Wolfgang Hermann «Herr Faustini bekommt Besuch», Limbus Preziosen

Was ist, wenn jemand an deiner Tür klingelt und nach dem Öffnen der Tür nichts mehr in deinem fein eingerichteten Leben so ist, wie es Jahre, Jahrzehnte war? Bei Herrn Faustini passiert genau das. Und obwohl Herr Faustini die Quadratur eines rechtschaffenen Mannes ist, breiten sich die Eruptionen in ganz überraschende Richtungen aus.

Herr Faustini mag es nicht, wenn seine Welt aus dem Takt gerät. Er ist einer der Stillen, von denen nichts erwartet wird, die man nicht sieht, die nichts zu brauchen scheinen für das kleine Glück, das sie mit Bedacht verwalten. Herr Faustini gehört in eine andere Welt, hält nichts von den flachen Dingern, in die alle überall hineinstarren, nichts von den Moden der Gegenwart, die ihn befremden, aber auch nichts von den vielfältigen Aufdringlichkeiten seiner Artgenossen. Er ist einer jener, die abends noch in den Himmel schauen, einfach bloss weil es Freude macht und den Platz im Universum zeigt, denen dann die Zeilen eines Gedichts von Joseph von Eichendorff einfallen.

„Täglich sah er eigentlich nur den Kater.“

Bis es eines Tages völlig unerwartet an der Haustür klingelt, zu einer Zeit, wo es die Post nicht sein kann. Jemand anderer erwartet Herr Faustini nicht, schon lange nicht mehr. Er öffnet die Tür und da stehen zwei; eine Frau in seinem Alter und ein mittelgrosser Junge, der ihn keines Blickes würdigt. Nach unsanfter Begrüssung verkündet die Frau, dies sei sein Junge, er der Vater. Und nachdem er bisher nie seinen Part zu spielen hatte und sie dringend Ferien brauche, sei es an der Zeit, dass er den Jungen nehme, für zwei Wochen.

Wolfgang Hermann «Herr Faustini bekommt Besuch», Limbus Preziosen, 2021, 120 Seiten, CHF 20.90, ISBN 978-3-99039-193-8

Im Normalfall hat man(n) neun Monate Zeit, um sich seiner neuen Rolle bewusst zu werden. Bei Herr Faustini waren es grade mal Minuten, bis die Frau mit einem Auto davonbrauste und den Jungen wie einen nassen Regenschirm bei Herrn Faustini zurückgelassen hatte. Weil Herr Faustini der ist, der er ist, zwar ganz genau weiss, dass er nie und nimmer der Vater des Jungen sein kann (Allerdings schleichen sich durchaus Zweifel ein!). Die Bezeichnung „Vater“ kannte Herr Faustini nur aus der Ferne, war wie ein grelles Kostüm, in das man ihn gezwungen hatte. Und weil er den Jungen nie und nimmer wegschicken oder für die zwei Wochen einer Institution übergeben könnte, bleibt der Junge im Haus. Kein Kind und kein Erwachsener mit hängender Hose und einsilbigen Antworten auf jene Fragen, die sich Herr Faustini selbst zu stellen traut. Seine Vaterrolle anzuzweifeln ginge nicht. Also schickt sich Herr Faustini in die Offensive, schlägt Hugo Ausflüge vor, Minireisen mit dem Schiff auf dem See, ins Museum zu den Zeppelinen. Doch Hugo interessiert sich meist nur für seinen Nahkampf auf seinem flachen Spielzeug, das er auch während des Essens nicht weglegt.

„Herr Faustini sah über dem Tisch eine kleine Wolke aus ungesagten Sätzen stehen.“

Als Herr Faustini fragt, wo er den hinwolle, ob er etwas unternehmen wolle. „Haafpei“, nuschelt Hugo. Etwas wie Halspfeife, ein Wort, das Herr Faustini noch nie gehört hatte. Und als die beiden tatsächlich mit dem nötigen Gefährt am Seeufer auftauchen, wird aus dem verschwiegenen Nebeneinander mit einem Mal ein Ding, das auch Herrn Faustini zu erwärmen vermag. Aus einem erzwungenen Nebeneinander wird ein Abenteuer, für beide.

Es prallen Welten zusammen. Herr Faustini wird mit einem Mal bewusst, wie klein seine Welt, wie tief der Graben seiner immer und immer wieder gegangenen Wege durch seine Welt geworden war. Herr Faustini gehört zu einer aussterbenden Spezies Mensch, die sich nicht betäuben, die weder rennen noch hetzen. Zu einem Archetyp, der keinen Platz mehr hat in einer flimmernden Gesellschaft. Ein Mann, der schon als Herr Faustini zur Welt gekommen scheint.

„So war es, das Gehirn des Menschen war ein Hort wild gewordener Hunde.“

Ich liebe Herrn Faustini. Ich liebe es, dass ihn Wolfgang Hermann immer wieder auf die Bühne bringt. Herr Faustini mahnt mich. Herr Faustini nimmt den Kampf auf, aber weder mit Gewalt noch mit Lärm, weder schimpfend noch hadernd. Herr Faustini kämpft mit Liebenswürdigkeit und Anstand. Zwei Eigenschaften, die in der Gegenwart immer mehr abhanden kommen.

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Interview

Wenn ich richtig gezählt habe, ist „Herr Faustini bekommt Besuch“ dein fünfter Faustini. Was ist so anders an dieser Person, diesem Setting, dass immer wieder ein neuer Faustini erscheint?
Herr Faustini, das ist für mich ein eigener Seins-Zustand. Wenn ich nicht aufpasse, kippe ich da hinein und schreibe schon wieder einen Faustini.

Herr Faustini ist der Prototyp dessen, was in der Gegenwart keinen Platz mehr hat, was auszusterben droht. Ein Mann, der schon als Herr Faustini zu Welt gekommen scheint. Wie viel Faustini steckt in Wolfgang Hermann?
Ich habe einen Gutteil meiner Zeit als Fremder auf diesem Planeten verbracht. Man fängt wahrscheinlich nicht an zu schreiben, wenn man ganz ohne Befremden in seiner Haut steckt. Bei mir ging das Fremdsein recht früh los, und das Lesen, das ich erst entdeckte, als ich als Elfjähriger einen ganzen Sommer im Krankenhaus lag – es gab keine Kinderbücher bei uns zu Hause, ein Manko, das ich nie aufholen konnte -, das Lesen also bot mir eine andere Welt, eine Rettungsinsel, auf der ich mehr und mehr Zeit verbrachte. Eigentlich zog ich mit elf auf diese Insel. Und begann zu schreiben. Und wohne noch immer auf der Insel.

Geschichten, in denen Männer unsanft mit ihrer Vaterschaft konfrontiert werden, gibt es zuhauf, bis ins Kino. Dir scheint es aber um andere Themen zu gehen, als um einen Mann, der um seine Freiheit kämpft oder tollpatschig von einer Peinlichkeit zur nächsten torkelt. Geht es auch ein bisschen darum, zusammen mit Herrn Faustini die Gegenwart zu verstehen?
Ich sah, als ich anfing, dieses Buch zu schreiben, diesen pubertierenden Jungen, der Leben und Chaos in Herrn Faustinis Haus bringt. Weiter nichts. Ich wollte damit nichts demonstrieren, keine Probleme bewältigen. Nur diese Begegnung zwischen dem recht verlorenen Jungen und dem Eigenbrötler Faustini hat mich interessiert.

Herr Faustini hat sich bis zu jenem Klingeln an seiner Haustür mit seinem kleinen Leben eingerichtet. Ist das eine Begleiterscheinung des Alterns, dass man den Mut zum Ausbruch verliert?
Faustini ist einer von denen, die vom Leben zurechtgestutzt wurden, die schliesslich ein Leben en miniature leben, zufrieden sind, wenn sie auf ihrer Parkbank sitzen, ihre immergleiche Runde gehen, ohne noch viel zu erwarten. Ein Leben auf Reserve sozusagen. Er sehnt sich da hinaus, sehnt sich – jede Seele ist ein Schrei nach Vollendung, sagt Paul Valéry – nach dem vollen Geschmack des Lebens. Aber wer von den Älteren kennt ihn schon, diesen Geschmack, kann sich noch daran erinnern? Meist ist doch alles zugestellt von falschen Ideen, von belanglosem Zeug.

Hugo, das Kuckuckskind, das für zwei Wochen bei ihm „abgestellt“ wurde, scheint anfangs nur schwer zu knacken. Welcher Jugendliche lässt sich schon offen von einem älteren Mann, selbst wenn dieser zum Vater erklärt wird, zu freundlichem Zusammensein hinreissen. Genau in jener Phase ihres Lebens will man doch so gar nichts mit den Alten zu tun haben und mit jeder Faser seines Seins den Unterschied markieren. Verstehen wir die Jugend wirklich angesichts dessen, was wir Alten ihnen alles zumuten?
Hugo ist es nicht gewohnt, dass ihm ein Erwachsener seine Zeit widmet, ja sich überhaupt für ihn interessiert. Ihm genügt sein Handy und sein Skateboard. Nach und nach begreift er, dass Herr Faustini sich wirklich für seine Welt interessiert, ihn verstehen möchte, an ihm Anteil nimmt. Und Faustini hat Unerwartetes zu erzählen, denn auch er war einmal jung, auch er kennt die Leere öder Nachmittage, er war sogar unglücklich verliebt. Und er kennt das am meisten heruntergekommene Café der ganzen Gegend. Und er erzählt von Nächten, die er am Pokertisch verbracht hat. Hugo staunt. Ganz von selbst entwickelt sich eine echte Freundschaft zwischen den beiden. Ich glaube, das ist auch in diesem Alter möglich. Aber nur, wenn auch Humor dabei ist und man den anderen sein lässt, wie er ist.

© Andrea Peller

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem «Abschied ohne Ende» (2012), «Die Kunst des unterirdischen Fliegens» (2015) und «Herr Faustini bleibt zu Hause» (2016). Bei Limbus: «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» (2013), Die letzten Gesänge (2015), Das japanische Fährtenbuch (2017) und «Walter oder die ganze Welt» (2020).

Wolfgang Hermann «Ein Mann, ein Bahnhof», Kurzgeschichte auf der Plattform Gegenzauber