allem als er als Maler, Künstler berühmt wurde, in die Staaten zog und Stoff für Boulevardblätter lieferte. Aplanalp ist tot, schon lange, ein Jahrzehnt. Die Umstände seines Todes waren damals mysteriös und sind es geblieben, haben sich tief ins Bewusstsein Arthur Dolds eingegraben. Weil er damals dabei war. Weil sein Freund ihn damals zu seinem Sechzigsten eingeladen hatte. Weil Dold bis heute nicht weiss, was in jenen Tagen in einem abgelegenen Landhaus im irischen County Donegal passiert sein musste.

Hansjörg Schertenleib «Die grüne Fee», Kampa, 2022, 128 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-311-12558-7

Dold erhält zehn Jahre später ein Päckchen mit einem Brief von Bernadette, Aplanalps damaliger Haushälterin. Ein Brief und ein Päckchen, das Arthur zwingt, sich noch einmal mit den Geschehnissen jener Tage, die ein Jahrzehnt zurückliegen, auseinanderzusetzen. Christian Aplanalp lebte damals schon eine Weile nicht mehr in den Staaten, hatte sich in den einsamen Norden Irland zurückgezogen, in ein Haus, das er geerbt hatte.
Arthur Dold hatte ganz unerwartet einen Brief mit einer Einladung zu Aplanalps sechzigsten Geburtstag bekommen, machte sich kurz entschlossen auf den Weg, um noch einige Autostunden entfernt vom Haus seines Freundes festzustellen, dass er nicht von Aplanalp selbst am Bahnhof erwartet wurde, sondern von einem Mann, der ihm einen Brief übergab, sich Seamus nannte und ihn mit einem Vauxhall zum Haus seines Freundes fuhr. Ein grosses Haus, das 1857 erbaut wurde, irgendwo im nirgendwo, weit ab von der nächsten Ortschaft. Arthur Dold muss feststellen, dass er der einzige Gast zum Geburtstag seines Freundes ist, eines Freundes, der ihn zuerst einmal einen Abend warten lässt und er mitten in der Nacht aus Dolds Träumen aufgewacht in aller Realität neben seinem Bett im Dunkeln sitzt.

Es treffen sich zwei. Zwei Sonderlinge. Zwei Sechzigjährige, die das Lebe zu Sonderlingen machte. Hansjörg Schertenleibs Roman erzählt jene schicksalshafte Begegnung so, als wären die beiden Protagonisten zwei erkaltete Monde, deren Gravitation sie unaufhaltsam auf eine Kollision zutreiben lässt. Zwei ergraute Männer, die sich in einem grossen Haus verlieren, das von der nicht mehr jungen Bernadette am Leben erhalten wird, deren Mutter schon in den Diensten Aplanalps Vorfahren stand. Aplanalp hat als Künstler den Faden verloren, zeichnet wohl noch mit Grafit grossvormatig, genauso düster wie die vielen geheimnisvollen Ecken, Winkel, Räume und Gänge des Hauses. Schertenleib versteht es meisterlich, eine Doyle’sche Stimmung zu erzeugen, was wohl auch den Grund gab, warum Schertenleibs Roman mit „Gespenstergeschichte“ untertitelt ist. Gespenster gibt es in jedem Leben, nicht ausgeleuchtetes Leben, das in der Gegenwart mitspielt. Schatten aus der Vergangenheit, Falltüren, die man lieber nicht mehr öffnen will. Aplanalp ist aus dem Tritt geraten. Dold so etwas wie ein Vollstrecker dessen, was Aplanalp selbst nicht ins Rollen bringt.

Es gibt AutorInnen, die eigentlich immer die gleiche Geschichte erzählen, in immer noch einer Variation. So wie Malerinnen das immer gleiche Bild aus unterschiedlicher Perspektive. Hansjörg Schertenleib fasziniert, weil er sich mit jedem neuen Roman neu positioniert, nicht in seiner Virtuosität, aber mit Themen und Stimmungen. „Die grüne Fee“ ist starker Stoff. Kann gut sein, dass man dazu oder danach einen kräftigen Schluck trinken muss.

Und ganz nebenbei: Ein wunderschön gestaltetes Buch!

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind bislang erschienen: «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und «Offene Fenster, offene Türen» sowie die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel».

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Jürg Beeler «Die Zartheit der Stühle», Dörlemann

Eigentlich flieht Matteo. Er flieht, weil ihm das Leben die Stimme nahm. Weil er als König mitten im Stück den Text verlor, auf der Bühne in Shakespeares King Lear. Weil wenige Tage zuvor Zofia, die Frau seines Lebens gestorben war. Weil er von all dem weg wollte, was sich seinem einsam gewordenen Leben querstellte. „Die Zartheit der Stühle“ ist ein Buch der Liebe, ein unsäglich zartes Buch.

Dass Jürg Beeler kein ganzes Regalbrett füllt, obwohl er schon vierzig Jahre schreibt, mag daran liegen, dass sich Beeler als Lyriker sieht und nicht eigentlich als Erzähler, obwohl „Die Zartheit der Stühle“ sein siebter Roman ist. „Das ist viel Arbeit“, meint der Schriftsteller in einem Porträt lakonisch. Vielleicht liegt es auch daran, dass Jürg Beeler wie ein Lyriker Romane schreibt, auf jedes Wort achtend, viel mehr als blosses Erzählen. Das spüre ich diesem Buch an, einem Buch, dem ich die Nominierung für den Schweizer Buchpreis 2022 wünsche, weil es sinnlich erzählt, weil es sich nicht dem Spektakel verschreibt, dafür umso mehr den unendlichen Irrgärten des menschlichen Seins, weil das Kleine, Zarte auf das Grosse weist und weil meine Frau und ich uns das Buch gegenseitig vorlasen und dabei regelrecht beglückt wurden.

Matteo ist ein Einzelgänger, hat es nicht gerne, wenn sich Ausgelassenheit ausbreitet, obwohl er lange Jahre gefeierter Schauspieler war und man nach Premieren gerne mit ihm gefeiert hätte. Auf der Bühne fand er stets seinen Ton, seine Stimme, hatte er Präsenz und Wirkung. Im Privaten fiel im das Sprechen stets schwer und er verkroch sich lieber in seiner immer kleiner werdenden Welt. Zofia war die einzige Frau, mit der er seine Einsamkeit gerne teilte, mit der er lange Jahre zusammenlebte. Dann aber, als er erfahren musste, dass sie unheilbar erkrankt war und nicht beabsichtigte, sich durch weitere Therapien quälen zu lassen, trennte sie sich von ihm, ging auf Distanz. Sie starb. Ihr Tod lähmte ihn. Man begrub sie in ihrer Heimat Warschau, ein Abschied, den er in keiner Weise akzeptieren konnte.

Jürg Beeler «Die Zartheit der Stühle», Dörlemann, 2022, 224 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03820-105-2

Matteo sucht Sammlung in Lerone, einer kleinen Stadt ganz im Süden Italiens, einem Sehnsuchtsort, den er schon mit Zofia teilte. Er will nichts mehr. Nur in Ruhe an der Piazza d’Oriente im Leonardo sitzen und schreiben, ohne Ziel. Aber kaum ist er dort, mischt sich die Anwesenheit einer Frau ein, einer Frau, die wie er an einem der Tische an der Piazza sitzt und schreibt. Später erfährt Matteo, dass sie Vera heisst und komponiert. Vera beginnt Platz einzunehmen, Platz, den Matteo eigentlich nur sein er grossen Liebe Zofia zugestehen will. Aber da auch sein dortiger Freund und Anwalt Ettore von der geheimnisvollen Frau angetan ist, beginnen sich Welten ganz zaghaft zu begegnen. Vera verrät nicht viel. Manchmal ist sie da, manchmal verschwindet sie für Tage oder gar Wochen. Aber sie nimmt stets etwas mit, etwas, was Matteo die Ruhe raubt, was ihn nicht in Ruhe lässt. Bis sie eines Tages mit zwei Koffern vor seiner Tür steht und fragt, ob sie für unbestimmte Zeit bleiben dürfe.

Zofia distanzierte sich in der letzten Monaten ihres Lebens. Als er sich nach ihrem Tod mit einem verloren geglaubten Schlüssel Zugang zu ihrer Wohnung verschafft, merkt er, dass er bei weitem nicht der einzige ist, der an der Hinterlassenschaft seiner Frau Interesse zeigte. Er war Eindringling. Und jetzt, Monate später, taucht Vera auf, Jahre jünger als er und stösst ihn in eine Geschichte, aus der es kein Aussteigen mehr gibt.

Matteo erzählt seine Geschichte in einer grossen Rückblende, schreibt in seine Hefte, in der Absicht „ein Buch der Liebe“ zu schreiben. Jürg Beeler trifft in seinem Schreiben als Matteo, manchmal ganz direkt im Du an Zofia gerichtet, genau jenen Ton, den ein solches „Buch der Liebe“ treffen muss. Es ist mit grosser Behutsamkeit geschrieben, immer im Wissen darum, dass Liebe in all seinen Formen, auch in der Verzweiflung und Enttäuschung an flüchtiges, schwer fassbares Gefühl bleibt. Genauso ist dieser Roman geschrieben, absolut überzeugend in seinem Ton, gespickt mit Sätzen, die sich wie Amorpfeile ins Herz bohren.

Interview

Matteo schreibt schon lange. Was wir unter dem Titel „Die Zartheit der Stühle“ lesen, sind die Hefte Nr. 73 bis 77. Alle Hefte zusammen scheinen Matteos Versuch zu sein, sein „Buch über die Liebe“ zu schreiben. Was hinderte Sie daran, Ihrem Roman den Titel „Buch über die Liebe“ zu geben? (Obwohl ich gestehe, dass mir der tatsächliche Titel besser gefällt!) 
„Liebe“ ist ein Allerweltswort, mit „Buch über die Liebe“ hätte ich mich auf ein zu gefälliges Terrain begeben. Jeder glaubt ja zu diesem Thema das Allerwichtigste zu sagen zu haben, nur weil ihm die Liebe einmal etwas unsanft auf die kleine Zehe getreten ist. 
„Die Zartheit der Stühle“ öffnet andere Türen. Dieser Titel hat, so wie ich es empfinde, etwas Poetisches und Schelmisches zugleich und passt gut zum Protagonisten. Matteo war Clown, Pantomime, auf der Bühne trat er stumm auf, auch im Alltag ist er eher ein Stummer geblieben. 
Wie Matteo liebe ich Strassen, Plätze und Cafés. Stühle werfen zarte Schatten, und wenn sie Schatten werfen, was sie im Süden häufiger tun als im Norden, beginnen sie zu erzählen. Ich habe Zeit, ich höre ihnen gerne zu. Oft stellen sie mir provozierende Fragen. Was, wenn unsere Liebe zu Objekten tiefer ist als die zu den Menschen? Oder wenn Liebe ein Phantom ist, wie Matteo einmal vermutet?

Matteo will eigentlich fliehen, nicht zuletzt vor sich selbst, gerät aber immer mehr in den Strudel seiner Vergangenheit, in den Sog des Unberechenbaren. Keine Flucht, sondern sein Besteben, Ruhe zu finden, die Nähe zu sich selbst. Ein Gegenentwurf zu den vielfachen Möglichkeiten der Betäubung unserer Gegenwart?
Alle drei Figuren, Matteo, Zofia, Vera müssen mit Ereignissen zurechtkommen, die ihr Leben einschneidend verändern und bedrohen. Sie sind nicht mehr jung, sie empfinden sich in ihrer Zeit zunehmend als Fremde. Die Gegenwart scheint für sie keine verlässlichen Worte und damit Lebensentwürfe mehr bereitzuhalten. Menschenkenntnis wurde im Alltag durch Vulgärpsychologie und einen kommerzialisierten Zwang zur Selbstverwirklichung ersetzt, was zur kollektiven Übung der Selbstentfremdung verkam. 
In unseren Wohlstandsregimen haben wir die Fähigkeit, die inneren Regungen und Beweggründe des anderen zu erraten, längst verloren. Dazu haben wir auch gar keine Zeit mehr. Vera, Zofia und Matteo versuchen je auf ihre Weise, diese Echolosigkeit zu durchbrechen, einen Weg aus der allgemeinen Betäubung zu finden, der sie wieder in eine Gegenwart zurückführt. 

Zofia sagte sich in ihrem Sterben von Matteo los, wollte ihn in der letzten Phase ihrer Krankheit nicht mehr an ihrer Seite haben. Ist Schonung auch eine Form der Liebe?
Ich glaube ja, eine sehr tiefe. Zofias Rückzug mag vieles zugrundeliegen, sei es Enttäuschung, sei es Diskretion oder Scham. Ein etwas bösartig gestimmter oder pessimistischer Leser könnte in diesem Rückzug allerdings auch eine heimliche Bestrafung des Partners vermuten. Doch Zofia ist eine Figur, die sich dem einfachen Zugriff entzieht. Vielleicht gehört es zur Magie des Romans, dass er eine völlig subjektive Interpretation dem Leser als die objektive vorspiegelt. 
Die Schonung des Partners trägt auf jeden Fall der Erkenntnis Rechnung, dass die Menschen verschieden sind und jeder seinen Weg letztlich allein zu gehen hat. Dem andern sein Leben lassen – darin kommt etwas zum Ausdruck, das vielleicht wichtiger ist als die Liebe: die Freundschaft.  

@ Werner Gadliger

Matteo trägt seinen Schmerz in sich, seine Partnerin Zofia, erst recht Vera. Matteo schreibt die Geschichte dieses Dreigestirns in seine Hefte. Schreiben als ein Versuch, Ordnung in Leben zu bringen. Das Schreiben eines Romans ist ausgebreitete Ordnung. Gedichte hingegen brechen Ordnungen auf. Obwohl Sie in einem Beitrag sagen, Sie schreiben viel lieber Gedichte, Sie wären eigentlich Lyriker, ist „Die Zartheit der Stühle“ Ihr siebter Roman. Was macht die Magie des Romanschreibens aus? 
Ist es nicht einfach die erfolgsversprechendere Möglichkeit, vom Schreiben zu leben?
Mit dem Roman tauche ich in eine Assenwelt ein, er legt in anderer Weise die Spur einer Lebenserfahrung als die Lyrik, die den Rückzug in ein Sprachgehäuse eher erlaubt. Der Roman legt eine Schmerzspur. Doch auch in der Lyrik schaffe ich ‚Ordnung’. Sie ist vielleicht verborgener als die eines Romans. Eine innere Kohärenz – dies mein Anspruch – muss die vordergründig disparaten Zeilen eines Gedichts zusammenhalten. Diese Stimmigkeit muss für den Leser spürbar sein. So gesehen hat das Gedicht immer eine metaphysische Dimension, weil es jede Beliebigkeit ausschliesst. 
Die Anfänge dieses Romans reichen viele Jahre zurück. Die Hauptfigur stand mir von Anfang an deutlich vor Augen, ebenso waren die Atmosphäre, die Musik des Romans von Anfang an da. Die Herausforderung bestand darin, die zu den Figuren passende Geschichte zu finden. Ein Unterfangen, das nicht planbar ist, für mich auf jeden Fall nicht, ich bin da sehr von Stimmungen, von der Umgebung, von der Gunst des Augenblicks abhängig. Ob ich eine Figur auf diese oder eine andere Weise handeln lasse, ist ein intuitiver Entscheid. Letztlich ist es die Sprache, ihre Musik, ihre Atmosphäre, die mich führt. 

Die Musik eines Romans wird nicht von allen Lesern wahrgenommen. Dieses Nicht-Wahrnehmen des für mich Offensichtlichen macht mich immer wieder fassungslos. Manche Leser fürchten das Ambivalente, sie suchen das Erklärbare und Sichere, sie sind glücklich, wenn sie den Protagonisten als ‚Looser’ oder ‚Macho’ identifizieren können. Doch der Roman verhandelt nicht Begriffe, die immer nur kollektiven und fragwürdigen Klassifizierungen entsprechen, er erzählt vom Individuum in seiner Unverwechselbarkeit. In dieser Hinsicht ist er subversiv, und dieses subversive Element übt auf mich einen unwiderstehlichen Sog aus. 

Das Epizentrum eines Romans verbirgt sich in seiner Musik. Seine Unterfütterung kann heiter oder melancholisch sein. Heiterkeit und Melancholie widersprechen sich nicht unbedingt. Auf jeden Fall nicht, wenn man von einer spezifisch romanischen Melancholie spricht. „Auch wenn sie düster und tief ist, findet die Melancholie noch Quellen von Zärtlichkeit. Man könnte sagen, ihr Charakter ist die Sanftheit“, schreibt der italienische Schriftsteller Alberto Savinio. Melancholie ist das Bewusstsein, dass die Zeit verströmt und wir nichts gegen sie ausrichten können. Sie widersetzt sich unseren Plänen, wir können ihr nichts abtrotzen. Das Schreiben setzt sich diesem Fliessen aus, ein Roman kann nicht erzwungen werden. Wer im deutschsprachigen Raum aufwächst, vor allem in den protestantisch-ehrgeizigen Gegenden Deutschlands, neigt weniger zur Melancholie als zur Depression, das mediterrane Laissez-faire ist ihm fremd. Ja, ich liebe Stühle. Sie sind melancholisch und zärtlich. Sie haben immer genauso viel Zeit wie ich, was ich von meinen Mitmenschen nicht unbedingt behaupten kann.  

 „Die Zartheit der Stühle“ ist eine vielfache Liebesgeschichte. Nicht zuletzt jene der nie erfüllten. Wir werden in den Medien überschwemmt von „Liebesgeschichten“, von kitschig über verklärt bis reisserisch. Das alles ist Ihr Roman nicht. Spürten Sie Grenzen, die nicht überschritten werden durften?
Ja, sehr deutlich. Ich habe auch, das muss ich sagen, aus den Fehlern meiner früheren Romane gelernt. Die Frage nach den Grenzen und Tabus, nach der Grenze zwischen Privatem und Allgemeinen ist eine der heikelsten. Gibt es sie nicht mehr, ist der Mensch seiner seelischen Entwicklungsmöglichkeiten beraubt. Mit dem Erkennen des Unausgesprochenen, des Ungesagten im alltäglichen Umgang (sowie in Texten) wird erst ein Reifeprozess möglich. 

Auf Verletzung von Grenzen reagiere ich besonders empfindlich, was mit meiner Biographie zusammenhängen mag. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und hatte mich sehr früh – als einziger unter den Schulkameraden – für klassische Musik begeistert. Damit war man der perfekte Exote und folglich ausgegrenzt. Nicht für Filmschauspielerinnen schwärmte ich, sondern für Pianistinnen. Die französische Bibliothek meiner Mutter zog mich mehr an als die Schullektüre, ich war ein begeisterter Leser von Baudelaire, Nerval und Rimbaud. Folglich war ich in meiner eigenen Generation ein Fremder geblieben, was sie interessierte, interessierte mich nicht, und umgekehrt. Ich vermauerte mich gegen eine Zeit, die das „Sie“ und das Private als bürgerlich verschrie und genau wusste, welches das richtige Leben war. Ich fürchtete mich vor dem Terror dieser Nivellierung und dem Ausgrenzungswahn von allem, was fremd und anders war. Unfreiwillig wurde ich zum Verweigerer des angesagten Lebens, mit allen Vor- und Nachteilen, die das mit sich brachte. Für mein Schreiben allerdings entpuppte sich meine merkwürdige Bootsfahrt als unschätzbarer Gewinn. 
Nach wie vor reagiere ich äusserst empfindlich auf Ausgrenzungen, und wir leben heute leider wieder in einer Zeit der Diffamierung. Sie macht mir Angst. Rasch ist man mit Worten zu Hand, um den andern zu beschuldigen oder anzuklagen. Sei es, weil er das falsche Geschlecht besitzt, nicht zur gefragten Altersklasse gehört oder einfach Johann Sebastian Bach liebt. 

Aus meiner Generation rettete ich mich in die romanischen Länder. Kurz nach Francos Tod, sehr jung, blieb ich in Spanien hängen und verliebte mich. Ich machte in Madrid die befreiende Erfahrung, dass Bildung nicht als „elitär“ galt. Das Gespür für Grenzen ist in romanischen Ländern immer noch stärker ausgeprägt, auch in der romanischen Literatur. Sie hat den Erzählfaden nie verloren. Nicht ohne Grund lebe ich heute in Frankreich, nah an der spanischen Grenze. Im Vorfeld der Solothurner Literaturtage forderten offenbar einzelne Stimmen lautstark die Abschaffung der „Wasserglas-Lesungen“. Ein keulenartiges Schlagwort. Zum Glück werde ich in dieser ärmeren Gegend von solchen wohlstandsverwöhnten Diskussionen verschont. Man hat hier andere Probleme. 

Flüstert Ihr Papagei noch immer? 
Leider nicht mehr, er ist im vergangenen Sommer gestorben. Dieser uralte, blinde Vogel sass immer auf meiner Schulter, wenn ich schrieb. Gelegentlich wollte er mit mir plaudern, manchmal steckte er seinen Kopf ins Gefieder und schlief. Dann durfte ich mich nicht mehr bewegen. Er fehlt mir, ich rede immer noch mit ihm, vor allem, wenn der Schreibfluss stockt. 

Jürg Beeler, geboren 1957 in Zürich, studierte Germanistik in Genf, Tübingen und Zürich. Arbeitete als Deutsch- und Fremdsprachenlehrer und als Reisejournalist. Lebt in Südfrankreich und Zürich. Für seine literarische Tätigkeit wurde er verschiedentlich ausgezeichnet. Publikationen (Auswahl): «Die Liebe, sagte Stradivari» (2002), «Das Gewicht einer Nacht» (2004), «Solo für eine Kellnerin» (2008), «Der Mann, der Balzacs Romane schrieb» (2014).

Beitragsbild © Werner Gadliger