Barbara Peveling «Befana spricht», 1. unschöne Weihnachtsgeschichte

La befana scende dal camino, e porta doni ad ogni bambino…

Die Befana kommt durch den Schornstein und bringt jedem Kind Geschenke…

Er war aus dem Norden gekommen, nicht aus dem Süden, wie sie lange geglaubt hatte. All die Jahre glaubte sie, der Süden, Mandelblüten, Lavendel, Orangen, der heiße Wind zwischen den Bergkuppen, all das gehörte zu ihm, genau wie zu ihr. Mehr noch, er verkörperte all dies für sie, schlimmer noch, sie war, überzeugt gewesen, ohne ihn würde all das nicht existieren.
Sie erinnert sich an den Besuch der Floating Piers, dort wandelten sie gemeinsam über Wasser, Hand in Hand, der Geruch von Meer, kreischende Möwen über ihnen und dieses Gefühl, alles wäre möglich mit ihm an ihrer Seite. Heute zeigte der Kompass ihres Herzens: Nord.

Sie erinnert sich an seine Ungeduld, damals beim Frühstück in dem kleinen Hotel am Iseo-See. Avanti, Avanti, rief er ihr zu, auch, als sie zögerte, sich gerne von der Masse treiben lassen wollte, die da über den See wandelte. Er aber war ihr immer drei Schritte voraus, seufzte, stöhnte, rollte mit den Augen über ihre Langsamkeit. Dass es schon immer so gewesen war, fiel ihr nach und nach auf. Während sie noch die Wäsche vor der Abreise sortierte, hatte er schon im Auto gesessen, das fesche Käppi auf dem Kopf, mehrfach gehupt, bis sie am Ende doch die Wäsche liegen ließ, aus dem Haus eilte, nur, damit sich die Nachbarn nicht beschwerten. Später bei ihrer Rückkehr, ärgerte sie sich, dass sie noch dabei war Wäsche zu sortieren, während er längst vor dem Fernseher eingeschlafen war. Es hatte eben jeder seinen Aufgabenbereich, oder nicht? Dein Vater, hatte sie dem Kind gesagt, wenn es sich über seine Härte beschwerte, weiß was gut für dich ist. Sie hatten nur dieses eine Kind gehabt. Mit dir stimmt etwas nicht, hatte er gesagt, als es nicht mehr klappen wollte, und sie sich geschämt und gedacht, was bin ich nur für eine Hexe. Aber die Sehnsucht danach, zu geben, war in ihr geblieben, doch ihr Herz war ausgetrocknet, wie ein Flussbett in der Hitze des Sommers, oder wie das menstruierende Blut in ihrem Körper, da kommt nichts mehr nach, nach und nach hatte sie verstanden, dass er nicht aus dem Süden gekommen war, so wie sie Anfangs gedacht hatte, und irgendwann fragte sie sich nicht mehr, ob er schon immer so rau und so kalt gewesen war, sie war sich sicher, er war aus dem Norden gekommen. Und das würde sie auch vor Gericht sagen, ja, sie hatte zurückgeschlagen, ihn erschlagen, morgen schon, würde sie sprechen.

Barbara Peveling, geboren 1974 in Siegen, studierte in Tübingen Ethnologie und Pädagogik, promoviert über das Zusammenleben von Juden und Muslimen in einem Viertel von Marseille und lebt mit ihrer Familie in Paris. Sie publizierte mehrere Prosastücke und Poesie in verschiedenen Zeitschriften, darunter Akzente Zeitschrift für Literatur. 2006 nahm sie am 14. Open Mike teil. «Wir Glückspilze», ihr erster Roman, erschien bei Nagel & Kimche. 

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Margrit Schriber «Das Abenteuer, eine Frau zu sein», Nagel & Kimche

Den Anstoss zum Schreiben verdanke ich meiner Lehrerin. Sie sagte den entscheidenden Satz: «Aus dir wird eine Schriftstellerin!“, schreibt Margrit Schriber in ihrer Roman-Biographie. „Was für Glück!“, ruft der Leser jener Lehrerin zu. Margrit Schriber gehört zu den Grossen der Schweizer Literatur. Eine, die für ihren Platz noch immer kämpfen muss.

1984, acht Jahre nach ihrem Debüt „Aussicht gerahmt“, begegnete ich der Autorin zum ersten Mal bei einer Lesung aus ihrem Roman „Muschelgarten“, der Geschichte zweier Frauen, die sich im gegenseitigen Kampf zu Verlierenden und Verlorenen machen. Schon damals machte mir die Autorin nicht nur Eindruck mit ihrem Schreiben, ihrer Sprache und der Kunst Innenlandschaften zu Poesie zu wandeln, sondern mit ihrer Präsenz, ihrer Begeisterung, ihrer Nähe. Seit „Muschelgarten“ bin ich ein steter Leser im Schriber-Kosmos und zusammen mit meinem Literaturzirkel schon bei manchem Anlass der Autorin stiller und machmal auch weniger stiller Teil ihres Fanclubs. Dass sich eine Autorin mit über achtzig Lebensjahren und über einem Dutzend Romanen, vielen Erzählungen und Hörspielen an ein Resümee macht, ist verständlich. Aber „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ setzt ihre Bücher viel mehr als Meilensteine in ein Leben, das stets ein Kampf war gegen Missachtung, Schubladisierung, Erniedrigung und eine überaus männliche Einordnung von Zuständen und scheinbaren Einsichten. Margrit Schriber, 1939 geboren, erzählt ihre Geschichte, die exemplarisch ist für eine Frauengeneration, die es nicht mehr hinnehmen will, dass in Politik, Gesellschaft und Kultur Frauen (oder Nicht-Männer) ein Eigenleben stets in den Dienst der Herrlichkeit zu stellen hatten. Vor 70 Jahren verwarf der rein männliche Souverän der Schweiz das Frauenstimmrecht mit einer Zweidrittelmehrheit. 1971 sollte es klappen, 1990 sogar im Kanton Appenzell Innerrhoden, während in Neuseeland Frauen schon 100 Jahre aktiv mitbestimmen konnten.

„Schreiben war meine Art der Emanzipation.“

Margrit Schriber «Das Abenteuer, eine Frau zu sein», Nagel & Kimche, 2022, 240 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-312-01258-9

Margrit Schriber wuchs in einer Heilerfamilie auf. Für eine Bibel und ein Heilkräuterbuch brauchte es dort kein Bücherregal. Selbst diese Bücher öffnete man erst, wenn es nicht zu vermeiden war. Man hatte einen Mund zum Reden, Augen zum Schauen, Ohren zum Zuhören, einen Kopf zum Denken und Herz und Verstand für Entscheidungen. Das musste reichen. Bücher lenken ab. Margrit Schriber aber wollte schreiben, Welten auftun. Nach der Schule begann sie eine kaufmännische Ausbildung auf einer Bank. Nicht weil es sie gezogen hätte, sondern weil sie nicht wusste, wie sie aus ihrer Sehnsucht einen Beruf machen sollte. Sie heiratete einen adretten Mann, schien sich den geltenden Normen der Gesellschaft zu beugen. Aber im Stillen schrieb sie, auch gegen die verletzenden Kommentare ihres Gemahls. Und als sie eine erste Erzählung der Literaturzeitschrift „Drehpunkt“ einsandte und Hansjörg Schneider urteilte „Die beste Geschichte seit Jahren“, begann eine der erstaunlichsten Schriftstellerinnenkarrieren der Schweizer Literaturgeschichte.

Es gibt zwei Kategorien von Romanen im Schreiben der Autorin: jene, die aus ihrem eigenen Leben, ihrer Biographie entspringen, aber immer nur als Stoff wirken und jene, die sich einer historischen Person, einem Frauenschicksal aus der Vergangenheit annehmen. Was allen Geschichten gemein ist; es sind immer Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nahmen oder es zumindest tapfer versuchten. In allen Romanen gibt Margrit Schriber der Frau jene Stimme, die ihr in ihrer Zeit verwehrt blieb. Margrit Schribers Romane nun aber als Frauenliteratur zu schubladisieren, wird ihrem Schaffen nicht gerecht. So wie all die Frauen in ihren Romanen den Kampf aufnahmen, so nahm die Autorin selbst den Kampf auf, sei es der gegen Vorteile, gegen die Arroganz einer männlich dominierten Kultur- und Literaturlandschaft, sei es der gegen Oberflächlichkeit und Sturheit.

In „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ erzählt Margrit Schriber aber auch von ihren Freundschaften, ihren Reisen, ihren Begegnungen und ihrer grossen Liebe, dem Schreiben. Margrit Schriber nimmt mich mit in ein Leben, das sich in ihren Büchern vielfach spiegelt, in ihr Schreiben, das zum Motor ihres Lebens wurde. „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ erzählt vom nie versiegenden Mut einer Frau, die wahrhaft ihre Stimme im Schreiben fand!

Möge „Das Abenteuer, eine Frau zu sein“ auch jene erreichen, denen der Schriber-Kosmos bisher verwehrt blieb.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension von «Schwestern wie Tag und Nacht» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Die Vielgeliebte meines Mannes» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

«Da hinauf!» Marianne Künzle ist oben!

Marianne Künzle las im Literaturhaus Thurgau aus ihrem neuen Roman «Da hinauf», einem feinen, atmosphärisch starken Stück Literatur.

Ich lernte Marianne Künzle vor einigen Jahren bei meinen regelmässigen Besuchen am Literaturfestival in Leukerbad in den Walliser Alpen kennen. Man trifft dort immer wieder die gleichen Gesichter, beginnt ein Gespräch, und weil man sich im kommenden Sommer wieder trifft, legt sich jedes Jahr wie ein weiterer Ring um etwas, was zu einer Freundschaft wird. Damals hatte Marianne Künzle noch kein Buch und ich noch keine einige Rezension für meine Literaturwebseite geschrieben. Greenhorns.

Marianne Künzle war Buchhändlerin, Koordinatorin bei Greenpeace, engagierte sich im ökologischen Landbau und in der Flüchtlingshilfe und lebt seit ein paar Jahren als geborene Bernerin im Wallis, in einem Haus, das mit jedem Kubikzentimeter ihrer Weltanschauung entspricht. Nach einem ersten Roman über den Kräuterpfarrer Künzle, der trotz gleichem Familiennamen nicht mit ihr verwandt ist, liegt nun ihr zweiter Roman vor. Die Geschichte zweier Frauen aus zwei verschiedenen Leben, zwei verschiedenen Zeiten, deren Spuren sich am Fusse eines Gletschers kreuzen.

Wer den Klappentext des Romas liest, die Ankündigungen des Verlags, denkt unweigerlich an die Dramatik eines Moments, wenn man vor den Überresten einer Gletscherleiche steht, wenn einem Bilder von Ötzi oder ähnlichen Sensationsgeschichten in den Sinn kommen. Marianne Künzles Roman lebt aber nicht von dieser Dramatik, auch wenn es in den letzten Seiten ihres Romans noch dramatisch wird. Es ist die stille Dramatik zweier Frauenwelten, eine aus der Gegenwart, eine aus den 50ern, wörtlich eingebettet ins Eis eines Gletschers. Es sind drei ProtagonistInnen; zwei Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und die Natur, der Gletscher, die kargen Hänge, der Fels, das Wasser, der Wind.

Marianne Künzle ist mit den Geschichten, die die beiden Frauen mit sich tragen tragen, sparsam. Ihr Roman ist derart verdichtet, eingekocht, dass es mich als Leser erstaunt, wie viel Form die beiden Frauen erhalten. Marianne Künzle geht es nicht um die Sensation einer spektakulären Begegnung, sondern um die fluide Atmosphäre in einer Kulisse, die mir bewusst macht, dass ich bloss Besucher bin, dass Natur atmet, ein grosses Ganzes ist, ein Ganzes, das ächzt unter der Last ihrer Bewohner.
«Mich treibt seit langem die Frage um, was unserem (westlichen, kapitalistisch geprägten) Menschsein eigentlich fehlt und uns davon abhält, wirklich zu handeln. Wir befinden uns mitten im Klimawandel und wir tun – praktisch nichts. Menschheitsgeschichtlich gesehen stehen grösste Umwälzungen an, wenn wir wollen, dass kommende Generationen eine würdige Zukunft haben. Ich vermute, die fatale Lethargie, die uns beherrscht, hat mit unserer Haltung unserer inneren und äusseren Natur gegenüber zu tun. Ich wage die These aufzustellen: wer keinen Zugang zu seinem Selbst hat, kann auch schwerlich eine Verbindung zur Natur und zur nicht-menschlichen Welt aufbauen und bleibt paralysiert, noch schlimmer, sieht sich nicht in der Verantwortung. Diese konträren Charakterzüge zu ergründen, auch besser zu verstehen, hat mich interessiert. Daraus sind Irma und Annina sind entstanden.» 

Ganz dezent beschäftigst sich Marianne Künzle in ihrem Roman auch mit dem Frauenbild aus zwei verschiedenen Zeiten. Es geht um Emanzipation, Unabhängigkeit und Rollenhaftung. Und trotzdem sind all diese Themen nur ganz sanft angesprochen. Ebenso dezent geht es um den Gletscher selbst, Fragen der Klimaveränderungen, um unser ökologisches Bewusstsein.
«Zu plakative Geschichten, zu klischeehafte Charakteren sprechen mich weniger an. Mich interessiert das Dazwischen. Die Realität ist nie schwarz-weiss. Gelesenes klingt zumindest bei mir länger nach, wenn es mich anregt zum Nachdenken, wenn Raum für eigene Gedanken und für das Abrufen von persönlich Erlebtem Platz hat. Vermutlich ist es das, was sich auch im Schreiben niederschlägt?»

Marianne Künzles Lesung, unterstützt durch eine Tonspur, die mich wie Filmmusik tief ins Geschehen eintauchen liess, war ein Fest für die Sinne!

«Welch wunderbare Tage im Literaturhaus in Gottlieben! Eintauchen ins Buchstabenmeer und Gedankengänge an den Gestaden des Bodensees, sich besingen lassen von Kuckuck, Nachtigall, Pirol. Zum krönenden Abschluss Lesen vor tollem Publikum im Dachstock mit knarrenden Böden, Donnergrollen inklusive:-)» Marianne Künzle

Rezension «Da hinauf» auf literaturblatt.ch

Marianne Künzle «Da hinauf», Nagel & Kimche

Zwei Frauen auf dem Gletscher. Die eine damals, als sich der weisse Koloss noch wuchtig ins Tal ergoss. Die andere heute, wo sich der Mächtige mehr und und mehr zurückzieht, sich in Wasser verwandelt, zu einem kümmerlichen Rest zu werden droht. Und weil die eine durch einen Fehltritt im Eis liegen und für Jahrzehnte eingeschlossen bleibt, kreuzen sich die Weg der beiden Frauen in Spalten an der Gletscherzunge.

Gletscher sind gefrorene Geschichte, eine Art Fingerabdruck der Zeit. So wie sich über Jahrhunderte Schicht um Schicht der Gletscher vergrösserte, so schmilzt er heute weg, gibt preis, was über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende verborgen blieb. Bekanntestes Beispiel dafür ist Ötzi, eine „Gletschermumie“, die man 1991 im Südtirol fand, 5000 Jahre nach einer Nacht, die der einsame Wanderer nicht überleben sollte. Künftig wird es immer wieder vorkommen, dass das sich zurückziehende Eis, der schmelzende Permafrost Geschichten freilegen wird.

Annina ist eine junge Journalistin, noch frisch auf der Redaktion, aufgeregt auf ihr erstes grosses Interview, das nach der sonntäglichen Wanderung über den Gletscher stattfinden soll. Eigentlich war es Absicht gewesen, zusammen mit ihrer Freundin Melli die Gletscherwanderung in Angriff zu nehmen. Aber Melli musste krank zurückbleiben. Statt mit der sprudelnden Freundin in die Höhe zu steigen, wird die Wanderung nicht nur eine Wanderung in die Stille der Berge, sondern ein Einstieg in die Stimmen in ihr selbst, eine Welt, die so ganz anders ist, als jene, die sie im Tal zurückgelassen hat. Eine Wanderung zu einem Gletscher, der sich hörbar bemerkbar macht, in dem es kracht und donnert, als wäre es ein grosses Ächzen in seinem langen Sterben.

Marianne Künzle «Da hinauf», Nagel & Kimche, 2022, 112 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-7556-0012-1

Irma ist Jahrzehnte zuvor auf einer ganz ähnlichen Tour, sie in den Fünfzigerjahren allein unterwegs. Einem Abgrund entflohen, junge Witwe, allein am Berg, allein mit sich selbst, den Alltag hinter sich lassend.
Damals war der Gletscher ein ganz anderer, ein monströses Urgetüm, über Jahrhunderte fliessendes Eis. Irma und Annina, zwei Frauen in ganz unterschiedlichen Zeiten, an den Rändern eines Gletschers, der wie kaum ein anderes Naturphänomen zeigt, wie sehr sich die Zeit, die Fliessrichtung ändert. Was damals noch wuchs, zieht sich heute zurück. Damals ein wuchtiges Weiss, heute ein schmutzig graues Überbleibsel dessen, was es einmal war. Zwar wandern die beiden Frauen an den gleichen Bergflanken, aber was sie hinter sich liessen, unterscheidet sich ebenso diametral wie das, das sich vor ihren Augen an diesem Berg abspielt.

Marianne Künzle erzählt ganz dezent, macht sprachlich sichtbar, was der Berg verursachen kann; jene schlichte Klarheit. Marianne Künzle hätte die Geschichte dieser beiden Frauen aufblasen, jenen Fehltritt der einen dramatisieren, den Moment der Begegnung, Jahrzehnte nach dem Unfall theatralisch inszenieren können. Tat sie aber nicht. „Da hinauf“ ist der Blickwinkel zweier Frauen, die für ein paar Stunden aus ihrem Leben auftauchen wollen, die in den Bergen, an den Rändern des Gletschers die Nähe zu sich selbst suchen. Die Dramaturgie des Romans ist eine ruhige, als wäre ich als Leser der einzige Zeuge. 

Als mir die Autorin vor Monaten bei einem Spaziergang in den Walliser Bergen von ihrem Manuskript erzählte, dachte ich, sie würde die Gletscherleiche erzählen lassen. Aber die eigentliche Begegnung der beiden Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und Leben findet erst auf den letzten Seiten des Romans statt. Was den Roman zu einem grossen Lesegenuss macht, ist nicht das Drama am Eis, sondern die Stimmungen an diesem Berg, die Farben, die Spuren, das Licht, der Wind. Marianne Künzles Roman ist eine Ode an die Natur. Wie ein zärtliches Streicheln über Bergflanken, die unter den Klimaveränderungen ächzen. Die Autorin erzählt in zwei Strängen, zieht die Windungen immer enger, bis zu jenem Moment, wo klar wird, dass dort kein Holz im Eis liegt, sondern die Überreste einer Frau.

„Da hinauf“ ist gekonnt erzählt, eingetaucht in grosse Klarheit!

Marianne Künzle ist 1973 in Bern geboren. Sie ist in Schönbühl aufgewachsen, zwischen modernen Wohnblöcken und Waldrand, Intensiv-Landwirtschaft und letzten Froschhabitaten. Sie hat eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht und koordinierte viele Jahre Greenpeace-Kampagnen für eine ökologische Landwirtschaft. 2019 hat sie den 2. Oberwalliser Literaturpreis erhalten (für «Living Planet«). Sie lebt im Wallis.

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Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche

Margrit Schriber ist nicht müde. Ihre Lust am Schreiben, am Erfinden, am Fabulieren, ihre Freude am vollen Leben umarmt einem bei der Lektüre ihres neuen Romans förmlich. «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist ein Roman, der sich erfrischend wenig darum kümmert, was zu den Insignien der Literatur gezählt wird. Einfach gut erzählt!

Es ist als sässe man auf einer grossen Tribüne mitten in einem See, vielleicht dem Vierwaldstättersee, und sähe auf ein Dorf. Ein kleines Dorf im Dunst der anbrechenden Siebzigerjahre. Eine Kirche etwas erhöht über den Häusern, eine Schiffanlegestelle, die aber nicht von allen vorbeifahrenden Schiffen angesteuert wird, das Restaurant Romantica, eine Bäckerei, Häuser verstreut darum herum und etwas abseits eine grosse Villa, direkt am See, durch einen schmiedeisernen Zaun vom Dorf abgetrennt.

Dort hin sind Rosy und Charly gezogen, ein junges Ehepaar, weil er die Stelle des Organisten in der Kirche antreten konnte und ihm seine junge Frau mit ihrer Arbeit in der nahen Parfümfabrik den Rücken freihält, um an seinem grossen Meisterwerk zu arbeiten, um sich auf seinen siegreichen Feldzug durch die Welt der Musik vorzubereiten. Dort wohnt Kitty, noch Mädchen, dreizehnjährig, aber mit der Leidenschaft einer jungen, wilden Frau. Kitty singt mit sieben anderen Grazien mehrmals in der Woche auf der Empore der Kirche zu Charlys Orgelklängen. Sie ist eine der acht schmachtenden Teenager, die angespornt durch das Lob des jungen Musikers von einer glorreichen Karriere als Sängerin träumen, dereinst an der Seite des Hasy Osterwald Quartetts oder noch viel höher und weiter. Dort wohnt eine reiche, stille, vom Dorf abgewandte Frau in ihrer Villa mit Gewölbefenstern und buchsgesäumtem Kiesweg, einem rosaroten Amischlitten und eigenem Bootssteg. Nachts sind die Fenster hell erleuchtet und man sieht und hört Madame am Flügel die Luft bezaubern. Vor allem Charly, der auch tagsüber im Restaurant Romantica mit Sicht auf die Villa seinen musikalischen Fantasien nachhängt.

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche, 2020, 176 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-312-01161-2

Es ist Rosy, die erzählt. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass die Geschichte, die sie erzählt, mit einer Katastrophe endet, mit einer Waffe und einem Schuss, der abgegeben wurde. Während die acht Stimmen auf der Empore der Kirche immer klarer und heller singen, beginnt es in den Magmakammern unter dem Dorf zu rumoren. Nicht nur weil sich die ausser Rand und Band geratenen Mädchenseelen in einen Zickenkrieg begeben, die Stimmung rund um den jungen Organisten und Dirigenten zu kochen beginnt, sondern weil alle im Dorf mitbekommen, dass Unkontrollierbares einheizt. Aber weil die Familien ebenfalls in einer Mischung aus Stolz und Hoffnung den hörbaren Höhenflug ihrer Töchter verfolgen, nimmt man den Preis dafür in Kauf.

Aber «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist auch die Befreiungsgeschichte einer jungen Frau, die mit Enthusiasmus ins Abenteuer einer jungen Ehe startete, um festzustellen, dass sie wie alles im Haushalt nur Instrument bleibt. Ihr Mann sonnt sich in der Bewunderung der jungen Täubchen und schmachtet in seiner Verehrung für die geheimnisvolle, unnahbare Schöne, die die großen Fenster ihrer Villa zum grossen Fenster in eine grosse Welt macht.
Margrit Schribers Roman ist in ein eigenartig farbiges Licht getaucht. Auf der kleinen Bühne eines Dorfes am See spielen sich die grossen Dramen menschlicher Leidenschaft ab, kochen die Menschen im giftigen Dunst von Gerüchten, Wut und blankem Hass. Die Autorin sprüht vor Erzähllust, sei es in der Boshaftigkeit ihrer ProtagonistInnen oder im Witz des Moments. Ein ganzes Dorf verstrickt sich in naiver Leidenschaft, fährt mit voller Kraft hinein in die Katastrophe.

Ein köstliches Lesevergnügen!

«Aussicht gerahmt», «Ausser Saison», «Kartenhaus», «Vogel flieg», «Luftwurzeln», «Muschelgarten», «Tresorschatten», «Augenweiden», «Rauchrichter», «Schneefessel», «Von Zeit zu Zeit klingt ein Fisch»… Das sind nur einige ihrer Bücher aus einem langen Schriftstellerinnenleben. Buchtitel, die selbst eine Geschichte erzählen. Von einer Frau, die sich nicht einfach in eine Schublade einordnen lässt, die in einem halben Jahrhundert Schriftstellerei einen ganz eigenen Schreiber-Kosmos schuf, der von starken Frauen erzählt. Einer starken Frau wie sie selbst, die sich durch nichts entmutigen lässt, selbst wenn ihr Stammverlag durch Umstrukturierungen mehr als einmal den Anschein machte, ihr die Treue zu kündigen. Selbst wenn ihr die grossen Literaturpreise vorenthalten blieben, obwohl einige ihrer frühen Romane, allen voran «Schneefessel» zu den Perlen der Schweizer Literatur gehören.

Margrit Schriber ist eine klassische Erzählerin, kann einfach gute Geschichten erzählen. «Meine Figur ist mein Geschöpf und dreht sich in der Spieluhr meines geschaffenen Turms zum Stundenschlag im Kreis», schreibt Margrit Schriber. Ihre Figuren sind ihr ganz nah, nie verkopft, ihr Blick nie auf sich selbst gerichtet, auch wenn an der Grand-Dame eine gewisse Eitelkeit unübersehbar ist.

Interview mit Margrit Schriber:

Im Begleitbrief zu deinem Roman steht: „Wie Rosy musste ich einen Spottspalier durchschreiten und mich bespucken lassen.“ Rosy beginnt zu schreiben. Du begannst zu schreiben. „Es folgte Buch um Buch. Mit jedem einzelnen schrieb ich ein Stück meiner verlorenen Ehre zurück.“ Das klingt erstaunlich ehrlich, dir erstaunlich nah. Ist Schreiben nicht immer Befreiung?
Es gibt unzählige Gründe für mein Schreiben. Neugier, Abenteuerlust, Aufregung, Entdeckerfreude, Lust an der Verwandlung, an der Herausforderung und am Verwirrspiel, Freude am Konstruieren einer anderen Welt usw. Ich könnte Seiten damit füllen. Das Wichtigste aber ist es, mir ein Ziel zu setzen und alles zu geben, um dieses zu erreichen. Ich schrieb einmal, ein Mensch sollte sich in die Sterne schreiben. Es ist mein Credo! Und es stimmt für mich. Das Leben ist viel zu kurz, viel zu einmalig, um es zu verschwenden. Handelt nicht jedes meiner Bücher von der Suche nach einem Sinn? Will nicht jede meiner Figuren ihrem Leben ein Ziel geben?
Jedes Buch ist auch eine Forschungsreise ins eigene Innere. Und beim Scheiben meines letzten Romans bin ich in den tiefsten und verborgensten Winkel gedrungen, so dass mir klar wurde, wie tief Verletzungen gehen können und wie nachhaltig sie prägen. Ich wollte aus meinem dramatischen Stoff etwas Leichtes und Farbenfrohes schaffen. Der See nimmt meiner Figur Rosy alles Kummervolle ab. Zurück bleibt eine blanke Oberfläche für Neues.
Das Buch widergibt den Zeitgeist der 60er Jahre. Da hat sich eine junge Frau noch sehr auf den Partner gestützt, an dessen Karriere geglaubt, ihre Fähigkeiten womöglich zu dessen Gunsten eingesetzt und die Sehnsucht nach Anerkennung unterdrückt.
Ich selbst hatte das Glück, dass ich meinen Traum vom Schreiben realisieren konnte. Doch zuerst musste ich an mich selber glauben können. Ich. An mich. So einfach ist das aber nicht. Das ist es nie! Es war ein langer einsamer Weg. Ich würde ihn immer wieder gehen, denn ich schulde ihm mein Glück. Im Grunde ist wohl mein ganzes Werk ein Versuch, mich in die Sterne zu schreiben. 

Ein Dorf am See, eine Kirche, eine Villa, in der Nähe eine Fabrik. Ein junges Ehepaar, eine reiche abgewandte Dame, ein Pfarrer und acht nach dem Leben, der Liebe schmachtende hormongesteuerte Mädchen und Töchter, die der Kontrolle von Eltern und Institutionen zu entgleiten drohen. Liebst du das Pulverfass? Die heissen Magmakammern unter der Normalität?

Ja, ich liebe die heissen Magmakammern unter der Normalität. Ich langweile mich leicht. Ich kann nicht Monate mit einem Text verbringen, der mich nicht immer neu an die Decke springen lässt. Ich schreibe ja zu meiner eigenen Unterhaltung. Deshalb bewege ich mich auch auf überschaubarem Raum und wähle bewusst nur wenige Figuren. Ich möchte diese von nah beobachten. Ich sprenge sie in diese und jene Richtung. Wenn nicht hinter jeder Ecke etwas Unerwartetes lauert, drücke ich auf die «delate» Taste.

„Ich war ein schwarzes Loch. Wir waren ein jedes dem andern ein schwarzes Loch“, steht im Roman. Spricht daraus die Ernüchterung darüber, dass selbst Liebe und Freundschaft nie darüber hinwegtäuschen können, dass jene Sehnsucht, die so sehr nach Nähe ruft, gar nie gestillt werden kann?
Schön ist der Glaube an die Liebe. Bewegend ist die Sehnsucht und die Trauer. Glücklich wer diese Empfindungen kennt. Liebende sind einander ein Rätsel. Manchmal ist jedes dem andern ein schwarzes Loch. Liebe ist ein Geschenk. Meine Figur Rosy erhellte sich damit eine Weile ihren Traum von der Zukunft. Doch die Liebe erlischt wie eine Kerze. Das Mädchen Kitty kann nicht glauben, dass Gefühle ändern. Sie will ihre Zukunft mit der Waffe erzwingen. Rosy spürt, dass sich nichts erzwingen lässt. Sie sucht nun allein den Ort, wo ein Mensch anständig bleiben kann.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau

Margrit Schriber «Heute + gestern + morgen, Gedanken zum 80sten

Margrit Schriber feiert heute ihren 80. Geburtstag! 1976 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Aussicht gerahmt», seither zwei Dutzend Romane, Erzählbände, Stücke und Hörspiele. Wer Margrit Schribers Werke kennt, weiss wie sehr sie den Spirit des Erzählens zu leben weiss. Ich wünsche ihr zusammen mit vielen treuen Leserinnen und Lesern, dass dieser Geist noch lange wirkt!

«Ihre grosse  Leistung sehe ich darin, dass Sie das Schweigen zum Reden bringt. Das Wort ist ihre Achillessehne. Ich füge hinzu: zum Glück, denn damit sind ihre Leser dazu eingeladen, die grosse, unglaubliche Wirkung der Sprache ernst zu nehmen.» Prof. Hans Ester

HEUTE mache ich mir Gedanken zu meinem Achzigsten. Eine unglaubliche Zahl. Doch ich fühle mich heute so jung, so frisch, so vital wie immer. Ich habe im Februar einen Roman beendet, mein neunzehntes Buch. Doch in meinem Verlag wechselt die Leitung. Und so liegt das Manus jetzt dort in der Schublade UNGEWISSHEITEN. Das ist ein Wermutstropfen am heutigen Tag.

RÜCKBLICKEND ist für mich «Schreiben» der abenteuerlichste Akt in meinem Leben. Jedes Buch ist das Schnüren meines Rucksacks zum Aufbruch in eine neue Welt. Ich holze linksrechts eine Schneise durch den Dschungel. Das belebt mich! Das ist das Elixier, das ich brauche. Das erhält mich jung.

Das Leben steckt Grenzen, bietet aber Möglichkeiten. Das ist ein Thema.

Ich schreibe über Menschen, ihre Wege, Wünsche, Möglichkeiten und Widerwärtigkeiten. Das was sie wollen ist nicht immer das, was sie erreichen. Aber ich bewundere aus tiefstem Inneren die fantastischen Höheflüge, zu denen ein Mensch sich aufraffen kann. Ob er scheitert, ob er seine Möglichkeit falsch einschätzt, das ist nicht von Bedeutung. Aber dass er all seine Kraft und Fähigkeit aufbringt, um für einen Traum zu kämpfen, das ringt mir Achtung ab. Ich glaube, dass es dieser ungebrochene Mut und Trotz ist, der aus einem Individuum erst einen Menschen macht.

Ich schöpfe aus meinem Alltag und meiner Umgebung. Manchmal drehe ich das Zeitrad zurück, doch immer nehme ich mir Leute zum Vorbild, die ich kenne oder die es gegeben hat. Ich stelle sie mir mit all ihren Widersprüchlichkeiten vor. Bilder erstehen, Gespräche, Handlungen, Konflikte. Schliesslich lebe ich mit meinen Figuren. Ich baue Szene um Szene den Roman oder die Geschichte.
Trotzdem: Wir wissen so wenig voneinander. Es ist immer nur ein Bruchteil, der aufschimmert, den wir wahrnehmen. Also baue ich aus diesem Bruchteil meine neue, eine andere Welt. Das ist mir klar. Meine Figur ist mein Geschöpf und dreht sich in der Spieluhr meines geschaffenen Turms zum Stundenschlag im Kreis.

ZUKUNFT ist immer ein Zauberwort. In meinem Alter reizt dieses Wort zum Lachanfall. Ich machte mir immer eine Idealvorstellung. Zum Beispiel wollte ich ein wertvoller Mensch sein, andere ermutigen, dass sie ihre Träume verwirklichen. Gute Literatur machen und ganz darin aufgehen. Daneben wollte ich jemand sein, der mit offenen Augen durchs Leben geht. Aber im Lauf der Jahrzehnte schrumpfte die Idealvorstellung von meinem Wert oder von der Bedeutung meines Werks. Ich habe begriffen, dass mein Aufleuchten in der Schöpfung bedeutungslos ist. Aber ich lebe: Das ist grandios. Ich zähle zum unermesslichen Grossen Ganzen. Und jetzt zum Achtzigsten kann ich sagen, dass ich die Schönheit anbete, die mich hier umgibt. Dass ich vor dieser Pracht in die Knie gehe. Wie andere vor mir und andere nach mir. Das Aufblinken meines Staubkorns im All ist nicht Nichts gewesen.

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension des Romans «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

«Die Verrücktheiten in meinem Leben» von Margrit Schriber auf der Plattform Gegenzauber

Charles Lewinsky «Der A-Quotient», Nagel & Kimche

Arschlöcher – Menschen, die nicht mit dem zur Verfügung stehenden Kopf denken wollen oder können. Charles Lewinsky schreibt über jene Sorte Mensch, die lieber mit dem Arsch denkt, lieber AQ statt IQ, über Theorie und Praxis des Lebens mit Arschlöchern. Eine höchst amüsante Lektüre, der Aktualität nicht abzusprechen ist!

Muss man Charles Lewinsky ernst nehmen? Nimmt Charles Lewinsky sich ernst mit diesem Buch? Ganz sicher ist ihm ernst, selbst mit diesem Buch, mit Menschen, die nicht nutzen, was ihnen geschenkt wurde, die gröhlen, brüllen, kopieren, marschieren. «Der A-Quotient», das Buch erscheint bereits zum dritten Mal. 1994 bei Haffmann, 2005 bei Zweitausendeins und nun bei Nagel & Kimche, überarbeitet versteht sich, «denn Arschlöcher vermehren sich wie die Karnickel», so Lewinsky. Weder Unterhaltungsindustrie, Medien und aktuelle Politik geben Anlass zur Hoffnung, dass die Menschheit vom Denken mit Hirn regiert und geleitet wird.

Charles Lewinsky ist bitter böse, beissend komisch und beängstigend nahe an der Wirklichkeit, wenn man sich bei der Lektüre auch zu trösten versucht, es handle sich um Überzeichnung. Er giesst, reizt und teilt aus, was bei seinem letzten Roman, seinem Krimi «Der Wille de Volkes» nur als laues Lüftchen zu spüren war, aber durchaus zum Messerstich hätte werden können. Damals blieb der von mir erhoffte Rundumschlag gegen das satte und selbstgefällige Establishment aus oder kümmerlich. Dabei hätte sich einen solchen niemand besser und mehr leisten können, wie der mit allen Wassern gewaschene Lewinsky. Hier tut er es, köstlich, leidenschaftlich, schamlos, sprachgewandt und «stringent». Nichts und niemand bleibt verschont, selbst er selbst nicht.

«Zum Glück gibt es ein einfaches und unfehlbares System, mit dessen Hilfe man ein Arschloch auf den ersten Blick erkennen kann. Ich weiss, dass es funktioniert. Ich hab’s an mir selber ausprobiert.
Man schaut ganz einfach in den Spiegel.»

Der Meister der literarischen Vielfalt, das sprachliche Multitalent bedient sich der Form eines wissenschaftlich abgestützten Ratgebers: «Über das Denken ohne Benutzung des Kopfes» oder «Spekulationen über die Frage, warum der Kopf so wenig benutzt wird» oder nach einem Theorieteil im Praxisteil «Das handliche Arschloch-Bestimmungsbuch».

Vor vielen Jahren las der 2006 verstorbene Robert Gernhardt im Literaturschiff auf dem Bodensee. Während er las und kaum mit der Wimper zuckte, kugelte ich mich vor Lachen, so sehr, dass der Bauch schmerzte und ich fürchtete, keine Luft mehr zu bekommen.
Ich garantiere bei der Lektüre von «Der A-Quotient» ähnliche Nebenwirkungen, vor allem dann, wenn man sich das Buch vorlesen lässt, so wie ich von meiner Frau. Was für ein Vergnügen!

Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und verfasste über 1000 TV-Shows und Drehbücher, etwa für den Film «Ein ganz gewöhnlicher Jude». Für den Roman «Johannistag» wurde er mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet. Sein Roman «Melnitz» wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. in China als Bester deutscher Roman 2006, in Frankreich als Bester ausländischer Roman 2008. Lewinskys jüngsten Romane wurden für die bedeutendsten deutschsprachigen Buchpreise nominiert: «Gerron» für den Schweizer Buchpreis 2011, «Kastelau» für den Deutschen Buchpreis 2014 und «Andersen» für den Schweizer Buchpreis 2016.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Margrit Schriber „Glänzende Aussichten“, Nagel und Kimche

Pia gehört eine Tankstelle in der Nähe der Autobahn. Pia trägt Latzhose und manchmal den Hut ihres schon lange verstorbenen Vaters. Er war ihr Lehrer gewesen, hat ihr alles gezeigt. Pia weiss alles über Motoren, auch wenn sie es selber nie für nötig gefunden hat, einen Führerschein zu erwerben. Pia wäre glücklich, wenn sich die Erde im immer gleichen Tempo drehen würde und die Männer so nicht wären.

1980, irgendwo im schweizerischen Mittelland. Noch hat es Wiesen hinter der Tankstelle. Selbst Gigi, Pias Nachbar, glaubt in seinem Containerbüro, dass er eines Tages seinen Occasionsverkauf teuer verscherbeln und dann irgendwo seine Haut an der Sonne schmeicheln lassen wird. Pia weiss, dass das wenige Geld, das sie mit Benzin, Sonnenbrillen und Illustrierten verdient, auf die Dauer nicht reichen wird. Was ihr ihr Vater einst als Perle übergeben hatte, droht an der Moderne zu scheitern.

Da sind auch die Männer keine Hilfe. Nicht der windige Luc mit seinem schnittigen Amerikaner, seinen Schmeicheleien und Drohungen. Nicht Gigi, der Occasionskönig mit seinen gebräunten Muskeln. Nicht Bolt, der Regionalvertreter des Benzingrossisten. Nicht Holzer, der Immobilienmann und Liebhaber ihrer Freundin Luise und schon gar nicht Andy, der Arzt, der sie einmal zum Glühen bringt. Höchstens Waldi. Aber Waldi ist ein Plüschhund auf der Kasse im Laden und nickt, wenn die Kasse klingelt. Er hört ihr zu.

“Glänzende Aussichten“ spielt gekonnt mit Klischees. Während des Lesens spielen sich unweigerlich Bilder ein, die an Filme erinnern, nicht zuletzt an solche mit Josef Hader. Dass die grosse Könnerin mit fast 80 derart spitzen Witz und Spitzigkeit in ihren Roman bringt, erstaunt nicht. Margit Schriber unterhält gekonnt, zeichnet ihre Figuren mit viel Liebe fürs Detail. Alle sind sie auf ihre Art Verlierer und Versager. Und wer den Roman liest, staunt über den Wiedererkennungseffekt. Zum Beispiel bei Luc, einst Pias Liebe. Bis Pia merkt, dass Luc viel mehr in sich selbst und seinen Auftritt verliebt ist und er bloss Personal und Zuschauer braucht. Einer dieser Aufgeblähten mit unendlichem Glauben an sich selbst, nicht zu brechendem Selbstvertrauen und der festen Überzeugung, die Sonne im System zu sein.

“Was uns tief im Innern trifft, darüber reden wir nicht.“

Pia kämpft sich durch, durch alle Widrigkeiten, die sich ihr in einer langen Kette entgegenstellen. Auch nach ihrem Entschluss, auf ihrem Grund eine Waschanlage bauen zu lassen, reissen Rückschläge nicht ab. Die Geschichte spiegelt das Frauenbild der 80er Jahre. Und wenn auch die Protzbeutel weniger werden – solange die Sorte zu Präsidenten werden, hat sich eben doch nicht viel geändert.
Und die Geschichte ist keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Margrit Schriber weiss wovon sie schreibt. Sie kennt den Geruch von Benzin und Motorenöl, auch wenn ihre Kurzbiographie nicht danach aussieht.

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Margrit Schriber bei ihrer Buchpremière in der Kantonsbibliothek Schwyz

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Margrit Schriber «Die Verrücktheiten in meinem Leben»

Die verrückteste Tat meines Lebens war der Kauf einer Autowaschanlage. Wozu braucht eine Schriftstellerin eine solche, da sie durch ihre Phantasie flaniert? Die Antwort ist einfach. Man muss essen, man hat eine Aufgabe, in meinem Fall eine Reihe von Aufgaben. Ich muss aus dem Reich der Phantasie zurückkehren und von einem zum andern Moment mit beiden Füssen auf dem Boden stehen, denn ich betreue ein Areal. Darauf gab es in den 80er Jahren eine kleine Autowerkstatt mit handbetriebenen Benzinsäulen. Da rundum Grosstankstellen aus dem Boden schossen, kämpfte der Betrieb ums Überleben. Seine Waschstrasse war veraltet. Und es existierte ein bindender Vertrag mit einem weltweiten Benzinkonzern, der diesem eine funktionierende Waschanlage garantierte.
Die Situation war verzwickt!
Es musste eine Autowaschanlage gekauft werden, die mehr Autos in kürzerer Zeit sauberer wäscht. Die Finanzierung von mehr als einer Viertelmillion Franken machte mir Bauchweh. Schreiben ist vergleichsweise erholsam, Geld spielt da nie eine Rolle. Doch jetzt, im Leben?
Ich beschloss das Risiko einzugehen. Der Benzinkonzern schickte mir einen Mann aus der Direktion. Er verhandelte ungern mit einer Frau, die nichts vom Business verstand. Autowaschanlagen waren seine Domäne. Er holte für die Kleingarage eine Offerte ein. Die schickte er mir. Und übersah, dass er auch die Offerte einpackte, die das Fabrikationswerk an ihn gerichtet hatte. Sie belief sich auf den halben Preis. Dies alarmierte mich. Ich suchte nach einem Anbieter ohne Verknüpfung mit dem Benzinkonzern. In Mailand wurde ich fündig. Der Mann aus der Direktion zweifelte, dass Italiener eine solche Anlage bauen können, wollte mich aber zum Werk begleiten. Doch ich wartete vergeblich am Bahnhof und fuhr schliesslich allein dem Gotthard zu.
Der Ingenieur führte mir seine zischende, spritzende Anlage vor. Ich erinnere mich, dass er sich vorbeugte, um im Lärm meine Meinung zu hören und ich nur sein triefendes pechschwarzes Haar anstarrte. Ich hatte keine Meinung. Danach legte er farbige Bürstenfäden vor mich hin. Man könne Duft beifügen, sagte er eifrig. Minze, Jasmin, Vanille, was immer ich möge. Dies liess mich lächeln. Da hielt er mir den Federhalter hin. Und ich unterschrieb.

Die Monteure beeindruckten mit ihren immer sauberen Überkleidern und ihren Arien, die aus dem Tunnel klangen. Der Autowaschtunnel nahm den Betrieb auf. Bald alarmierte eine Störung. Die Mailänder reisten an, behoben sie, wuschen die Hände und reisten in blitzsauberen Überkleidern wieder ab. Eine Freundin erzählte, sie habe beim Autowaschen ein Knacken gehört. Da sei sie aus dem Tunnel gerannt. „Ich wollte nicht im Auto zerdrückt werden.“ Sie übertrieb masslos. Das Gerücht verbreitete sich, diese Autowaschanlage sei lebensgefährlich. Das war fatal geschäftsschädigend. Vor Schreck vermochte ich mich nicht einmal ans Schreiben zu klammern, obwohl mir das in schlimmen Situationen ein Trost ist, da ich mir mit Wörtern erbitterte Feindinnen vom Hals schaffen kann. Das Verschrotten der Autowaschanlage war dann meine zweitverrückteste Tat.
Manchmal weht die Erinnerung mich an. In meinem Roman „Glänzende Aussichten“ habe ich aus dieser Erinnerung eine neue und ganz eigene Welt geschaffen.

27.10.2017

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk. Ihr letzter Roman „Schwestern wie Tag und Nacht“ ist bei ProLobro erschienen, eine raffinierte Beziehungsgeschichte in Krimiform. Ende Januar erscheint bei Nagel & Kimche ihr neuer Roman. Erste Informationen finden sich auf der Webseite der Autorin:

Zu ihrem neuen Roman, der Enda Januar bei Nagel & Kimche erscheinen wird: Seit dem Tod ihres Vaters Anfang der 80er Jahre betreibt Pia die außerhalb gelegene Tankstelle allein: Benzin, Super, leichte Reparaturen, Kiosk mit Imbiss. Aber mittlerweile haben sich die Kunden an das zeitsparende Tanken woanders gewöhnt und kommen nicht mehr extra zu ihr. Pias beste Kundin ist auch ihre beste Freundin, Luisa, Versicherungsangestellte und Geliebte des örtlichen Baulöwen Holzer. Auch Pias Exfreund Luc taucht immer wieder auf — weil er zur Stelle sein möchte, wenn Pia das Geschäft verkaufen muss: Er glaubt, ihm stehe ein Anteil zu. Pia plant die Flucht nach vorn: den weitherum größten Autowaschsalon, ein Pflegeereignis der besonderen Art, das vollautomatische Schneiden-Waschen-Fönen des geliebten täglichen Gefährten. Dazu braucht sie Holzer als Investor; um seine Zusage kümmert sich Luisa. In Mailand wird die modernste Waschstraße bestellt. Die Einweihung wird eine furiose, erotische Feier, die das Dorf in Aufruhr versetzt.

„Ich glaube ans Leben als ein Geschenk. Aber ich glaube auch an die Phantasie als ein hohes Gut. Und ans Buch. Bücher besitzen die magische Kraft, im Kopf eines jeden Lesers eine ganz eigene Welt erstehen zu lassen. Darin liegt ihre einzigartige Sensation.“

Titelfoto: Yvonne Böhler